Die Tochter der Zarin - Ellen Alpsten - E-Book

Die Tochter der Zarin E-Book

Ellen Alpsten

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Beschreibung

St. Peterburg im Jahr 1725: Auf Elisabeth, die Tochter Peters des Großen und Katharina I., wartet eine schwierige Aufgabe. Eine Seherin hat ihr einst vorhergesagt, dass die Schicksale des russischen Zarenreiches untrennbar mit ihrem eigenen verwoben sind. Doch der Kampf um die Krone ist nach dem Tod Peters des Großen entbrannt und jeder falsche Zug Elisabeths im Spiel der Mächtigen bringt sie in höchste Gefahr. Dass ihren Feinden ein Menschenleben wenig wert ist, bekommt Elisabeths Geliebter am eigenen Leibe zu spüren, der misshandelt und verbannt wird. Die tapfere Elisabeth widersetzt sich den Intrigen und Heiratsplänen, mit denen ihre Verwandten sie auszuschalten versuchen. Erst durch eine neue große Liebe, die alle Hindernisse überwindet, findet sie schließlich die Kraft, sich das zu nehmen, was ihr zusteht: die Krone Russlands.

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EPUB

Seitenzahl: 703

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Das Buch

Wir liefen Hand in Hand. Die spitzen Kieselsteine stachen durch die dünnen Sohlen meiner Seidenschuhe, und der nasse Sand durchweichte den Stoff. Sprühnebel tränkte unsere Kleider. Anuschka lief in mich hinein, als ich aufsah und vor Furcht innehielt. »Sieh doch nur!«, flüsterte ich. Nicht weit von uns entfernt kniete eine Frau am Flussufer. Vielmehr sah die Gestalt auf den ersten Blick aus wie eine Frau.

»Wer ist das?«, flüsterte ich.

»Ein Waldgeist, ein leschi«, erwiderte Anuschka, und ihr heißer Atem streifte meinen Nacken. »Willkommen, Zarewnas!«, knurrte der leschi. »Fragt mich, was ihr wissen wollt!«

Ich räusperte mich. »Also gut. Werde ich einmal Mutter sein?«

Der Blick des Waldgeistes legte sich in den meinen wie ein Schlüssel ins Schloss. »Du wirst eine Mutter sein, doch kein Kind haben.«

Ich runzelte die Stirn. »Was soll das bedeuten?«

»Ich antworte nur und erkläre nicht.«

Der Schwefelgeruch benebelte mich, als ich die nächste Frage stellte. »Werde ich den König von Frankreich heiraten und zusammen mit meinem Gemahl herrschen?«

Die Augen des leschi wandten sich starr, mit geweiteten Pupillen, in meine Richtung. »Kein Mann wird dich je beherrschen.«

Die Autorin

Ellen Alpsten wurde 1971 in Kenia geboren, verbrachte ihre Kindheit und Jugend dort und studierte dann in Köln und Paris. Sie arbeitete in der Entwicklungshilfe an der Deutschen Botschaft Nairobi und als Moderatorin bei Bloomberg TV. Heute ist sie freie Schriftstellerin und Journalistin, u. a. für die FAZ, Vogue und Spiegel Online. »Die Zarin« – erstmals 2002 in Deutschland erschienen – ist ihr Debüt. Heute ein internationaler Bestseller, liegt der erste und einzige Roman über Katharina I. in überarbeiteter Neuausgabe vor. Mit »Die Tochter der Zarin« hat Ellen Alpsten nun die Fortsetzung geschrieben.

Lieferbare Titel

978-3-453-42357-2 – Die Zarin

ELLEN ALPSTEN

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe The Tsarina’s Daughter erscheint bei Bloomsbury Publishing, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 03/2022

Copyright © 2022 by Ellen Alpsten

Copyright © 2022 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Friedel Wahren

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Arcangel/Malgorzata und Getty Images/Kontributor/Heritage Images

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24658-7V001

www.heyne.de

In deinem Ende liegt dein Anfang.Kein Mann wird dich so enttäuschen, wie eine Frau es vermag.Ein Engel wird zu dir sprechen.Die leichteste Last wird deine größte Bürde sein.

Prophezeiung der Golossow-Schlucht

DIE HANDELNDEN DES ROMANS

Elisabeths Familie

Elisabeth Petrowna Romanowa, Tochter Zar Peters des Großen und Katharina Alexejewnas, die spätere Zarin Elisabeth I. aller Russen von 1741 bis 1762Alexej Michailowitsch Romanow, Zar Alexej I. aller Russen von 1645 bis 1676, Elisabeths Großvater und zweiter Romanow auf dem ZarenthronPeter Alexejewitsch Romanow, Zar Peter I. aller Russen, 1682 zum Zar ernannt, regierte von 1689 bis 1725, Peter der Große, vom Volk auch BatjuschkaZar (Väterchen Zar), genannt, Elisabeths Vater. Er und alle über das Zarenreich nach ihm Herrschenden trugen auch den Kaisertitel.Katharina Alexejewna, eine Leibeigene, ehemalige Geliebte und nunmehr Ehefrau von Peter dem Großen, später Zarin Katharina I. aller Russen von 1725 bis 1727, Elisabeths MutterEwdokia Lopuchina, die erste Frau Peters des Großen, Mutter von Zarewitsch AlexejZarewitsch Alexej, Peters des Großen und Ewdokias Sohn, ursprünglicher Erbe, Elisabeths HalbbruderPeter Alexejewitsch Romanow, Zar Peter II. aller Russen von 1727 bis 1730, auch »Petruschka« genannt, Alexejs Sohn, Elisabeths NeffeAnna Petrowna Romanowa, Tochter Peter des Großen und Katharina Alexejewnas, auch ›Anuschka‹ genannt, Elisabeths SchwesterRegentin Sophia Alexejewna Romanowa, Halbschwester Peters des Großen, Elisabeths TanteZar Iwan V. aller Russen von 1682 bis 1696, gemeinsam mit seinem Halbbruder Peter dem Großen, Elisabeths OnkelZarin Praskowja Fjodorowna, Iwans Witwe, Elisabeths TanteZarewna Jekaterina Iwanowna, Tochter Zar Iwans V., Elisabeths CousineZarewna Anna Iwanowna, Tochter Zar Iwans V., Herzogin von Kurland, später Zarin Anna I. aller Russen, Elisabeths CousineElisabeth Katharina Christine von Mecklenburg, genannt »Christina«, Tochter von Jekaterina Iwanowna; von Zarin Anna I. als deren Nachfolgerin adoptiert, später unter dem offiziellen Namen Anna Leopoldowna, Regentin Russlands von 1740 bis 1741, Elisabeths Nichte zweiten GradesIwan Antonowitsch, geboren 1740, nominell Zar Iwan VI. aller Russen von 1740 bis 1741, kleiner Sohn von Christina, der Regentin Anna LeopoldownaFürst Anton-Ulrich von Braunschweig, Herzog von Kurland, Ehemann von Christina, der Regentin Anna Leopoldowna, und angeblicher Vater von Zar Iwan VI.Herzog Friedrich Wilhelm Kettler von Kurland und Semgallen, verstorbener Ehemann der Zarewna Anna Iwanowna, der späteren Zarin Anna I.Herzog Karl Leopold zu Mecklenburg, Ehemann der Zarewna Jekaterina Iwanowna und Vater von Christina, der Regentin Anna IwanownaFürst Karl August von Schleswig-Holstein-Gottorf, ein Vetter von Herzog Karl Friedrich, verlobt mit Elisabeth

Am Hof der Zaren

Fürst Alexander Danilowitsch Menschikow, hoher General in der Armee Peters des Großen und sein engster Freund, von ihm auch vertraulich »Alekascha« genanntDarja Michailowna Menschikowa, Menschikows FrauMaria Alexandrowna Menschikowa, Menschikows Tochter und erste Verlobte Zar Peters II., des Enkels Peters des Großen, genannt ›Petruschka‹Feofan Prokopowitsch, Erzbischof von Nowgorod, Beichtvater und Berater Peters des GroßenFürst Alexej Dolgorukow, Pate Zar Peters II.Jekaterina Alexejewna Dolgorukowa, Alexej Grigorjewitsch Dolgorukows Tochter, genannt ›Katja‹, zweite Verlobte Zar Peters II.Graf Pjotr Andrejewitsch Tolstoi, Höfling und Vertrauter von Peter dem Großen und Katharina I.Alexander Borissowitsch Buturlin, ein Offizier des Preobraschenski-Regiments, Liebhaber von ElisabethGeneral Uschakow, Leiter des Geheimdienstes von Zarin Anna I.Maja, die Zofe der Zarinnen Praskowja und Anna I.Semjon Mordinow, ein Seemann, der Briefe zwischen Anuschka und Elisabeth vom Schloss Gottorf nach Sankt Petersburg trägtFürst Artemi Petrowitsch Wolynski, der russische Botschafter in PersienFürst Antioch Dmitrijewitsch Kantemir von Moldawien, russischer Botschafter in London

Die Europäer

Kurfürst Friedrich August I. von Sachsen, als August II. König von Sachsen, Verbündeter Peters des Großen, genannt »August der Starke«König Louis XV. von FrankreichJean-Jacques de Campredon, französischer Botschafter in RusslandDer Herzog von Liria, spanischer Botschafter in RusslandJuan da Costa, ein portugiesischer Jude und Narr am Hof Peters des Großen, Katharinas I., Peters II., Annas I. und schließlich ElisabethsLiebman, Jude und Hofjuwelier von Zarin Anna I.Jakob Schwartz, ein österreichischer Spion, Cellist, Musik- und TanzlehrerGraf Moritz zu Lynar, sächsischer Gesandter und Liebhaber von Christina, der Regentin Anna LeopoldownaJulie von Mengden, baltische Baronin, kaiserliches Kindermädchen von Zar Iwan VI. und Liebhaberin von Christina, der Regentin Anna LeopoldownaGraf Andrej Iwanowitsch Ostermann, ursprünglicher deutscher Name Heinrich Johann Friedrich Ostermann, Kanzler und Vizekanzler von Peter I., Katharina I., Anna I. und der Regentin Anna LeopoldownaGraf Melissimo, ein österreichischer Diplomat und verlobt mit Katja Alexejewna DolgorukowaDie Brüder Löwenwolde, baltische Aristokraten und Soldaten im Ismailowski-RegimentErnst Biren, ein Stallbursche, auch bekannt als Graf Ernst Johann de Biron, Herzog Biron von Kurland, Regent von Russland, Liebhaber und Berater Zarin Annas I.Margarete Biron von Kurland, seine Frau (historisch Benigna Gottliebe von Biron)Carl, Peter und Hedwig Biron von Kurland, ihre KinderJean Armand de L’Estocq, französischer Aristokrat und Elisabeths ArztJane Rondeau, Frau des britischen Botschafters in RusslandJean-Baptiste Alexandre Le Blond, ein französischer Landschaftsarchitekt, der den Park von Peterhof plante, dem Sommerpalast Zar Peters des Großen

In Kolomenskoje

Nadja, die Kinderfrau von Anuschka Petrowna Romanowa und Elisabeth Petrowna RomanowaJewgeni, der Falkner Zar Alexej Michailowitsch Romanows

Im Pecharsky-Kloster

Äbtissin Agatha, eine Freundin Katharinas I.Wassilissa, die KöchinAlexej Grigorjewitsch Rasumowski, ein ukrainischer Hirte und Solist im Chor der Zarin Anna I., Elisabeths Geliebter und geheimer Ehemann

Die Datumsangaben des Romans folgen dem damals gültigen julianischen Kalender, ergänzt durch das gregorianische Datum in Klammern.

PROLOG

Im Winterpalast, 6. Dezember 1741, Gedenktag des Heiligen Nikolaus

Mein kleiner Neffe Iwan ist unschuldig – so unschuldig und rein, wie ein Einjähriger nur sein kann. Doch heute Nacht wird der junge Zar durch meinen Befehl für schuldig im Sinne meiner Anklage befunden: Er raubt mir den Thron meiner Väter. Die Strafe dafür ist ein Leben schlimmer als tausend Tode. Ich bekämpfe den Drang, ihn hochzuheben und zu küssen, aber das macht alles nur noch schlimmer. Jenseits seiner Tür höre ich ein Summen wie von Bienen, bereit, zornig durch den Winterpalast zu schwärmen. Stiefel kratzen auf dem Parkett, Sporen klirren aneinander wie Wodkagläser, Bajonette werden auf Musketen gesteckt. So klingt die Zukunft: Der Gedanke spickt mein Herz mit Blei.

Mir bleibt keine andere Wahl.Entweder Iwan oder ich. Nur einer von uns kann Russland regieren, der andere muss der Vergessenheit anheimfallen. Russland zu regieren ist ein Recht, das sowohl erworben als auch ererbt sein will. Iwans Herrschaft zwingt mein Land unter das Joch fremder Herrscher. Das Reich ist verloren; das unsichtbare, heilige Band zwischen dem Zaren und seinem Volk unwiederbringlich zerrissen.

Ich, Elisabeth, bin das einzige überlebende Kind der fünfzehn Söhne und Töchter Peters des Großen. Wenn ich in dieser Nacht zu lange zögere, so soll ich als letztes meiner Geschwister sterben und das Ende meiner Familie besiegeln.

Fluch den Romanows! Ich versuche umsonst, die Prophezeiung, die mein Leben überschattet hat, aus meinen Gedanken zu verbannen.

Auf dem Parkettboden bilden sich Pfützen, während der Schneematsch von meinen oberschenkelhohen Stiefeln tropft. Ihr abgenutztes Leder ist nach meinem Eilmarsch durch die Nacht von Sankt Petersburg durchnässt. Obwohl ich eine Zarewna, eine kaiserliche Prinzessin bin, breitete mir kein Page ein Bärenfell über den Schoß, das mich in einem geschwinden Schlitten vor dem eisigen Wind und dem stiebenden Schnee bewahren sollte. Ich hatte auch keinen Muff, den ich in der so anmutigen Geste der Sankt Petersburger Damen, der damy, an das Gesicht heben konnte. Mein Stelldichein mit dem Schicksal war ein Geheimnis. Schneefall verhüllte die flackernden Lichter der Laternen und verbarg die Stadt ebenso wie mich. In anderen Nächten lullte mich der stete Fall der Flocken ein, doch nun trieb mich die Angst an. Ich jagte über die Brücken, wich den Schlagbäumen mit den bewaffneten Wächtern aus und huschte über die leeren Prospekte, wo meine Hast eine warme Spur in der frostigen Luft hinterließ.

Dies ist eine Nacht der Entscheidung – eine Entscheidung unermesslichen Ausmaßes. Ein Kreuz, das ich mein Leben lang zu tragen habe. Ein gesalbter und gekrönter Zar kann nicht einfach getötet werden. Es erzeugt einen gefährlichen Präzedenzfall. Doch er kann auch nicht am Leben bleiben, zumindest nicht in den Herzen der Russen oder in den wöchentlichen Briefen der Botschafter an alle Höfe Europas.

Was also soll mit Iwan geschehen?

Ich taste nach seiner schlaffen kleinen Hand und kann nicht widerstehen – konnte es noch nie – und streichle seine molligen rosigen Finger. Wir nennen dieses Spiel den Schmetterlingskuss. Dann muss er kichern und windet sich, während mich eine große Zärtlichkeit überkommt. Seine Kinderhaut duftet nach dem Puder, der für ihn allein in Grasse gemischt wird, Vanille und Bergamotte, das Parfüm der Zaren. Ich sauge es ein, und der tiefe Atemzug, den ich nehme, muss ein Leben lang reichen. Die Männer draußen vor der Tür sind still. Sie warten auf meine Entscheidung, die mich retten und verdammen wird. Der Augenblick brandmarkt meine Seele.

Die dick gefütterten französischen Damastvorhänge im kaiserlichen Kinderzimmer sind zugezogen. Der neue Mond und die Sterne stehen am Himmel, aber schmerbäuchige Wolken tauchen die Stunde in dichte, undurchdringliche Dunkelheit. Tagsüber gefrieren den Möwen die Schreie in der Kehle, des Nachts reibt die Kälte die Haut roh. Jedes Licht ist so rar und teuer wie alles andere in dieser Stadt. Die kleinen Läden der Kerzenverkäufer, die nach Bienenwachs, Flachs und Schwefel duften, machen gute Geschäfte. In Zeiten von Angst und Unzufriedenheit brennen in den Kirchen die meisten Opferkerzen, und sowohl die Jultide als auch der Dreikönigstag nahen.

Auf den gegenüberliegenden Kais sind die Läden hinter den hellen Fassaden der Paläste und Häuser der Stadt geschlossen, die dahinter verborgenen Fenster bleiben still, wie lauernd. Auch der Winterpalast selbst wirkt drohend. Seine vielen Korridore, Raumfolgen und Treppenfluchten können so gefährlich wie eine Schlangengrube oder so willkommenheißend wie die Umarmung eines Liebhabers sein.

Entweder Iwan oder ich. Das Schicksal hat uns mitleidlos mit sich gerissen und uns in diesen Kampf gedrängt. Der Hof meidet mich. Niemand will noch eine Kopeke auf meine Zukunft setzen. Werde ich in ein abgelegenes Kloster geschickt, obwohl ich keine Unze Nonnenfleisch im Leib habe, wie sich der Herzog von Liria, der spanische Botschafter, so denkwürdig ausdrückte? Ein einziges Mal habe ich eine solche unglückliche Frau gesehen. Wie beabsichtigt erfüllte mich ihr Anblick mit lebenslanger Furcht. Ihr kahl geschorener Kopf war mit Narben und Frostbeulen übersät, und der Wahnsinn leuchtete ihr aus den Augen. Eine bucklige Zwergin, der die Zunge herausgerissen worden war, leistete ihr Gesellschaft. Beide hausten in schmutzigem Stroh wie in einem Schweinestall. Oder wartet ein Schlitten auf mich, bereit zur Abfahrt in Richtung Sibirien? Es wäre eine Reise ohne Wiederkehr. Ich selbst hörte die Rufe um Gnade der Verurteilten, sah die Angst in ihren Gesichtern ebenso deutlich, wie ich meine Finger ihrem flehenden Griff entzog. Ein Jahr nach ihrer Verbannung waren sie alle tot. Niemand übersteht das Leben im nagenden Frost des Ostens lange. Sibirien ist das größte Gefängnis der Welt; es benötigt weder Tor noch Wärter. Möglicherweise schluckt mich eine Zelle in der Peter-und-Paul-Festung, dem teuflischen Ort, den niemand, weder Mann noch Frau, jemals in einem Stück verlässt. Oder, einfacher noch, man findet mich mit dem Gesicht nach unten unter dem Eis der Newa treibend.

Die Ungeduld der Männer vor Iwans Tür ist spürbar. Nur noch einen Atemzug lang Gemeinsamkeit, bitte! Iwans Amme schläft auf ihrem Schemel in der dunkelsten Ecke des Gemachs, in sich zusammengesunken. Sie sitzt inmitten seiner verstreuten Spielsachen, einer Matrjoschka, Holzbooten aller Größen, einem mechanischen Silberbär, der nach dem Aufziehen die Kiefer öffnet und die Pfoten hebt, und einem Globus aus indischem Elfenbein und belgischem Email. Eine ihrer blassen Brüste liegt noch vom letzten Stillen bloß. Ihr voller Alabasterbusen war der Grund für ihre Rekrutierung im lebhaften deutschen Viertel von Moskau. Sie kümmert sich zu Recht so gut um Iwan, denn Romanow-Männer sind von schwächerer Gesundheit als Romanow-Frauen, obwohl das niemand laut ausspricht. Ich habe Iwans erstes Lebensjahr als eine Zeit der Wunder empfunden und ihm anlässlich seiner Taufe ein mit Rubinen und Smaragden besetztes Kreuz geschenkt. In meinem Stall wird ein edles Hengstfohlen als sein Geschenk zur Jultide aufgezogen; das Futter des jungen Rappen hat mich in Schulden gestürzt.

Iwans Atem wird schwerer. Lasten die Männer an seiner Tür auf seinen Träumen? Ich fasse an seine Hüften, und seine lebendige Wärme trifft mich mitten ins Herz. Oh, nur noch einmal sein süßes Gewicht in meinen Armen zu spüren! Ich ziehe die Hände zurück und falte sie, obwohl die Zeit für Gebete vorbei ist. Keine Pilgerfahrt kann mir Ablass für diese Sünde erwirken, und wenn ich dafür auf den Knien durch ganz Russland rutschen würde. Iwans Wimpern flattern, sein Kinn zittert. Ich kann es nicht ertragen, ihn weinen zu sehen, ganz im Gegensatz zu dem bekannten Sprichwort der russischen Leibeigenen. Die Tränen eines anderen Mannes sind nur Wasser.

Die leichteste Last wird deine größte Bürde sein. Die letzte Prophezeiung erfüllt sich. Verschont mich! Aber alle meine noch so flehentlichen Bitten stoßen auf taube Ohren. Dies ist mein Weg, und ich muss ihm folgen, auch wenn er über die Scherben meines gebrochenen Herzens führt. Iwan gleitet wieder in Tiefschlaf. Lange dunkle Wimpern werfen Schatten auf seine runden Wangen. Die winzigen Fäuste öffnen sich und zeigen glatte rosige Handflächen. Nicht einmal der begabteste Hellseher vermag vorherzusagen, was sich in der düsteren Zukunft des Kleinen verbirgt.

Selbst ich mag diesen Gedanken nicht zu Ende denken.

Hinter der Tür herrscht vollkommene Stille. Ist dies die Ruhe vor dem Sturm, die mein Vater mich fürchten gelehrt hat, wenn wir gemeinsam auf den schieferfarbenen Wassern des Finnischen Meerbusens segelten? In der Ferne rollte seine Flotte über die Wellen, die Masten ragten wie ein Meereswald in den Himmel auf. Schritte nähern sich der Tür. Meine Zeit mit Iwan ist zu Ende. Wenn die nächsten Minuten doch unnötig wären! Es klopft, so leicht und so leise, dass es seinen wahren Zweck verleugnet. Die Zeit ist reif zum Handeln. Russland duldet keine Ausreden mehr. Die Geduld der Soldaten ist zum Zerreißen angespannt. Ich habe ihnen Ruhm und Reichtum versprochen. In einer Nacht wie dieser werden Karrieren gemacht, Vermögen gewonnen und verloren.

»Elisabeth Petrowna Romanowa?«, fragt der Kommandant des kaiserlichen Preobraschenski-Regiments. Sein Sohn ist mein Patenkind, aber kann ich ihm deshalb vertrauen? Ich fühle mich wie am Ertrinken und schütze Iwans Wiege mit meinem Körper. An der Wand mir gegenüber schwebt mein Gesicht in dem vergoldeten hohen Spiegel gespenstisch blass über meiner dunkelgrünen Jacke. Mein lockiges aschblondes Haar hat sich unter der Pelzmütze gelöst. An einer einfachen Lederschnur um meinen Hals hängt ein Medaillon, die diamantenbesetzte Ikone des Heiligen Nikolaus, die für mich von unschätzbarem Wert ist. Sie müssten mir das Amulett vom Leib reißen, um seiner habhaft zu werden. Ich bin beinahe einunddreißig Jahre alt und werde mein Blut nie wieder verraten.

»Ich bin bereit«, sage ich, als die Tür auch schon aufspringt. Soldaten schwärmen herein und verteilen sich im Raum. Die nächsten Augenblicke werden unser Schicksal bestimmen.

Alles hat seinen Preis.

1. Kapitel

Frühling 1723, siebzehn Jahre zuvor

In Mutters Haus in Kolomenskoje hofften wir, Ruhe und Stärke zu finden, denn dort waren wir in Sicherheit. Seit dem Tod meines Halbbruders Alexej, des Zarewitsch, hatte Mutter umsonst versucht, meinem Vater, dem Zaren aller Russen, Peter dem Großen, einen Erben für das größte und wohlhabendste Reich auf Erden zu schenken. Nur einige Wochen vor unserer Abfahrt war sie wieder von einem tot geborenen Sohn entbunden worden.

Wir waren erleichtert, Sankt Petersburg kurz nach Ostern zu verlassen. Trotz Mutters jüngsten Schicksalsschlags hatten wir Ostern wie üblich gefeiert und den Höflingen an dem fröhlichsten und heiligsten aller russischen Feiertage bunt bemalte Eier geschenkt: Christus war auferstanden. Doch unsere Teller blieben so gut wie unberührt, während der Hof sich an kulitsch labte, einem kegelförmigen Brot aus Hefeteig, sowie pascha, dem Quarkkuchen mit Mandeln und Trockenfrüchten.

Als ich aus dem Winterpalast trat, wollte ich die kühle Frühlingsluft trinken, um jede Erinnerung an die langen, stickigen und dunklen Wintermonate ebenso zu tilgen wie alle Furcht und Sorgen. Der Morgen glitt so glatt und grau wie ein Taubenflügel in den Tag über, und der Himmel bot einen ersten Vorgeschmack auf die Sonnenaufgänge des Sommers. Am Horizont mischten sich dunstige Lagen von Violett, Senf und Perlmutt. Die ottepel, das Tauwetter, hatte begonnen, und der so plötzliche Übergang von Tag zu Nacht ließ bereits nach. Keine Veränderung in Russland kommt leicht zustande, nicht einmal der Wechsel der Jahreszeiten. Dennoch war die Kraft der NaturJahr für Jahr wieder überwältigend und überraschend. Sie ließ die Flüsse anschwellen und riss den Erdboden auf. Das Licht verlängerte sich jeden Tag um einen Hahnenschrei und erhellte unsere Seelen. Die Sonne taute die gefrorene Erde auf, und ihre Strahlen fegten den Frost und den Raureif aus unseren Adern. Sie beschleunigte das Blut in unseren Adern und trieb den Herzschlag in die Höhe. Winde trugen Samen und damit die Verheißung von Fruchtbarkeit und Leben in alle Ecken des Reiches, sie bliesen die Spinnweben aus unseren Köpfen und rissen Russland aus seiner schläfrigen Schlaffheit.

Meine Schwester Anuschka, die nur ein Jahr älter war als ich, und ich kannten Mutters Anwesen in Kolomenskoje gut. Die ersten Jahre unseres Lebens hatten wir dort verbracht, ehe unsere Eltern verheiratet waren und jede von uns zur Zarewna ernannt wurde, zur kaiserlichen Fürstin. Mutter, die Zarin, hatte Vater immer begleitet, wohin er auch ging, sei es auf die Schlachtfelder des Großen Nordischen Krieges gegen Schweden – eines Kampfes ums Überleben, der Russland beinahe zwei Jahrzehnte lang unter seinem Bann gehalten hatte – oder auf seinen Reisen in den Westen und durch ganz Europa.

Obwohl wir Zarentöchter waren, lebten wir in Kolomenskoje so frei und unbeschwert wie Bauernkinder. Unsere Kinderfrau Nadja ließ uns barfuß im roten Staub unter den Pappeln spielen. Wir trugen lockere, schlichte Kleidung, und sie kochte Suppen und Eintöpfe für uns, die Stammgerichte der russischen Bauernküche. Unter ihrer Aufsicht besuchten wir im Frühjahr die Taubenschläge des kaiserlichen Falkners und zogen Kätzchen auf, die im Stall geboren waren. Im Sommer pflückten wir Beeren im Wald oder schwammen in klaren Seen. Im Herbst suchten wir Pilze oder spielten Verstecken in riesigen Haufen raschelnder Blätter. Im Winter dann gingen wir eislaufen, rodeln und bauten Iglus oder einmal auch eine stämmige Schneefrau, die Nadja verdächtig ähnlich sah. Bei ihrem Anblick lachte sie so laut, dass sie husten und keuchen musste. Jeden Abend kletterte sie mit uns ins Bett. »Kommt her, meine Täubchen, steckt eure frechen, kleinen Schnäbel ganz fest unter meine Flügel!« Sie erzählte uns alte russische Märchen, die wundersamerweise alle in Kolomenskoje spielten. Geschichten, die nur so von bösen Geistern, schönen entführten Mädchen und starken jungen Männern wimmelten, die sie erretteten. »Dies hier ist alte Erde. Glaubt mir, ich habe selbst gesehen, wie dies alles geschah«, erklärte Nadja und bekreuzigte sich mit drei Fingern, was die Heilige Dreifaltigkeit unserer russischen Kirche der Rechtgläubigen widerspiegelte.

»Ich konnte mich nicht einmal von Vater verabschieden«, sagte ich zu Anuschka, als wir zusammen zu unserer Kutsche gingen. In einer stummen Warnung schüttelte sie den Kopf und blickte zu den Fenstern im oberen Stockwerk des Winterpalastes hinauf. Die Vorhänge waren noch zugezogen, Vater schlief, nachdem er am Abend zuvor mindestens zwei Flaschen Wodka geleert hatte. Der nackte Bauch eines Kämmerlings diente ihm als Kissen, nur das Gefühl von Fleisch auf Fleisch hielt seine Dämonen in Schach. Seit Alexejs Tod fürchtete er den Schlaf.

»Niemand hat Vater seit Mutters Entbindung gesehen, Lisenka«, sagte Anuschka und nannte mich bei meinem Kosenamen. »Er hatte so sehr auf einen Sohn gehofft. Russland braucht einen Erben. Überall gibt es Altgläubige, die ihm das Leben schwer machen.« Die Altgläubigen hassten den Zaren wegen seiner Reformen und der Veränderungen, die er in Russland eingeführt hatte. Seine Ideen griffen auch in jeden Bereich unseres heimischen und öffentlichen Lebens ein und veränderten alles … Die Art und Weise, wie wir aßen, uns kleideten, uns frisierten, sprachen, lebten und unsere Häuser einrichteten sowie die Organisation der Verwaltung, der Wissenschaft und des Militärs, von der Einführung einer Wehrpflicht bis zur Gründung der Marine. Vater hatte das Gesicht Russlands wie einen Puppenkopf gepackt und es von Osten nach Westen gedreht. Mein sehr viel älterer Halbbruder Alexej, der Zarewitsch, war der Anführer der Altgläubigen gewesen. Als Alexej des Hochverrats beschuldigt und zum Tod verurteilt worden war, geschah das Unvorstellbare. Von Enttäuschung und Angst um die Zukunft seines Reiches halb verrückt, hatte Vater seinen einzigen Sohn und Erben mit eigenen Händen hingerichtet. Seitdem war es uns verboten, Alexej auch nur zu erwähnen.

»Ich brauche ihn«, beharrte ich. Konnte ich mich nicht einfach in Vaters Zimmer schleichen, um mich von ihm zu verabschieden? Nein.

»Russland braucht ihn dringender als du. Sei vorsichtig, Lisenka! Denk daran, wie er mit dem kleinen Petruschka umgeht!«

Petruschka war Alexejs junger Sohn. Vater entfernte den Buben, seinen einzigen Enkel, aus seinem und unserem Leben. Er riss unseren Neffen aus der Familie wie eine Zecke, die er hinter dem Ohr seines Mischlingshunds entdeckte. Petruschka sollte kein Pfand in den Händen der Altgläubigen sein. Er, der Sohn eines Verräters, sollte nie regieren. Kein Wunder, dass Vater von Albträumen geplagt wurde. Die Wächter in der Peter-und-Paul-Festung, in der Alexej gestorben war, hatten geschworen, dass die Seele des Zarewitsch in Gestalt einer Krähe aus seinem Körper geflohen war. Daraufhin hatte der Zar die Vögel in ganz Russland jagen lassen. Landwirte fingen, töteten, rupften und rösteten sie gegen ein Kopfgeld. Nichts davon half meinem Vater. Des Nachts glitt der Vogel lautlos in sein Schlafzimmer. Im kühlen Schatten seiner Ebenholzflügel trocknete das Blut an den Händen des Zaren nie. Es war entsetzlich, ihn so leiden zu sehen. Er weckte den Winterpalast mit seinen Schreien. Nur Mutter konnte ihn dann beruhigen.

»Hoffen wir, dass es ihm im Juni besser geht, wenn wir zurück sind, um seinen Namenstag zu feiern«, sagte ich und war unfähig, die furchterregende Autorität des Zaren, der unter seinen Untaten litt, mit dem warmen und liebenden Vater zu verbinden, auf dessen Knie ich geklettert war, um mich von seinem borstigen dunklen Schnurrbart kitzeln zu lassen. »Komm her und zieh mir die Schnurrhaare lang, Lisenka!«, hatte er mich ermuntert. Er hatte mir beigebracht, wie man eine Planke hobelte. »Wenn meine Hände beschäftigt sind, habe ich die besten Einfälle«, pflegte er zu sagen. Wenn ich ein Boot in den Wind drehte, jubelte er über dessen Kraft. »Hinunter mit dem Kopf und Ruder festhalten!«

»Mit der Zeit wird er wie stets Gottes Willen annehmen. Jetzt trödle nicht, steig ein!« Anuschka schob mich in die Kutsche, die wie ein fröhlich bunt bemaltes Häuschen auf Rädern aussah. Im Innern des Reisewagens lagen Matratzen, die zuhauf mit flauschig dicken Eisbärfellen und gestickten Samtkissen bedeckt waren. Dennoch fürchtete ich die lange Reise, die uns erwartete. Die große Schmelze verwandelte die Straßen in Morast. Im Winter war das Reisen in Russland viel einfacher, wenn man warm und bequem in einem großen Schlitten saß, der nur so über das Land flog. Unsere Fahrt gen Osten – Kolomenskoje lag gut sechshundert Werstvon Sankt Petersburg entfernt, nur einige Stunden südlich von Moskau – hätte dann nur drei oder vier Tage in Anspruch genommen. Stattdessen hatten wir nun bis zu zwei Wochen vor uns. Tückisch tiefe Schlaglöcher rissen die Straßen auf, und alle Fahrrinnen waren ausgehöhlt und schlammig. Das Fahrzeug schwankte und schlitterte, und in seinem Innern stießen wir aneinander wie Schinken in einem Rauchfang. Jedes Mal setzten wir uns seufzend und schweigend wieder auf. Bald, so war ich fest entschlossen, sollten uns solche Missgeschicke wie sonst auch wieder zum Lachen bringen, und wir sollten einander noch mehr stoßen und schubsen, bis wir atemlos vor Ausgelassenheit waren. Ich hatte Vater sogar darum gebeten, seinen Lieblingszwerg Juan da Costa mit uns reisen zu lassen. Doch nach einem geschmacklosen Scherz, in dem der Kobold sich ein Kissen unters Hemd geschoben und sich stöhnend wie eine Frau in den Wehen gewunden hatte, hatte die Hofdame meiner Mutter ihn geohrfeigt und geknebelt. Mit prallen Wangen und tränenden Augen hatte der Zwerg in seiner Ecke gesessen, verschnürt wie ein Huhn am Markttag. Am dritten Tag war der Knebel nicht länger nötig. Nun saß er schmollend und mürrisch in der Kutsche wie wir alle, Mutter, meine Schwester Anuschka, die Hofdame und ich.

Da jede Datscha entlang des Wegs noch immer verlassen war, schliefen wir in Gasthäusern. Juan da Costa genoss es, mit seiner Peitsche ausgewachsene Männer von dem riesigen Ofen zu jagen, um Platz für uns zu schaffen. Dessen stete Hitze erwärmte die Stube, röstete Schweinefleisch und Geflügel, trocknete die Kleidung nach der wöchentlichen Wäsche und diente der Wirtsfamilie nachts als Bett. Wir hatten selten eigene Zimmer, sondern streckten uns auf den Bänken der »roten« oder »guten« Ecke der Gaststube aus oder lagen auf dem Bettzeug, das hastig im verschmutzten Stroh ausgerollt wurde.

»Warum können wir nicht unter dem Sternenhimmel schlafen und am offenen Feuer kochen? Es ist doch Frühling«, flüsterte ich Anuschka eines Nachts zu, als ich mich eng zusammengerollt an sie schmiegte.

»Dafür musst du warten, bis wir in Kolomenskoje angekommen sind«, sagte sie. »Mutter soll sich ausruhen und ihre Sorgen vergessen. Sobald sie sich dort eingelebt hat, kannst du tun und lassen, was du willst.«

»Schön wär’s«, kicherte ich und schwieg. Hoffentlich war mir bald weniger übel nach einem weiteren Nachtmahl, das aus kascha bestand, einem gesalzenen und fettigen Hirsebrei mit Speck. Oder war der fermentierte Kohl daran schuld, das Sauerkraut, das uns die Gastwirte überall servierten? Am Ende des Winters standen die Lagerräume und Vorratskammern leer. Für mich war dies ein weiterer Grund, mich auf den Frühling zu freuen. Er schenkte Russland Leckerbissen wie Fisch, Schweinefleisch, Geflügel, Kaviar, Pilze, Beeren und Honig, während die Sommerernte von Roggen, Weizen, Gerste und Hirse uns eine Vielfalt an Broten, kleinen Backwaren und Pfannkuchen wie pirogi oder blintschiki bescherte. Doch wenigstens kamen wir so schneller voran, denn in einem Gasthaus konnten wir Pferde wechseln. Juan da Costa traf seine Wahl im Stall des Wirtes, ohne je zu bezahlen.

Das Eigentum eines jeden Russen gehörte zuallererst dem Zaren.

»Die Zeit in Kolomenskoje wird uns allen guttun«, sagte ich, als die kurzbeinigen, starken Pferde, die sechsspännig unseren Wagen zogen, in den Park rings um das Anwesen einbogen und sich dem Haus näherten.

Neben der berittenen Garde an Kosaken folgte uns eine schier endlose Anzahl von hoch beladenen Karren. In Truhen, die mit Schieferplatten, Eisenbändern und Nieten beschlagen und mit Ketten und Schlössern versperrt waren, reiste unser gesamter Haushalt mit: Möbel, Teppiche, Porzellan, Kristall, Bettwäsche und Kronleuchter. Während der Abwesenheit der Zarenfamilie standen unsere Paläste leer, denn stets drohten verheerende Feuersbrünste oder Raubüberfälle. Es bestand einfach eine zu große Gefahr, dass die Wächter sich betranken und in irgendeiner Ecke besinnungslos vor sich hin schnarchten. Vieh begleitete unseren Zug – Kühe, Ziegen, Hühner und Schafe – und sollte den Bestand der Ställe von Kolomenskoje ergänzen, um uns und die Bediensteten bis zum Juni zu ernähren. Roter Staub wirbelte unter den Hufen der Tiere auf, und ihre Laute, das Muhen, Gackern und Grunzen, begleitet von dem Wiehern der begleitenden Dragonerpferde, verschmolzen mit den noch kühlen Strahlen der späten Nachmittagssonne. Unsere Kehlen waren ausgetrocknet, da der Staub die Scheiben aus Moskauer Glas in den Türen des altmodischen Wagens durchdrang und sich in unseren Poren, Augen und Mündern absetzte. Hoffentlich hatte Nadja, die nun Haushälterin in Kolomenskoje war, noch etwas Holunderblütenlikör aus dem letzten Jahr übrig, den ich mit dem frischen, klaren Wasser aus der Quelle im Garten mischen konnte. Der Trank war so erfrischend, dass ich am liebsten darin gebadet hätte.

»Warum sagst du das?« Vom jüngsten Blutverlust, von der Erschöpfung, den Straßen und so vielem anderen war Mutter sehr geschwächt. Ihre Schönheit, die dem Zaren einst ins Auge gefallen war, als sie noch eine Leibeigene und Waschmagd und er der kriegerische junge Herrscher Russlands gewesen war, wirkte verblasst. Ihren grünen Katzenaugen fehlte jeder Glanz, und ihre vollen Lippen waren blutleer. Die Hofdame konnte ihr Haar, das dünn und brüchig herabhing, kaum noch in eine Frisur verwandeln. Ich fasste ihre Hand, die sich kalt anfühlte. »Wir dürfen unsere Furcht und unsere Sorgen nicht verschweigen. Feofan Prokopowitsch sagt, dass die Stille die Seele schluckt. Und ist er nicht der weiseste Geistliche in Russland, der Vater zu seinen Höhenflügen ermutigt?«

Anuschka stimmte mir bei. »Feofan hat recht. Wir wissen, wie sehr Vater uns alle liebt, was auch immer geschehen ist.«

Mutter legte sich warnend den Finger auf die Lippen. Vater hatte uns verboten, Alexejs Namen je wieder auszusprechen. »Schweigen kann auch schützen«, gab sie zu bedenken. »Es bringt Vergessen.« Dann aber leuchteten ihre Augen auf. »Feofan Prokopowitsch hat mir auch etwas prophezeit.«

»Was denn?«, fragte ich.

»Am Tag des Jüngsten Gerichts werde ich dem Zaren einen Erben für sein Reich geschenkt haben.« Beinahe trotzig verschränkte sie die Arme vor dem Körper, und ich sah die tiefen Narben an den Handgelenken. Die Schnitte, deren Exaktheit mich beim ersten Anblick entsetzt hatte, als Feofan Prokopowitsch den kleinen Leichnam meines Bruder vor wenigen Wochen rasch gesegnet und begraben hatte. Um so allein in der dunklen Erde zu liegen, war er doch viel zu klein! »Warum kannst du mir dieses eine Kind nicht lassen?«, hatte sie geschrien, als ich in ihre Gemächer kam, um sie zu trösten. »Warum hat er keine von euch genommen, dich, Elisabeth? Oder eben Anuschka? Ihr seid doch nur … Mädchen.« Ihre Worte hatten meine Seele durchbohrt, und alles Glück war aus mir herausgelaufen wie Wasser aus einem Sieb. »Es ist entsetzlich, Zarewna«, hatte ihre Hofdame mir zugeflüstert. »Die Zarin hat so viel Blut verloren, dass der Arzt ihr eine weitere Schwangerschaft verboten hat. Es wird keinen Zarewitsch mehr geben. Bete für die Zarin!« Mein Herz schmerzte, aber Anuschka hatte recht. Mutter sollte auf keinen Fall noch mehr Kummer oder Herzeleid erdulden. Sicher war sie ebenso begierig wie ich, den schrecklichen Handel zu vergessen, den sie Gott und dem Schicksal angeboten hatte.

»Ihr sagt doch selbst, dass Feofan der weiseste Mann Russlands ist«, beharrte Mutter: Wir sollten ihr die größte ihrer Sorgen abnehmen. »Es ist noch nicht alles verloren.«

»Natürlich nicht«, bestätigte Anuschka. »Du wirst Vater einen Erben schenken. Wir glauben fest daran, was immer geschieht.«

»Du weißt doch, was Vater sagt: Man soll nie aufgeben«, stimmte ich ihr zu.

»Meine Mädchen. Wie stolz bin ich auf euren Kampfgeist«, sagte Mutter mit einem Hauch von Genugtuung in der brüchigen Stimme.

»Nun, ich frage mich, wo wir den herhaben sollten«, wandte ich schelmisch ein und nahm ihre Hände, die die noch immer auf dem Unterleib lagen, fest in die meinen.

Die Kutsche ratterte weiter zum Haus. Zwei Werst an Pappeln standen in voller Blüte, und ihr puch schwebte überall. Während des Frühlings bedeckten die zarten weißen Samen den Himmel wie Wolken und ließen sich sanft wie Sommerschnee auf Haut, Haar und Kleidung der Menschen nieder. Jetzt blies er in die Kutsche herein und legte sich wie ein Heiligenschein auf Mutters und Anuschkas dunkles Haar.

Ich steckte den Kopf aus dem Kutschenfenster, duckte mich aber rasch. Die vorgespannten Kaltblüter warfen mit ihren Hufen große Klumpen Schlamm und Kies auf, die leicht ein Auge ausschlagen konnten.

»Ich sehe das Haus!«, jubelte ich. »Mein Gott, es ist so lange her, dass wir hier in Kolomenskoje waren! Viel zu lange. Schaut! Schaut doch nur!«

Anuschka und ich rauften um den besten Platz am Fenster: Wir kannten Moskau mit seinem Durcheinander aus bunt bemalten Holzhäusern aller Größen wie auch seinen tausend Kirchen samt ihrer Türme. Wie ein Schneckengehäuse wand sich die Stadt um ihr dunkles, grüblerisches Herz, den Kreml. Irgendwo schlug immer eine Kirchenglocke in der ehemaligen Hauptstadt Russlands, um Stunden an Hingabe während eines Gottesdienstes zu fordern oder den Namenstag eines Heiligen zu ehren. Die Geräusche machten stets alle Gespräche unmöglich. Die Stadt war wild, ohne Gesetz und Planung über die Jahrhunderte hinweg gewachsen. Hier schlug das Herz der Rus, hier schimmerte das Urbild unseres großen Landes.

Im Gegensatz dazu waren in Sankt Petersburg, in Vaters glänzendem neuem Jerusalem, das erst zwei Jahrzehnte alt war, alle Straßen und Kanäle sorgfältig geplant worden. Alles sollte nachahmen, was Vater auf seinen langen und zahlreichen Reisen in den Westen gesehen, gelernt und bewundert hatte. Der italienische Gesandte hatte die Stadt als Bastard-Architektur verunglimpft, die sich an allem Schönen in Italien, Frankreich und den Niederlanden frei bediene. Paläste, Villen und Häuser lagen mit ihren glatten, flachen Fassaden aufgereiht wie Perlen entlang des Flussufers der Newa und der zahlreichen Kanäle und Wasserstraßen. Dennoch war an einem windigen und regnerischen Tag ein Ausflug in die Stadt eine Herausforderung des Schicksals. Der Wind blies lose Ziegel von den Dächern, und flüchtende Menschen stolperten über das hastig und oft schlampig verlegte Kopfsteinpflaster.

Kolomenskoje aber wirkte wie ein Traum aus längst vergangener Zeit. Mein Großvater, Zar Alexej, der zweite der Romanow-Zaren, hatte das Jagdschloss hoch über der Moskwa gebaut. Das Haus lag wie ein bunter Kamm auf einer dunkelgrünen Welle aus Parklandschaft, Wäldern, Bächen und Schluchten. Das Erdgeschoss mit seinen Ställen, Lagerräumen und Vorratskammern war aus Holz und einer inzwischen bröckelnden Mischung aus gebleichtem Ton, aus Sand und Mist gebaut. Hinter winzigen Öffnungen, kleinen Fenstern und offenen Schlitzen lebten die Diener zusammen mit ihrem Vieh. Hier mischte sich ihre Körperwärme mit ihrem stickigen Atem. Faustgroße Bündel aus gekochtem Moos füllten die Lücken im Fachwerk, doch der abblätternde Teer darauf konnte die Kakerlaken in diesem Sommer nicht mehr fernhalten. Die Wände mussten dringend neu getüncht werden, um die Wespen am Nisten zu hindern. Der erste Stock mit Dutzenden von Zimmern hingegen war unser Reich. Die zahllosen großen, aber schon windschiefen Fenster durchfluteten die Räume mit Licht, und stetig säuselte Zugluft. Ihr Rahmenwerk war bunt und kunstvoll bemalt, und alle waren sie voll verglast. Doch die Krönung von Kolomenskoje waren trotz der Vielzahl fehlender Schieferschindeln die Dächer. Formen aus ganz Russland hatten sie inspiriert. Stieg das eine Dach Stufe um Stufe wie eine Treppe in den Himmel, beulte sich ein anderes zwiebelförmig als byzantinische Kuppel. Diese lag flach auf dem Haus, so wie eine polnische Mütze in die Stirn gezogen wurde. Wieder ein anderes Dach stach mit nadelspitzen Türmen in den dichten blauen Nachmittagshimmel.

Nun rutschte sogar Mutter ans Fenster. »Kolomenskoje ist auch mein Lieblingsort. Hier war mein allererstes eigenes Heim. Als euer Vater mir das Anwesen schenkte, war ich noch gar nicht seine Frau. Er wollte mir für deine gesunde Geburt danken, Anuschka. Und nur ein Jahr später wurdest du hier geboren, Lisenka, am Tag der großen Parade von Poltawa …«

»Das war, als Vater und Russland den Sieg über die schwedischen Teufel feierten«, führte ich ihre Worte weiter. »Unter den Dezembersternen kam ich mit den Füßen voran. Nadja, die dir die Hühnerbrühe brachte, damit du wieder zu Kräften kämst, erblasste vor Angst bei diesem schlechten Vorzeichen. Vater drohte, ihr die Haut bei lebendigem Leib abzuziehen, aber du hast um ihr Leben gefleht, denn sie hatte dir geholfen, die schwierige Geburt zu überleben«, rasselte ich die Geschichte hinunter, die ich schon so oft gehört hatte, dass ich sie auswendig kannte.

Und zum ersten Mal seit einer geschätzten Ewigkeit mussten wir alle lachen. Sogar der Zwerg Juan da Costa vergaß allen Zwist über gefühllose Scherze, zu Recht erlittene Ohrfeigen und Knebel, als der Wagen in Kolomenskoje einfuhr.

2. Kapitel

Wolken von Fliegen ließen sich auf den verschwitzten Körpern der Pferde nieder und umsäumten als schwarz glänzende Schwärme die Augen und die dampfenden Nasenlöcher der Tiere. Mit wild wedelnden Armen verjagten die Stalljungen das Ungeziefer, ehe sie das schwere Zaumzeug von den Pferderücken hoben und die Tiere in den Stall führten, um sie trocken zu wischen, zu füttern und mit Wasser zu versorgen. Der Kutscher rieb sich über Gesicht und Augen, dann stieg er vom Kutschbock. Mit einem Seufzer reckte er sich steif und ächzend vor unserer Wagentür, bevor er sich unterwürfig dort zusammenkauerte. Wir folgten Mutter und traten über seinen Rücken hinweg auf den Hof. Einmal auf festem Boden, stützte die Hofdame Mutter am Ellbogen, während Anuschka und ich die Glieder streckten und vergnügt mit den Füßen stampften. Diener schwärmten aus dem Haus aus, und Bittsteller lungerten bereits um die hohe Eingangstür mit ihrem bunt bemalten und kunstvoll geschnitzten Rahmen. Sie warteten auf Mutter, erneuerten laut rufend ihren Treueschwur und streckten ihr die zahllosen Petitionen entgegen, für die sie einem Schreiber gutes Geld gezahlt hatten. Wenn die Zarenfamilie in einer der vielen Residenzen im Land eintraf, war es üblich, Audienz zu halten und Gericht zu sitzen. Die Leute kamen mit den unterschiedlichsten Anliegen zu Vater und Mutter. Es ging um die Grenze zwischen zwei Höfen oder angeblichen Viehdiebstahl. Frauen wurden der Hexerei angeklagt, wenn es in der Gegend zu Hungersnöten oder Feuersbrünsten kam. Meine Eltern verliehen oder entzogen Kleinadligen neue Güter, denen die Leibeigenen, unfreie Bauern, angehörten. Wir hörten die Bittsteller rufen. »Zarin!« »Unser aller Mütterchen, hör mich an!« »Nein, mich zuerst! Ich schwöre dir ewige Treue!«

»Nimm die Schriftrollen!«, wies Mutter ihre Hofdame an. »Später, wenn du mir alles vorgelesen hast, werde ich über die Anliegen entscheiden.« Trotz ihres Aufstiegs von der unehelich geborenen baltischen Leibeigenen zur Zarin von Russland war Mutter noch immer Analphabetin. Sie hatte Vater kennengelernt, während sie als Kriegsgefangene in seinem Lager die Hemden wusch. Wir löcherten sie mit Fragen über jene Zeit. Was hattest du an, als Vater dich zum ersten Mal sah? Was waren seine ersten Worte an dich? Wann wurde dir klar, dass er sich in dich verliebt hatte? Doch ihre Antworten darauf waren stets ausweichend. Die Hofdame gehorchte und sammelte die Schriftrollen in ihrem geschürzten Rock ein. Bevor der Narr Juan da Costa ihr in das Innere des Hauses folgte, machte er sich noch über die Bittsteller lustig. Er katzbuckelte und schnitt Grimassen, streckte ihnen die Zunge heraus und verschwand schließlich Rad schlagend in der Kühle des Hauses.

Unschlüssig standen Anuschka und ich im Hof herum, während unsere Kutsche ausgepackt und die zahlreichen Karren abgeladen wurden. Der Tross löste sich langsam auf, die Leibdragoner wurden in ihr Quartier befehligt. Die Diener bewegten sich wie ein Ameisenheer zwischen dem Haus und den Gefährten dieser Reise hin und her. Die Dienstmädchen trugen zugedeckte und verschnürte große Körbe, während sich die Männer Truhen auf den Rücken luden. Ihre Muskeln spannten sich dabei unter dem groben Leinen ihrer Hemden. Die Nachmittagssonne wärmte mir das Gesicht, und mein Magen beruhigte sich nach dem Geschaukel der Kutschfahrt. Nun, da Mutter verschwunden war, fühlte ich mich, als ob der Deckel von einem Topf siedender Brühe gehoben worden war.

»Wo ist Nadja?« Anuschka sah sich nach unserer ehemaligen Kinderfrau um. »Hoffentlich hat sie in der Küche schon das Badewasser erhitzen lassen!« Sie glättete ihr schlichtes, warmes und ungeschnürtes Reisekleid, ehe sie sich den persischen Schal aus weichem, besticktem Kaschmir über der flachen Brust und den schmalen Schultern neu knotete. Nadja hatte uns auf Vaters Befehl hin als Kinder einmal in der Woche gebadet, und ich erinnerte mich an den großen Kupferzuber, in dem das Wasser heiß dampfte. Sie parfümierte es mit Rosenöl, und Anuschka und ich spielten mit den zwei großen Schwämmen. Wir waren Russe und Schwede, die einander auf dem Schlachtfeld von Poltawa gegenüberstanden. Nadja war nirgends zu entdecken, und so sah sich Anuschka nach ihrem Gepäck und vor allem nach den Büchern um. Hatten alle verträumten Geschichten Kolomenskoje unversehrt erreicht? Der Frühling brachte stets eine Flottille von Handelsschiffen nach Sankt Petersburg, die hoch beladen mit allen möglichen Waren wie Porzellan, Stoffen und, ja, Romanen unsere Herzen höher schlagen ließen.

»Gewiss. Und hoffentlich hat sie auch ihren besonderen Eintopf gekocht, einen ganzen Kessel voll«, sagte ich. »Irgendwie schmeckt der Speck in Kolomenskoje viel besser als anderswo. Außerdem schneidet Nadja ihn schön dick. Aber kommst du erst mit mir in den Stall? Sicher hat eine Katze Junge geworfen. Dann kann ich mir ein Kätzchen mit ins Bett nehmen.«

»Igitt, nein danke! Ich will kein stinkendes, kratzendes kleines Ding in meinem Bett haben. Und du hörst auch besser mit diesem Unsinn auf«, sagte sie, lachte dann aber doch. »Bald musst du dich auch um jemand anderen als ein Kätzchen in deinem Bett kümmern. Glaubst du, der König von Frankreich will ein kratziges Fellknäuel zwischen seinen seidenen Laken haben?«

Der König von Frankreich. Die Worte rollten wie Murmeln in meinem Kopf umher. Ich errötete und spürte, dass meine sowieso rosigen Wangen noch glühender wurden. Sicher sah ich aus wie ein Herbstapfel. Vater hatte Versailles meine Hand zur Ehe angeboten, als ich noch ein Kind war. Der junge König Louis der Fünfzehnte und ich waren ungefähr gleich alt. Doch Versailles gab seit Jahren keine verbindliche Antwort auf unser Angebot. Frankreich ließ uns warten und hoffen. Dies machte mir weniger Sorgen, als was der Narr Juan da Costa zu erzählen gewusst hatte. Angeblich trug Louis mehr Schminke im Gesicht als jede Hofdame in Sankt Petersburg sowie Werst um Werst an Spitze an Kragen und Ärmeln. Ich überprüfte rasch mein Baumwollkleid, das von der Fahrt zerknittert war. Es fiel locker und bequem bis zu den Fußspitzen, doch trotz des weiten Schnitts und mehrerer Falten haftete es an meinem schon vollen Busen. Was sollte der junge König von Frankreich von meinem Kleid halten? Es hielt gewiss den prüfenden Blicken der Höflinge in Versailles nicht stand. Angeblich wechselten diese fünfmal am Tag die Kleidung. Weshalb gingen sie nicht einfach zu einem anderen Schneider, wenn sie mit dem ihren so unzufrieden waren? Zumindest schmeichelte die kornblumenblaue Farbe des Kleids meinen blonden Locken, die meine Zofe mir für die Reise geflochten und mir als Krone um den Kopf gewunden hatte. Dank regelmäßiger Packung von frischem Eigelb, Kamillenblüten und Bier war mein Haar glänzend und üppig. Es gab aber noch ein anderes Schönheitsrezept, eine Paste aus Kefir und dem Saft eingelegter Zitronen, die Mutter aus Italien bestellte. Damit blieben Anuschkas und meine Haut hell und klar. Vielleicht würde auch Louis nicht mehr so viel Schminke benutzen, wenn ich das geheime Rezept erst einmal mit ihm geteilt hatte.

»Besser klein und stinkend als groß und haarig. Ich habe jetzt schon Todesangst bei dem Gedanken daran, mit Louis in einem Bett zu liegen«, kicherte ich nervös. »Was er dann wohl anhat?«

»Ein Nachthemd«, vermutete Anuschka.

»Was? Ein Nachthemd, so wie meines? Aus Seide und mit Spitzen?«

»Gut, es ist vielleicht eher ein anderes Nachthemd. Männer sind doch anders, nicht wahr?«

Ich zögerte. »Angeblich ja. Aber anders, inwiefern?«

»Ich weiß nicht«, gab Anuschka zu.

»Also gut. Dann halte ich mich an Kätzchen, bis Vater eine verbindliche Antwort aus Versailles hat«, sagte ich und zuckte mit den Achseln, so als würde mich das Schweigen aus Versailles nicht weiter kümmern. Dabei war es zutiefst beleidigend. Vor Jahren schon war mein Porträt nach Versailles geschickt worden. Der Maler, ein Franzose namens Louis Caravaque, der auch Anuschka abgebildet hatte, hatte mich mit Komplimenten überschüttet. »Mon Dieu, Augen so lebhaft wie ein Vogel! Diese sahnig weiße Haut, diese himmelblauen Augen, dieses goldene Haar, einfach wunderbar! Merveilleux!« Tagelang hatten wir ihn nachgeahmt und waren durch die Korridore galoppiert. Mon Dieu! Merveilleux! Mon Dieu! Merveilleux! So sangen wir, bis wir außer Atem waren. Sogar de Campredon, der französische Gesandte in Sankt Petersburg, befürwortete die Verbindung. Unser Geheimdienst fing seine Briefe ab und las, kopierte und versiegelte sie dann wieder. Er beschrieb mich darin als der Christenheit schönste Zarewna, die jenebesondere Wärme besaß, die auch den Zaren zur Heirat ihrer Mutter veranlasste. Dieser Kommentar blieb mir rätselhaft.

Anuschkas Lächeln erhellte ihr sonst so ernstes und schmales Gesicht. »Keine Nachrichten sind gute Nachrichten. Am Ende des Märchens holt doch der Ritter in seiner glänzenden Rüstung immer die schöne Zarewna ab.«

Sie fand immer die rechten Worte. Wie sollte ich nur ohne sie in Frankreich zurechtkommen? »In deinen Büchern vielleicht. Aber gilt das auch im richtigen Leben?«

»Im richtigen Leben zweifelst du ja auch nicht daran. Dir fällt alles in den Schoß, Lisenka. Versuch nicht, mich hinters Licht zu führen! Ich kenne dich und kann deine Gedanken lesen.«

»Ach, wirklich? Also, los! Was denke ich denn gerade?«

»Du fragst dich, ob Grischa der Schmied noch hier arbeitet und ob sein riesiger Blasebalg noch als Wippe taugt, nun, da wir erwachsen sind.«

Ich hob meine Handflächen und lachte. »Ich gebe auf. Du hast gewonnen. Aber ich kann nicht allein auf dem Blasebalg herumhüpfen.«

»Versuchst du etwa, meine unsterbliche Seele zu verderben?«

»Ja, so sündig, wie ich bin«, sagte ich und schnalzte mit den Fingern zu unseren Mägden und Dienern hinüber. »Bringt die Bücher der Zarewna Anuschka in unser Gemach! Die neueste Liebesgeschichte aus Italien soll warten. Erst müssen wir dringend auf dem Balg wippen.«

»Aber das zerstört doch meine Frisur!«, jammerte Anuschka.

Ich beugte mich vor und zerzauste ihr das dünne, glatte dunkle Haar, das die Magd geflochten und in Schnecken über ihren Ohren festgesteckt hatte. »So, kein Grund zur Sorge mehr! Das ist schon erledigt.«

Wir überquerten den riesigen Gemüsegarten, der zwischen der Küche und den Ställen lag. Zwiebeln, Lauch, rote Bete, weiße Rüben wie auch blauer und grüner Kohl sprossen zwischen einem üppigen Teppich aus Unkraut. Wie lange war hier nicht mehr gejätet worden? Klee und Gänseblümchen blühten, und die Bienen nutzten jede Minute des länger anhaltenden Tageslichts, um Nektar für den köstlichen Honig von Kolomenskoje zu sammeln, den ich mir morgens löffelweise auf meinen Hirsebrei, den kascha, tropfte. Ich atmete tief ein. Wie herrlich die frische Luft hier war! Im Frühling überflutete die Newa ganz Sankt Petersburg, und alle duftenden Pflanzen, die Vater aus aller Herren Länder von Frankreich bis Persien bestellt hatte, vermochte den muffig schimmligen Geruch der nur langsam trocknenden Überschwemmung nicht zu überdecken. Der Moder vermischte sich mit dem Geruch fauliger Reste des Markttags und dem geronnenen Blut der Richtstätten, die aus Kalkül stets an den belebtesten Plätzen und Kreuzungen aufgebaut waren.

»Was ist das denn?«, fragte ich und hielt an einem großen Stein vor der Küchentür inne, wo der Koch tagsüber Lieferungen entgegennahm und nachts diebische Angestellte ihre Beute an Hehler veräußerten.

»Dort wetzen die Küchenmägde ihre Messer. Deshalb ist der Stein so pockennarbig«, erklärte Anuschka.

»Das weiß ich doch«, entgegnete ich ungeduldig. »Aber warum steht dort ein Teller mit Pfannkuchen und Sauermilch?«

»Bist du schon wieder hungrig? Halt dich zurück!«, neckte mich Anuschka. Die saure Milch sah kühl und frisch aus, während die dicken Pfannkuchen vor Honig troffen. Mit Nüssen und Sahne wären sie nach den langen staubigen Stunden auf der Straße der richtige Imbiss gewesen.

»Du solltest auch etwas essen, Bohnenstange«, konterte ich, und wir kicherten und rangelten miteinander.

»Ja, Mädchen, haltet euch zurück! Dies ist eine Opfergabe, um Buße zu tun«, sagte Mutter, die nun auf der Schwelle der Tür erschien, die von der Küche in den Garten führte. Ihre Wangen waren rosig, und ihre Augen leuchteten, nachdem die Mühen der Fahrt hinter ihr lagen. In Kolomenskoje wirkte sie in ihrem Element, so als wäre sie noch immer eine Leibeigene, die in einer isba, einer kleinen Hütte, lebte und nur die Kleidung besaß, die sie am Leib trug. »Wisst ihr nicht, dass ein leschi die Wälder von Kolomenskoje regiert?«

»Ein leschi?« Ich beäugte noch immer den Pfannkuchen.

»Ja, ein Waldgeist. Euer Großvater, Zar Alexej, hat ganze Wälder gefällt, um Kolomenskoje zu erbauen. Deshalb will Nadja den leschi beschwichtigen, damit er kein Unheil über das Haus bringt«, sagte Mutter, lachte aber über den Aberglauben unseres Kindermädchens, die inzwischen Haushälterin war. Mutters Anblick bereitete mir Freude. Hier konnte sie zur Ruhe kommen und gesunden. Vielleicht gebar sie doch noch einen weiteren Sohn, ihrer letzten Totgeburt und dem strengen Urteil des Arztes zum Trotz. Ein kleiner Bruder für uns und ein Erbe für Russland!

»Genau so ist es. Ich beschwichtige böse Geister.« Nadja tauchte hinter Mutter auf der Schwelle auf. »Kolomenskoje ist auf alter russischer Erde errichtet. Hier wimmelt es nur so vor Geistern, sage ich euch. Wer weiß, ob nicht auch einer im Haus lebt?«

Seit wir Kolomenskoje vor vielen Jahren verlassen hatten, waren Anuschka und ich zu jungen Frauen herangewachsen, aber Nadja hatte sich nicht verändert. Ihre Wangen waren rot geädert, ihr breites Gesicht wirkte erhitzt. Sie war außer Atem, nachdem sie die zwei, drei flachen Stufen hinaufgestiegen war. Nadjas Kleidung verstieß schamlos gegen die Gesetze, die Vater allen Russen aufgezwungen hatte. Sie hatten sich von nun ab im Stil des Westens zu kleiden, auch wenn diese Mode uns sowohl unbequem als auch ungehörig vorkam und den Körper mehr enthüllte als verbarg. Die westlichen Stoffe waren zu dünn gewebt, um unserem Wetter standzuhalten. Über einer langärmeligen Leinenbluse trug Nadja ein traditionelles Schürzenkleid, einen weiten, warm gesteppten Sarafan. Er war mit einem jener verschlungenen Blumenmuster bestickt, die in Russland einer geheimen Sprache gleichkamen. Jede Familie und ihre Frauen hatten ihre eigenen vererbten Vorlagen. Mit dieser Handarbeit verbrachten sie die langen Winterabende, saßen dabei am warmen Ofen und plauderten. Denn kam erst einmal der Frühling mit seinen Festen und Jahrmärkten, wollten sie dort die Schönsten sein.

»Alte Erde, die vor Geistern nur so wimmelt?«, fragte Anuschka, und ihr Gesicht glühte. »Ich erinnere mich an die Märchen, die du uns erzählt hast. Baba Jaga, die in ihrem Haus aus Hühnerknochen lebt, das sich auf drei Beinen mit der Sonne dreht. Und die leschi führen die Menschen mit ihrem Orakel in die Irre …«

»Das sind keine Märchen«, widersprach Nadja und runzelte die Stirn.

»Alte Erde, welcher Unsinn!«, schimpfte nun auch Juan da Costa, der sich aus den Falten von Mutters Rock schälte. Er bewegte sich lautlos und schaffte es im Handumdrehen von einem Ort zum anderen. »Dummer Aberglaube, der nur erfunden wurde, um den Bauern die letzte Kopeke aus der Tasche zu ziehen.« Er hob seine Raupenaugenbrauen, grinste Nadja an und ließ mehrere Münzen in seinen Taschen klimpern wie ein Bärenzähmer auf dem Jahrmarkt, der Wetten entgegennahm.

»Schweig still, du Gnom!«, schimpfte Nadja. »Ich muss die Zarewnas begrüßen.« Sie knickste tief, küsste unsere Finger und drückte unsere Handrücken gegen die Stirn, als sie verschiedene Segenssprüche murmelte. Ihre gekräuselte Haube, die ihr fast weißblondes Haar bedeckte, strich dabei über mein Handgelenk. Dann erhob sie sich und lächelte, wobei sie ihre Zähne zeigte, von denen sie nur noch ein Dutzend besaß. »Eure Kaiserlichen Hoheiten! Zarewnas Anuschka Petrowna und Elisabeth Petrowna, willkommen zurück in Kolomenskoje! Ihr kommt uns aus dem traurigsten Grund besuchen. Möge Gott der Seele des Kleinen gnädig sein, aber das Haus und wir alle grüßen euch mit Liebe und Ergebenheit!«

Anuschka und ich wechselten einen raschen Blick. Eigentlich wagte niemand, Mutters erneute Totgeburt und den weiteren Verlust eines männlichen Erben zu erwähnen. Doch Nadjas völliger Mangel an Bosheit erlaubte vieles, und so eilten wir voller Freude auf sie zu, um sie zu umarmen.

Sie klatschte in die schwieligen Hände und breitete jubelnd ihre starken Arme aus. »Endlich! An dem Tag, an dem ihr Kolomenskoje verlassen habt und Zarewnas geworden seid, so erwachsen und wichtig, habt ihr auch einen Teil meiner Seele mitgenommen. Oh, ich könnte vor Freude platzen, euch wiederzusehen!« Ihre Umarmung klemmte uns so fest wie ein Schraubstock, wir lachten und kämpften uns frei, wie wir es als kleine Mädchen getan hatten, wenn ihre Zuneigung überwältigend wurde. Nadja tupfte sich die hellblauen Äuglein trocken. Ihre Tränen rannen als kleine Rußspuren über das fettverschmierte blasse Gesicht. Wie so viele Russen finnischer Abstammung war sie strohblond und ihre Haut sehr hell. »Wie groß und schön ihr seid! Selbst wenn meine Augen euch nicht länger erkennen, so wird mein Herz es immer tun. Bald, so bete ich, werde ich ein Festmahl für eure Hochzeiten zubereiten.«

»Oh ja, das hoffe ich«, sagte Anuschka und warf Mutter einen Blick zu. Die lächelte rätselhaft. »Wer weiß, was die Zukunft bringt?«, antwortete sie. »Ihr seid vom Glück begünstigt, Mädchen.«

Ich aber kämpfte mit einem Mal mit den Tränen. »Was ist mit dir, Lisenka?«, fragte Mutter, während Anuschka mir in stillem Verständnis einen Arm um die Schultern legte.

»Ich bin so froh, in Kolomenskoje zu sein! Es wird uns allen guttun«, sagte ich, ehe wir alle weinten und uns umarmten, Anuschka und ich, die Zarewnas aller Russen, unsere Mutter, die Zarin, und Nadja, die Köchin. Selbst Juan da Costa sank auf einen Stein und schluchzte nach Art seines mediterranen Volkes, das lustige kleine Gesicht ganz zerknautscht, während er heulte wie ein Hund.

Die Schlichtheit von Kolomenskoje wob einen tausend Stränge starken Zauber, der von Trauer und Hoffnung geheiligt wurde. Unsere gemeinsamen Tränen waren ein ebenso großes Opfer an die Liebe und die Freundschaft wie die Gaben auf dem Schleifstein. Mutter hatte recht, damals waren wir vom Glück begünstigt. Denn wie oft im Leben genügen schon Pfannkuchen, Honig und Sauermilch, um einen bösen Geist zu besänftigen.

3. Kapitel

Wir richteten uns im Frühling von Kolomenskoje ein. Das Haus hatte sich kaum verändert, obwohl die Hälfte der Korridore anlässlich unserer Ankunft in aller Eile mit quer gelegten Balken oder zurechtgeschobenen Möbeln abgeriegelt worden war. Die Tragebalken waren morsch geworden, und Nadja schwor, dass sie die Holzwürmer des Nachts laut und mächtig mahlen und kauen hörte. »Erzähl uns keinen Unsinn, Nadja!«, lachte ich. »Wir sind keine Kinder mehr.« Das Haus war so groß, dass wir und unser Staat uns darin verloren. Manchmal brauchten wir tagelang keine Seele zu sehen, als wir erneut von dem Haus Besitz ergriffen, eines der zweihundert Zimmer nach dem anderen, und es mit unserer Freude erfüllten. Zur Unterhaltung rutschten wir auf Matratzen sitzend oder liegend die große Treppe hinunter, und dabei klapperten uns die Zähne. Wir jagten unsere Kreisel die Korridore entlang und wetteten auf ihre Geschwindigkeit und den Sieg. Anuschka ließ ihr Puppenhaus abstauben. Ein verträumtes Lächeln verwandelte ihr schmales Gesicht, als sie ihr Lieblingsspielzeug aus Kindertagen wieder in Gebrauch nahm. Ein Meister aus Nürnberg hatte die sonnengelbe Pracht des Sommerpalastes für sie in jeder Einzelheit nachgebildet, von den getäfelten Wänden und der Tapete im eisig grünen Ton der Newa bis zu dem honigfarbenen, in Mustern gelegten Parkettboden. Mit endloser Geduld schob sie die Puppenfamilien hin und her und wurde nicht müde, die leeren Porzellangesichter und die steifen Gliedmaßen zu bewegen. Die schönen Kleider der Puppen, die einst nach neuester europäischer Mode geschneidert worden waren, gab es schon lange nicht mehr. Wahrscheinlich hatten Mäuse ihr Nest damit ausgepolstert. So steckte Anuschka sonnengebleichte Stoffreste, die Nadja für sie fand, mit Nadeln in den weichen Leibern fest. Darauf verwendete sie dieselbe Sorgfalt wie ich für mein Sattel- und Zaumzeug, wenn dieses im Stall eingeseift und gewachst wurde, damit ich am nächsten Tag ausreiten konnte.

Der letzte Saal, den wir in Kolomenskoje noch nicht wieder besucht hatten, war der Thronsaal meines Großvaters. Als wir in seine Weite hineinschlüpften, knarrte ein Flügel der hohen Doppeltüren in den Scharnieren. Ehrfürchtig blieb ich auf der Schwelle stehen, um den Anblick in mich aufzunehmen. Launisch fiel das Mittagslicht durch die bunten Glasscheiben. Jede Stelle der meisterhaften Holzvertäfelung an den Wänden und Decken war einst farbenfroh angestrichen gewesen, doch die Paneele waren längst verblasst. Dennoch war es so, als schrumpfte ich dort auf der Schwelle, um eins meiner ehemaligen Lieblingsspielzeuge zu betreten, ein Kaleidoskop, das mir Vaters Gesandter in Persien, Fürst Artemi Wolynski, einst geschenkt hatte.

»Schau, Anuschka! Es ist immer noch hier«, sagte ich mit gedämpfter Stimme. Am anderen Ende des Saals stand das einzige Möbelstück, das Kolomenskoje nie verließ, der Ebenholzthron meines Großvaters. Der hohe Rücken war kunstvoll verziert, und jede Armlehne endete in einem mächtigen geschnitzten Löwenkopf. Wie im Rest des Hauses hatte sich nach dem Tod meines Großvaters und unserem Umzug auf dem Thron geduldig der Staub von Jahrzehnten gesammelt.

»Komm!«, sagte ich zu Anuschka, und wir schlitterten auf unseren seidenen Pantoffeln über das Parkett wie über einen zugefrorenen See und hielten vor dem Thron inne. Die Löwen hielten die Kiefer geschlossen, aber ihre blattgoldenen Mähnen flammten, und ihre Augen waren mit Rubinen eingelegt. Die Edelsteine versprachen ihrem Besitzer einen gesunden Geist und halfen ihm, kluge Entscheidungen zu treffen. Ihr Purpurrot leuchtete Anuschka und mir warnend entgegen, doch ich beugte mich vor und polierte die Juwelen mit meinem Ärmel, bevor ich einen geheimen Hebel hinter den Tierköpfen bewegte. »Whaaaaa!«, rief ich, als die Löwen in stockenden Bewegungen knarrend die rostigen Kiefer öffneten und Anuschka entsetzt nach hinten sprang. Ich hatte den geheimen Mechanismus vor Jahren beim Spielen entdeckt. Er hatte wohl die Bauern, die Großvater damals als Bittsteller aufsuchten, halb wahnsinnig vor Angst und Ehrfurcht gemacht. Ich lachte und trat vor dem mächtigen Stuhl zurück, bis ich neben meiner Schwester stand. »Los doch, setz dich drauf!« Ich gab Anuschka einen leichten Stoß. »Du bist die Älteste.«

»Das traue ich mich nicht. Was, wenn Vater es herausfindet?«

»Er würde lachen«, vermutete ich.

»Ach ja? Warum setzt du dich dann nicht darauf?«

Ich betrachtete den Thron auf dem Podest mit prüfendem Blick. Der rote Samtbaldachin, der sich darüber erstreckte, war muffig, fleckig und von Motten zerfressen. Ein Fußschemel aus geprägtem Silber lag nachlässig umgeworfen, so als ob unser Großvater sich gerade erst erhoben hatte, um mit seinen Falken auf die Jagd zu gehen. Selbst als wir als kleine Mädchen weit entfernt von allem Pomp und Protokoll hier aufwuchsen, hatten wir es doch nie gewagt, auf das Podest zu klettern und uns auf den Thron zu setzen. Was würde geschehen, wenn doch? Der Blitz sollte mich erschlagen.

»Also gut«, sagte ich dennoch. Meine Handflächen waren feucht, als ich einen Schritt nach vorn wagte. Der Stuhl wuchs vor meinen Augen und türmte sich dunkel über uns auf.

»Lisenka!« Anuschka ergriff meinen Ellbogen. »Nicht!«

»Natürlich setze ich mich nicht darauf«, erklärte ich ungehalten. »Keine Frau hat jemals Russland regiert, und keine wird es jemals tun. Erinnerst du dich daran, was Nadja uns über Vaters böse Halbschwester Sophia erzählte? Selbst als sie die Regentin für ihn und unseren verrückten Onkel Iwan war, wagte sie es nie, sich krönen zu lassen und den Thron zu besteigen.«

»Natürlich. Ich erinnere mich aber auch daran, dass Nadja ihn nicht den verrückten Iwan nannte«, wandte Anuschka lächelnd ein.