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Als Marmaduke Pickthall im Frühjahr 1896 aus dem Nahen Osten nach London zurückkehrte, litt er zwar noch immer an den Nachwirkungen einer schweren Typhuserkrankung, hatte jedoch den Kopf voll mit unglaublichen Geschichten und exotischen Bildern, mit detailreichem Wissen über das Leben und die Mentalität der Araber, Syrer und Palästinenser: Er hatte Freundschaften geschlossen, fließend Arabisch gelernt, kuriose Abenteuer erlebt mit fahrenden Rittern, Geschichtenerzählern, Pferdenarren, Straßenräubern, Gaunern, Fanatikern – überwiegend christlich –, mit verstoßenen Prinzessinnen und Tigerjägern, die vergeblich nach einem Tiger suchen. Pickthalls Buch, das er erst 25 Jahre später schrieb – mit Abstand zu seinem jüngeren Ich, einem Schuss Selbstironie und viel Humor –, zeigt auf ganz unbeschwerte Weise, dass die Begegnung zweier Kulturen ebenso ein fruchtbarer Denkanstoß wie ein katastrophaler Zusammenprall sein kann. Es ist eine kleine Brücke zwischen Orient und Okzident, die jeder mühelos überqueren kann, um ein wenig klüger und nachdenklicher in die eigene Welt zurückzukehren.
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Seitenzahl: 292
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MARMADUKE PICKTHALL
DIE TAUBEAUF DER MOSCHEE
Unterwegs im Orient
Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann
S T E I D L
Cover
Titel
Einleitung
Rashîd der Schöne
Eine Garnison in den Bergen
Die Nashornpeitsche
Der höfliche Richter
Nawâdir – Kostbarkeiten
Der klappernde Sack
Polizeiarbeit
Mein Landsmann
Getrennte Wege
Der fahrende Ritter
Der Fanatiker
Rashîds Rache
Der hängende Hund
Die Tiger
Hochmut vor dem Fall
Tragödie
Bastirma
Der Dragoman als Künstler
Liebe und der Patriarch
Der unbeliebte Landbesitzer
Der Caïmmacâm
Über Schmiergelder
Das Schlachtfeld
Die Mörder
Die Bäume des Landes
Wir kaufen ein Haus
Eine Enttäuschung
Über Verbrechen und Strafe
Der Weingarten ohne Mauer
Der Atheist
Wir verkaufen unser Gewehr
Mein Wohltäter
Glossar
Nachwort
Editorische Notiz
Über die Autoren
Impressum
Endnoten
Anfang des Jahres 1894 bewarb ich mich um eine von zwei offenen Stellen im für die Türkei, Persien und Levante zuständigen Konsularischen Dienst, scheiterte jedoch daran, mir im Auswahlverfahren den nötigen Platz zu sichern. Ich war verzweifelt. Monatelang hatten all meine Hoffnungen sonnigen Ländern und alten Zivilisationen gegolten, fern der düsteren Monotonie des Londoner Nebels, die mir nun, da ich ihr nicht entfliehen konnte, wie ein Albtraum vorkam. Da ich mit achtzehn bereits bei ein oder zwei Abenteuern versagt hatte, hielt ich mich für einen völligen Versager und war zutiefst betrübt. Ich träumte von der Sonne des Orients, von Palmen, Kamelen, Wüstensand, wie von einem wegen meiner Unzulänglichkeiten verlorenen Paradies. Wie groß war also meine Freude, als meine Mutter eines Tages meinte, es sei für mich vielleicht von Vorteil, den Orient zu bereisen, denn meine Sehnsucht danach scheine auf einen natürlichen Instinkt hinzuweisen, den sie, die selbst Erinnerungen an den Nahen Osten habe, voll und ganz teile!
Damals hatte man wohl die Vorstellung, ich könne schließlich irgendwie, nachdem ich die Sprachen gelernt und das Leben vor Ort studiert hätte, durch die Hintertür in den Dienst des Außenministeriums treten. Doch obwohl meine Eltern an dieser Idee festhielten, um die Ausgaben für meine Expedition zu rechtfertigen, hatte ich nie Gefallen daran gefunden, und in dem Augenblick, da ich Ägypten, mein erstes Reiseziel, erreichte, verlor sie für mich jeden Reiz, den sie zu Hause gehabt haben mochte. Denn von da an erlosch mein Interesse für europäische Anliegen, wirkten diese doch in der neuen Umgebung irgendwie unangemessen und falsch. Anfangs versuchte ich dieses Gefühl oder diese Auffassung zu überwinden, da mir dergleichen, solange ich unter Engländern lebte, unrecht erschien. Meine ganze bisherige Erziehung hatte darauf abgezielt, mir die kultische Verehrung der Gewohnheiten einer bestimmten Gesellschaftsschicht aufzudrängen. Zu versuchen, mit Orientalen jedweder Herkunft auf Augenhöhe zu verkehren, war etwas, das von den Menschen, die mir bislang als Vorbild gedient hatten, nie getan, ja nicht einmal in Betracht gezogen wurde.
Mein heimlicher Wunsch, die Einheimischen des Landes kennenzulernen, wäre wie andere unkonventionelle Wünsche, die ich zuweilen hegte, bis heute unerfüllt geblieben, hätte eine zufällige Begegnung mich nicht vorübergehend von englischer Aufsicht befreit. Meine Verwandten hatten mich mit Empfehlungsschreiben an verschiedene einflussreiche Engländer in Syrien ausgestattet, unter anderem auch an eine hoch angesehene Familie in Jerusalem; und wir hatten vereinbart, dass ich mich nach meiner Ankunft sofort an diese Familie wenden und sie um Rat und Informationen bitten sollte. Doch an Bord des Schiffes, das mich von Neapel nach Port Said brachte, traf ich einen Mann, der diese Leute gut kannte – tatsächlich hatte er jahrelang in ihrem Haus gewohnt – und der die Rolle meines Mentors übernahm. Ich blieb einige Wochen in Kairo, nur weil auch er blieb, und begleitete ihn auf der Überfahrt nach Jaffa. Aus unbekannten Gründen – vielleicht steckte Irrsinn dahinter – wollte er damals nicht, dass ich Jerusalem besuchte. Und als wir in Jaffa ankamen, erzählte er mir allerlei Merkwürdiges über die Familie, die ich besuchen wollte: Die Leute seien überaus exzentrisch und wankelmütig, und ich solle lieber in Jaffa bleiben, bis er mich benachrichtigte, ob ich wirklich willkommen sei. Wie ich später herausfand, handelte es sich um eine dreiste Lüge, eine Verleumdung eines sehr gastfreundlichen Hauses. Doch damals glaubte ich ihm und all seinen Behauptungen, da mir keine anderen Informationen zur Verfügung standen.
Ich blieb also in Jaffa, in einem kleinen Gasthaus der deutschen Kolonie, das den Vorzug hatte, sauber und billig zu sein, und dort säße ich wohl heute noch, hätte ich auf die Nachricht gewartet, die mir mein Ratgeber versprochen hatte. Während meiner ersten zwei Wochen erschien mir das Leben dort ausnehmend langweilig. Dann nahm sich Mr. Hanauer, der englische Kaplan und berühmte Altertumsforscher, dem mein einsames Dasein offenbar leid tat, meiner an; er führte mich herum und lehrte mich Arabisch. Er stammte aus Jerusalem und liebte Palästina. Meinen geheimen Wunsch, mich mit den Orientalen zu verbrüdern, den ich nach einigem Zögern preisgab, begrüßte er. Und dann lernte ich einen klugen Dragoman, einen der berühmtesten Spaßvögel Syriens, kennen, der zufällig in meiner kleinen Pension wohnte und nichts anderes auf der Welt zu tun hatte als Maulaffen feilzuhalten. Er half mir, das Europäische abzuwerfen und in die Lebensweise der Einheimischen einzutauchen. Mit ihm ritt ich über die Ebene von Sharon, reiste unter Fellâhîn und saß in den Kaffeehäusern von Ramallah, Lydda, Gaza, traf Leute jeglichen Schlages und lernte so den Dialekt mühelos, als wäre es nur ein Spiel. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang saßen wir im Sattel. Wir pilgerten zur Nebi Rubîn, der Moschee am Rand der Marschen an der Küste, auf halbem Wege nach Gaza; wir ritten nordwärts zum Fuß des Carmel; erforschten die Schluchten der Berge von Judäa; besuchten türkische Bäder; aßen die Gerichte der Einheimischen und schliefen in ihren Häusern – befolgten in jeglicher Hinsicht die Bräuche der Landbevölkerung. Und ich staunte, wie sehr ich dieses Leben genoss. In all meinen früheren Jahren hatte ich nie glückliche Menschen gesehen. Diese hier waren glücklich. Sie mochten arm sein, träumten aber nicht von Reichtum. Konkurrenzdenken war ihnen unbekannt, und Streitigkeiten wurden noch immer mit Pferd und Speer ausgetragen. Löhne und Mieten waren Sorgen, von denen sie nie gehört hatten. Es gab keine Klassenunterschiede, so wie wir sie verstehen. Jeder sprach mit jedem. Ungleichheit erwiderten sie mit echter Brüderlichkeit. Manche klagten, sie würden schlecht regiert, was lediglich bedeutete, dass man sie, von bedeutenden Anlässen abgesehen, sich selbst überließ. Eine Regierung, die für jedes Individuum zuständig ist und sich bis zu einem gewissen Grad in den Alltag einmischt, mag von Europäern geschätzt werden, scheint dem Orientalen jedoch unerträglich zu sein. Ich hatte eine Vision der leidenden Völker der Erde, die sich durch ihr Elend genötigt fühlten, die glücklichen Völker ins Unglück zu stürzen; eine Vision, die in späteren Jahren deutlicher wurde. Doch das unbeschwerte Leben des Orients besitzt, wie jeder weiß, der es zu ändern versucht, eine Widerstandskraft, welche die Heerscharen freudloser Plackerei vielleicht noch besiegen kann.
Mein syrischer Freund, der Suleymân aus den folgenden Skizzen, stellte mich den einzigen Europäern vor, die für solch ein Leben Partei ergriffen – einer französisch-elsässischen Familie, den Baldenspergers, berühmt als Pioniere der fachkundigen Imkerei in Palästina, die gastfreundlich ihren Teil zu meiner Initiation beitrugen. Sie besaßen unzählige Bienenkörbe in verschiedenen Gegenden des Landes – ich habe sie in der Nähe der Gärten von Jaffa und in den Bergen südlich von Hebron gesehen – Körbe, die sie in der entsprechenden Jahreszeit auf Kamelen zu neuen Blumenfeldern transportierten. Lange Zeit ignorierte die Regierung ihr Unternehmen, bis sich das Gerücht verbreitete, es sei sehr einträglich. Also belegte man es mit einer hohen Steuer. Die Baldenspergers weigerten sich, sie zu bezahlen. Sie sagten, die Regierung könne die Bienenkörbe haben, wenn sie wolle. Man schickte Soldaten los, um sie zu beschlagnahmen. Doch die Imker hatten aus jedem Korb den Boden entfernt, und als die Soldaten sie anhoben, schwärmten die zornigen Bienen aus. Die Soldaten ergriffen die Flucht, und nach dieser Erfahrung erklärte sich die Regierung zu einem Kompromiss bereit. Ich erinnere mich noch gut an einen langen Tagesritt mit Emile und Samuel Baldensperger in der Gegend um Askelon und Ekron und an das Mittagessen, das ein Dorfvorsteher für uns aufgetischt hatte, ein ganzes gebratenes Schaf, gefüllt mit Nüssen und Gemüse, und an einen Tag, den ich mit Henri Baldensperger in der Region von Hebron verbrachte. Die in jener Zeit geschlossenen Freundschaften sollten ein Leben lang halten. Hanauer, die Baldenspergers, Suleymân und andere Einheimische zählen, wenn sie nicht gestorben sind, bis heute zu meinen Freunden.
Kurzum, ich war einige Monate völlig außer Rand und Band, so wie es sich für einen Engländer keineswegs geziemt, und als ich schließlich auf eine dringende Einladung in Jerusalem aufkreuzte und meine Empfehlungsschreiben vorzeigte, tat ich dies zum Teil in der Landestracht und erfüllt von einer Liebe zu den Arabern, die, wie man mir zu verstehen gab, unangemessen war. Meine einheimischen Freunde wurden misstrauisch beäugt. Man sagte mir, sie seien unerwünscht, und als ich für sie eintrat, brachte man mich rasch mit der Bemerkung zum Schweigen, ich sei noch sehr jung. Ich konnte schwerlich behaupten, über so viel Erfahrung zu verfügen wie meine erwachsenen Ratgeber, deren häufige Warnungen, man dürfe den Einheimischen nicht trauen, zu einem jener strengen moralischen Gebote wurden, welche junge Leute insgeheim liebend gern missachten.
Deshalb werden die ehrwürdigen, in Syrien lebenden Engländer auf diesen Seiten mit wenigen Ausnahmen als abschätzig und feindselig dargestellt. Sie hatten nichts gegen mich persönlich, sondern nur gegen meine Ansichten, zu denen ich mich damals noch nicht bekannte. Tatsächlich waren so viele von ihnen freundlich zu mir, besonders, wenn ich erkrankte, dass ich nur mit herzlicher Verbundenheit an sie denken kann. Doch die Einstellung der meisten von ihnen konnte ich niemals teilen, und die Tatsache, dass ich sie damals durchaus für richtig hielt und mich selbst mitunter als jämmerlichen Abtrünnigen empfand, ließ sie abscheulich erscheinen. In meinem orientalischen Leben waren Engländer, wie hier beschrieben, wirklich missbilligende Schatten im Hintergrund. Mit einem jedoch – der in diesen Geschichten oft Erwähnung findet – stimmte ich immer überein. Wir lebten monatelang in einem kleinen Bergdorf zusammen, und unsere damals geschlossene Freundschaft besteht bis heute. Doch er war eine Ausnahme, wenn auch nicht die einzige.
Dank des allgemeinen Urteils über meine arabischen Freunde führte ich während der Monate meines ersten Aufenthalts in Jerusalem eine Art Doppelleben, bis am Ende der Touristensaison Suleymân erschien, Abenteuer versprach und ich jede Zurückhaltung aufgab. Wir mieteten zwei Pferde und einen Maultiertreiber und ritten zusammen nach Norden. Vierzehn Tage später, am Fuß der Leiter von Tyros, musste Suleymân mich verlassen, da er in seinem Dorf gebraucht wurde. Ich ritt trotzdem weiter nach Norden, allein mit einem angeheuerten Maultiertreiber, einer schlichten Seele. Vielleicht vermitteln die folgenden Seiten einen Eindruck von meinen Abenteuern; ich habe versucht, das literarisch zu verarbeiten, was mir nach mehr als zwanzig Jahren noch deutlich vor Augen steht. Ein Bericht über Kleinigkeiten, zweifellos; doch kann man aus solch einer humorvollen, skizzenhaften Darstellung von Erfahrungen vielleicht etwas Menschliches lernen, das in gewichtigeren Werken nie zu finden ist.
Die braune Ebene, im Hitzedunst verschwimmend, erstreckte sich weit in die Ferne, wo eine Bergkette den wolkenlosen Himmel zerschnitt. Sechs Monate Dürre hatte alle Pflanzen verwelken lassen. Nur blaue und gelbe Disteln und einige Dornbüsche hatten überlebt. Doch nach den Regengüssen des Winters würde die ganze Fläche aufblühen wie eine Rose. Bei einer späteren Reise durchquerte ich die Ebene im Frühling, als rund um die drei Lehmdörfer, die sich dort befanden, meilenweit Kornfelder wogten, eine irrwitzige Überfülle an Wildblumen die unbebauten Flächen bedeckten und scharlachrote Tulpen inmitten des Weizens aufloderten.
Nun aber war alles Wüste. Nach einem Viertagesritt in solch einer Landschaft denkt man allzu gern an das Ende der Reise, an die Stadt des ganzjährig fließenden Wassers, schattiger Gärten und Vogelgezwitscher. Ich stellte mir unsere Ankunft lebhaft vor, den Schatten und die Rast, die kühlen Getränke, das freundliche Summen der Bazare, und fragte mich, welche Briefe auf mich warteten, alles zur Melodie von »Onward Christian Soldiers«, denn das Klappern der Pferdehufe hämmert mir stets und gegen meinen Willen die unpassendsten Lieder in mein Gehirn, als mich ein plötzlicher Aufschrei erschreckte. Er stammte von meinem Begleiter, einem angeheuerten Maultiertreiber, und klang wütend. Der Bursche war vorausgeritten. Nun sah ich, dass er andere Reisende – zwei Männer, die auf einem Esel saßen – überholt und mit ihnen ein Gespräch angefangen hatte. Einer der beiden, der Hintere, war ein türkischer Soldat. Außer dieser kleinen Gruppe und einem Geier, einem bloßen Fleck am blauen Firmament, war kein anderes lebendiges Wesen in Sicht. Etwas musste geschehen sein, denn der Soldat wirkte belustigt, während mein armer Begleiter mit verzweifelten Gesten protestierte. Er wiederholte den lauten Schrei, der mich aus meinem Tagtraum gerissen hatte, wendete sein Maultier und eilte zurück zu mir.
»Mein Messer!«, schimpfte er. »Mein Messer! … Jene herrliche Stahlklinge, die mir zur Ehre gereichte! … So gut gehärtet und verziert! … Ein Familienerbstück! Dieser Schurke … möge Allah sein Leben verkürzen! … Ich meine den Soldaten … er hat’s gestohlen. Er bat mich, es kurz ansehen zu dürfen, schien es zu bewundern. Und ich Unschuldslamm gab es ihm. Er hat es in seinen Gürtel gesteckt und verlangt, den Schein zu sehen, der mich zum Tragen von Waffen berechtigt. Wer hat in dieser Wildnis je von so etwas gehört? Er wollte es nicht zurückgeben, obwohl ich ihn anflehte. Ich bin der Diener Euer Ehren: Sprecht für mich und zwingt ihn, es zurückzugeben! Es ist ein Erbstück!« Der Grauhaarige weinte wie ein kleines Kind.
Ich war sehr jung, und sein ausdrückliches Vertrauen in meine Autorität schmeichelte mir. Dass er von meiner Mannhaftigkeit abhängig war, erschien mir wertvoller als Gold und Diamanten. Ich nahm also all meinen Mut zusammen, gab meinem Pferd die Sporen und galoppierte dem Plünderer hinterher.
»Gib das Messer zurück!«, brüllte ich. »O Soldat! Ich spreche mit dir.«
Der Soldat wandte mir ein bemüht argloses Gesicht zu – ein gutaussehendes Gesicht mit einem schönen Schnurrbart und den Bartstoppeln einer Woche. Er hatte den Blick eines Gauners.
»Welches Messer? Ich verstehe das nicht«, sagte er sanft.
»Das Messer, das du diesem Maultiertreiber hier gestohlen hast.«
»Ach das!«, antwortete der Soldat mit einem abwehrenden Lachen. »Darüber müssen Euer Ehren sich keine Gedanken machen. Der fragliche Schurke ist ein bekannter Übeltäter. Wir sind alte Bekannte.«
»Beim Barte des Propheten, beim erhabenen Koran, bis zu diesem Moment habe ich das Gesicht dieses Teufels noch nie gesehen!«, schrie der Maultiertreiber, der mich eingeholt hatte.
»Gib das Messer zurück!«, befahl ich zum zweiten Mal.
»Bei Allah, niemals!«, lautete die kühle Antwort.
»Her damit, sage ich!«
»Nein, unmöglich … nicht einmal Euer Ehren zuliebe, obwohl ich, wie Allah weiß, fast alles tun würde, um Euch einen Gefallen zu tun«, murmelte der Soldat mit einem charmanten Lächeln. »Verlangt es nicht. Seid gewiss, dass ich es sofort zurückgeben würde, wenn es Euer Ehren Messer wäre. Aber dieser Mann ist, wie ich schon sagte, ein Schurke. Es bereitet mir Kummer, dass eine so bedeutende Person wegen einem … einem bloßen Hund so aufgebracht ist.«
»Falls er ein Hund ist, so ist er zumindest vorübergehend meiner. Gib also das Messer zurück!«
»Ach, Vielgeliebter, das ist völlig unmöglich.«
Der Soldat erklärte mit einem Wink die Sache für erledigt und wandte sich ab. Er zog eine Zigarette aus seinem Gürtel und wollte sie anzünden. Sein Begleiter auf dem Esel hatte nicht einmal nach hinten geblickt, so wenig Interesse zeigte er an dem Gespräch. Die Sache hatte nun lange genug gedauert. Ich wusste, dass ich im nächsten Moment anfangen würde zu lachen. Falls ich noch irgendetwas unternehmen wollte, musste ich es sofort tun. Ich zog meinen Revolver aus dem Halfter, hielt ihn dem Gauner an den Kopf und schrie: »Gib mir jetzt das Messer oder ich bring dich um!«
Der Mann sackte in sich zusammen. Blitzschnell gab er das Messer zurück. Ich gab es dem Maultiertreiber, der unter Tränen Allah pries und sich damit aus dem Staub machte. Ich wollte ihm gerade ebenso erleichtert folgen, da veranlasste mich der völlig verzweifelte Ausdruck des Soldaten, den Revolver aufzuklappen und zu zeigen, dass er nicht geladen war. Nun verwandelte sich mein Gegenspieler. Er saß wieder aufrecht und mit geschlossenem Mund im Sattel, und seine Augen funkelten scharfsinnig. Er starrte mich kurz fast ungläubig an und begann zu lachen. Ach, wie der Soldat lachte! Der Besitzer des Esels drehte sich um und stimmte mit ein. Sie fielen einander buchstäblich in die Arme und brüllten vor Lachen, während der Esel unter ihnen pflichtbewusst weiterzuckelte.
In einem kleinen Tal voller grüner Ostbäume saß ich vor einer Karawanserei, neben einem schmalen Fluss, dessen Ufer von Oleander gesäumt waren, und wartete auf eine Mahlzeit, als der Esel und seine Reiter erneut in Sicht kamen. Sobald der Soldat mich erspähte, stieg er hastig ab und rannte wie ein Besessener ins Gasthaus. Kurz darauf brachte er das bestellte Essen und deckte für mich den Tisch im Schatten der Bäume.
»Ich dulde es nicht, dass irgendein anderer Euch aufwartet«, verkündete er, »weil der üble Streich, den Ihr mir gespielt habt, so herrlich war. Nicht geladen. Nachdem ich solche Angst hatte! … Es ist ein schöner Revolver. Ich möchte ihn mir ansehen.«
»Ansehen darfst du ihn, solange du willst, aber nicht anfassen«, erwiderte ich, worauf er wieder lachen musste und behauptete, ich sei der lustigste aller Söhne Adams.
»Aber was hättet Ihr getan, wenn ich mich geweigert hätte? Er war nicht geladen. Was hättet Ihr getan?«
Seine Hand lag gerade auf der Stuhllehne. Ich klopfte ihm sachte mit dem Revolvergriff auf die Knöchel, damit er das Gewicht spürte.
»Wallahi!«, schrie er voll Bewunderung. »Ihr hättet mir damit wohl den Schädel eingeschlagen. Das alles nur wegen eines armen bedeutungslosen Mannes, den Ihr für eine Woche eingestellt habt und danach nie wiedersehen werdet. Efendi, lasst mich für immer Euer Diener sein!« Er klang plötzlich sehr ernst. »Kauft mich vom Militärdienst frei. Es kostet recht viel … fünf türkische Pfund. Und Allah weiß, ich zahle es Euch durch meine Dienste zurück. Um der Liebe zur Rechtschaffenheit willen, stellt mich ein, denn meine Seele gehört Euch.«
Ich machte mich lustig über die Idee. Er beharrte darauf. Als der Maultiertreiber und ich wieder aufbrachen, ritt er neben uns, diesmal auf einem anderen Esel – angeblich »geliehen« –, was bewies, dass er sich zu helfen wusste. »Bei Allah, ich kann ein Pferd beschlagen und ein Huhn braten. Ich kann mit Nadel und Faden umgehen, Kleider ausbessern und einen Vogel im Flug schießen«, erzählte er mir. »Ich könnte mich um den Stall und um das Haus kümmern. Ich würde alles tun, was Euer Ehren wünscht. Mein Spitzname ist Rashîd der Schöne. Meine Garnison ist Karameyn, nur zwei Tagesreisen von der Stadt entfernt. Kommt in ein, zwei Tagen und kauft mich frei. Der Lohn ist mir gleich. Nehmt mich probehalber!«
Im Khan, einem ziemlich wüsten, in dem wir übernachteten, bediente er mich sehr geschickt, was mir Respekt einflößte und dazu führte, dass ich mir wirklich wünschte, einen solchen Diener zu haben. Am nächsten Morgen, nach einem einstündigen Ritt, trennten sich unsere Wege.
»In sh’Allah, ich sehe Euch bald wieder«, murmelte er. »Mein Spitzname ist Rashîd der Schöne, nicht vergessen. Ich sage meinem Hauptmann, dass Ihr das Geld bringt.«
Ich sagte, ich würde es mir vielleicht überlegen.
»Bitte«, flehte er. »Ihr wollt doch niemanden beschämen, der Euch vertraut. Ich sage, dass ich Euch beim Hauptmann ankündige. Beschämt mich nicht vor dem Kommandanten und all meinen Kameraden! Ihr haltet mich für einen Dieb, einen Gesetzesbrecher, weil ich dem Kerl das Messer weggenommen habe?«, fragte er mit einem sanften Lächeln. »Ich sage Euch, o mein Lord, dass es mein Recht und meine Pflicht als Soldat des Sultans dieser Provinz gewesen ist. Eigentlich bricht dieser Maultiertreiber das Gesetz, indem er ohne Erlaubnis ein Messer trägt. Und Ihr, habt Ihr eine Genehmigung für diesen schönen Revolver? Dort, wo wir gestern zu Mittag aßen, waren andere Soldaten. Hätte ich sie um Hilfe gebeten, hätte ich das Messer und Euren Revolver leicht an mich nehmen können, und das ganz ehrenhaft, in völliger Übereinstimmung mit dem Gesetz. Warum habe ich es nicht getan? Weil ich Euch liebe! Versprecht mir, nach Karameyn zu kommen und mich auszulösen.«
Ich sah ihm nach, wie er auf seinem Esel zu einer Wasserrinne in den Bergen zuckelte, an deren Ufer der Reitweg nach Karameyn lag. Allem Anschein nach musste Rashîd ein Schurke sein, doch im Innersten war ich von seiner Ehrlichkeit überzeugt. Jeder Europäer im Land würde erschrocken die Hände heben und »Hüte dich!« rufen, wenn er so eine Geschichte hört. Doch als ich über die ausgetrocknete braune Ebene zur Stadt der grünen Bäume und brausenden Flüsse ritt, wusste ich, ich würde nach Karameyn reisen.
Der lange Tagesritt verlief ereignislos, aber nicht die Nacht. Ich nächtigte in einem Bergdorf in einer sehr seltsamen Herberge, die von einem dicken einheimischen Christen namens Elias geführt wurde, der, wie es ein Schild behauptete, Mahlzeiten und Unterkunft alafranga bot – das heißt, nach moderner, europäischer Manier. Es gab einen großen Gastraum und nebenan ein ebenso geräumiges Schlafzimmer für rund dreißig Reisende. Einen Stall für mein Pferd musste ich anderswo suchen. Wir saßen auf Stühlen um einen Esstisch, doch die Zutaten der Mahlzeit waren keineswegs europäisch und die Zubereitung minderwertig griechisch. Vor allen Gästen lagen Messer, Gabel und Löffel, aber einige warfen das Besteck auf den Boden und aßen mit den Fingern. Im langen Schlafzimmer standen ein Dutzend Betten mit Matratzen. Indem ich einen kleinen Aufpreis bezahlte, sicherte ich mir eines für mich allein. In anderen lagen zwei, drei, sogar vier zusammen. Ein älterer armenischer Herr, der von seiner Frau begleitet wurde, bewachte sie die ganze Nacht mit Pistolen. Er war so töricht, jeden, der es wagte, in ihre Nähe zu kommen, lautstark zu bedrohen. Nachdem er dies mehrmals getan hatte, erhob sich ein Mann von meinem Nachbarbett, schlenderte zu ihm hinüber und packte ihn am Hals.
»O Mann«, schimpfte er, »bist du etwa von Sinnen, unsere Leidenschaft anzustacheln, indem du von Frauen sprichst? Schweig oder wir ehrlichen Männer hier drehen dir den Hals um und nehmen dir deine Frau weg. Verstehst du?« Er schüttelte den eifersüchtigen Gatten wie ein Terrier eine Ratte. »Schweig, hörst du? Männer wollen schlafen.«
»Habe ich nicht gut gesprochen, o Bruder?«, sagte der Ordnungshüter zu mir, als er sich wieder hinlegte.
»Bei Allah, gut«, erwiderte ich. Der Eifersüchtige blieb still. Doch es gab andere Geräusche. Einige Männer hielten sich immer noch im Gastraum auf und spielten Karten. Der Wirt, der für alles Europäische schwärmte, besaß eine Musikdose, welche die Kartenspieler die ganze Nacht klimpern ließen – Grammophone gab es glücklicherweise noch nicht. Ich hatte leichtes Fieber. Es gab Insekten. An Schlaf war nicht zu denken. Ich stand auf, als es noch finster war, ging ohne zu zahlen hinaus, da der Wirt sich nirgendwo blicken ließ, und suchte, Angriffe wilder Straßenköter riskierend, das Gewölbe, in dem mein Pferd stand. Zehn Minuten später hatte ich das Dorf verlassen und ritt an einem Berghang entlang, der im Licht der Sterne kaum zu sehen war. Der Pfad führte in eine tiefe Schlucht hinab und dann wieder endlos hinauf. Als ich den Bergkamm erreicht hatte, spürte ich die Morgendämmerung. Die Bergspitzen färbten sich weiß wie Wellenkämme, während all die Klüfte und Mulden von Nacht erfüllt blieben. Hinter mir, im Osten, sah man einen langen weißen Streifen, der die Umrisse der Berge kahl und scharf hervortreten ließ. Die Sterne wirkten fremd. Eine frische Brise fächelte meine Wange und raschelte im Gras und in den Sträuchern. Vor mir, auf einer einsamen Klippe, kam mein Ziel in Sicht: ein großes Dorf, viereckig gebaut wie eine Festung. Seine Gebäude färbten sich bald zart wie eine Wildrose und wurden dann flammend rot – ein herrlicher Anblick vor dem dunkelblauen Himmel, der immer noch von Sternen übersät war. Ein grelles Licht auf einer Fensterscheibe. Die Sonne war aufgegangen.
Einige Engländer, denen ich von meiner Absicht erzählte, einen Mann aus der türkischen Armee freizukaufen, hielten es für Irrsinn. Ich würde die Menschen in diesem Land nicht so kennen wie sie. Man werde mich ausplündern, ins Elend stürzen, vielleicht ermorden. Sie, die seit zwanzig, dreißig Jahren im Land lebten, wüssten besser Bescheid als ich. Um des lieben Friedens willen stimmte ich ihnen zum Schein zu und trieb meinen Plan heimlich voran. Als ich aufbrach, ohne irgendjemandem davon zu erzählen, fühlte ich mich fast, als würde ich die Schule schwänzen, und mit derselben Abenteuerlust näherte ich mich nun Karameyn. Zwei Soldaten, die sich auf einem Erdhaufen sonnten, sprangen auf, als ich vor ihnen stand. Einer der beiden war der Mann, den ich suchte, der Schurke Rashîd. Sie führten mich zum Haus ihres Hauptmanns – ein bescheidenes Gebäude mit einem einzigen, spärlich möblierten Zimmer. Zahlreiche Soldaten folgten uns.
Der Hauptmann – Hasan Agha –, ein alter Mann mit vernarbtem Gesicht und einem dicken, weißen Schnurrbart, trug eine komplette Uniform und zog, als ich eintrat, weiße Baumwollhandschuhe an. Er war einer der alten Alaïli, türkische Offiziere, die ihren Beruf während des Dienstes in einem Regiment oder Alaïl gelernt hatten statt in einer Militärschule, und seinen Männern gegenüber benahm er sich keineswegs wie ein Zuchtmeister. Er nannte sie liebevoll »meine Kinder«, und sie verhielten sich zwar respektvoll, aber unterhielten sich freimütig in seiner Gegenwart. Hasan Agha machte mir zahlreiche Komplimente und erkundigte sich immer wieder nach meinem Befinden. Von meinen geschäftlichen Anliegen wollte er nichts wissen, ehe ich nicht gefrühstückt hatte. Man habe ein Mittagessen für mich vorbereitet, sagte er, doch das sei erst in ein paar Stunden fertig. Ob ich so freundlich wäre, mit einem Ersatz vorliebzunehmen? Noch während er sprach, trat ein Soldat mit einem Tablett ein, darauf arabisches Fladenbrot, eine Schüssel saure Milch und Trauben. Ein anderer Soldat begann Kaffee zu mahlen, während ein dritter auf die Holzkohle in einer Kohlenpfanne blies. Ich weigerte mich, zu essen, wenn mein Gastgeber mir nicht Gesellschaft leistete, was er nach langem, höflichen Widerstand auch tat. Nach der Mahlzeit unterhielten wir uns, und die Soldaten beteiligten sich an unserem Gespräch. Sie erzählten mir von vergangenen Kriegen und mutigen Taten. Hasan Agha war anscheinend ein berühmter Kämpfer, und seine Männer bemühten sich sehr, ihn zu überreden, von seinen Schlachten zu erzählen. Sie holten einen alten Mann aus der Stadt, der im Krimkrieg gekämpft hatte und Englisch sprach. Bevor es zu heiß wurde, zeigten sie mir die Baracken und ein klappriges altes Feldgeschütz, das sie zu vergöttern schienen. Dann folgte das Mittagessen mit seiner langen Reihe arabischer Gerichte, von denen schließlich auch die Soldaten etwas abbekamen. Rashîd versicherte mir später, alle Speisen für diesen Anlass seien »geliehen«. Dies geschah in den glorreichen Tagen Abdul Hamids. Nach dem Essen gab es Kaffee und weitere Komplimente, und dann kamen wir endlich zum Geschäft.
Ein Amtsschreiber wurde hereingeführt. Er schrieb einen Beleg für mich und das von Rashîd benötigte Entlassungspapier. Hasan Agha stempelte beide Dokumente mit einem staatlichen Siegel und überreichte sie mir im Austausch für das Geld.
»Bismillah!«, rief er. »Ich bezeuge hiermit, dass Rashîd, der Sohn Alis, genannt der Schöne, von nun an frei ist und gehen kann, wohin er will.«
Zu mir sagte er: »Rashîd ist ein guter Junge und wird Euch nützlich sein. Sein größter Fehler ist, dass er beim Befolgen von Befehlen gerne nachdenkt und eine eigene Methode ersinnt, die nicht immer gut ist. Auch verfällt er leicht den Reizen der Frauen, ein Makel, der ihn schon oft in seltsame Situationen gebracht hat.«
Die letzte Bemerkung wurde mit lautem Gelächter quittiert und bezog sich offenbar auf einen mir unbekannten altbewährten Scherz. Rashîd wirkte ziemlich verlegen. Hasan Agha wandte sich an ihn und sprach: »Mein Sohn, preise Allah für dein großes Glück, dass ein so edler und gütiger Mensch wie unser geliebter Gast, der von nun an dein Herr ist, Gefallen an dir gefunden hat. Denk daran, dass er anders ist als ich … der einst wie du war und die Tricks kennt. Diene ihm freimütig mit deinem Verstand und deiner Seele und deinem Gewissen, warte nicht auf Befehle wie in der Armee. Möge Gott dich jetzt und immerdar begleiten! Vergiss nicht all die guten Lehren deiner Soldatenzeit. Sei gewiss, dass wir für deinen guten Herrn und für dich beten.«
Der Alte bekam feuchte Augen, ebenso Rashîd und alle ringsum hockenden Soldaten.
Der entlassene Rashîd ging fort, um seine Uniform gegen einen alten Anzug von mir zu tauschen, den ich ihm mitgebracht hatte, während Hasan Agha, der wie ein Vater über ihn sprach, mir seine Charakterzüge und seine kleinen Fehler erläuterte.
Schließlich verabschiedete ich mich. Rashîd wartete in meinen abgetragenen Kleidern, auf dem Kopf ein neuer Fez, wie ihn Zivilisten tragen. Er hielt meinen Steigbügel und sprang dann auf ein klappriges Vieh, das, so erklärte er mir, seine Freunde für ihn »geliehen« hatten. Später meinte er, es könne von Vorteil sein, es für ihn zu kaufen – für nur acht türkische Pfund, ein Spottpreis. Die ganze Garnison begleitete uns zu den letzten Häusern, wo sie lange stehenblieben und uns zum Abschied nachwinkten. Zwei Stunden später, auf dem Bergkamm hinter dem Wadi, drehten wir uns um und warfen einen letzten Blick auf Karameyn. Es stand in den Flammen des Sonnenuntergangs wie ein Schloss in den Wolken.
Dann kehrten wir zurück zur Herberge alafranga. Doch Rashîd, der die Geschichte meiner schlaflosen Nacht gehört hatte, ließ nicht zu, dass ich dort einkehrte. Ich beglich meine Schulden bei dem Besitzer, und dann fand Rashîd für mich ein leeres Haus, in das er eine Matratze und eine Decke brachte, jede Menge Kissen, eine Kohlenpfanne, das nötige Zubehör, um Kaffee zu kochen, dazu ein Tablett mit Abendessen – alles geborgt von den umliegenden Häusern. Vielleicht würde er mich ausplündern, ins Elend stürzen und schließlich ermorden, wie meine Freunde mich gewarnt hatten. Doch würde ich es dabei zumindest bequem haben.
»Wo ist die Peitsche?«, rief Rashîd plötzlich im Tor des Khan, den wir gerade erreicht hatten, und drehte sich zu mir um.
»Barmherziger Allah! Ich hab sie nicht bei mir. Ich muss sie in der Kutsche liegengelassen haben.«
Rashîd ließ die Satteltaschen fallen, die er getragen hatte, unser übliches Gepäck, und rannte um sein Leben. Die Kutsche war die schmale, zum Teil mit Sonnensegeln überdachte Straße zur Hälfte hinuntergefahren. Bei Rashîds wildem Schrei, »Warte, o mein Onkel! Wir haben unsere Peitsche vergessen!«, warf der Kutscher einen Blick zurück, doch anstatt anzuhalten, trieb er seine Pferde zum Galopp an. Rashîd lief noch schneller. Die Kutsche verschwand rasch und war bald nicht mehr zu sehen. Die Dämmerung brach an. Über den niedrigen, flachen Dächern im Westen hing der Sichelmond im Grün des Sonnenuntergangs hinter den Minaretten der großen Moschee. Da hob ich die Satteltaschen auf und bahnte mir vorsichtig meinen Weg zwischen schlafenden Kamelen und angebundenen Mauleseln und Pferden zum Hof des Khan, der eine Art Kloster war. Ich verhandelte mit dem Gastwirt, als Rashîd, der ein Bild der Verzweiflung bot, zurückkehrte. Er streckte seine Hände in die Luft, gestand sein Versagen ein und sank dann stöhnend zu Boden. Der Wirt, ein stämmiger Mann, fragte, was ihm Kummer bereite. Ich sagte es ihm, und er äußerte gerechte Urteile über Kutscher und die Vergänglichkeit weltlicher Güter. Wie ich sehen könne, sei Rashîd zi’lân – ein Opfer jener sonderbaren Mischung aus wahnsinniger Wut, Kummer und Verzweiflung, welche unter den Kindern der Araber eine regelrechte Krankheit darstellt. Ein englischer Diener hätte sich nicht so sehr um einen kleinen Gegenstand aus dem Besitz seines Herrn geschert, der nicht seinetwegen, sondern aufgrund der Nachlässigkeit seines Herrn verloren gegangen ist. Doch mein Besitz war Rashîds ganzes Glück, seine Ehre fußte darauf. Er prahlte damit vor jedermann. Besonders verehrte er mein Gewehr, meinen Dienstrevolver und diese Peitsche – ein harter Riemen aus Nashornleder mit einem ziemlich hübschen Silbergriff –, die mir ein betagter Araber als Dank für irgendeine eingebildete Gunst geschenkt hatte. Sie hatte sich als nützlich erwiesen, um Straßenköter zu vertreiben, wenn sie in Rudeln herbeiliefen, um dem Pferd in die Beine zu beißen, doch bevor Rashîd zu mir stieß, hatte ich sie nie als Ehrenabzeichen betrachtet. Für ihn war sie das Wertvollste unserer Besitztümer, ein Kennzeichen unseres höheren Rangs. Er drückte sie mir sogar in die Hand, wenn ich spazierenging, und als wir am selben Tag zu Mittag von unserem Haus in den Bergen aufgebrochen waren, hatte er sie ehrerbietig auf den Sitz neben mir gelegt, bevor er neben dem Kutscher auf den Bock geklettert war. Und nun war die Peitsche wegen meiner Nachlässigkeit verloren. Rashîds Niedergeschlagenheit beschämte mich fürchterlich.
»Allah! Allah!«, stöhnte er. »Was kann ich tun? Wir haben den Kutscher nur zufällig getroffen. Ich kenne sein Haus nicht, das Gott zerstören soll!«
Der Wirt bemerkte beschwichtigend, Fleisch sei Gras, alle Schätze vergänglich, und es sei die Pflicht eines Mannes, seine Wünsche auf höhere Dinge zu richten. Bei diesen Worten sprang Rashîd auf, als hätte er die Geduld verloren, und rannte fort, flitzte mit fast übernatürlicher Behendigkeit zwischen den Tieren im Hof hindurch. »Lasst ihn seine Wut allein abkühlen!«, riet mir der Wirt mit einem Schulterzucken.
Nachdem ich das Essen für die dritte Stunde des Abends bestellt hatte, ging ich ebenfalls hinaus, um meine Glieder zu strecken, die nach vier Stunden Rüttelei einer ungefederten Kutsche, die immer kurz vor dem Umkippen stand, steif und geschunden waren. Es wäre uns besser ergangen, wären wir wie üblich geritten, doch als Rashîd zufällig auf die Kutsche gestoßen war, eine Seltenheit, hatte er beschlossen, diese Art des Reisens sei vornehmer. Allerdings hatte er nicht bedacht, dass es keine Straße gab.
Der Himmel war voller Sterne. In den wenigen noch geöffneten Läden hingen Laternen, warfen Streifen gelben Lichts auf den unebenen Fußweg und ließen die Augen der Wanderer und streunenden Hunde schimmern. Viele Leute auf der Straße trugen ebenfalls Laternen, deren Schaukeln Dinge in ihrem Umkreis scheinbar hochspringen und fallen ließen. Schließlich erreichte ich einen offenen Platz, wo dichtes Gedränge herrschte – einen rechteckigen Platz, den man als Stadtzentrum bezeichnen könnte.
Verblüfft stellte ich fest, dass die Menschen stehenblieben und alle Gesichter in eine Richtung schauten. Ich hörte die Stimme eines Mannes laut klagen und wild rufen.
»Was ist los?«, fragte ich am Rand der Versammlung.
»Ein großes Unglück!«, antwortete jemand. »Ein armer Diener hat eine Peitsche im Wert von fünfzig türkischen Pfund verloren, das Eigentum seines Herrn. Ein Schurke hat sie ihm gestohlen – ein böser Kutscher. Sein Herr wird ihn töten, wenn er sie nicht wiederfindet.«
Von Neugier gepackt, drängte ich mich nach vorne. Da stand Rashîd an der Mauer einer großen Moschee und warf sich mit einem entsetzlichen Schrei dagegen. Eine Gruppe Soldaten mit hohen Fezen, die Polizei der Stadt, umringten ihn voll Mitgefühl und stellten Fragen. Zum Glück trug ich einen Fez, war also unauffällig.
»Fünfzig türkische Pfund!«, schrie er. »Für hundert könnte man nichts Gleichwertiges kaufen! Mein Herr, ein bedeutender Graf unter allen Engländern … ihr oberster Fürst, bei Allah! … liebt sie wie seine Seele. Er reißt mir Herz und Leber heraus und wird beides verschlingen. O großer Beschützer! O Allmächtiger!«
»Wie hat denn dieser Kutscher ausgesehen?«, fragte ein Wachtmeister.
Rashîd beschrieb schluchzend und mit manch frommer Zwischenbemerkung den Kutscher ziemlich klar als »einäugigen Mann mit Vollbart, die untere Körperhälfte aufgebläht. Sein Name, sagte er, sei Habib; aber weiß Allah!«
»Der Mann ist bekannt«, rief der Wachtmeister eifrig. »Sein Haus ist ganz in der Nähe. Komm, o du armer Misshandelter. Wir holen uns die Peitsche zurück.«