Die Tochter der Hexe - Paula Brackston - E-Book

Die Tochter der Hexe E-Book

Paula Brackston

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Beschreibung

Bathcomb, England, im Jahr 1628. Fassungslos muss die junge Bess Hawksmith mit ansehen, wie ihre Mutter als Hexe hingerichtet wird. Doch damit nicht genug, die Hexenjäger sind auch hinter ihr selbst her. Verzweifelt vertraut sich Bess dem geheimnisvollen Gideon Masters an, von dem man hinter vorgehaltener Hand munkelt, er sei ein Schwarzmagier. Und tatsächlich zwingt Gideon Bess zu einem dunklen Pakt ... Dorset im Jahr 2007: Bess hat sich in der ruhigen Ortschaft Matravers ein neues Leben aufgebaut. Dank ihrer Kräutermischungen und homöopathischen Heilkünste ist sie bei den Einheimischen hoch angesehen. Keiner ahnt, dass die freundliche, attraktive Frau in Wahrheit eine unsterbliche Hexe ist. Bis Bess eines Tages von den finsteren Mächten ihrer Vergangenheit eingeholt wird.

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Seitenzahl: 629

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Das Buch

Bathcomb, England, im Jahr 1628. Fassungslos muss Bess Hawksmith mit ansehen, wie ihre Mutter als Hexe hingerichtet wird. Doch damit nicht genug, die Hexenjäger sind auch hinter der jungen Frau selbst her. Verzweifelt vertraut sich Bess dem geheimnisvollen Gideon Masters an, von dem man hinter vorgehaltener Hand munkelt, er sei ein Schwarzmagier. Doch Bess ist fasziniert von dem düsteren, schönen Mann und nimmt seine Hilfe an. Nicht ahnend, dass Gideon sie zu einem dunklen Pakt zwingen wird.

Dorset im Jahr 2007: Elizabeth hat sich in der ruhigen Ortschaft ­Matravers ein neues Leben aufgebaut. Dank ihrer Kräutermischungen und homöo­pathischen Heilkünste ist sie bei den Einheimischen hoch angesehen. ­Keiner ahnt, dass die freundliche, attraktive Frau in Wahrheit eine unsterbliche Hexe ist. Bis Bess eines Tages von den finsteren Mächten ihrer ­Vergangenheit eingeholt wird …

Die Autorin

Paula Brackston wurde in Dorset, England, geboren und ist in Wales aufgewachsen. Sie studierte Kreatives Schreiben an der Lancaster University und arbeitete zunächst in verschiedenen Berufen, bevor sie mit Die Tochter der Hexe ihren ersten Roman vorlegte, der direkt die New York Times-Bestsellerliste eroberte. Wenn sie nicht gerade schreibt, unterrichtet Paula Brackston an der University of Wales, Newport. Sie lebt mit ihrer Familie in Wales.

Mehr über die Autorin und ihre Werke erfahren Sie auf:

www.paulabrackston.com

»Mit ihrem Abenteuer um die unsterbliche Hexe Bess und ihren ­Widersacher Gideon zieht Paula Brackston den Leser von der ersten Zeile an in ihren Bann.« MARIE CLAIRE

»Die Tochter der Hexe ist Pflichtlektüre für jeden, der den Alltag hinter sich lassen und in magische Welten abtauchen möchte.« HUFFINGTON POST

»Paula Brackstons Debütroman Die Tochter der Hexe fasziniert mit einer wunderbaren Mischung aus Historie und Fantasy.« BOOKLIST

»Mühelos verwebt Paula Brackston in Die Tochter der Hexe die Vergangenheit mit einer magischen Gegenwart.« PUBLISHERS WEEKLY

»Eine mitreißende Geschichte über dunkle Magie und den Verlust der Unschuld.« KIRKUS REVIEWS

»Fantasy-Fans werden begeistert sein.« PORTLAND BOOK REVIEW

»Ein Roman voller wunderbarer Überraschungen und unvorhergesehener Wendungen.« THE NATIONAL EXAMINER

»Man kann nicht anders, als diese Heldin zu lieben.« NIGHTOWL REVIEWS

Paula Brackston

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetztvon Charlotte Lungstrass-Kapfer

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe:THEWITCH’S DAUGHTER

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 03/2019

Redaktion: Diana Mantel

Copyright © 2010 by Paula Brackston

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Printed in Germany

Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München, unter Verwendung von Motiven von Jag_cz / Shutterstock und Duda Vasilii / Shutterstock

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-23237-5V001

www. heyne.de

Für Simon, der weiß, wie hoch der Preis war.

Batchcombe, Wessex. 1628.

Bess rannte. Der klare Nachthimmel und riesige Vollmond schufen genug Licht für ihre Flucht. Sie fürchtete die Morgendämmerung, denn dann würden sie ihre Abwesenheit bemerken, und die Jagd würde beginnen. Die Fußeisen an ihren Knöcheln schlugen bei jedem Schritt schmerzhaft gegen ihre Beine. Ein gesprengtes Glied an jeder Seite war alles, was von den Ketten noch übrig war. Das Metall rieb ihre weiche Haut auf, bis sie eine dünne Blutspur hinter sich herzog. Ihre nackten Füße klatschten auf den weichen Schlamm und schlugen einen altbekannten Weg ein, der sich schon lange in ihrem Gehirn eingebrannt hatte – wie eine deutliche Karte lag er vor ihr und bannte die Gefahr, dass sie eine falsche Abzweigung nehmen könnte, während sie das Dorf hinter sich ließ und Richtung Wald lief. Trotzdem kam ihr die Entfernung größer vor als jemals zuvor, die Bäume schienen vor ihr zurückzuweichen, abgeschreckt von ihrer erstickenden Panik. Egal wie schnell sie lief, sie schien ihnen einfach nicht näher zu kommen.

Eine Illusion. Das Mondlicht und die Schatten lassen das nur so aussehen. Ich darf nicht straucheln.

Ihr Atem klang viel zu laut, so laut, dass er die Schlafenden in einem abgelegenen Cottage wecken könnte. Ihr Herzschlag dröhnte wie Donner, konnte doch gar nicht unbemerkt bleiben. Immer weiter rannte sie, bis sie endlich die schützende Deckung der kleinen Bäumchen am Waldrand erreichte. Hier im Gehölz fühlte sich die Dunkelheit anders an. Die ersten Blätter des Frühlings ließen das Mondlicht nur gebrochen auf die Erde fallen, rechts und links vom Weg schienen sich Wurzeln und Dornenranken nach ihr zu strecken, um sie festzuhalten. Sie rannte weiter, keuchte nur leise, wenn sich spitze Steine in ihre nackten Fußsohlen bohrten. Als sie durch einen kleinen Bach watete, ließ das eisige Wasser den Schmerz kurz abflauen, bevor sich die körnige Erde des Waldbodens mit jedem Schritt tiefer in die Schnitte schob. Eine Eule tat mit einem schrillen Schrei ihren Unmut über die menschliche Präsenz kund. Ein Dachs zog sich hastig in seinen Bau zurück und wartete ab, bis die Störung vorbei war.

Die kühle Nachtluft brannte in Bess’ Kehle. Doch auch hustend und keuchend behielt sie ihr Tempo bei; eigentlich störte es sie nach den vielen Stunden in der engen, stinkenden Kerkerzelle nicht einmal. Hier gab es wenigstens genug Luft zum Atmen. Auf einer kleinen Anhöhe blieb sie stehen und stützte sich am Stamm einer großen Esche ab. Der Geschmack des Waldes lag auf ihrer Zunge: das Moos, die silbernen Flechten, der aufsteigende Saft der Bäume. Daneben gaben sich zwei weitere Dinge klar zu erkennen – ihre eigene Angst und das Meer. Beides bitter wie Salz, beides geprägt von Furcht und Freiheit. Sie spähte den Pfad entlang, der ins Herz des Waldes führte. Dort konnte sie ihren Verfolgern entkommen. Dort würde er auf sie warten, mit Pferden, Proviant, einem Plan und einem Ziel, das sie ansteuern konnte. Indem sie ihre letzten Kraftreserven mobilisierte, stieß sie sich von dem Baumstamm ab. Aber irgendetwas ließ sie zögern. Eine innere Stimme ließ sie innehalten. Bedenke, sagte sie, welchen Preis diese Freiheit hätte.

Ein Geräusch in der Ferne ließ sie zusammenfahren: Hunde. Wenige Augenblicke nur, dann wären sie hier. Sie durfte nicht zögern. Und trotzdem ließ sich diese Stimme nicht zum Schweigen bringen. Bedenke dies, warnte sie eindringlich.

Mutter? Was soll ich tun?

Wie als Antwort auf ihre Frage trug ein Windstoß den Geruch der See zu ihr heran. Das Hundegebell, das vom Dorf herüberdrang, wurde lauter, durchmischt mit einzelnen Rufen. In der Dunkelheit schien sich etwas zu bewegen. Dann erkannte sie eindeutig einen Reiter und mehrere Pferde. Ihre Verfolger würden sie töten, das wusste sie. Aber welchen Preis würde sie zahlen müssen, wenn Gideon ihr zur Freiheit verhalf?

Nein, ich werde nicht zu ihm gehen. Ich werde es nicht tun.

Sie drehte sich um und rannte in östlicher Richtung weiter, fort von den Bäumen, fort von den geifernden Hunden, fort von ihm. Sekunden später brach sie aus dem Wald hervor und rannte über das weiche Torfmoor, über die weite Ebene, dem einen Ziel entgegen, das ihr nun noch blieb – dem Meer. Dass er sie verfolgte, konnte sie mehr spüren als hören. Sie wagte es nicht, sich umzusehen. Als sie den Pfad an den Klippen erreichte, stieg gerade die wässrige Sonne über den Horizont und tauchte das Meer in bitteres Rot. Die Nacht wurde von dumpfem, schattenlosem Tageslicht verdrängt, das Bess keinerlei Deckung mehr ließ. Am Rand der Klippe blieb sie stehen. Drüben im Dorf wurden im grauen Zwielicht Fackeln entzündet; gesichtslose Gestalten kamen viel zu schnell näher. Über dem hypnotischen Klang der Wellen, die unten gegen die Felsen schlugen, konnte sie das Trommeln der Hufe auf dem weichen Boden hören. Obwohl er nicht nach ihr rief, erklang seine Stimme in ihrem Kopf. Bess! Bess! Bess!

Sie drehte sich nicht um. Ein Blick in seine Augen würde sie willenlos machen. Unter ihr war der Strand vollständig von der Flut verschlungen worden, sie sah nichts außer tiefem Wasser, spitzem Kies und Kalkstein, der mühelos Knochen zertrümmern konnte. Inzwischen war die Sonne ein wenig höher gestiegen, sodass sie in ein brennendes Inferno sah, als sie den Blick gen Himmel richtete. Dann hob sie den Fuß und trat ins Leere.

Mein Name ist Elizabeth Anne Hawksmith, und ich bin dreihundertvierundachtzig Jahre alt. Jeder Ort erfordert ein neues Tagebuch, und so beginnt diesesBuch der Schatten.

IMBOLG

2. Februar 2007 – Vollmond

Im Morgengrauen aufgewacht; Willow Cottage lag unter einer dicken Schneedecke. Das Land ringsum wartete still und in einem Hermelin-weißen Mantel darauf, sich mir bei einer besseren Gelegenheit vorzustellen. Die zarte Röte des Himmels versprach einen Hauch von Wärme. Wie ich bereits erwartet hatte, bietet das Fenster im Schlafzimmer einen hervorragenden Ausblick auf das kleine Dorf Matravers. Durch seinen Platz auf dem runden Hügel jenseits der Wiese ist mein kleines Haus angenehm entrückt von den Reetgedeckten Häuschen und dem gepflasterten Platz, der das Zentrum des Ortes bildet. Rund um die Wiese verteilen sich ein Postamt, ein kleiner Laden, ein vornehm anmutender Gasthof und die Bushaltestelle, von der aus die Kinder in die Schule gekarrt werden und die Rentner einmal in der Woche zum Markt in Pasbury fahren. Am anderen Ende des Dorfangers steht die Kirche, etwas zurückgesetzt und halb verborgen hinter einigen beeindruckenden Eibenbüschen. Von der Gasse hinter der Kirche aus kommt man zu dem Kanal, der Richtung Westen, also nach Pasbury fließt. An der Vorderseite des Hauses habe ich freien Blick auf jeden, der sich nähert, während das Wäldchen an der Rückseite einen angenehmen Rückzugsort bildet. Ich kann also selbst entscheiden, wann ich sehen und gesehen werden will.

Natürlich gebe ich mir alle Mühe, so wenig wie möglich aufzufallen – so wenig, wie mein zugegeben ungewöhnliches Äußeres es eben erlaubt. Eine alleinstehende Frau weckt immer eine gewisse Neugier, vor allem wenn sie sich auch in anderen Dingen von der Menge abhebt. Da mir dies bewusst ist, binde ich mein langes Haar meistens zusammen und trage oft eine Mütze oder einen Hut. Mein Vater sagte immer, mein Haar habe die Farbe von Herbstlaub, was wohl daran liege, dass ich im September geboren wurde. Und er hatte recht, meine Haarfarbe passt perfekt zu dieser Jahreszeit, eine Mischung aus dem hellen Glanz reifer Kastanien und dem Kupferton, den das Eichenlaub in dieser schläfrigen Phase des Jahres annimmt. Doch diese Farbe allein würde – auch wenn meine Haare außergewöhnlich lang sind – noch keine Aufmerksamkeit erregen. Vielmehr ist es der Kontrast zwischen diesen satten Farben und der dicken, weißen Strähne, die an der rechten Seite meines Gesichts herabfällt, die viele Leute ein zweites Mal hinsehen lässt. Dies ist keine silbrige Spur fortschreitender Reife, sondern ein schneeweißer Streifen, ein eisiger Strich, als hätte die Göttin des Winters mich gezeichnet. Dabei wünschte ich, die Ursache dafür wäre so harmlos. Die Wahrheit jedoch ist um so vieles düsterer.

Außerdem bin ich groß gewachsen und trotz meines hohen Alters stark und vital; mein Äußeres legt den Schluss nahe, dass ich um die fünfzig bin, kaum älter. Meine Kleidung wähle ich nach Bequemlichkeit und Praktikabilität aus, und nach ihrer Unauffälligkeit. Heutzutage scheint die Mode die Launen jeder Frau zu bedienen, weshalb meine langen Röcke und meine Vorliebe für satte Farben und schwere Stoffe nicht allzu ungewöhnlich sind. Selbst meine Lieblingsstücke, die ich während der vielen Jahre zusammengetragen habe, in denen ich kreuz und quer über den Erdball gezogen bin, kann ich heutzutage tragen, ohne dadurch für mehr als etwas exzentrisch gehalten zu werden.

Das Cottage wird meinen Ansprüchen sicherlich vollauf genügen, zumindest nachdem ich ein paar Änderungen vorgenommen habe. Ich möchte einen Weg von der Hintertür bis zu dem Fluss anlegen, der unter den Weiden hindurchfließt, von denen das Haus seinen Namen bekommen hat. Die Stechpalmenhecke am vorderen Grundstücksrand muss verdichtet werden, und wenn die Zeit dafür gekommen ist, muss ich einen Platz für Holunder, Birke und Eberesche finden. Den Garten werde ich komplett umgraben müssen, und an der Westseite des Hauses fehlt jeglicher Schatten, was man unbedingt ändern muss. Diese Stelle wäre perfekt für einen Kräutergarten geeignet, allerdings ist die Fläche sehr groß, und alles andere, was man dort anpflanzen würde, würde sonst mit Sicherheit verbrennen. Vorerst muss das Haus allerdings so bleiben, wie es ist, da das extreme Wetter es nicht zulässt, dass ich draußen arbeite. Falls der Himmel heute Nacht so klar ist, dass der Mond zum Vorschein kommt, werde ich den Küchengarten abgehen und mit Haselruten abstecken. Vielleicht mache ich sogar eine Nachtwanderung, wobei ich aber wohl nicht weiter gehen werde als bis zum Rand des großen Waldes, der sich hinter dem Haus am Horizont abzeichnet. Er ruft mich zu sich, aber noch bin ich nicht bereit, ihn zu betreten. Er gehört einer anderen Zeit an.

An strahlenden Tagen wie diesem, wenn alles neu ist und die Zukunft greifbar zu werden scheint, ist es leicht, die Vergangenheit für ein paar Augenblicke einfach zu vergessen. Als könne sie nicht ihren Schatten über den makellosen Schnee werfen. Zu Imbolg suche ich mir immer am liebsten ein neues Heim, schließlich ist diese Zeit des Jahres der Wiedergeburt und Erneuerung gewidmet. Aber ich kann es mir nicht erlauben, selbstzufrieden zu werden. Ich darf nicht in meiner Wachsamkeit nachlassen. Natürlich ist diese pittoreske Landschaft freundlich, wie sicherlich auch ein Großteil meiner neuen Nachbarn es sein wird. Die Gefahr wird – wie immer – aus der Ferne kommen. Sie lauert mir nicht auf, sondern folgt mir. Die Illusion von Sicherheit darf nicht dazu führen, dass ich mich angreifbar mache.

6. Februar 2007 – Mond im dritten Viertel

Im Tal liegt immer noch Schnee, obwohl er inzwischen nicht mehr makellos ist. Die Spuren eines dicken Dachsbauches zeigen mir, dass sich wohl ein Wildpfad durch meinen Garten zieht. Vor Ostara werde ich den pelzigen Gesellen davon überzeugen müssen, dass er besser nicht meine jungen Pflänzchen ausgräbt. Der Fußweg zum Haus ist inzwischen wieder schwarz, ebenso die Gärten im Dorf, in dem von den Schneemännern der Kinder nur graue Klumpen zurückgeblieben sind. Vorsichtige Fußgänger haben den Belag auf den Bürgersteigen zu eisigen Pfützen und einzelnen Schneeflecken schrumpfen lassen, und nun bewegen sie sich höchst sonderbar vorwärts – plötzlich einbrechende Schneehäufchen machen jeden Schritt zu einem Abenteuer, und wenn der Fuß im glitschigen Matsch wegrutscht, wird so mancher Muskel gezerrt. Das Wetter hat die Bewohner von Matravers alle so weit auf Trab gehalten, dass mich niemand belästigt hat.

Ich habe inzwischen angefangen, im Garten zu arbeiten, aber der schmelzende Schnee wirkt sich katastrophal auf die Bodenbeschaffenheit aus. Außer ersten Planungen und ein paar Säuberungsarbeiten zur Vorbereitung kann ich kaum etwas Nützliches tun. Deshalb war ich gezwungen, mich mehr auf das Haus selbst zu konzentrieren. Die Zimmer sind merkwürdig klein und verschachtelt – im Erdgeschoss und oben je zwei vorne und zwei hinten –, was der Hausfront die Ausstrahlung eines Puppenhauses verleiht, mit mittig platzierten Fenstern zu beiden Seiten der Haustür. Dass man beim Betreten des Hauses direkt vor dem Fuß der Treppe steht, gefällt mir nicht sonderlich, aber daran lässt sich wohl nichts ändern. Für einen Umbau dieser Größenordnung müsste ich Handwerker engagieren, und über Wochen fremde Menschen im Haus zu haben erscheint mir ein zu hoher Preis dafür.

Das eine Zimmer vorne ergibt ein perfektes Wohnzimmer, obwohl ich es wohl nur selten nutzen werde. Im Esszimmer kann ich Pflanzen trocknen und Kissen und Kräuteröle lagern. Die richtige Arbeit findet sowieso in der Küche statt. Heute habe ich bereits einige Zeit dort verbracht und überlegt, wo ich am besten meine Salben und Tränke verstaue. Ein Highlight dieses Raumes sind sicher der wunderbare Küchenofen und die Tonfliesen auf dem Boden, außerdem gibt es eine Fenstertür, die direkt in den Garten führt. Nachdem ich den Ofen angefeuert hatte, habe ich mir die Zeit genommen, ein Bündel Salbei zu verbrennen und das Haus mit dem duftenden Rauch zu segnen. Während ich mit geschlossenen Augen in meinem neuen Zuhause stand und die Stille genoss, bemerkte ich plötzlich ein leises Schaben. Sofort stellten sich mir die Nackenhaare auf, und es fühlte sich an, als würde eine Raupe meinen Rücken hinunterkriechen. Ich öffnete die Augen und sah mich nach dem Geräusch um. Kein Grund zur Beunruhigung: Draußen vor dem Fenster saß eine Gelbhalsmaus und knabberte am Rahmen. Ich löste den Fensterriegel.

»Guten Morgen«, begrüßte ich sie. »Möchtest du nicht hereinkommen?«

Das Tier musterte mich einen Moment lang mit glänzenden Augen, dann huschte es durch das geöffnete Fenster. Ich spürte kurz seine kalten Öhrchen, als es an meinem Arm vorbeilief. Nachdem es einmal den ganzen Raum inspiziert hatte, setzte es sich neben den Ofen und fing an, sich zu putzen. Ich holte ihm ein Stück Brotrinde. »Wir beide werden jetzt eine Vereinbarung treffen«, erklärte ich ihm. »Wenn du deiner Familie sagst, dass sie meine Vorräte in Ruhe lassen soll, werde ich euch jeden Tag auf dem Fensterbrett etwas zu Fressen bereitstellen. Einverstanden?«

Die Maus unterbrach ihre Waschungen. Das kleine Tier gab keinerlei Geräusch von sich – ich spürte eher, wie es diesen Handel akzeptierte. Meine Lebensmittelvorräte mäusefrei zu halten war mir definitiv ein paar Krümelchen wert.

Meinen Eichentisch, die Kommode und den Apothekerschrank habe ich bereits aufgestellt. Letzterer passt genau neben das Keramikspülbecken. Außerdem habe ich an der gegenüberliegenden Wand Regalbretter aufgehängt, auf denen ich meine vielen Dosen und Gläser aufstellen kann. Diese Küche ist ein warmer, heller Ort, an dem ich gut werde arbeiten können. Letzte Nacht fiel das Mondlicht durch die vorhanglosen Fenster und tauchte den Raum in schimmerndes Licht.

Später ging ich in mein Wäldchen und entzündete dort eine Kerze, um die Geister und Feen des Waldlandes zu rufen. Ich habe sie eingeladen, sich mir zu zeigen, und ihnen versichert, dass sie bei mir willkommen sind, dass ich ihnen nicht ihr rechtmäßiges Zuhause nehmen werde. In ihrem Wald bin ich nur Gast, und solange ich hier bin, werde ich Umsicht und Respekt walten lassen.

10. Februar 2007 – Letztes Viertel

Der Schnee ist fort, stattdessen herrscht nun beißender Frost, weshalb die Gartenarbeit weiterhin frustrierend bleibt. Trotzdem konnte ich mich ein wenig um die Stechpalmenhecke kümmern – was dringend nötig war – und Platz schaffen für die neuen Pflanzen. Es ist wirklich ein Glück, dass mein Grundstück von einem solchen Schutzwall umgeben ist. Teile davon sind wohl schon eingepflanzt worden, als das Haus gebaut wurde, was meines Wissens nach über hundert Jahre her ist. Das klingt nach einer langen Zeit; ein Jahrhundert, in dem sich diese Welt unzählige Male gedreht hat und mehr als einmal heftig erzittert ist. Doch für mich ist das nur ein Kapitel meines Lebens. In Wahrheit habe ich mehr gemeinsam mit der alten Eiche auf dem Dorfanger – obwohl ich nicht glaube, dass sie so viele Sommer erlebt hat wie ich.

Während ich an der Hecke gearbeitet habe, kam ein Eichhörnchen angesprungen, um sich anzusehen, was ich da mache. Ein wirklich hübsches Tier mit langem Schwanz und dichtem, silbergrauem Fell. Als ich es einlud, näher zu kommen, kletterte es fröhlich meinen Arm hinauf und setzte sich auf meine Schulter. Die Gesellschaft wilder Geschöpfe kann äußerst tröstend sein, und ihr Vertrauen ist eine wahre Freude. Irgendwann spürte ich, dass ich beobachtet wurde. Natürlich lebe ich ständig in dem Bewusstsein, dass andere mich im Auge haben, aber dieses Mal war es kein beunruhigendes Gefühl. Hier registrierte ich eher eine friedliche Präsenz, die allerdings geradezu pulsierte vor Energie. Ich hielt in meiner Arbeit inne und tat so, als müsste ich meinen Rücken durchstrecken, wobei das Eichhörnchen von meiner Schulter sprang und davonhuschte. Auf dem Pfad, der an meinem Haus vorbeiführt, stand ein schlankes, junges Mädchen. Es war vollkommen falsch gekleidet für die eisigen Temperaturen und trat in seinen schicken Stiefeln frierend auf der Stelle. Auf seinem hübschen, offenen Gesicht zeichnete sich Neugier ab.

»Guten Morgen«, grüßte ich und wartete dann schweigend ab.

»Hi.« Ihre Stimme war leise. »Was machen Sie da?«

»Wie du sehen kannst, richte ich die Hecke.« Ich deutete mit meiner Schaufel auf die Pflanzen.

»Also, wenn Sie mich fragen, ist es etwas zu kalt zum Gärtnern.« Sie rieb ihre Hände aneinander und pustete darauf.

Ich überlegte, wie alt sie wohl sein mochte. Sie war kleiner als ich, aber das traf auf die meisten Frauen zu. Vielleicht fünfzehn, sechzehn? Die Schwelle zum Erwachsensein verschiebt sich mit jedem Jahrzehnt, mal nach hinten, mal nach vorne, sodass ich inzwischen kaum noch in der Lage bin, so etwas akkurat einzuschätzen. Die eng anliegende Kleidung und der damit verbundene Wunsch, den eigenen Körper nicht zu verbergen, sprachen dafür, dass ich eine junge Frau vor mir hatte, während der leicht zögernde Tonfall und die fehlende Eloquenz eher auf ein ungelenkes Kind hindeuteten. Siebzehn, entschied ich schließlich. Etwas älter als ich zu dem Zeitpunkt gewesen war, als meine gesamte Welt in sich zusammenbrach. Als ich in eine endlose Zukunft der Einsamkeit und des Versteckspiels geworfen wurde.

»Ich mag dieses Cottage«, sagte das Mädchen. »Es gefällt mir, wie es hier oben hockt und das ganze Dorf im Blick behält. Seine Fenster sehen aus wie Smiley-Augen, oder nicht?«

»Könnte man sagen.«

»Ich habe gesehen, dass Rauch aus dem Schornstein kommt«, fuhr sie fort. »Als wir hierhergezogen sind, stand das Haus leer. Sind Sie auch neu hier?«

»Neu in Matravers, ja.«

»Wir wohnen jetzt seit einem Monat hier. Kommt mir vor wie eine Ewigkeit.« Sie fing an, mit den Armen zu wedeln, sowohl um ihre Frustration zu zeigen, als auch um sich warm zu halten.

»Gefällt dir das Dorf nicht?«

»Ist schon ganz okay, mit den Feldern und Wiesen und so, aber, na ja, viel machen kann man hier nicht.«

»Du bist etwas anderes gewöhnt?«

»Nö, wir kommen aus Basingstoke. Und davor war es Dulwich. Gott allein weiß, wo wir als Nächstes landen. Irgendwann spukt wieder etwas in Mums Kopf herum, und schon wird gepackt. Sie denkt, das Leben auf dem Land wäre besser für mich. Dass ich hier nicht so leicht in Schwierigkeiten gerate. Wird auch schwer, wenn ich hier nicht mal ein Leben habe.«

Ich sah mir das Mädchen genauer an. Das junge Wesen hatte etwas an sich, etwas Anziehendes, Ehrliches und Vertrauensvolles, das man nur selten an einem Fremden bemerkt. Plötzlich ertappte ich mich bei dem Gedanken, ihr einen heißen Kakao anzubieten, damit sie ihre kalten Finger wärmen konnte. Aber nein. Es wäre so leicht, eine harmlose Bekanntschaft unter Nachbarn zu fördern, aber das darf ich nicht. Also ging ich wieder an die Arbeit und drehte dem Mädchen den Rücken zu.

»An einem solchen Tag solltest du einen warmen Mantel anziehen«, riet ich ihr noch.

Nachdem sie mich noch einen Moment beobachtet hatte, hörte ich, wie sie ging. Und ich muss gestehen, dass mich in diesem Moment eine Kälte packte, die sich auch mit harter, körperlicher Arbeit nicht vertreiben ließ. Bald ging ich wieder hinein und werkelte in der Küche herum, um mich nicht der harten Wahrheit stellen zu müssen, warum ich dieses Mädchen vertrieben hatte. Ich bin es gewöhnt, allein zu sein – dieser Zustand ist für mich wirklich nichts Neues. Trotzdem gibt es einen gewaltigen Unterschied zwischen dem Alleinsein und der Einsamkeit. Und ich lebe in dem Bewusstsein, dass ich nicht etwa deshalb keine Freundschaften pflege, weil ich es so möchte, sondern weil es eine Notwendigkeit ist, die sowohl meiner Sicherheit dient als auch der aller, die mir zu nahe kommen.

Ich machte mich daran, die letzten Kisten auszupacken. Der Anblick eines gut gefüllten Vorratsregals hat etwas Tröstendes an sich, und so hatte ich die Melancholie schließlich abgeschüttelt, als ich die letzten Gläser mit eingelegter Roter Beete auf die Bretter stellte. Die Reihen glänzender Behältnisse suggerierten Ordnung und Sicherheit. An diesem Abend zündete ich nur in der Küche Kerzen an, öffnete die Ofenklappe und sah zu, wie ein dickes Scheit Apfelholz zu Asche verbrannte. Dieser Anblick wärmte mich innerlich ebenso sehr wie die Hitze des Feuers es äußerlich tat. Wie es im Winter meiner Gewohnheit entspricht, trug ich mehrere Schichten bequemer Kleidung übereinander: ein zartes Seidenunterhemd, eine weiche Wollstrumpfhose, eine Baumwollbluse, einen schweren, bodenlangen Cord-Rock und zwei leichte Pullover. Draußen trage ich die Stiefel aus Seehundhaut, die mir ein Inuit-Fischer geschenkt hat, als ich einige Zeit im ewigen Eis des Nordens gelebt habe. Nun zog ich mir meinen warmen Strickpulli über den Kopf. Das Mischgewebe knisterte leise, als es über meine Haare glitt, und ein paar Funken sprangen über, so fein, dass sie im Halbdunkel kaum zu sehen waren. Ich ging zum Tisch und füllte etwas Öl in die Duftlampe. Rosmarin. Bald war der Raum von seinem belebenden Duft erfüllt. Wie immer ließ mich dieser Geruch an meine Mutter denken. Ihre Augen waren so blau wie die Blüten dieser Pflanze, ihre Gegenwart so kraftvoll und stärkend wie die Essenz des Krautes. Selbst heute kann ich sie noch vor mir sehen, wie sie mir geduldig beibrachte, die dünnen Zweige richtig zusammenzubinden und zum Trocknen aufzuhängen. Damals kann ich nicht älter gewesen sein als sechs. Sie stand hinter mir, umfing mich mit ihren Armen und beugte sich leicht vor, um meinen ungeschickten Fingern zu helfen. So war ich ganz und gar in ihre endlose, mütterliche Liebe gehüllt und konnte ihren süßen Duft einatmen. Sie war so geduldig. So liebevoll. Und so entschlossen, mir alles beizubringen, was sie wusste, ihr gesamtes, herrliches Wissen mit mir zu teilen. Die größte Qual meines hohen Alters liegt wohl darin, dass der Schmerz niemals ganz verschwindet, sich immer nur bis zu einem gewissen Punkt abschwächt. Nein, er dauert immer weiter an, mein einziger Begleiter im endlosen Meer der Zeit.

13. Februar 2007 – Mond tritt ein in das Zeichen des Steinbocks

Immer noch kalt, aber der Frost zieht sich zurück. Heute bin ich ins Dorf gegangen. Mir war bewusst, dass ich das bislang vor mir hergeschoben hatte. Zwar möchte ich zu meinen Nachbarn nur das absolute Minimum an Beziehung aufbauen, andererseits weiß ich aber, dass es ein Fehler wäre, sich vollkommen abzuschotten. Einsiedler haben immer etwas Mysteriöses an sich, was die Dörfler in diesen modernen Zeiten nur schwer ertragen können. Da ist es besser, höflich zu nicken, den ein oder anderen zu grüßen und sich ein wenig über das Wetter auszutauschen. Ich versuche immer, ein möglichst langweiliger Gesprächspartner zu sein, manchmal sogar regelrecht unhöflich, wenn es nicht anders geht. An persönlichen Informationen gebe ich gerade mal so viel preis, dass jene, die es interessiert, sich eine einfache Geschichte zu meiner Person ausdenken können. Auf diese Weise werde ich meist in Ruhe gelassen. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, auf das Teenagermädchen zu treffen, als ich im Dorfladen ein paar Lebensmittel einkaufen wollte. Offenbar hatte sie meine Wortkargheit bei unserer letzten Begegnung nicht abgeschreckt, denn sie schien sich zu freuen, mich zu sehen.

»Was macht die Hecke?«, erkundigte sie sich.

»Nimmt langsam Gestalt an, danke.«

»Werden Sie dem Haus auch einen neuen Anstrich verpassen?«, fragte sie weiter. »Ich habe einmal ein ganz ähnliches gesehen, das war hellblau mit weißen Fenstern und einer dunkelblauen Tür. Sah aus wie ein Haus aus einem Märchen. Das wäre schick.« Bei dem Gedanken fingen ihre Augen an zu leuchten.

Dass sie ein solches Interesse an dem Haus hatte, wunderte mich. Und auch jetzt war sie wieder allein unterwegs. Hatte sie denn keine Freunde hier im Dorf? Meiner Erfahrung nach taten Mädchen in diesem Alter kaum einen Schritt allein. Doch dann fiel mir wieder ein, dass sie hier ja ebenfalls neu war und vermutlich noch keine Zeit gehabt hatte, um Freundschaften zu schließen.

»Eigentlich nicht«, antwortete ich. »Die Farbe des Hauses ist für mich nicht weiter wichtig.« In der Hoffnung, dem Gespräch damit ein Ende zu setzen, widmete ich mich wieder meinen Einkäufen, aber sie folgte mir durch die Regalreihen wie ein übereifriges Blumenmädchen.

»Haben Sie einen Hund? Der Garten wäre toll für einen Hund, mit diesem kleinen Wald am hinteren Ende. Mum erlaubt mir keinen Hund. Sie meint, die Haare würden den Staubsauger verstopfen.«

»Nein. Kein Hund.« Ich nahm ein Paket braunen Zucker aus dem Regal.

»Oh, ich mag den braunen auch gerne. Vor allem, wenn er schön knusprig ist, wie in den Cornflakes. Essen Sie Cornflakes? Die stehen gleich hier drüben. Honey Crunch oder Cocosnaps? Nein, jemand, der so schlank ist wie Sie, steht wohl eher auf Müsli. Mögen Sie Müsli?« Strahlend streckte sie mir ein Paket entgegen.

Ich warf ihr einen gelassenen Blick zu.

»Du stellst zu viele Fragen.« Damit ging ich Richtung Kasse, um endlich hier rauszukommen.

»Das sagt Mum auch immer. Aber wie soll ich denn etwas lernen, wenn ich keine Fragen stelle?«

»Das war schon wieder eine.«

»Ja, ich kann wohl einfach nicht anders.« Sie lachte fröhlich. Es klang wie Frühlingsregen, der in eine Pfütze fällt.

Ein drückendes Band legte sich um meine Brust, als mir klar wurde, dass dieses Mädchen mich nicht an mein eigenes, jüngeres Ich erinnerte, sondern an Margaret, meine süße, kleine Schwester. Die leichtfüßige Margaret, die so gerne gelacht hatte. Margaret, die in mich ebenso vernarrt war wie ich in sie. Ja, die Offenheit und Unschuld dieses Mädchens war in ähnlicher Weise auch ein grundlegender Zug von Margarets Charakter gewesen. Ich begrüßte die Ladeninhaberin mit einem knappen Nicken und bedankte mich auf dieselbe Weise, als ich ihr das Geld reichte. Dann wollte ich gehen, sah mich aber plötzlich wieder mit dem Mädchen konfrontiert, das mir den Weg zur Tür versperrte, als würde es auf etwas warten.

»Solltest du nicht in der Schule sein?«, fragte ich.

»Lehrerfortbildung. Wir haben heute frei, sollen zu Hause lernen.«

»Solltest du dann nicht zu Hause sein und lernen?«

Immerhin hatte das Mädchen den Anstand zu erröten. »Ich bin nur hergekommen, um eine Valentinstagskarte zu kaufen«, erklärte sie. »Aber ich kann mich nicht entscheiden. Sehen Sie mal.« Sie zeigte auf den Kartenständer neben der Kasse. »Lustig, Sexy, romantisch… was meinen Sie?«

»Das kommt wohl darauf an, für wen sie gedacht ist.«

Die Röte auf ihren Wangen vertiefte sich, und sie studierte angestrengt ihre Füße.

»Michael Forrester.«

»Nun, und wie ist Michael Forrester so?«

»Er ist total scharf. Alle mögen ihn, vor allem die Mädchen. Ein totales Ass im Sport: Leichtathletik, Rugby, Schwimmen, der räumt alles ab. Er ist so cool!«

»Das klingt so, als wäre sein Ego schon aufgeblasen genug. Ich würde mir das Geld sparen.«

»Oh nein, er ist wirklich nett. Einmal hat er mir die Tür aufgehalten und Hallo gesagt.«

»Und wie lange ist dein Herz schon für diesen Inbegriff männlicher Perfektion entbrannt?«

»Was? Oh, keine Ahnung. Immerhin kenne ich ihn erst seit einem Monat.«

Inzwischen flüsterte sie nur noch, und alles an ihr zeugte von den Qualen unerwiderter Liebe. Hübsch genug war sie sicherlich, aber es mangelte ihr an Selbstvertrauen. Und noch an etwas anderem. Trotz ihrer aufgesetzten Großspurigkeit war sie so gar nicht weltgewandt, was Erwachsene sicher als charmant empfanden, was aber unter Gleichaltrigen wohl eher ein Handicap war. Nun erkannte ich, wie allein dieses Mädchen sein musste. Sie passte nicht rein, war eine Außenseiterin. In diesem Augenblick, als sie alle Schutzmechanismen abgelegt hatte, strahlte sie eine wahrhaft schmerzliche Einsamkeit aus. Das Läuten der Glocke an der Ladentür ersparte es mir, ihr weitere Ratschläge erteilen zu müssen.

»Guten Morgen, Mrs. Price. Tegan, wie geht es dir? Und wie geht es deiner Mutter? Ach, und da ist ja unser neuester Zuwachs. Bitte verzeihen Sie, dass ich noch nicht vorbeigekommen bin, um Sie in Matravers willkommen zu heißen.«

Als ich mich umdrehte, stand ein kräftiger Mann mit Bart vor mir und streckte mir die Hand entgegen. In seinen Augen funkelte reinste Lebensfreude, und sein breites Lächeln war aufrichtig. Trotzdem bekam ich bei seinem Anblick sofort pochende Kopfschmerzen. Dabei war es nicht einmal seine Schuld. Er konnte schließlich nicht wissen, wie sich die Gegenwart eines Priesters auf mich auswirkte. Und sicherlich konnte er sich nicht einmal annähernd ausmalen, welch eine brennende Wut seine Kirche in mir auslöste. Eben diese Kirche hatte meine Mutter verdammt und sie mir genommen. Ich atmete tief durch, um mich wieder in den Griff zu bekommen, aber der Geruch von Messwein schien an seiner Kleidung zu haften. Und noch immer hing seine Hand zwischen uns in der Luft. Er wartete. Das Mädchen wartete. Mrs. Price an der Kasse wartete. Nur eine winzige Geste, und doch würde sie für den Rest meines Aufenthaltes hier meine Stellung in diesem Dorf definieren. Ich nahm die Schultern zurück, rang mir ein Lächeln ab und klammerte mich an meine Einkäufe.

»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich und deutete mit dem Kinn auf die Schachteln in meinen Händen.

»Oh, aber nicht doch.« Noch immer lächelnd ließ er die Hand sinken. »Ich bin Donald Williamson. Abends bin ich eigentlich immer im Pfarrhaus anzutreffen. Sie können jederzeit vorbeischauen, Mary würde Sie zu gerne einmal kennenlernen.«

»Vielen Dank. Momentan habe ich noch viel damit zu tun, mich einzurichten, aber ich werde es im Hinterkopf behalten.« Damit wollte ich mich an ihm vorbeischieben, wobei ich mühsam den Ekel niederringen musste, der mich in der Nähe von seinesgleichen immer überfiel.

»Jederzeit«, rief er mir hinterher, als ich bereits an der Tür war. »Und hoffentlich sehen wir Sie am Sonntag in der Messe. Zehn Uhr. Jeder ist willkommen.«

Mit der zufallenden Tür schnitt ich sein weiteres Flehen ab und ging nach Hause. Selbst nach so langer Zeit war es für mich nahezu unmöglich, meine wahren Gefühle gegenüber Kirchenvertretern zu verbergen. Natürlich hatte ich gute Gründe dafür, gleichzeitig war ich nun aber auch auf mich selbst wütend. Dieser Mangel an Selbstkontrolle war einfach dumm, außerdem war es lächerlich, dass die zufällige Begegnung mit einem harmlosen Geistlichen so heftige Emotionen in mir wachrief. Noch bevor ich den Dorfanger überquert hatte, überfiel mich ein ungutes Gefühl. Natürlich hatte das Zusammentreffen mit dem Priester mich innerlich aufgewühlt, aber das hier war eine andere Art der Bedrohung. Ruckartig blieb ich stehen, reckte das Kinn und schaute mich langsam um. Nichts und niemand zu sehen. Keine Bewegung, keine Gestalt in den Schatten, nichts Außergewöhnliches: stumme Reetdachhäuschen, ein ruhiger Platz, eine leere Bushaltestelle. Ein Teich, auf dem beruhigend gewöhnliche Enten quakten. Nichts, wovor man sich fürchten musste. Trotzdem war ich spürbar erleichtert, als ich Willow Cottage erreichte und die Tür meiner Zuflucht hinter mir schließen konnte.

17. Februar 2007 – Neumond

Mein erster Markttag in Pasbury, und der Himmel ist blau. Ich bin schon vor dem Morgengrauen aufgestanden, um meine Waren ins Auto zu laden. Dieses Gefährt ist, egal welchen Standard man anlegen möchte, Segen und Fluch zugleich. Es handelt sich um einen ziemlich alten Morris Traveller – klein und preisgünstig im Unterhalt, aber mit einem geräumigen Kofferraum und einer hilfreichen Hecktür. Der Wagen ermöglicht es mir, meine Kräutertees, Öle, Lotionen, Seifen, Obstkonserven und Weine hin und her zu transportieren. Andererseits ist er aber auch ein Quell lästigen Papierkrams. Es ist vollkommen unmöglich, ein Auto zu besitzen und gleichzeitig seine Identität geheim zu halten. So muss ich mich nach ein paar Jahrzehnten immer neu erfinden, und das vor allen Dingen, um den Anforderungen der Straßenverkehrsgesetze zu genügen. Nichtsdestotrotz ist mir der Wagen auch irgendwie ans Herz gewachsen. Ich fahre nur selten weite Strecken, aber ohne ihn wäre meine Tätigkeit auf den Märkten wesentlich schwieriger, und über die Stände generiere ich nun einmal den Großteil meines Einkommens. Und natürlich ermöglichen sie es jenen, die mich brauchen, mich zu finden. Selbst im angeblich so aufgeklärten Zeitalter des Wassermanns kann ich schlecht ein Schild mit der Aufschrift HEXE – ZAUBER UND TRÄNKE FÜR JEDE GELEGENHEIT an meiner Tür aufhängen. Nein. Ich muss mich anpassen, einfügen, mich der Außenwelt mit einer etwas… akzeptableren Fassade präsentieren. Heute wollte das Auto nicht anspringen, hat sich dann aber einem kleinen Zauber gebeugt. Ich ließ den Motor laufen, während ich die letzten Sachen einlud und die Tür am Heck mit einer Schnur sicherte. Als ich zur Haustür ging, um abzuschließen, hörte ich, wie der Motor ausging. Ohne weiter nachzudenken, konzentrierte ich mich, hielt kurz inne und wiederholte den Zauber. Nach kurzem Zögern sprang der Wagen wieder an und tuckerte fröhlich vor sich hin. Erst als ich mich dem Auto wieder zuwandte, bemerkte ich Tegan vorne am Törchen. Ihre Miene verriet deutlich, dass sie meinen Fernmechanikereinsatz mitbekommen hatte. Sie grinste breit, und ihre Augen funkelten. Schnell schob ich mich an ihr vorbei und verriegelte das kleine Tor.

»Bitte entschuldige, aber ich habe es eilig«, erklärte ich ihr.

»Wohin fahren Sie denn?«

»Pasbury. Und wenn ich trödele, gerate ich beim Aufbau meines Standes in Verzug.«

»Auf dem Markt? Cool. Darf ich mitkommen?«

»Was?«

»Nach Pasbury. Mit Ihnen. Ich könnte helfen.«

»Ich komme sehr gut allein zurecht, danke.«

»Ach, kommen Sie schon. Sie müssen mir auch nichts bezahlen. Nehmen Sie mich einfach im Auto mit, und dafür helfe ich Ihnen dabei, diesen ganzen Kram auszuladen.« Sie deutete mit dem Kinn auf den Kofferraum, während sie sich gleichzeitig vorbeugte, um durch die Heckscheibe zu spähen. »Was ist das überhaupt alles?«

Ich musterte das Mädchen. Wie immer war sie viel zu dünn angezogen und strahlte diese Verlorenheit aus, die ich einfach nicht ignorieren konnte.

»Warum bist du überhaupt schon auf den Beinen?«, wollte ich wissen.

Achselzuckend antwortete sie: »Bin wach geworden, als Mum von der Nachtschicht heimkam. Dann konnte ich nicht mehr einschlafen. Mum ist dafür gleich umgekippt.« Sie trat gegen einen kleinen Stein. »Hatte keine Lust, nur in der Bude rumzuhocken, mit niemandem zum Reden.«

»Wird deine Mutter sich nicht fragen, wo du abgeblieben bist?«

»Nein.«

Ich seufzte schwer. Eigentlich war ich nicht sonderlich erpicht auf die Gesellschaft eines schwatzhaften Teenagers, aber es fiel mir schwer, ihr etwas abzuschlagen. »Steig ein. Und es wird an nichts rumgespielt, vor allem nicht am Türgriff. Der fällt öfter mal… siehst du? Was habe ich gerade gesagt?«

»Tut mir leid.«

»Und schnall dich an. Das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist ein neugieriger Polizist, der im Wagen herumschnüffelt.«

Das kleine Städtchen Pasbury ist ziemlich bedeutungslos, verfügt aber über ausreichend Geschäfte und Angebote. Der Markt ist in Wahrheit eine ziemlich glanzlose Angelegenheit, deren Spektrum von entsprechendem Essen über Antiquitäten dubioser Herkunft, Haustierbedarfsartikel und dick glasiertem Porzellan bis zu Kleidung ohne erkennbaren Markennamen reicht. Ich hatte mir eine bescheidene Stellfläche in guter Lage reserviert, ziemlich am Ende der Hauptstraße, wo die Leute auf dem Weg zum Parkplatz oder zur Bushaltestelle auf jeden Fall vorbeikamen. Tegan machte sich beim Aufbau tatsächlich nützlich; anscheinend hatte sie es nicht eilig, von mir wegzukommen. Meine Waren interessierten sie offenbar. Und zwar so sehr, dass ich es bald leid wurde, ihr alles zu erklären. Ich drückte ihr ein paar Münzen in die Hand.

»Zieh los und besorg uns ein paar heiße Getränke«, trug ich ihr auf. Kaum war sie weg, schob eine junge Frau ihren Kinderwagen an meinen Stand und musterte mit finsterer Miene meine Öle. Sie strahlte eine solche Wut und Verzweiflung aus, dass ich instinktiv einen Schritt zurückwich. Dicht über ihrem Ohr entdeckte ich einen Bluterguss, direkt am Haaransatz. Als sie meinen Blick bemerkte, ließ sie ihre Haare darüberfallen, trotzdem wusste sie, dass ich es gesehen hatte. Ihr Baby hatte rote Ränder um die Augen, schlief aber friedlich in seinem Wagen.

»Wofür ist das gut?«, wollte die junge Frau wissen und piekste in ein Säckchen mit Rosmarinblättern.

»Das hilft gegen Rheumatismus und gegen Regelschmerzen. Aus den Blättern kocht man einen Tee.«

»Tee? Riecht widerlich. Und wie benutzt man das hier?«

»Das ist eine Aloe-Vera-Salbe, gegen Verbrennungen, Stiche und Ähnliches.«

Sie ließ den Tiegel auf den Tisch zurückfallen. Mir tat das arme Ding leid – so jung und schon so unglücklich. Ich zeigte auf ein Fläschchen mit Bergamotte-Öl.

»Das wirkt stimmungsaufhellend.«

»Ha! Das schaffe ich auch mit Rum-Cola ganz gut.«

»Und das hier vertreibt negative Energien.«

»Haben Sie vielleicht auch etwas, das untreue Arschlochmänner vertreibt?«

Jetzt verstand ich. Aus der Schachtel unter dem Tisch holte ich ein kleines, blaues Glasfläschchen hervor. Auf dem Etikett war nur ein Halbmond zu sehen.

»Sie könnten es mit ein paar Tropfen hiervon versuchen.«

Ich gab ihr das Fläschchen, und sie musterte es argwöhnisch. »Das macht die Menschen etwas… rücksichtsvoller«, erklärte ich weiter.

Lachend sah sie mir in die Augen.

»Wie viel kostet es?«

»Probieren Sie es zuerst aus. Wenn Sie mit dem Ergebnis zufrieden sind, bezahlen Sie einfach das nächste Fläschchen.«

Mein erster Tag in Pasbury verlief etwas zäh, aber ich spürte, dass ein gewisses Interesse vorhanden war. Schon oft habe ich bemerkt, dass Menschen, denen mein Sortiment neu ist, eine Weile brauchen, bis sie den Mut finden, etwas zu kaufen. Doch das spielt keine Rolle – Zeit habe ich nun wirklich im Überfluss. Tegan blieb den ganzen Vormittag bei mir am Stand und erklärte sich nur widerwillig bereit, mit dem Bus nach Hause zu fahren, als ich sie dazu drängte. Ich möchte es mir nicht mit ihrer Mutter verscherzen, und immerhin war mir bewusst, dass das Mädchen nicht ihre Erlaubnis zu diesem Ausflug eingeholt hatte. Deshalb spendierte ich ihr zum Mittagessen ein Stück Kuchen und gab ihr dann das Fahrgeld für den Bus nach Matravers. Angeblich will sie mich in Zukunft jeden Samstag auf den Markt begleiten. Wir werden sehen.

24. Februar 2007 – Erstes Viertel

Heute Morgen wurden die Stechpalmensetzlinge geliefert, die ich bestellt habe, und der Boden ist auch endlich weich genug, um ihn zu bearbeiten. Eine Stunde lang habe ich fleißig gewerkelt und die freigelegten Lücken bepflanzt. Das Ergebnis ist wirklich zufriedenstellend. Ich habe mich schon lange mit der Tatsache abgefunden, dass ich meine Gärten immer nur für kurze oder höchstens mittlere Zeitspannen planen kann, da ich nirgendwo länger bleiben kann. Doch auch wenn sie zu den langsam wachsenden Pflanzen gehören, werden sich die munteren Stechpalmen innerhalb weniger Monate mit dem Rest der Hecke verflechten. Und mir bleibt das befriedigende Wissen, dass sie noch lange hier leben werden, nachdem ich weitergezogen bin. Stechpalmen gehören zu den stärksten Schutzpflanzen, die man im Garten haben kann, und ich würde niemals ohne sie sein wollen. Zwar können sie allein keine Sicherheit garantieren, aber trotzdem bilden sie einen mächtigen Teil meines Wicca-Arsenals. Später habe ich noch meine Kräutersäckchen ausgepackt und einige davon in die Türen und Fenster des Hauses gehängt.

26. Februar 2007 – Erstes Viertel

Das Wetter ist für diese Jahreszeit erstaunlich mild geworden, sodass die Knospen und Triebe in hektische Aktivität ausbrechen, was sie allerdings bereuen könnten, wenn der Frost zurückkehrt. Ich habe den Moment genutzt und den Küchengarten umgegraben. Die stetige Plackerei, die es braucht, um ein so großes, zugewuchertes Stück Rasen in Beete zu verwandeln, tat meiner Stimmung gut. Mag sein, dass ich unvorstellbar alt bin, aber zumindest bin ich zugleich auch mit der Gesundheit und der Vitalität der Jugend gesegnet. Nachdem ich den ganzen Morgen geschuftet hatte, trug ich nur noch meine Bluse, und mein Rock war mit Schlamm verklebt. Die Erde hier ist gut – lehmig und durchlässig, aber nicht so sehr, dass sie nicht genügend Wasser halten kann. Ich muss mich der Versuchung widersetzen, zu früh mit dem Pflanzen zu beginnen. Auf diesen ersten Hauch von Frühling ist noch kein Verlass. Schon seltsam, dass meine langen Wanderjahre auf diesem Planeten so gar nichts dazu beigetragen haben, mich Geduld zu lehren. Meine Mutter hat mich immer getadelt, weil es mir an selbiger fehlte, und auch heute noch werde ich unruhig und zappelig, wenn ich gezwungen bin, länger auf etwas zu warten als mir vernünftig erscheint.

Ich stand gedankenverloren auf meine Gartengabel gestützt, als Tegan neben mir auftauchte. Das geschah so plötzlich, dass ich erschrocken zusammenzuckte, wobei das eigentlich Beunruhigende wohl eher war, dass ich sie nicht gehört hatte. Sie hatte ihre albernen Stiefel zu Hause gelassen und trug stattdessen Turnschuhe.

Natürlich bemerkte sie, wie ich zusammenfuhr.

»Tut mir leid. Ich habe geklingelt, aber dann habe ich Geräusche aus dem Garten gehört. Wow, haben Sie das alles allein geschafft? Da sind Sie jetzt bestimmt fix und fertig.«

Fast schon widerwillig musste ich lächeln.

»Hin und wieder schätze ich harte Arbeit«, antwortete ich. »Magst du Gartenarbeit?«

Achselzuckend gestand sie: »Habe es eigentlich nie versucht. Es sei denn, ein Kressebeet auf dem Fensterbrett zählt auch.«

»Nun, es ist ein Anfang.«

Wieder schien das Mädchen auf irgendetwas zu warten. Sie war definitiv eine einsame Seele, wenn sie an einem sonnigen Nachmittag die Gesellschaft einer Fremden suchte, während alle anderen Teenager sicher irgendwo zusammengluckten. Ich streckte ihr die Gartengabel entgegen.

»Hier, versuch’s mal.«

Grinsend nahm sie mir das Werkzeug ab und stocherte ziellos damit in der Erde herum. An ihrer Miene konnte ich ablesen, wie sehr es sie überraschte, dass nichts dabei herauskam. Sie versuchte es noch einmal.

»Lehn dich mit deinem ganzen Gewicht auf die Gabel. Schau, so.« Ich beugte mich über sie, korrigierte ihren Griff und zeigte ihr, wie sie ihren Körper einsetzen musste, um die Zinken in die Erde zu treiben. Zunächst kicherte sie nur – wieder dieses unwiderstehlich fröhliche Lachen -, aber dann folgte sie meinen Anweisungen. Anscheinend lernte sie schnell, denn schon bald hatte sie ihren Rhythmus gefunden und arbeitete sich langsam aber stetig durch den Rasen vorwärts.

»Mach einfach weiter«, wies ich sie an und ging ins Haus. Vom Fenster aus beobachtete ich sie; offenbar wurde sie schnell müde, doch sie gab nicht auf. Ich füllte zwei Gläser mit heißem Früchtetee und stellte mich damit in die Küchentür.

»Möchtest du reinkommen und etwas Warmes trinken?«

Das musste ich nicht zweimal sagen. Sie folgte mir in die Küche, nahm ihren Tee entgegen und schnüffelte vorsichtig daran.

»Was ist das?«

»Früchtetee – Hagebutte und Orange. Trink, solange er noch heiß ist.«

Sie nippte an ihrem Glas, lächelte erfreut und nahm gleich noch einen Schluck.

»Hey, der schmeckt toll! Ich werde Mum bitten, dass sie uns den auch kauft.«

»Irgendwann zeige ich dir mal, wie man ihn herstellt.« Dieses spontane Versprechen überraschte mich selbst wohl am meisten.

»Sie haben den selbst gemacht? Wow, cool!«

Das Mädchen fing an, im Zimmer herumzuwandern, und inspizierte die vielen Flaschen und Dosen in den Regalen. »Das ist ja das Zeug, das Sie auch auf dem Markt verkauft haben. Irgendwie war mir gar nicht klar, dass die Sachen selbst gemacht sind. Das ist alles wirklich von Ihnen?«

Und so waren wir bald in ein Gespräch über die Öle, das Räucherwerk, die Kräuterkissen und -säckchen vertieft, die ich herstelle. Ich erklärte ihr, dass ich die Sachen auf Märkten verkaufte, oder manchmal auch an Geschäfte. Sie schien wirklich fasziniert zu sein und strich mit den Fingern über die blauen Glasfläschchen, bevor sie einen Korb mit trocknenden Lavendelzweigen entdeckte und gespannt daran schnupperte.

»Die sind cool«, stellte sie fest. »Wollen Sie so etwas auch dort draußen anbauen?«

»Manche Kräuter, ja, außerdem Blumen für Öle und natürlich Gemüse.«

Plötzlich schien ihr ein Gedanke zu kommen.

»Ich weiß gar nicht, wie ich Sie nennen soll. Sie haben mir Ihren Namen nicht verraten.«

»Elizabeth. Du kannst mich gerne duzen.« Nachdem ich einen Schluck Tee getrunken hatte, fragte ich: »Tegan ist ein ungewöhnlicher Name… stammt er aus dem Cornischen?«

»Walisisch. Meine Mum war als Kind in den Ferien oft dort, mehr steckt nicht dahinter. Wieder einer ihrer Einfälle. Ehrlich gesagt denke ich manchmal, dieser Name ist das Einzige, was sie an mir mag.«

Sie sah mir dabei offen in die Augen, und in der folgenden Stille schwang so viel Sehnsucht und Schmerz mit, dass ich sie am liebsten in den Arm genommen hätte, wie meine Mutter es bei mir getan hätte. Stattdessen wandte ich mich ab und spülte mein Teeglas aus.

Tegan bemerkte das Tagebuch auf dem Küchentisch.

»Oh, ist das für deine… Rezepte und so?« Sie griff danach.

»Leg es wieder hin«, befahl ich schärfer als beabsichtigt. Ihr verletzter Blick traf mich tief, und plötzlich wünschte ich mir, sie würde gehen. Ich war einfach nicht daran gewöhnt, andere Menschen in meinem Haus zu haben. »Wenn du deinen Tee ausgetrunken hast, solltest du wohl besser nach Hause gehen. Nur weil du mit deiner Zeit nichts anzufangen weißt, kannst du nicht automatisch davon ausgehen, dass das für alle gilt.« Um mich der Enttäuschung in ihrem Gesicht nicht stellen zu müssen, stocherte ich im Ofen herum und fachte die Glut neu an. Nachdem sie gegangen war, wurde ich von Reue geplagt, was wiederum an meinen Nerven zerrte. Ich weiß immer noch nicht, ob es daran lag, dass ich sie ins Haus gelassen habe, oder eher daran, dass ich sie fortgeschickt habe.

Den Abend verbrachte ich damit, ein paar neue Öle anzusetzen. Ich füllte ungefähr ein Dutzend Flaschen Lavendelöl ab und ein paar Fläschchen Pfefferminz. Es ist eine leichte, angenehme Arbeit, die mich normalerweise ausreichend ausfüllt, um meinen Geist davon abzuhalten, sich mit Dingen abzuplagen, die ich sowieso nicht ändern kann. Diesmal allerdings machten sich meine Gedanken selbstständig. Sie wanderten zu Tegan. Und zu Margaret. Irgendwie schaffe ich es nicht, an die eine zu denken, ohne dass die andere ebenfalls auftaucht. Und auch wenn ich stets versuche, nur die schönen Bilder meiner lieben Schwester aufzurufen, werde ich jedes Mal leichenblass, wenn sie vor meinem inneren Auge erscheint.

28. Februar 2007 – Zweites Viertel

Die Wärme hält an, nur durchsetzt von leichtem Regen. Wie sich herausstellte, ist Tegan hartnäckiger, als ich vermutet hatte, denn sie ist am nächsten Tag wieder aufgetaucht, als hätte es meine harschen Worte nie gegeben. Inzwischen besucht sie mich regelmäßig. Und ich kann nicht behaupten, dass ich viel unternommen hätte, um sie davon abzuhalten. Ich finde ihre Frische und ihren Enthusiasmus einfach liebenswert. Sie saugt Wissen auf wie das Brot die Suppe. Ihre Lernbereitschaft grenzt fast an Besessenheit, und sie hat mir dabei geholfen, das Dornengestrüpp in der hinteren Ecke des Gartens loszuwerden. Dafür habe ich ihr ein altes Paar Stiefel und Handschuhe von mir geliehen – das arme Kind hat selbst nichts Passendes. Als ich sie gefragt habe, warum sie ihre Zeit nicht lieber mit ihren Schulfreunden verbringe, erklärte sie mir, dass keiner von ihnen hier im Dorf lebe, die Busse nur unregelmäßig führen und auf die Dauer auch zu teuer seien. Außerdem erkundigte ich mich vorsichtig, ob ihre Mutter nichts dagegen habe, dass sie so viel unterwegs sei – sicher müsse sie doch auch Hausaufgaben machen? So erfuhr ich, dass ihre Mutter Pflegekraft in einem Heim in Pasbury ist, oft Überstunden macht und im Schichtdienst arbeitet. Deshalb ist sie immer froh, wenn ihr Mädchen eine Beschäftigung hat. Es wurden weder ein Vater noch Geschwister erwähnt.

Ich muss zugeben, dass ich mich hier in Willow Cottage langsam wirklich wohlfühle. Seit diesem Gefühl einer unbekannten Bedrohung nach der Begegnung mit Reverend Williamson hatte ich keine negativen Empfindungen mehr, keine Momente der Angst. Könnte es sein, dass ich endlich eine sichere Zuflucht gefunden habe? Wäre es möglich, dass ich den ausgestreckten Krallen tatsächlich entronnen bin? Eine wirklich verführerische Vorstellung, die ich nicht durch Vorsicht und übertriebene Sorgfalt beschädigen will. Nachdem wir unser Werk vollendet hatten, lud ich Tegan ein, mit mir zusammen eine Kerze und einen kleinen Steinring auf der freigeräumten Fläche zu platzieren. Dabei erklärte ich ihr, dass sich diese Stelle perfekt für einen geweihten Ort eigne. Die Götter allein wissen, was das Kind mit dieser Aussage anfing, aber sie half mir fröhlich dabei, die Steine richtig zu positionieren und eine Kerze auszusuchen. Bei Vollmond werde ich dort Salbeiöl verbrennen und um weiteren Schutz bitten.

2. März 2007 – Mond tritt ein in das Zeichen der Jungfrau

Eisiger Wind und schwere Regenfälle haben jede Arbeit im Freien extrem unangenehm gemacht. Dank meines alten Regenmantels und meiner Gummistiefel kann ich aber trotzdem weitermachen. Tegan kam heute Nachmittag zu mir, kaum dass sie aus dem Schulbus gestiegen war. Ein kurzer Blick verriet mir bereits, dass ihr Gesicht nicht nur wegen des rauen Wetters gerötet war. Mit Tränen in den Augen stellte sie sich neben mich und starrte in die zischenden Überreste meines Lagerfeuers. Niedergeschlagen musterte sie die Rauchschwaden, verriet aber mit keinem Wort, was sie in diesen traurigen Zustand versetzt hatte.

»Schwerer Tag?«, fragte ich vorsichtig. Einerseits wollte ich nicht neugierig sein, ihr andererseits aber auch die Möglichkeit bieten, über das zu sprechen, was sie belastete.

Tegan zuckte nur mit den Schultern.

»Ziemlich kalt heute«, fuhr ich also fort. »Du solltest eine Mütze anziehen, um dein rastloses Hirn warmzuhalten.«

Zwei Tränen liefen über ihre Wangen und tropften schließlich von ihrem Kinn. Sie versuchte nicht, sie aufzuhalten. Plötzlich wirkte sie wie ein Kind, gar nicht mehr wie eine junge Frau. Ein trauriges, kleines Mädchen, das nicht wusste, wie es mit seinem Schmerz umgehen sollte.

»Warte hier«, befahl ich, schlüpfte ins Haus und ging an meinen Vorratsschrank. Dort suchte ich ein kleines blaues Fläschchen mit Bergamotte-Öl heraus und kehrte damit an das inzwischen erloschene Feuer zurück. Tegan schien kaum bemerkt zu haben, dass ich weg war. »Hier, nimm das. Gib ein paar Tropfen davon auf dein Kopfkissen, und morgen vor der Schule einen Tropfen auf dein Herz.«

Sie nahm das Fläschchen und starrte es einen Moment lang stirnrunzelnd an, bevor sie den Blick zu mir hob. Schließlich grinste sie.

»Danke. Vielen Dank. Ist das …?«

Ich wartete nicht ab, bis sie die Frage gestellt hatte.

»Geh jetzt«, unterbrach ich sie. »Es ist zu ungemütlich, um tatenlos hier herumzustehen. Ich habe noch einiges zu tun.«

4. März 2007 – Drittes Viertel

Die Schuld liegt einzig und allein bei mir, was meine Laune nur noch mehr verfinstert. Wie konnte ich nur so dumm sein? Was habe ich mir dabei gedacht? Ich versuche, meine Handlungen zu rechtfertigen, sie als schlichte Reaktion auf das Leid eines anderen darzustellen, als den Wunsch zu helfen, aber dadurch wird das Ergebnis keinen Deut besser. Tegan ist heute Nachmittag quasi in meinen Garten hineingestürmt, getragen von schierer Freude und Verwunderung, mit strahlenden Augen. Dann hüpfte sie vor mir auf und ab und hielt mir das blaue Fläschchen mit solchem Schwung unter die Nase, dass ich sie ermahnen musste, sich zu beruhigen.

»Aber es hat funktioniert!«, rief sie. »Es hat tatsächlich funktioniert. Du bist einfach unglaublich! Wie hast du das gemacht? Sag mir, was da drin war. Was kannst du sonst noch? Ich habe es gewusst, die ganze Zeit schon habe ich es gewusst. Ich wusste, dass du anders bist. Da war so etwas … Kannst du auch Liebeszauber? Kannst du dafür sorgen, dass Menschen sich verlieben, auch wenn sie es eigentlich gar nicht wollen?«

Den Rest bekam ich gar nicht mehr richtig mit. Sie plapperte immer weiter, während ich krampfhaft überlegte, was ich getan haben könnte, um sie in solche Aufregung zu versetzen. Schließlich hob ich mahnend die Hände.

»Das reicht!«, sagte ich scharf. »Jetzt hol erst einmal tief Luft und erzähl mir langsam und verständlich, was eigentlich passiert ist.«

»Na ja, ich habe es so gemacht, wie du es gesagt hast – etwas davon auf mein Kopfkissen geträufelt und ein paar Tropfen auf mein Herz. Okay, vielleicht auch ein bisschen mehr. Gestern und heute. Ich dachte, es wäre vielleicht ein Liebestrank, na ja, der dafür sorgt, dass Michael auf mich steht.«

»Was?!«

»War es aber ja offensichtlich nicht. Das weiß ich jetzt auch. Es war etwas viel Besseres! Woher wusstest du davon? Von Ich-bin-ja-so-perfekt-Sarah Howard? Ich hatte dir nicht erzählt, dass sie mich mobbt. Ich habe nie gesagt, was sie mit meinem Mantel gemacht hat, was sie auf meinen Spind geschrieben hat, oder das mit dem ekligen toten Frosch in meiner Tasche, oder? Vielleicht habe ich mal erwähnt, dass sie mich wegen der Sache mit Michael verarscht hat. Klar, sie ist nicht die Einzige – aber die Schlimmste. Eine total blöde Kuh! Die anderen machen ihr alles nach. Aber jetzt nicht mehr!« Sie fing schon wieder an, mit dem Fläschchen herumzuwedeln.

Kopfschüttelnd musste ich gestehen: »Tut mir leid, Tegan, aber ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Ich habe dir Bergamotte-Öl gegeben. Es hilft dabei, das Selbstbewusstsein und die Entschlusskraft zu stärken. Mehr nicht.«

Sie beachtete mich gar nicht.

»Pfeiffersches Drüsenfieber! Wie genial ist das denn?« Und jetzt hüpfte sie sogar wieder. »Sie wird wochenlang nicht in der Schule sein, vielleicht sogar Monate. Wer weiß, vielleicht liegt sie den Rest des Schuljahres und den halben Sommer flach. Du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich dafür gebetet habe, dass so etwas passiert. Aber ich hätte nie gedacht … Und dann bist du gekommen. Die Antwort auf meine Gebete.« Seit Jahrzehnten hatte mich niemand mehr so bewundernd und voller Verehrung angesehen wie Tegan jetzt. Mein Mund war merkwürdigerweise ganz trocken, als ich mich zu einer Antwort zwang. Es würde einige Mühe kosten, das zu klären.

»Tegan… was glaubst du denn, was du von mir bekommen hast?«

»Das weiß ich nicht genau, einfach irgendetwas, um Sarah Howard loszuwerden«, antwortete sie achselzuckend.

»Einen Zaubertrank?«

»Na ja… schon.«

»Und warum glaubst du, ich hätte so etwas in meinem Besitz?« Sie schien vor ihren Füßen eine Antwort zu vermuten, denn dort starrte sie plötzlich hin. »Tegan?«, bohrte ich weiter.

»Jetzt, wo du mich zwingst, es laut auszusprechen, klingt es irgendwie blöd, aber… na ja… weil du eine Hexe bist, oder nicht?«

Natürlich konnte sie nicht ahnen, welchen Effekt diese Worte auf mich haben würden. Zum Glück war sie gerade nicht in der Lage, mir in die Augen zu sehen, denn sonst hätte sie dort nichts als Furcht entdeckt. Wie konnte sie so viel sehen, wo ich so blind gewesen war? Ich hatte das Mädchen gewaltig unterschätzt, und das war gefährlich. Der Regen war wieder stärker geworden, und so standen wir uns schweigend gegenüber, die Stille nur durchbrochen vom Trommeln der Regentropfen – wenige Meter und mehrere Jahrhunderte voneinander entfernt. Als Tegan langsam den Kopf hob, sah ich fassungsloses Staunen in ihrem Blick. Diese Variante findet sich nur bei jenen, die noch jung genug sind, um offenen Geistes zu sein, mit der Sehnsucht im Herzen, Magie möge tatsächlich existieren. Wenn sie nur wüsste, dass gerade wirklich ein lebender Beweis dafür direkt vor ihr stand.

»Komm mit rein«, schlug ich vor, und so gingen wir zusammen in die Küche. Dort ließ ich sie am Tisch Platz nehmen, während ich uns am Ofen zwei Becher mit Pastinakensuppe zurechtmachte. Nachdem ich ihr ihren Becher gereicht hatte, umfasste sie ihn mit beiden Händen, ließ mich dabei aber keine Sekunde aus den Augen.

»Achtung, es könnten Krötenbeine drin sein«, warnte ich sie. Im ersten Moment riss sie alarmiert die Augen auf, aber dann lachte sie, und die Anspannung im Raum verflüchtigte sich wie der Dampf der heißen Suppe.

»Was weißt du über Hexen?«, fragte ich sie.

»Ach, nur das Übliche. Sie stellen Kräutertränke her, wirken irgendwelche gruseligen Zauber, so etwas eben. Und ich weiß, dass heutzutage eine ganze Menge Hexen da draußen rumlaufen, oder zumindest Frauen, die behaupten, Hexen zu sein. Wegen diesem ganzen New-Age-Trend, richtig? Aber bestimmt gibt es nicht viele wie dich. Nicht viele, die tatsächlich so etwas können.«

Sie pustete auf ihre Suppe.

Ich öffnete die Ofenklappe und legte frisches Holz nach. Die weichen Äste, die wir in der vergangenen Woche abgeholzt hatten, waren noch feucht und nicht abgelagert und fauchten daher wütend, sorgten aber für passable Hitze. Ich zog meinen Stuhl vor den Ofen und signalisierte Tegan, es mir nachzutun, während ich die Kissen in meinem Rücken zurechtstopfte.

»Wann erwartet dich deine Mutter zu Hause?«

»Gar nicht. Naja, sie hat Nachtschicht. Sie kommt erst gegen Morgen heim.«

Nicht zum ersten Mal wunderte ich mich über das einsame Leben, das dieses Mädchen führte. Mir kam es grausam vor. Es war keine bewusste Vernachlässigung, aber trotzdem grausam. Indem ich für einen Moment die Augen schloss, versuchte ich, etwas Ordnung in meine turbulenten Gedanken zu bringen. Eigentlich gab es nur zwei Möglichkeiten: Zum einen konnte ich es abstreiten, ins Lächerliche ziehen, alles herunterspielen und mich auf keine Diskussion einlassen, um mich anschließend von Tegan zu distanzieren. Mit Sicherheit wäre das der vernünftigere Weg, aber auch ein trauriger, basierend auf Lügen und Halbwahrheiten. Den anderen Weg sollte man jedoch nicht unüberlegt beschreiten. Sobald man diese Reise antrat, musste sie mit Bedacht, Klugheit und ausreichend Zeit fortgeführt werden. Und es gäbe kein Zurück. Tief in meinem Inneren regten sich Vorfreude und ein Fünkchen Hoffnung. War es möglich, dass ich nach all der langen, langen Zeit mein Geheimnis mit jemandem teilen konnte? Dass ich nicht länger gezwungen war, die Wahrheit vor allen zu verbergen? Dieses unschuldige Mädchen hatte wie kein Mensch je zuvor hinter meine Fassade geblickt, sodass ich nun den kaum bezwingbaren Drang verspürte, ihr mein wahres Gesicht zu zeigen, es ihr begreiflich zu machen. Und mir noch einmal jene Geschehnisse vor Augen zu führen, die mich an diesen Punkt gebracht haben. Ich schlug die Augen auf.

»Wenn du sie hören möchtest, werde ich dir eine Geschichte über Hexen erzählen«, sagte ich. »Eine Geschichte voller Magie, Liebe und Verlust. Eine Geschichte, die zeigt, wie aus reiner Unwissenheit Angst erwächst, und wie tödlich diese Angst sein kann. Wirst du sie dir anhören?«

»Ja, cool! Und ob ich das werde.« Tegan nickte energisch.