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Die junge Elisabeth Reuter ist ohne Mutter aufgewachsen – ihr Vater ist ihr ein und alles. Darum sträubt sie sich auch nicht, als er von ihr verlangt, ihm in seiner Apotheke zu helfen und die Malerei aufzugeben, obwohl diese bisher ihr Lebenstraum war. Als Elisabeth ein Medikament herausgibt, bemerkt sie einen äußerst gefährlichen Irrtum ihres Vaters. Sie lernt dadurch den Komponisten Ulrich kennen und bald schon entwickelt sich diese Bekanntschaft zu einer großen Liebe. Jetzt scheint sich ihr Leben zum Guten zu wenden – doch wie an eine Mauer stößt Elisabeth immer wieder an ein Geheimnis in ihrer Vergangenheit: Ist ihre Mutter damals nicht einfach davongelaufen, wie ihr Vater behauptet ...?Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-
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Seitenzahl: 331
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Marie Louise Fischer
SAGA
Die Tochter des Apothekers
Die Tochter des Apothekers
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de) represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de) Originally published 1995 by Lübbe Verlag, Germany Copyright © 1995, 2017 Marie Louise Fischer Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711718636
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof ‹a www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Die Fensterläden klapperten. Für Elisabeth Reuter war das ein vertrautes Geräusch. Die kleine Lisa hatte lange Zeit geglaubt, in diesem rhythmisch-unrhythmischen Klappern sei eine Botschaft verborgen, deren Sinn sie vergebens zu deuten suchte.
Inzwischen wußte sie, eine erwachsene junge Frau, was dies enervierende Knarren verriet: daß der leichte Frühlingswind der Mittagszeit dabei war, sich zu einem abendlichen Sturm zu entwickeln.
Sie saß in dem kleinen Büro neben der Offizin der Apotheke und sah im Schein der grünbeschirmten Schreibtischlampe Rezepte durch.
Liebend gern hätte sie diese Arbeit erst beendet, aber es war ihr klar, daß es klüger sein würde, gleich zu handeln. Also stand sie auf, sah flüchtig auf ihr Spiegelbild in den schimmernden Scheiben – glattes blondes Haar, helles Gesicht mit umschatteten Augen, weißer Kittel –, öffnete die Fensterflügel und lehnte sich hinaus. Schon flogen Papierfetzen über den gepflasterten Platz. Die wenigen Menschen, die noch unterwegs waren, hatten die Kragen hochgeschlagen, die Köpfe gesenkt und die Schultern vorgestemmt.
Lisa löste die Läden aus den Riegeln, brauchte Kraft, um sie sich nicht aus den Händen reißen zu lassen. Sie zog die Läden zusammen, verriegelte und verschloß sie. Danach machte sie das Fenster wieder zu.
Das gleiche Kunststück vollzog sie, mit noch größerem Kraftaufwand, im Medikamentenraum. Dabei schoß es ihr zum zigsten Mal durch den Kopf, wieviel einfacher es mit Jalousien wäre. Doch die grün gestrichenen Läden, die sich so markant von dem weißen Gemäuer abhoben, waren ein – wie ihr Vater meinte – unverzichtbares Wahrzeichen der alten Apotheke, genau wie der holzgeschnitzte bunt bemalte Engel über der eichenen Eingangstür.
Vor dem Schaufenster in der Offizin ließ Lisa das schwere Eisengitter herabsausen. Sie drehte den Schlüssel zweimal im Sicherheitsschloß, und das gleiche tat sie an der Tür.
Danach kehrte sie ins Büro zurück. Das Klappern war jetzt nicht mehr so laut, und sie hörte die Schritte ihres Vaters im anliegenden Labor. Dr. Eugen Reuter ließ es sich nie nehmen, seine geliebte Arbeitsstätte eigenhändig aufzuräumen. Selbst geputzt werden durfte dort nur unter seiner Aufsicht.
Noch im Stehen entdeckte sie ein Rezept, das aus dem Rahmen fiel. Es war voll bezahlt, hätte also dem Patienten zurückgegeben werden müssen, damit er es eventuell seiner Privatversicherung hätte einreichen können. Ein Versehen, nichts weiter. Absolut unerheblich. Sie nahm es zur Hand, um es auszusortieren.
Dabei stellte sie fest, daß es noch in anderer Hinsicht aus dem Rahmen fiel. Es war von einem Arzt mit Pariser Adresse ausgestellt, einem Dr. Theophil Beaulieu und wirkte seltsam altmodisch, war mit der Hand geschrieben. Sie las: »12 Cachets«, Kapseln also, und als Inhalt wurden Ingredienzen in Pulverform verschrieben: »2 gr. coff, 2 gr. strn …«
Lisa stutzte. Sollten da etwa zwei Gramm Strychnin verschrieben worden sein?
»Vater!« rief sie und stürzte in das Labor. »Vater!«
Dr. Eugen Reuter, damit beschäftigt, Reagenzgläschen auszuspülen, hob den blankschädeligen Kopf und starrte sie aus seinen tiefliegenden Augen unwillig an. »Warum das Geschrei?«
Sie schwenkte das Rezept und hielt es ihm vor. »Hast du das etwa so ausgeführt?« Eine dumme Frage, wie ihr sofort bewußt wurde. Wäre es nicht so gewesen, hätte er gewiß einen Änderungsvermerk gemacht.
»Ein Stärkungsmittel«, brummte er, »bißchen ausgefallen, aber was soil’s?«
»Zwei Gramm Strychnin, Vater! Es handelt sich doch um Strychnin, nicht wahr?«
Das ohnehin graue Gesicht des Apothekers wurde noch um einen Schein blasser; das Glas zerbrach in seinen zitternden Fingern. »Das Rezept«, stammelte er, »ich hab’s nur befolgt.«
»Niemand macht dir einen Vorwurf, Vater«, versicherte sie heftig, »der Arzt ist schuld … nur der Arzt!«
»Meine Verantwortung!« krächzte er. »Nie … noch nie in meinem ganzen Leben ist mir Ähnliches passiert.«
Blut tropfte in das klare Wasser, verdünnte sich zu einer rosigen Wolke.
In jeder anderen Situation hätte sie sich zuerst um die Verletzung ihres Vaters gekümmert. Jetzt aber galt ihr einziges Interesse der Adresse des Patienten, die von der Sprechstundenhilfe Dr. Beaulieus in die untere Ecke des Rezepts getippt war: »Ulrich Vanhoff, Bad Bronnen, Uferstraße 15.«
Sie jagte ins Büro zurück, nahm nicht einmal wahr, daß ihr linker Knöchel schmerzte, wie immer nach eines langen Tages Arbeit, und riß sich das Telefonbuch heraus. Es von hinten aufblätternd, fand sie die Nummer rasch, wählte sofort und dachte: Das hätte ich gleich tun sollen! Unsinn, erst mit Vater zu diskutieren. Verlorene Zeit!
Sie ließ es klingeln und klingeln. Aber niemand nahm ab.
Wenn der Patient nun nicht zu Hause war? Wo ihn suchen? Wie ihn finden? Wenn er sich jetzt schon in Krämpfen wand?
Dr. Reuter trat neben sie, das Gesicht weiß wie die Wand, die blutenden Finger provisorisch umwickelt.
Lisa sah ihn verzweifelt an. »Er meldet sich nicht. Ich muß die Polizei …«
Er fiel ihr ins Wort. »Dann bin ich erledigt.«
»Aber es ist nicht deine Schuld!« behauptete sie wieder. Doch sie wußte, daß das nicht stimmte. Seine Mitschuld war es zumindest, und auch, wenn er mit einer Bewährungsstrafe davonkommen, ja, selbst wenn er freigesprochen werden sollte, der Skandal würde da sein. Sie sah die Schlagzeile förmlich vor sich, in riesigen Lettern: »Apotheker vergiftet Patienten!«
Nicht auszudenken.
»Gib mir den Autoschlüssel!« verlangte sie entschlossen. »Ich fahre hin.«
Er knöpfte sich den Kittel auf, fingerte ungeschickt mit der gesunden Hand in seiner Westentasche. Sie kam ihm zu Hilfe und nahm den Schlüssel.
Das Lächeln, mit dem sie ihn beruhigen wollte, wurde zur Grimasse. »Reg dich nicht unnütz auf, Vater! Vielleicht habe ich ja Glück.«
Sie rannte zur Hintertür.
Das Auto, ein altes Vehikel, stand unter einem Wetterdach. Es war rückwärts eingeparkt, wie der Vater es zu verlangen pflegte. Lisa hatte diese Vorschrift stets pedantisch, ja geradezu etwas lächerlich gefunden. Jetzt war sie dankbar dafür. Sie schob das Tor zur Straße auf, warf sich hinter das Steuer und startete.
Da der Platz vor der Apotheke zur Fußgängerzone gehörte, mußte sie einen weiten Umweg fahren. Kurz überlegte sie, ob sie nicht schneller zu Fuß gewesen wäre, verwarf diesen Gedanken aber sofort. Die Entscheidung war getroffen, sinnlos, sich jetzt noch Gedanken darüber zu machen.
Der Sturm gewann an Kraft. Lisa spürte das an der heftigen Bewegung der alten Bäume, die unter seiner Gewalt ächzten. Sein Brausen übertönte sogar das Geräusch des Motors. Aber in ihrem Auto war sie auf der schmalen Fahrbahn, die sich, ohne Bürgersteige, zwischen den Rückfronten der Geschäftshäuser und der gegenüberliegenden Ummauerung des Kurparks dahinschlängelte, einigermaßen geschützt.
Das Licht ihrer Scheinwerfer erfaßte einen heimkehrenden jungen Mann, der sich erschrocken gegen einen Zaun lehnte. Seine Vorsicht war übertrieben, sollte vielleicht nur ein Scherz sein. Dennoch nahm Lisa den Fuß vom Gaspedal. Ein Unfall wäre genau das, was ihr jetzt noch gefehlt hätte.
Hinter dem Kaufhausblock konnte sie endlich links abbiegen, dann noch einmal links und weiter geradeaus, bis sie auf die Straße stieß, die um den See herum führte. Der Sturm peitschte die Wellen bis zur Böschung hoch.
Die Uferstraße war nicht zur Bebauung freigegeben. Es gab nur ein einziges Haus hier, und Lisa hoffte, daß es das war, was sie suchte. Sie hatte sich nie die Nummer gemerkt, aber sie kannte es von ihren Spaziergängen. Einst war es ein Heustadel gewesen, danach hatte es zur Unterbringung eines großen Bootes gedient, irgendwann war es dann bezogen worden, denn sonst hätte es dort kein Telefon gegeben.
Die Straße führte weiter bis zum Landgasthof mit seinen großen Parkplätzen, wo sie endete und zu einer Promenade für Fußgänger und Radler wurde.
Als sie die Lichter des Landgasthofs vor sich aufblitzen sah, merkte Lisa, daß sie das Blockhaus verfehlt haben mußte. Beinahe wäre sie in Tränen ausgebrochen. Sie mußte sich gut Zureden, um nicht die Nerven zu verlieren, zwang sich, weiterzufahren und erst auf dem Parkplatz ungefährdet zu wenden.
Der Sturm endete so plötzlich, wie er aufgekommen war. Regen schüttete vom Himmel, prasselte auf die Karosserie und gegen die Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer konnten gegen die Flut kaum etwas ausrichten. Lisa war gezwungen, fast im Schritt zu fahren.
Ist ja ganz gut so, redete sie sich ein, macht gar nichts. So muß ich wenigstens aufpassen.
Doch das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und es schien ihr, als wäre sie schon seit einer Ewigkeit unterwegs. Kilometer um Kilometer kämpfte sie sich voran, bis endlich rechter Hand ein dunkler, fast quadratischer Klotz vor ihr auftauchte. Das mußte das Haus sein.
Sie brachte das Auto auf dem Randstreifen zum Stehen und richtete die Scheinwerfer so, daß sie es voll erfaßten. Es schien tot und verlassen.
Was konnte sie jetzt noch tun? Überwältigt von dem Wunsch, nicht mehr da zu sein, sich unsichtbar zu machen, schaltete sie den Motor und die Scheinwerfer aus. Der Regen hatte nachgelassen. Und jetzt sah sie – sie wagte ihren Augen kaum zu trauen – warme goldgelbe Lichtstrahlen, die durch die Fensterritzen des Blockhauses drangen.
Lisa holte tief Luft, schaltete das Standlicht ein und stolperte durch den Regen auf das Haus zu.
Neben der Tür ertastete sie einen Strang und zog versuchsweise daran. Sie hatte sich nicht verrechnet. Er war mit einer Glocke verbunden, die jetzt laut und melodisch läutete. Aber sonst rührte sich nichts. Dennoch hatte sie jetzt das ganz starke Gefühl – woher es kam, hätte sie nicht zu sagen gewußt –, daß dieser Vanhoff da war. Aber womöglich wälzte er sich in Krämpfen oder war schon tot.
Ihr kam die Idee, um das Haus herumzugehen, durch eine Hintertür Einlaß zu finden, vielleicht sogar ein Fenster einzuschlagen – dies war ein Notfall, es ging um die Rettung eines Menschenlebens.
Da leuchtete Licht in einer schmiedeeisernen Lampe unter dem vorspringenden Dach auf.
Lisas Erleichterung war grenzenlos.
Ulrich Vanhoff hatte Lisa gesehen, als er sein Rezept in der Apotheke einreichte, und er hatte sie sehr hübsch und anziehend gefunden. Aber mit ihrem streng nach hinten gebürsteten Haar, dem sehr dezenten Make-up und der ernsten Freundlichkeit, mit der sie die Kunden bediente, war sie ihm wie eine Puppe erschienen oder, wie es in einem Märchen hieß: keine Puppe, sondern nur eine schöne Kunstfigur.
Nun, als er die Haustür öffnete und sie vor ihm stand, war sie ganz und gar lebendig geworden. Das Haar, aus dem sich einige Strähnen gelöst hatten, war dunkel vor Nässe, ihr Make-up leicht verwischt, und der weiße Kittel, den sie immer noch trug, hatte seine Form verloren und hing grau und lappig an ihr herunter.
Doch das Wesentliche war der Ausdruck ihrer braunen sanften Augen. Er wirkte so glücklich, so erlöst, wie er es noch bei keiner anderen Frau zuvor erlebt hatte.
»Nanu?« sagte er mit einem überraschten Lächeln. »Die Tochter des Apothekers?«
Ihre Stimme klang atemlos, als sie fragte: »Sie haben noch keine Kapsel eingenommen?«
»Und wenn?« gab er zurück. »Wäre das so schlimm gewesen?«
»Natürlich nicht!« behauptete sie rasch. Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß sie sich eine harmlose und überzeugende Erklärung für ihr Aufkreuzen ausdenken mußte. Daran hatte sie bisher noch gar nicht gedacht. Sie konnte ja schlecht zugeben, daß er fast mit Strychnin vergiftet worden wäre. Ihr Verstand arbeitete fieberhaft. »Sie sind doch Herr Vanhoff?« fragte sie, um Zeit zu gewinnen. »Ulrich Vanhoff?«
Er trat zurück und ließ sie herein. »Sagt Ihnen der Name was?«
»Er steht auf einem Rezept aus Paris.«
»Ach so.« Er war ein wenig enttäuscht über ihre Antwort und schalt sich deswegen einen Trottel. »Ziehen Sie um Himmels willen den nassen Kittel aus. Ich hole Ihnen ein Frottiertuch, damit Sie sich abtrocknen können.«
»Geben Sie mir zuerst die Kapseln zurück!« verlangte sie. »Bitte!«
»Das ist ein Weg!« Er ging ins Bad, nahm ein verkorktes Glas mit der grünen Aufschrift »Engel Apotheke« von der Ablage über dem Waschbecken und ein frisches Tuch aus dem Wandschrank. Als er zurückkam, warf er ihr das Tuch zu, hielt aber das Glas fest in der erhobenen Hand, in einem wohl berechneten Abstand zu Lisa.
Sie fing das Tuch auf, ohne es zu benutzen. »Bitte!« sagte sie noch einmal.
»Was ist mit dieser Medizin?« Er schüttelte das Glas, so daß die Kapseln tanzten. »Ich warte auf eine Erklärung.«
»Und das mit Recht«, gab sie zu und rang sich ein Lächeln ab.
Ihm fiel auf, wie angestrengt sie auf einmal wirkte.
»Aber es ist gar nichts Besonderes«, schwindelte sie, »nur eine Verwechslung.«
»Wie das?«
»Diese Medizin war für eine Schwangere bestimmt, und die hat jetzt Ihre.«
Er wußte nicht, ob er ihr glauben sollte oder nicht. Aber da er nichts Böses ahnte, war es ihm im Grunde auch egal. Es machte ihm nur Spaß, sie zu necken.
»Und was ist so schlimm daran?« bohrte er weiter.
»Diese Kapseln enthalten Zugaben eines weiblichen Hormons, Östrogen«, fantasierte sie, »und das wäre bestimmt nicht so gut für Sie. Oder würden Sie es riskieren?«
»Ich könnte Busen kriegen?«
»Das wäre das mindeste.«
»Dann doch lieber nicht.« Er lachte und hielt ihr das Glas hin, so nahe, daß sie springen und es ihm entreißen konnte.
Ihre Erleichterung war so deutlich, daß es ihn amüsierte.
»Danke«, sagte sie, »vielen Dank, Herr Vanhoff!«
»Jetzt trocknen Sie sich aber endlich ab! Ich will nicht, daß Sie sich meinetwegen erkälten.«
»Sofort. Aber erst muß ich telefonieren.«
Dr. Eugen Reuter war nicht mehr in seinem Labor; er war nach oben gegangen und hatte sich frisch gemacht. Das war nicht einfach gewesen, weil die verletzte Hand ihn behinderte. Zwar hatte er den Verband durch ein Pflaster ersetzt, aber er wagte es nicht, die Finger zu bewegen, damit die Wunden nicht erneut zu bluten begannen.
Immerhin war es ihm gelungen, das Hemd zu wechseln. Ein frisches, gut gebügeltes Hemd – davon war er seit eh und je überzeugt – stärkte das Selbstbewußtsein und verlieh einem Mann eine gewisse Selbstsicherheit. Falls die Polizei sich mit dem Fall befassen sollte, würde sehr viel, wenn nicht alles von seinem Auftreten abhängen.
Vor dem Vergrößerungsspiegel in seinem Bad schabte er sich den Anflug grauer Stoppeln aus dem hageren Gesicht. Danach spritzte er sich eine adstringierende Lotion auf die flache Hand, verrieb die Flüssigkeit großzügig über Kinn und Wangen und klopfte sie mit den Fingerspitzen der gesunden Hand ein.
Zufrieden stellte er fest, daß er jetzt rosig wirkte, um Jahre verjüngt. Das Aufputschmittel hatte seinen Zweck erfüllt. Er betrachtete sich im Profil und en face und fand, daß er mit seinen 61 Jahren ein immer noch sehr gut aussehender Mann war. Mit einer Bürste bearbeitete er seinen dichten grauen Haarkranz und gratulierte sich dazu, von Beginn an auf ein Toupet als Verjüngungsmittel verzichtet zu haben. Sein wohlgeformter glatter Schädel hatte geradezu klassische Proportionen.
Wozu die ganze Aufregung? dachte er selbstgefällig. Dem Mädchen ist es wieder mal gelungen, mich mit seiner verdammten Hysterie anzustecken. Na schön, ich habe nicht aufgepaßt. Was weiter? Kann man von mir verlangen, daß ich jedes Rezept überprüfe, bevor ich die Zutaten abwiege? Zum Teufel noch mal! Wo kämen wir hin, wenn wir uns nicht mehr auf die Ärzte verlassen dürften?
Was für eine Idee überhaupt, Strychnin zu verschreiben. Früher hat man das getan. Eine Woche rauf, eine Woche runter. Soll prächtig gewirkt haben. Jedenfalls bei Pferden. Bei Männern auch? Wahrscheinlich. Aber immer eine gefährliche Sache.
Er überlegte, ob er wieder in Weste und Jackett schlüpfen sollte, entschied sich dann aber für seinen pflaumenblauen seidenen Hausmantel. Er holte ihn aus dem spiegelverglasten Kleidersehrank in seinem Schlafzimmer und zog ihn über.
Herr Apotheker Doktor Reuter hatte es sich schon zur Nacht bequem gemacht, schoß es ihm durch den Kopf.
Das war der Eindruck, den er bei der Polizei erwecken wollte. Völlige Ausgeglichenheit. Ein gutes Gewissen. Er dachte nicht daran, sich von dem alten Mädchen einen Strich durch die Rechnung machen zu lassen. Daß Lisa Hals über Kopf losgesaust war, war ihr Problem. So schlau, die Kapseln verschwinden zu lassen, würde sie sicher nicht sein. Nein, das durfte er nicht erwarten. Keine falschen Hoffnungen, bitte.
Das Rezept war seine beste Verteidigung.
Aber wenn die Burschen von der Polizei das nun nicht begriffen? Wie sollte er es ihnen in die sturen Köpfe einhämmern? Wenn sie sich nicht davon abhalten ließen, Anzeige zu erstatten?
Verurteilen würde man ihn nicht. Unmöglich. Unvorstellbar.
Aber um sein Ansehen würde es geschehen sein, um seinen Ruf, seine Würde.
Jeder in der Stadt würde es erfahren. Jeder würde es dem nächsten zuflüstern oder es herausposaunen. Apotheker Doktor Reuter hat einen Fehler gemacht! Schon gehört? Er hat einen Mann vergiftet. Aus Versehen, heißt es. Aber das macht es nicht besser. Wie konnte ihm so was bloß passieren?
Nein, zu einer Anzeige durfte er es nicht kommen lassen.
Auf keinen Fall. Das wäre das Ende.
Was für ein Elend! Und das, nachdem er sein ganzes Leben lang so hart gekämpft hatte.
Er dachte an die Opfer, die er hatte bringen müssen, und Tränen des Selbstmitleids stiegen ihm in die Augen.
Nur keine Schwäche zeigen! befahl er sich und zog die seidene Kordel seines Hausmantels zur Schlinge.
Auf seinem Nachttisch klingelte das Telefon.
Jetzt endlich, nachdem sie ihren Vater orientiert hatte, legte Lisa ihren durch und durch nassen Kittel ab und steckte das Gläschen mit den verhängnisvollen Kapseln in die Seitentasche. Unwillkürlich zuckte sie zurück, als Vanhoff ihn ihr aus der Hand nehmen wollte.
»Ich hänge ihn nur neben den Ofen«, erklärte er besänftigend, »damit er trocknen kann.«
»Danke«, sagte sie, als sie begriff, daß er wirklich keine andere Absicht hatte, und überließ ihm den Kittel. Darunter trug sie einen hellen Tweedrock und eine hochgeschlossene Hemdbluse.
Sie löste die Spange am Hinterkopf, schob sie sich zwischen die Lippen und rubbelte ihr Haar mit dem Frottiertuch. Nun erst wurde ihr die Räumlichkeit bewußt, in der sie sich befand. In der Ecke neben der Tür, die zum Bad führte, stand ein schöner, dunkelgrüner Kachelofen und verbreite sanfte Wärme. Wahrscheinlich war er dazu bestimmt, das ganze Haus zu heizen. Die Wände waren weiß verputzt, und nur die geschnitzten Balken der Decke erinnerten daran, daß man sich in einem Blockhaus befand.
In der Ecke gegenüber dem Ofen entdeckte sie einen schwarzen Stutzflügel mit einem Hocker davor. Außerdem gab es einen Schreibtisch mit Sessel, eine sehr breite Liege, die mit einem grob gewebten bunten Überwurf bedeckt war, und einen Bauernschrank. Sonst nichts. Die Wände waren kahl, bis auf die zugezogenen goldgelben Leinenvorhänge. Auf den blank polierten Bohlen des Fußbodens lag ein bunter Fleckerlteppich.
Er scheint allein zu leben, dachte sie.
Er hatte ihr den Rücken zugedreht, während er den Kittel neben dem Ofen plazierte.
Jetzt wandte er sich ihr wieder zu und beobachtete sie amüsiert. »Sie sollten das Haar immer offen tragen«, schlug er vor.
Sie nahm die Spange aus dem Mund und warf ihm das Handtuch zu. »Genau das tue ich auch, wenn ich nicht im Dienst bin.«
Er fing das feucht gewordene Handtuch auf. »Sind Sie das noch?«
»Ja«, behauptete sie und bemühte sich, ihr Haar im Nakken wieder mit der Spange zu halten.
»Es ist acht Uhr vorbei. Ich denke, Sie haben längst Feierabend.« Er legte das Tuch auf den Ofen.
»Irrtum«, widersprach sie. »Für Apotheker gelten andere Zeiten.« Sie hätte gern einen Spiegel gehabt, denn sie fürchtete, unordentlich auszusehen. Doch sie mochte ihn nicht darum bitten, weil ihr das zu intim schien. »Ich muß gleich wieder los.«
»Zu der schwangeren Dame, die meine Pillen gekriegt hat?«
Sie ärgerte sich, daß sie errötete, und über ihn, der sie zu neuen Lügen zwang. »Nein, das ist schon erledigt«, schwindelte sie.
»Was treibt Sie denn zu solcher Eile? Es gießt noch in Strömen.«
Das stimmte zweifellos. In der Stille, die jetzt eintrat, konnte sie das Trommeln des Regens auf das Dach hören, der das Prasseln des Ofenfeuers fast übertönte.
Er spürte ihr Zögern. »Setzen Sie sich doch!« Er deutete auf die Couch. »Seien Sie nicht so verdammt ungemütlich!«
»Ich bin nicht gekommen, um es mir bei Ihnen gemütlich zu machen.«
»Daran besteht kein Zweifel.«
Schließlich setzte sie sich doch, zwar nicht auf die Liege – das hätte ihm so passen können! –, sondern auf den Schreibtischsessel, hinter dem sie gestanden hatte. Es zog sie nichts in das Unwetter hinaus, und es gab keine Pflicht, die sie zu erfüllen hatte. Aber es war ihr unbehaglich, mit diesem gutaussehenden Mann allein unter einem Dach zu sein. Sie fühlte sich in einen Hinterhalt gelockt, wußte gleichzeitig, daß dieser Eindruck ganz idiotisch war, und schalt sich eine dumme Gans.
Aber gutaussehend war er, ein Mann Mitte Dreißig, mit einer breiten, bedeutungsvollen Stirn, braunem, leicht gelocktem Haar, und Augen, denen ein Kranz dunkler Wimpern einen besonderen Ausdruck verliehen.
Er hätte geradezu blendend wirken können, wenn er anständig angezogen gewesen wäre. Aber er trug weder Krawatte noch Hemd, sondern nur einen bequemen, leicht verschossenen Trainingsanzug, dessen Reißverschluß am Hals nicht ganz geschlossen war, und an den Füßen Hüttenschuhe.
»Kann ich Ihnen was anbieten?« fragte er. »Einen Cognac vielleicht? Oder soll ich uns einen Tee machen?«
Sie wollte schon ablehnen, aber dann wurde ihr bewußt, wie sehr sie immer noch innerlich fröstelte. »Ja, bitte. Ein Cognac wäre nett. Zum Aufwärmen.«
Er verschwand durch die Tür zu den Nebenräumen, kam mit zwei kleinen Gläsern zurück, eine Flasche unter den Arm geklemmt. Die Gläser stellte er auf die Schreibtischplatte, nachdem er einen Stoß Papiere beiseite geschoben hatte, schenkte ein und zog sich mit seinem Glas auf die Couch zurück. »Na, dann Prost!« sagte er, zog die Beine hoch und verschränkte sie zum Schneidersitz.
Sie nahm einen kleinen Schluck und spürte, wie der Alkohol ihr heiß durch die Kehle in den Magen rann. »Tut gut«, stellte sie fest.
»Dachte ich es mir doch«, stimmte er zufrieden zu.
»Ich habe vorhin angerufen, habe es wohl ein dutzendmal läuten lassen. Wieso sind Sie nicht an den Apparat gegangen?«
»Ich habe geduscht.«
Prüfend blickte sie ihn an. Ja, so sah er aus, wie ein Mensch, der kurz zuvor unter der Dusche gewesen war. Das braune Haar fiel ihm locker und frisch gewaschen auf den Kragen.
»Gucken Sie nicht so tadelnd!« verteidigte er sich. »Ich dusche, wann immer ich Lust dazu habe.«
»Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber Sie haben das Telefon doch gehört.«
»Und wenn schon!« gab er zu. »Das ist noch lange kein Grund, mir die Beine auszureißen.«
Der Schrecken, den sie ausgestanden hatte, saß ihr noch in den Knochen, aber das durfte sie ihn nicht wissen lassen. »Es hätte etwas Wichtiges sein können«, gab sie nur zu bedenken.
»Wenn es was Wichtiges gewesen wäre, hätte der Anrufer es noch einmal versucht. Vielleicht in einem Viertelstündchen. Aber Sie sind gleich losgeprescht. Wieso eigentlich?«
Seine Frage kam ohne Mißtrauen; dennoch bereitete sie ihr Unbehagen.
»Ich wußte ja nicht mal, ob Sie zu Hause waren«, erklärte sie schwach.
»Und wenn ich es nun wirklich nicht gewesen wäre? Was dann?«
Sie schwieg.
»Was hätten Sie dann unternommen?« fragte er beharrlich weiter.
Das mag ich mir gar nicht vorstellen, hätte sie am liebsten geantwortet, aber sie rettete sich in ein Lachen, das ihr in den eigenen Ohren künstlich klang. »Dann hätte ich die Sache wohl oder übel auf sich beruhen lassen müssen«, behauptete sie und leerte ihr Glas, »jedenfalls bis morgen. So, jetzt muß ich aber gehen.«
Er sprang auf und griff zur Flasche. »Nicht noch einen Schluck?«
»Nein«, sagte sie energisch und und strebte zu dem Kachelofen.
Der Kittel war noch klamm, aber einen gewissen Schutz gegen den Regen, den sie immer noch leise prasseln hörte, würde er wohl bieten, Sie zog ihn über und griff in die Seitentasche, um sich zu vergewissern, daß das Glas da war.
Er war neben sie getreten. »Sie sollten warten, bis das Unwetter vorüber ist.«
»Das kann die ganze Nacht dauern.«
»Könnte ich mir sehr reizvoll vorstellen.« Jetzt stand er dicht vor ihr und blickte ihr lächelnd in die Augen.
»Witzbold!« gab sie zurück, wandte sich ab und ging auf die Haustür zu.
Er packte sie beim Arm. »Warten Sie! Ich hole einen Schirm. Ich bringe Sie zum Auto.«
»Nicht nötig. Dabei würden Sie nur selber naß.«
»Ich bestehe darauf«, erklärte er mit unerwartetem Ernst. »Rühren Sie sich nicht von der Stelle!«
Sie gehorchte.
Gleich darauf kam er mit einem Schirm zurück, einem riesigen altmodischen Ungetüm. »Fast hätte ich es vergessen. Wann kriege ich jetzt meine Pillen? Die richtigen, meine ich.«
Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht. »Sie können sie morgen abholen«, sagte sie rasch.
»Ziemlich ungerecht!« beschwerte er sich. »Dann müßte ich ja noch einmal in die Stadt. Könnten Sie sie mir nicht bringen?«
Innerlich mußte sie ihm recht geben. Aber sie wollte ihn nicht noch einmal aufsuchen. Das hätte zu einer Vertrautheit führen können, die sie nicht wünschte. Ihm jemand anderen schicken? Schorsch Mayr, den Praktikanten? Der war zu neugierig, würde womöglich die richtigen Schlüsse ziehen. Höchst gefährlich. Ihre Freundin Renate? War zu attraktiv. Sie hatte sie schon zu oft ausgestochen.
Lisa errötete unvermittelt und heftig, als ihr bewußt wurde, daß sie sein Interesse, so lästig es ihr auch war, auf keinen Fall einer anderen gönnte. Diese Erkenntnis beschämte und verwirrte sie.
Er begriff nicht, was in ihr vorging, spürte aber, daß sie sich bedrängt fühlte, obwohl er sich keine Schuld daran gab. »Ach, vergessen Sie es«, sagte er leichthin. »Ich hole sie mir schon. Ein bißchen Bewegung kann mir nur guttun!«
Er langte an ihr vorbei, öffnete die Haustür und spannte den Schirm auf. Wohl oder übel mußte sie eng an seiner Seite bleiben, wenn sie von seinem Schutz profitieren wollte. Der leichte Druck seines warmen, festen Körpers war ihr angenehm. Er roch nach keinem Deodorant oder Eau de Toilette, sondern nach sich selber.
Als sie das Auto erreicht hatten, gab er sie frei, machte ihr mit der einen Hand die Wagentür auf, hielt mit der anderen den Schirm über ihren Kopf.
»Ich danke Ihnen, Herr Vanhoff«, sagte sie, als sie auf den Sitz geschlüpft war, und wollte die Tür schließen.
»Halt!« rief er. »Moment noch! Ich weiß nicht mal Ihren Namen.«
»Wozu auch?« erwiderte sie lächelnd. »Sie wissen doch, daß ich die Tochter des Apothekers bin.«
Er richtete sich auf, sie zog die Tür ins Schloß, legte den Sicherheitsgurt um, drehte den Zündschlüssel, den sie vorhin in ihrer Aufregung hatte steckenlassen. Jetzt, nachträglich, fand sie es leichtsinnig. Aber es war ja nichts passiert. Sie fuhr an und hatte sich schon einige Meter von ihm entfernt, als sie im Rückspiegel Vanhoff stehen sah, reglos unter seinem aufgespannten Schirm.
Sie ahnte nicht, daß er schon nicht mehr an sie dachte.
Zu Hause angekommen, stellte Lisa fest, daß die Rückfront der Apotheke verrammelt war. Aber der Vater hatte die Hintertür aufgelassen. Sie trat ein und verriegelte sie von innen. Es war düster, und die Wände warfen lange Schatten. Nur das Nachtlicht brannte. Lisa legte das Glas mit den gefährlichen Kapseln in den Behälter für medizinische Abfälle. Sie atmete tief durch, als sie es endlich los war.
Dann stieg sie in den zweiten Stock hinauf, wo ihre eigenen Räume lagen. Vor ihr hatte Tante Barbara hier gewohnt, noch früher ihre Mutter, nachdem ihr Verhältnis zu dem Vater so gespannt geworden war, daß sie einander kaum noch ertragen konnten.
Aber inzwischen hatte Lisa sich ganz nach ihrem eigenen Geschmack eingerichtet, mit hellen skandinavischen Möbeln, pastellfarbenen Tapeten, lichtgelben Vorhängen und vielen bunten Kissen. Nur die sehr schöne bauchige Biedermeierkommode hatte sie behalten und eine alte Eichenvitrine, deren Oberteil verglast war und in der sie ihr eigenes, erlesenes Geschirr aufbewahrte.
Die Fensterläden hier oben waren nicht geschlossen. Vom erleuchteten Marktplatz her drang durch den Regen ein matter Lichtschein, so daß Lisa darauf verzichten konnte, die Deckenleuchte einzuschalten. Sie knipste nur die Stehlampe neben dem Sofa an und ging sogleich durch ihr Schlafzimmer ins Bad.
Es gehörte ihr nicht allein, sondern sie teilte es mit ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder, der jedoch nur selten, in den Semesterferien oder an dem einen oder anderen Wochenende, zu Hause war. Doch seine männlichen Utensilien, Haargele und Duftwässerchen, besetzten die Hälfte der Ablage über dem Waschbecken, ohne daß es sie störte.
Sie riß sich den feuchten Kittel vom Leib und stopfte ihn in den Wäschekorb. Am liebsten hätte sie jetzt ein heißes Bad genommen. Aber sie wußte, daß der Vater sein Abendbrot erwartete. Es war ohnehin später als gewöhnlich geworden, und er pflegte Wert auf pünktliche Versorgung zu legen.
So nahm sie sich nur die Zeit, ihr zerzaustes Haar zu bürsten und ihr Make-up zu erneuern. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie sich gleich abgeschminkt. Aber aus Erfahrung wußte sie, daß ihr Vater ihr dann hätte vorwerfen können, »wie eine graue Maus« auszusehen. Das war eine Bemerkung, mit der er sie immer wieder kränken konnte, so unzutreffend sie auch war. Mit ihrer hellen Haut und dem sehr blonden Haar konnte sie zwar blaß aussehen, aber niemals grau. Trotzdem tat die Beleidigung ihr weh, weil sie so lieblos war. Sie kämpfte dagegen an. Die eigene Verletzlichkeit war ihr ein ständiges Ärgernis.
Als sie mit ihrem Anblick einigermaßen zufrieden war – wie mochte Vanhoff sie gesehen haben? –, lief sie in die Küche hinunter. Sie war nicht groß, aber immerhin geräumig genug, daß man hier hätte essen können, wenigstens wenn sie und der Vater allein waren. Lisa würde das sehr viel bequemer und auch ganz gemütlich gefunden haben. Doch sie hatte es aufgegeben, darum zu kämpfen. Der Vater bestand darauf, alle Mahlzeiten in dem alten Eßzimmer einzunehmen. Jede andere Lösung war in seinen Augen plebejisch, wie er es nannte.
Sie stellte Teewasser auf, holte die Butter aus dem Kühlschrank und formte mit gerillten Brettchen lockere Bällchen, damit sie sich leichter streichen ließ. Auf einem Tablett stellte sie alles zurecht, was sie brauchte: Tassen, Untertassen und Besteck, ein Körbchen mit zwei Sorten Brot, eine Platte mit Käse und eine mit Schinken und Wurst, dazu Kandiszucker und Zitronenscheibchen für den Tee.
Im Eßzimmer deckte sie den Tisch, viel zu groß für zwei Personen, auch wenn er nicht ausgezogen war. Sie legte Leinenservietten auf und zündete die Kerze im Stövchen an. Als sie den Tee aufgegossen hatte, stellte sie die Kanne darauf. Zufrieden stellte sie fest, daß alles appetitlich und einladend aussah. Die Hängelampe über dem runden Tisch verbreitete ein freundliches Licht.
Draußen klopfte immer noch der Regen, und ihr fiel ein, die Vorhänge zuzuziehen. Jetzt war es noch gemütlicher.
Sie klopfte an die Tür zum »Arbeitszimmer« ihres Vaters, wie es in der Familie seit eh und je genannt wurde, und, als sie keine Antwort erhielt, trat sie ein.
Die sehr breiten Schränke und Regale an den Wänden, vollgestopft mit Büchern und Fachzeitschriften, ließen den Raum kleiner erscheinen, als er tatsächlich war. Dr. Reuter saß an seinem mächtigen Schreibtisch, hatte seine Lesebrille auf und ein offenes Buch vor sich. Erst als sie leise »Vater!« rief, blickte er hoch.
»Na endlich!« sagte er.
»Ich habe mich so sehr beeilt, wie ich konnte.«
»Niemand macht dir einen Vorwurf.«
›Es klang aber gerade so‹, hätte sie beinahe entgegnet. Doch die Erfahrung hatte sie gelehrt, daß es keinen Sinn hatte, mit dem Vater zu diskutieren. Also ließ sie es auf sich beruhen. »Das Abendbrot ist fertig«, sagte sie nur.
Er räusperte sich. »Eigentlich«, meinte er, »habe ich gar keinen Hunger.«
»Aber du mußt was essen, Vater. Du weißt, was Doktor Schröder gesagt hat.«
»Der alte Wichtigtuer hat doch von nichts eine Ahnung.«
»Man braucht kein Mediziner zu sein, um festzustellen, daß du viel zu dünn bist.«
Er musterte sie über die Gläser seiner Brille hinweg. »Das könnte man auch von dir sagen.«
»Aber ich esse regelmäßig, und das weißt du ganz genau. Ich leide weder an Bulimie noch an Magersucht.«
»Ich etwa?«
»Man muß dich immer zum Essen drängen.«
»Könntest du nicht heute ausnahmsweise darauf verzichten? Die Aufregung ist mir auf den Magen geschlagen.«
»Aber es ist doch alles vorbei, Vater, und du hattest Zeit genug, dich zu erholen.«
»Findest du?«
»Ja. Unbedingt.«
Auch er hatte Erfahrung genug mit seiner Tochter. So fügsam sie im allgemeinen war, so hartnäckig konnte sie sein, wenn es um seine Gesundheit und sein Wohlergehen ging. Eher würde sie es zu einem echten Streit kommen lassen, als daß sie es aufgab, ihn zu Tisch zu locken. Das war lästig, aber auch schmeichelhaft. Es zeigte ihm, wie sehr sie ihn liebte.
»Du bist ein schrecklicher Dickkopf!« sagte er, nahm die Lesebrille ab, klappte sie zusammen, steckte sie in die Brusttasche seines pflaumenblauen Hausmantels und stand auf. »Woher du das nur hast.«
Sie strahlte, weil sie gewonnen hatte. »Sicher von dir, Vater!«
Das war ein altes Spiel zwischen ihnen. Beide hielten es für ausgeschlossen, daß sie irgend etwas von ihrer Mutter geerbt haben könnte. Außer der Hautund der Haarfarbe. Aber das spielte keine Rolle, dachten sie. Annemarie, geborene Schettgen, die die Familie vor Jahren verlassen hatte, war eine üppige Erscheinung gewesen, die Augen kornblumenblau und nicht von einem sanften Braun wie die ihrer Tochter. Annemaries blondes Haar hatte einen Goldton gehabt, ob nun von Natur oder durch den Friseur, darüber hatten sie nie nachgedacht. Ihr Sohn jedenfalls, Eduard, genannt Edi, Lisas Bruder, hatte diesen Goldton nicht in seinem hellen Schopf, wohl aber das Blau ihrer Augen.
Diese Vergleiche wurden jedoch von niemandem in der kleinen Familie bewußt gezogen. Niemals wurde die Mutter auch nur erwähnt. Man suchte sie zu vergessen, und jeder für sich machte sich vor, daß es ihm gelungen wäre.
Im Eßzimmer schenkte Lisa ihrem Vater, der sich schon gesetzt hatte, noch im Stehen Tee ein. Sie tat fünf Bröckchen braunen Kandiszucker in seine Tasse, wie er es liebte, und einen Spritzer Zitrone dazu. Dann erst nahm auch sie Platz. Sie selber trank ihren Tee ganz ohne Zutaten, nicht aus diätetischen Gründen, sondern weil sie meinte, daß sein herbes Aroma so am besten zur Geltung käme. Sie saßen sich in einiger Entfernung gegenüber, die beide zwang, lange Arme zu machen, wenn sie sich etwas reichten.
»Nun, wie hast du die Sache abgewickelt?« fragte Dr. Reuter.
Lisa berichtete.
»Gut gemacht« – lobte er sie.
Seine Anerkennung tat ihr wohl.
»Du meinst, daß er nichts gemerkt hat?« versuchte er sich zu vergewissern.
»Bestimmt nicht.«
»Sehr gut. Ich werde natürlich einen Vermerk auf dem Rezept machen müssen.« Er hatte sich ein Brot bestrichen und belegte es jetzt sorgfältig mit Schinken. »Damit sind wir aus dem Schneider.« Er schnitt eine Ecke ab und führte sie zum Mund. »Trotzdem«, fügte er hinzu, nachdem er gekaut und geschluckt hatte, »wäre es gut, wenn er es gar nicht zu Gesicht bekäme.«
Sie nahm einen kleinen Schluck Tee, der noch sehr heiß war. »Ich werde es ihm nicht aushändigen, wenn er es von sich aus nicht verlangt«, erklärte sie. Auch sie aß ihr Brot mit Messer und Gabel. »Das erste Mal«, sagte sie, »hat er es ja auch nicht verlangt.«
»Aber müßte er es nicht seiner Versicherung einreichen?«
»Vielleicht hat er keine?«
Fragend hob er seine grauen, buschigen Augenbrauen.
»So was gibt’s doch«, behauptete sie.
»Sehr ungewöhnlich.«
»Wie das ganze Rezept.«
»Ja.«
»Vielleicht denkt er auch gar nicht daran, daß er sich die Kosten vergüten lassen kann. Vielleicht ist ihm das Ganze auch zu lästig.«
»Wollen wir’s hoffen.«
Sie blickte ihren Vater über den Tisch hinweg an. Er sah besser aus als am Nachmittag. Seine Wangen waren leicht gerötet. So schien es ihr jedenfalls. Womöglich war es aber auch der Widerschein der pflaumenblauen Seide, die ihm seltsamerweise gut stand.
»Weißt du«, sagte sie, um ihn noch mehr zu beruhigen, »dieser Vanhoff kam mir nicht gerade wie ein Buchhaltertyp vor.«
»Nicht seriös, meinst du?«
»Das will ich nicht behaupten. Aber doch ein bißchen ausgeflippt. Allein, wie er haust. In dieser komischen Blockhütte. Ich denke, der würde sich nicht einmal aufregen, wenn er wüßte, daß wir uns mit der Dosis vertan haben.« Sie sprach bewußt im Plural, obwohl ihr klar war, daß sie selber mit dem Irrtum nichts zu tun hatte.
»Gerade solche Typen sind gefährlich« – meinte er düster.
»Ach, Unsinn!« Sie lachte, fügte aber rasch hinzu: »Entschuldige, Vater, ich wollte nicht vorlaut sein. Aber der Typ ist wirklich harmlos.«
»Selbst wenn du recht hättest – ich kann beim besten Willen nichts Komisches an dem Fall finden.«
»Ich doch, Vater! Schon allein wie wir daherreden – wie die Ganoven im Fernsehen. Dabei haben wir doch gar nichts verbrochen.«
Nur zu gerne schloß er sich ihrer Meinung an. »Du hast natürlich recht, Liebling.«
»Gut, daß du es einsiehst. Noch Tee, Vater?« Sie hatte sich schon halb erhoben.
»Ja, bitte.«
Jetzt stand sie vollends auf und griff zur Kanne.
»Aber keinen Zucker mehr.« Er rührte in seiner Tasse, in der sich der Kandis noch nicht ganz aufgelöst hatte.
»Weiß ich doch, Vater.« Sie goß ihm ein. »Wie immer.«
Eine halbe Stunde später war Lisa wieder in ihren eigenen Räumen. Sie hätte es sich jetzt bequem machen können. Mit einem Besuch war wohl nicht mehr zu rechnen. Aber sie entschied, ihr Bad erst kurz vor dem Schlafengehen zu nehmen. Nur ihre Stiefeletten zog sie aus und massierte die Füße, bevor sie in ihre Pantoffeln schlüpfte.
Der linke Knöchel tat weh. Mit behutsam kreisenden Bewegungen suchte sie den Schmerz zu lindern. Ein Medikament zu nehmen verbot sie sich. Die Versuchung, gegen jedes körperliche oder seelische Unbehagen mit Chemie zu reagieren, war groß. Doch sie hatte sie schon vor Jahren überwunden und als gefährlich erkannt. Wenn die Nebenwirkungen einiger Präparate sich summierten, konnte das zu ernsthaften Erkrankungen führen. Wie man sich in einer Konditorei an Süßigkeiten überessen konnte, so in einer Apotheke an Heilmitteln, dachte sie oft.
Lisa legte die Beine auf einen Schemel und nahm sich die neueste Ausgabe der »Medizinischen Monatszeitschrift für Pharmazeuten« vor, die sie sich vom Vater hatte geben lassen. Aber sie konnte sich nicht auf den Artikel »Allergien bei Kindern, Ursache und Wirkung« konzentrieren. Als das Telefon im Schlafzimmer klingelte, empfand sie es fast als Erlösung.
Der Apparat stand auf dem Nachttisch, und während sie zu ihm hinging, wurde ihr bewußt, daß sie jetzt vor Müdigkeit tatsächlich humpelte. ›Mein kleines Hinkebein‹, hatte die Mutter sie manchmal genannt, und Lisa haßte sie dafür. Es hatte sie tief verletzt. Sie mußte erwachsen werden, um zu begreifen, daß ihre Mutter sich gar nichts dabei gedacht hatte. Für sie war es lediglich ein Scherz. Das große Nachdenken war Mutters Sache nie gewesen.
Wenn Lisa auf gemuckt und sich gewehrt hätte, wäre sie wahrscheinlich erstaunt gewesen. Das böse Wort wäre nie wieder über ihre Lippen gekommen. Aber es war nicht Lisas Art, ihrer Empörung Luft zu machen, damals nicht wie heute. Sie neigte dazu, alles zu schlucken und in sich hineinzufressen.
Der Bruder war am Telefon.
»Hallo, Edi!« begrüßte sie ihn. »Schön, daß du mal wieder von dir hören läßt.« Sie setzte sich auf ihr Bett.
»Aber das ist doch selbstverständlich.«
Bei dir leider durchaus nicht! hätte sie beinahe erwidert, denn zuweilen konnten Wochen, ja, sogar Monate vergehen, ohne daß ein Lebenszeichen von ihm kam. »Schön, daß du so denkst«, sagte sie nur, »und wie geht es dir?«
»Bestens.« Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Bis auf den einen leidigen Punkt.«
Sie begriff sofort, daß er sie anschnorren wollte, aber sie mochte es ihm so leicht denn doch nicht machen. »Hast du ein Wehwehchen?« fragte sie und legte die Beine hoch.
»Du weißt genau, was ich habe: zu wenig Geld.«
»Ich finde, du kriegst einen ganz ansehnlichen Scheck.«
»Aber ich komme nicht damit aus.«
»Allmählich solltest du lernen, dir dein Geld einzuteilen.«
»Red nicht wie eine Oberlehrerin mit mir!«
»Nur wie ein erwachsener Mensch. Du kannst mich nicht dauernd anpumpen, Edi. Ich verdiene mein Gehalt nicht leicht.«
»Aber du hast wenigstens eins.«
»Niemand hindert dich daran, dir eine Arbeit zu suchen.«
»Es ist dir also ganz egal, ob ich mein Studium beende oder nicht?«
»Ach, Edi, das stimmt ja gar nicht, und du weißt es ganz genau. Warum kommst du nicht mal hierher, damit wir in Ruhe über alles sprechen können?«
»Weil ich keine Zeit für Ausflüge habe.«