14,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
England im Jahre 1327. Vier junge Menschen versuchen in England ihr Glück zu machen: der rebellische Merthin, ein Nachfahre des großen Baumeisters Jack. Sein Bruder Ralph, der in den Ritterstand aufstrebt. Das Mädchen Caris, das sich nach Freiheit sehnt. Und Gwenda, die Tochter eines Taglöhners, die nur der Liebe folgen will.
Und da ist noch Godwyn, ein aufstrebender Mönch, der nur ein Ziel vor Augen hat. Er will Prior der Abtei von Kingsbridge werden. Um jeden Preis.
Die lang ersehnte Fortsetzung des Weltbestsellers Die Säulen der Erde
Auch als Hörbuch bei Lübbe Audio
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 2128
Ken Follett, geboren 1949, arbeitete nach seinem Studium in London zunächst als Reporter, bevor ihm mit Die Nadel (1979) der Durchbruch gelang. Nach einer Reihe weiterer Thriller überraschte er Leser und Kritiker gleichermaßen mit dem historischen Roman Die Säulen der Erde (1990). Das Werk wurde zur Nr. 1 in den USA, Kanada, Großbritannien und Italien und hielt sich sechs Jahre lang auf der deutschen Bestsellerliste. In einer Umfrage des ZDF 2004 wurde es auf Platz 3 der beliebtesten Bücher der Deutschen gewählt. Mit Die Tore der Welt (2008) schrieb Ken Follet die lang ersehnte Fortsetzung seines Meisterwerks.
KEN FOLLETT
DIE TOREDER WELT
Roman
Übersetzung aus dem Englischen vonRainer Schumacher und Dietmar Schmidt
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Titel der englischen Originalausgabe:»WORLD WITHOUT END«
Für die Originalausgabe:Copyright © Ken Follett 2007Originalverlag: Macmillan, London/Dutton, New York
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2008 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Wolfgang Neuhaus und Helmut W. Pesch eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-8387-0113-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Barbara
Gwenda war acht Jahre alt, aber sie fürchtete sich nicht vor der Dunkelheit.
Darum hatte sie auch keine Angst, als sie die Augen öffnete und ringsum alles finster war. Gwenda wusste, wo sie sich befand: in der Priorei von Kingsbridge, in dem langen Steingebäude, das alle »Hospital« nannten. Sie lag auf dem Boden, auf einem Lager aus Stroh. Neben ihr lag ihre Mutter; an dem warmen, milchigen Geruch erkannte Gwenda, dass sie gerade den Säugling stillte, der noch keinen Namen hatte. Neben Ma lag Pa, und neben dem wiederum lag Gwendas älterer Bruder, der zwölfjährige Philemon. In Wahrheit hieß er Holger, doch im Alter von zehn Jahren hatte er beschlossen, Mönch zu werden, und überall verkündet, er habe seinen Namen in Philemon geändert, weil das frommer klänge. Tatsächlich redeten die meisten Leute ihn nun mit Philemon an; nur Ma und Pa sagten immer noch Holger zu ihm.
Das Hospital war überfüllt, und obwohl Gwenda die anderen Familien nicht sehen konnte, die auf dem Boden lagen, dicht an dicht wie Schafe in einem Pferch, so roch sie doch den ranzigen Gestank ihrer warmen Leiber. Wenn der Tag anbrach, war Allerheiligen, ein Sonntag dieses Jahr und daher ein ganz besonderer Feiertag. Umso schrecklicher war die Nacht davor: Samhain, eine gefährliche Zeit, in der böse Geister ungehindert um die Häuser zogen. Deshalb waren Hunderte von Menschen aus den umliegenden Dörfern nach Kingsbridge gekommen – so wie Gwendas Familie –, um Samhain auf dem heiligen Boden der Priorei zu verbringen und bei Sonnenaufgang am Hochamt zu Allerheiligen teilzunehmen.
Gwenda war wachsam, denn wie jeder vernünftige Mensch hatte sie Angst vor bösen Geistern, doch mehr noch als böse Geister fürchtete sie, was sie während des Hochamts würde tun müssen.
Und so starrte sie in die Dunkelheit und versuchte, nicht an das zu denken, was ihr Angst machte. Sie wusste, dass sich an der Wand gegenüber ein Bogenfenster befand. Es gab kein Glas – nur die wichtigsten Gebäude hatten Glas –, aber ein Leinentuch hielt die kalte Herbstluft draußen. Trotzdem konnte Gwenda dort, wo das Fenster sein sollte, einen schwachen grauen Fleck erkennen. Sie war froh. Sie wollte den Morgen nicht kommen sehen.
Gwenda sah nichts, hörte jedoch umso mehr: Schnarchen und Husten und das Rascheln des Strohs, sobald jemand sich im Schlaf bewegte. Ein Kind schrie, als wäre es aus einem bösen Traum erwacht, verstummte jedoch nach ein paar raschen gemurmelten Koseworten. Dann und wann sprach jemand – unverständliche Halbworte, wie man sie im Schlaf von sich gibt. Von irgendwo kamen die Geräusche zweier Menschen, die das taten, was auch Gwendas Eltern taten, worüber sie aber nie redeten – das, was Gwenda »Grunzen« nannte, denn sie kannte kein anderes Wort dafür.
Viel zu schnell für Gwenda wurde es hell, doch es war bloß ein Mönch, der am Ostende des langen Raums, hinter dem Altar, mit einer Kerze in der Hand aus einer Tür kam. Er stellte die Kerze auf den Altar, zündete einen Wachsstock daran an und ging damit herum, um die Wandlampen zu entzünden. Dabei flackerte sein langer Schatten jedes Mal die Wand hinauf, und der Wachsstock traf sich mit einem Schattenwachsstock am Docht der Lampe.
Das zunehmende Licht fiel auf zusammengekauerte Gestalten auf dem Boden, in graubraune Mäntel gewickelt oder auf der Suche nach Wärme an ihre Nachbarn gedrängt. Kranke lagerten am Altar, weil sie dort am meisten von der Heiligkeit des Ortes profitieren konnten. Am gegenüber liegenden Ende führte eine Treppe in den oberen Stock hinauf, wo sich die Kammern für adelige Besucher befanden, in denen zurzeit der Graf von Shiring mit einem Teil seiner Familie wohnte.
Der Mönch beugte sich über Gwenda, um die Lampe über ihrem Kopf zu entzünden. Dabei schaute er ihr in die Augen und lächelte. Gwenda musterte sein Gesicht im flackernden Schein der Flamme und erkannte ihn als Bruder Godwyn. Er war jung und gut aussehend, und am vergangenen Abend hatte er freundlich mit Philemon gesprochen.
Neben Gwenda war eine andere Familie aus ihrem Dorf: Samuel, ein wohlhabender Bauer mit großem Landbesitz, sowie seine Frau und seine beiden Söhne. Der jüngere, Wulfric, war ein sechsjähriger Lausebengel, der es für das Lustigste auf der Welt hielt, mit Eicheln nach Mädchen zu werfen und dann schnell wegzurennen.
Gwendas Familie war arm. Ihr Vater besaß kein Land; er verdingte sich bei jedem als Arbeiter, der ihn bezahlen wollte. Im Sommer gab es immer Arbeit, doch nach der Ernte, wenn die kalte Jahreszeit begann, litt die Familie oft Hunger.
Deshalb musste Gwenda stehlen.
Sie stellte sich vor, wie es wäre, geschnappt zu werden: eine grobe Männerhand, die sie am Arm packte und unbarmherzig festhielt, während sie sich hilflos wand; eine tiefe, grausame Stimme, die sagte: »Sieh an, eine kleine Diebin«; dann die Pein und die Demütigung der Auspeitschung und schließlich, am allerschlimmsten, der Schmerz und das Entsetzen, wenn man ihr die Hand abhackte.
Gwendas Vater hatte diese Strafe bereits erdulden müssen. Sein linker Arm endete in einem hässlichen, verschrumpelten Stumpf. Zwar kam er mit einer Hand recht gut zurecht; er konnte mit der Schaufel arbeiten, ein Pferd satteln und sogar ein Netz knüpfen, um Vögel zu fangen. Trotzdem wurde er im Frühling stets als letzter Tagelöhner eingestellt und im Herbst als erster wieder entlassen. Und das Dorf verlassen und sich anderswo Arbeit suchen, das konnte er nicht, denn die fehlende Hand brandmarkte ihn als Dieb, sodass ihn niemand in Lohn und Brot nehmen würde. Wenn er unterwegs war, band er sich einen ausgestopften Handschuh an den Stumpf, damit ihm nicht gleich jeder Fremde aus dem Weg ging; doch die Menschen ließen sich nie lange von diesem Schwindel täuschen.
Gwenda hatte die Bestrafung ihres Vaters nicht mit eigenen Augen gesehen – da war sie noch nicht auf der Welt gewesen –, aber sie hatte es sich oft vorgestellt, und nun konnte sie nicht anders, als sich immer wieder auszumalen, wie ihr das gleiche Schicksal widerfuhr. Vor ihrem geistigen Auge sah sie bereits die Axt auf ihr Handgelenk niedersausen, sah, wie sie Fleisch und Knochen durchdrang und ihr die Hand vom Arm trennte, sodass sie nie wieder angenäht werden konnte. Sie musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut zu schreien.
Die Leute standen auf, streckten sich, gähnten und rieben sich die Gesichter. Auch Gwenda erhob sich und schüttelte ihre Kleider aus. Alles, was sie am Leibe trug, hatte zuvor ihrem älteren Bruder gehört: das wollene Hemd, das ihr bis zu den Knien reichte, und der Kittel, der an der Hüfte mit einem Hanfseil zusammengebunden war. Ihre Schuhe hatten einst Schnürsenkel gehabt, doch die Löcher waren gerissen, die Senkel verschwunden, und so band Gwenda sich die Schuhe mit geflochtenem Stroh fest. Als sie schließlich ihr Haar unter eine Kappe aus Eichhörnchenschwänzen geschoben hatte, war sie fertig angezogen.
Gwenda schaute zu ihrem Vater; dieser deutete unauffällig zu einer Familie auf der anderen Seite, einem Paar mittleren Alters mit zwei Söhnen, nur wenig älter als Gwenda. Der Mann war klein und schmächtig, mit lockigem rotem Bart. Er schnallte sich ein Schwert um, was erkennen ließ, dass er Soldat oder Ritter war, denn gewöhnlichen Leuten war es nicht gestattet, Schwerter zu tragen. Sein Weib war eine dünne Frau, schroff und herrisch und mit mürrischem Gesicht. Während Gwenda sie musterte, nickte Bruder Godwyn respektvoll und sagte: »Guten Morgen, Sir Gerald, Lady Maud.«
Nun sah Gwenda auch, was die Aufmerksamkeit ihres Vaters erregt hatte. Sir Gerald trug am Gürtel eine Börse, die an einem Lederriemen hing. Die Börse war prall gefüllt. Sie sah aus, als enthielte sie mehrere Hundert kleine, dünne Silberpennys, Halfpennys und Farthings, die Währung in England. Das war so viel Geld, wie Gwendas Pa in einem Jahr verdiente – falls er denn Arbeit fand. In jedem Fall wäre das mehr als genug, um die Familie bis zur Aussaat im Frühling zu ernähren. Vielleicht enthielt die Börse sogar Goldmünzen aus fremden Ländern, Florine aus Florenz zum Beispiel oder Dukaten aus Venedig.
Gwenda trug ein kleines Messer in einer Holzscheide an einer Kordel um ihren Hals. Die scharfe Klinge würde das Lederband rasch durchtrennen, sodass die Börse in ihre kleine Hand fallen konnte ... Es sei denn, Sir Gerald spürte etwas und packte sie, bevor sie die Beute in Sicherheit bringen konnte.
Godwyn hob die Stimme, um sich über das Gemurmel im Hospital hinweg verständlich zu machen. »Um der Liebe Christi willen, der uns Mildtätigkeit lehrt, wird nach dem Hochamt an Allerheiligen ein Frühstück ausgegeben«, verkündete er. »Bis dahin gibt es klares Trinkwasser aus dem Brunnen im Hof. Und vergesst nicht, die Latrinen draußen zu benutzen. Hier drinnen wird nicht gepisst!«
Die Mönche und Nonnen waren sehr streng, was Reinlichkeit betraf. Vergangene Nacht hatte Bruder Godwyn einen sechsjährigen Jungen dabei erwischt, wie er in eine Ecke gepinkelt hatte, und daraufhin die gesamte Familie vor die Tür gesetzt. Weil sie keinen Penny gehabt hatten, um in einem Gasthaus unterzukommen, hatten sie die kalte Oktobernacht zitternd auf dem Steinboden im nördlichen Vorbau der Kathedrale verbringen müssen. Auch Tiere waren verboten. Hop, Gwendas dreibeiniger Hund, war ebenfalls vor die Tür gesetzt worden. Sie fragte sich, wo er wohl genächtigt hatte.
Als alle Lampen entzündet waren, öffnete Godwyn die große Holztür nach draußen. Die Nachtluft brannte in Gwendas Ohren und auf ihrer Nasenspitze. Die Gäste, die über Nacht geblieben waren, zogen die Mäntel um die Schultern und schlurften hinaus. Als Sir Gerald und seine Familie sich in Bewegung setzten, reihten Ma und Pa sich hinter ihnen ein, und Gwenda und Philemon folgten ihnen auf dem Fuß.
Bis jetzt hatte zumeist Philemon das Stehlen übernommen, doch gestern war er auf dem Markt von Kingsbridge beinahe gefasst worden. Er hatte einen kleinen Krug mit kostbarem Öl vom Stand eines italienischen Händlers stibitzt, das gute Stück jedoch zu Boden fallen lassen, sodass jeder ihn gesehen hatte. Zum Glück war der Krug nicht zerbrochen, doch Philemon hatte so tun müssen, als hätte er ihn aus Versehen von dem Stand heruntergestoßen.
Und noch etwas setzte Philemons Diebeskarriere ein Ende: Bis vor Kurzem war er klein und unscheinbar gewesen, wie Gwenda, doch im letzten Jahr war er mehrere Zoll gewachsen; seine Stimme war tief geworden und seine Bewegungen unbeholfen, als könne er sich nicht an seinen neuen, größeren Körper gewöhnen. Vergangenen Abend, nach dem Vorfall mit dem Ölkrug, hatte Papa verkündet, Philemon sei nun zu groß für ernsthafte Diebereien; daher fiele diese Aufgabe fortan Gwenda zu.
Das war auch der Grund, weshalb sie fast die ganze Nacht wach gelegen hatte.
Nun gingen sie durch die Tür und sahen zwei Reihen zitternder Nonnen, die Fackeln in die Höhe hielten, um den Weg vom Hospital zum großen Westportal der Kathedrale von Kingsbridge zu erleuchten. Schatten flackerten am Rande des Fackelscheins. Es sah aus, als tollten die Geister und Kobolde der Nacht dicht außerhalb des Sichtfeldes umher und nur die Frömmigkeit der Nonnen hielte sie vom Näherkommen ab.
Gwenda rechnete damit, dass Hop draußen auf sie wartete, doch der Hund war nirgends zu sehen. Vielleicht hatte er ja einen warmen Schlafplatz gefunden. Während sie zur Kirche gingen, achtete Pa sorgsam darauf, dass sie stets ganz in der Nähe von Sir Gerald blieben. Gwenda quiekte, als jemand von hinten schmerzhaft an ihrem Haar zerrte. Wenn das nicht so ein vermaledeiter Kobold gewesen war! Doch als sie sich umdrehte, sah sie Wulfric, den sechsjährigen Plagegeist aus der Nachbarschaft. Lachend sprang er aus ihrer Reichweite – geradewegs in die Arme seines Vaters. Der knurrte: »Benimm dich!«, und gab ihm eine Kopfnuss, worauf Wulfric in Tränen ausbrach.
Die Kathedrale war ein gestaltloser Koloss, der düster und gewaltig über der dicht gedrängten Menschenmenge aufragte und von dem sich nur die unteren Teile deutlich erkennen ließen: Bögen und Mittelpfosten wurden durch das unstete Fackellicht in Orange und Rot getaucht. Die Prozession wurde langsamer, als sie sich dem Eingang des Gotteshauses näherte, und Gwenda konnte eine Gruppe von Stadtbewohnern ausmachen, die aus der anderen Richtung kam; es waren Hunderte, vielleicht sogar Tausende, schätzte Gwenda ... Obwohl sie nicht sicher war, denn sie konnte gerade mal bis zehn zählen.
Die Menschenmenge schob sich durch die Vorhalle. Das unstete Fackellicht fiel auf die Statuen an den Gewänden und ließ sie einen zuckenden Tanz aufführen. In den unteren Zonen gab es finstere Dämonen und schreckliche Untiere. Gwenda sah Drachen und Greife, einen Bären mit Menschenkopf und sogar einen Hund mit zwei Leibern, jedoch nur einer Schnauze. Sie riss die Augen auf und schluckte, so schrecklich war das alles anzuschauen. Da gab es Bestien, die mit Menschen kämpften; sogar einen Teufel, der einem Mann eine Schlinge um den Hals legte; daneben waren ein fuchsartiges Untier, das eine Frau an den Haaren zog, und ein Adler, der mit den Klauen einen nackten Mann aufspießte. Über diesen gottlosen Kreaturen standen die Heiligen unter schützenden Baldachinen. Darüber wiederum thronten die Apostel. Dann, in dem Bogenfeld gleich über der Tür, stand der heilige Petrus mit seinem Schlüssel, und der heilige Paulus mit einer Schriftrolle in der Hand schaute betend zu Jesus hinauf.
Gwenda wusste, dass Jesus die Menschen lehrte, nicht zu sündigen, und dass Sünder von Dämonen gepeinigt wurden, doch Menschen machten ihr mehr Angst als Dämonen. Wenn es ihr nicht gelang, Sir Geralds Börse zu stehlen, würde Pa sie verprügeln. Und schlimmer noch: Dann hätte ihre Familie nichts zu essen außer Suppe mit Eicheln. Gwenda und Philemon müssten wochenlang hungern. Mas Brüste würden austrocknen, und das neue Baby würde genauso sterben wie die beiden davor. Pa würde tagelang verschwinden, und wenn er zurückkam, hätte er nicht mehr dabei als einen dürren Reiher oder ein paar Eichhörnchen. Hungrig zu sein war schlimmer, als verprügelt zu werden. Es tat länger weh.
Gwenda hatte das Stehlen erlernt, kaum dass sie laufen konnte: einen Apfel von einem Stand, ein frisch gelegtes Ei von der Henne des Nachbarn, ein arglos von einem Säufer liegen gelassenes Messer in einer Schänke. Aber Geld zu entwenden war etwas anderes. Wenn man sie dabei erwischte, wie sie Sir Gerald seine Börse stibitzte, würde es ihr nichts nützen, in bittere Tränen auszubrechen und darauf zu hoffen, dass man Gnade vor Recht ergehen ließ wie damals, als sie der weichherzigen Nonne die hübschen Lederschuhe gestohlen hatte. Die Börse eines Ritters zu schneiden war keine lässliche Kindersünde; es war ein Erwachsenenverbrechen, und dementsprechend würde man sie bestrafen.
Gwenda versuchte, nicht darüber nachzudenken. Sie war klein, geschickt und flink, und sie würde sich die Börse so schnell und lautlos schnappen wie ein Geist ... Vorausgesetzt, sie konnte ihr Zittern im Zaum halten.
Die Kirche war bereits voller Menschen. In den Seitenschiffen hielten kapuzenverhüllte Mönche Fackeln, die ein unstetes rotes Licht verbreiteten. Die hohen Säulen des Hauptschiffs verschwanden in der Dunkelheit des mächtigen Gewölbes. Gwenda hielt sich dicht bei Sir Gerald, als die Menschenmenge in Richtung Altar drängte. Der rotbärtige Ritter und seine dünne Frau bemerkten Gwenda nicht, und ihre beiden Söhne schenkten ihr ebenso wenig Beachtung wie den Kathedralenwänden. Gwendas Familie ließ sich zurückfallen, und das Mädchen verlor sie aus dem Blick.
Das Hauptschiff füllte sich nun rasch. Gwenda hatte noch nie so viele Menschen an einem Ort gesehen: Hier ging es geschäftiger zu als am Markttag auf dem grasbewachsenen Kathedralenvorplatz. Fröhlich begrüßten die Menschen einander. Im Gotteshaus fühlten sie sich vor bösen Geistern sicher. Ihre Stimmen hallten gespenstisch in dem riesigen Kircheninnern wider und schienen aus allen Richtungen zugleich zu kommen.
Dann läutete die Glocke, und die Menge verstummte.
Sir Gerald stand bei einer Familie aus der Stadt. Die Leute trugen Mäntel aus feinem Stoff; vermutlich waren sie reiche Wollhändler. Neben dem Ritter stand ein Mädchen von ungefähr zehn Jahren. Gwenda schob sich hinter die beiden, wobei sie versuchte, so unauffällig wie möglich zu sein, doch zu ihrem Entsetzen schaute das Mädchen sie plötzlich an und lächelte beruhigend, als wollte es sagen: Hab keine Angst!
Am Rand der Menge löschten die Mönche ihre Fackeln, eine nach der anderen, bis das innere der Kirche in völlige Dunkelheit getaucht war.
Gwenda atmete auf, fragte sich jedoch, ob das reiche Mädchen sich später an sie erinnern würde. Das Mädchen hatte sie nicht bloß flüchtig gemustert, wie die meisten Menschen; sie hatte Gwenda in die Augen geschaut, hatte erkannt, dass sie sich fürchtete, und sie freundlich angelächelt. Doch es waren Hunderte von Kindern in der Kathedrale, und in dem trüben Licht konnte das Mädchen sich unmöglich Gwendas Gesichtszüge eingeprägt haben ... Oder? Gwenda versuchte, diesen beängstigenden Gedanken zu verdrängen.
Unsichtbar in der Dunkelheit schob sie sich vor und schlüpfte geräuschlos zwischen die beiden Gestalten. Sie spürte die weiche Wolle des Mädchenmantels auf der einen Seite und den steiferen Stoff des alten Waffenrocks, den der Ritter trug, auf der anderen. Jetzt musste sie nur noch den Arm ausstrecken, ein rascher Schnitt – und die Börse gehörte ihr.
Gwenda griff an ihr Halsband und zog das kleine Messer aus der Scheide.
In die Stille hinein erklang ein fürchterlicher Schrei. Gwenda hatte damit gerechnet – Mama hatte ihr erklärt, was während des Gottesdienstes so alles vor sich ging –, trotzdem erschrak sie bis ins Mark. Es klang, als würde jemand gefoltert.
Dann ertönte ein hartes Trommeln, als schlüge jemand auf eine Metallplatte. Weitere Geräusche folgten: schrilles Heulen, irres Lachen, ein Jagdhorn, Rasseln, Tierstimmen, eine zersprungene Glocke. In der Gemeinde begann ein Kind zu plärren; andere fielen ein. Ein paar Erwachsene lachten nervös. Sie wussten, dass die Mönche diese Geräusche machten, doch es war eine höllische Kakophonie.
Jetzt ist nicht der geeignete Augenblick, um sich die Börse zu schnappen, dachte Gwenda ängstlich. Alle waren angespannt und wachsam. Der Ritter würde jede noch so leichte Berührung bemerken.
Der teuflische Lärm wurde lauter. Dann kam ein neues Geräusch hinzu: Musik. Zuerst war sie so leise, dass Gwenda nicht sicher war, ob sie die Klänge wirklich hörte, doch nach und nach wurden sie lauter: Die Nonnen sangen. Gwenda spürte, wie Spannung sie erfasste.
Und dann war es so weit. Gwenda bewegte sich so lautlos wie ein Schatten und so leicht wie die Luft, als sie sich Sir Gerald zuwandte. Sie wusste genau, was er trug: eine dicke Wollrobe, an der Hüfte von einem breiten, metallbeschlagenen Gürtel gehalten, an dem seine Börse mit einem Lederband befestigt war. Über der Robe trug er einen bestickten Waffenrock, ein edles, jedoch abgetragenes Stück mit gelben Knöpfen aus Bein. Er hatte ihn hoch zugeknöpft, doch zwei, drei Knöpfe standen noch offen – entweder aus Nachlässigkeit oder weil der Weg vom Hospital in die Kirche so kurz gewesen war.
So sanft und vorsichtig sie konnte, legte Gwenda eine schmale Hand auf des Ritters Rock. Sie stellte sich vor, ihre Hand sei eine Spinne, die so leicht und lautlos dahinhuschte, dass Sir Gerald sie unmöglich zu spüren vermochte. Diese Spinnenhand ließ Gwenda nun vorn über den Rock huschen, dann unter den Rocksaum und an dem schweren Gürtel entlang, bis sie die Börse ertastete.
Der Höllenlärm verebbte, während die Musik immer lauter erschallte. In den vorderen Reihen erhob sich ehrfürchtiges Raunen. Gwenda konnte nichts sehen, aber sie wusste, dass auf dem Altar eine Lampe entzündet worden war, die eine Reliquie beleuchtete: einen prachtvoll beschnitzten Kasten aus Ebenholz und Gold, in dem sich die Gebeine des heiligen Adolphus befanden. Als vorhin das Licht in der Kirche erlosch, war der Kasten noch nicht da gewesen, doch nun – o Wunder! – stand er dort. Die Menge drängte nach vorn; alle wollten der heiligen Reliquie nahe sein. Als Gwenda zwischen Sir Gerald und dem Mann vor ihm eingequetscht wurde, hob sie die rechte Hand und setzte die Messerklinge ans Band der Börse.
Das Leder war zäh, und mit dem ersten Streich gelang es ihr nicht, das Band durchzuschneiden. Sie sägte nach Leibeskräften und hoffte verzweifelt, Sir Gerald möge von der Szene am Altar so sehr gefesselt sein, dass er nicht bemerkte, was direkt vor seiner Nase geschah. Gwenda hob kurz den Blick und sah voller Schrecken, dass sie wieder die Umrisse der Menschen erkennen konnte: Die Mönche und Nonnen zündeten Kerzen an. Jeden Augenblick würde es deutlich heller werden!
Gwenda riss kräftig an dem Messer und spürte, wie das Band nachgab. Sir Gerald knurrte leise. Hatte er etwas gespürt, oder war es eine Reaktion auf das Spektakel am Altar? Die Börse fiel und landete in Gwendas Hand, war aber zu groß, als dass das Mädchen sie hätte fangen können, und drohte ihren Fingern zu entgleiten. Einen schrecklichen Augenblick lang fürchtete Gwenda, sie fallen zu lassen und inmitten der Menschenmenge auf dem Boden zu verlieren; dann bekam sie den Beutel zu fassen und hielt ihn fest.
Erleichterung durchströmte Gwenda wie eine Welle.
Doch noch immer schwebte sie in großer Gefahr. Ihr Herz schlug so laut, dass sie glaubte, jeder müsse es hören. Rasch drehte sie sich um, sodass sie dem Ritter den Rücken zukehrte. Noch in der Bewegung stopfte sie die Börse vorne in ihren Kittel, wo der schwere Lederbeutel jedoch eine verdächtige Wölbung bildete, die ihr über den Gürtel hing wie der Bauch eines alten Mannes. Gwenda schob die Börse zur Seite, wo sie sie wenigstens teilweise mit dem Arm verdecken konnte. Zwar wäre sie da noch immer zu sehen, wenn das Licht heller wurde, doch es gab keinen besseren Platz, um sie zu verstecken.
Gwenda schob das Messer wieder in die Scheide. Jetzt musste sie rasch verschwinden, ehe Sir Gerald seinen Verlust bemerkte. Doch das Gedränge der Gläubigen, das ihr eben noch geholfen hatte, die Börse unbemerkt an sich zu nehmen, hinderte sie nun an der Flucht. Sie versuchte, rückwärtszugehen und sich zwischen den Leibern hindurchzuzwängen, doch noch immer zog es die Leute nach vorn, so begierig waren sie, einen Blick auf die Gebeine des Heiligen zu werfen. Gwenda saß in der Falle. Sie konnte sich nicht bewegen, stand noch immer genau vor dem Mann, den sie bestohlen hatte.
Eine Stimme sagte ihr ins Ohr: »Alles in Ordnung?«
Es war das reiche Mädchen. Gwenda kämpfte gegen die aufkeimende Panik an. Sie musste unsichtbar sein. Ein hilfsbereites, älteres Kind konnte sie jetzt am allerwenigsten gebrauchen. Sie schwieg.
»Seid vorsichtig«, sagte das Mädchen zu den Leuten um sie herum. »Ihr zerquetscht ja das arme kleine Ding!«
Gwenda hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Die Fürsorglichkeit des Mädchens würde noch dazu führen, dass man ihr die Hand abhackte!
In dem verzweifelten Versuch davonzukommen drückte sie dem Mann vor sich die Hände ins Kreuz und stieß sich nach hinten ab. Doch das brachte ihr lediglich die Aufmerksamkeit Sir Geralds ein.
»Oh, du armes Ding! Du kannst nichts sehen, weil du so klein bist, nicht wahr?«, sagte der Bestohlene mit freundlicher Stimme, und zu Gwendas Entsetzen packte er sie unter den Armen und hob sie hoch.
Sie war hilflos. Sir Geralds große Hand in ihrer Achselhöhle war nur zwei Fingerbreit von der Börse entfernt. Gwenda drehte sich nach vorne, sodass er nur ihren Hinterkopf sehen konnte, und schaute über die Menge hinweg zum Altar, wo die Mönche und Nonnen weitere Kerzen entzündeten und zu Ehren des Heiligen fromme Lieder sangen. Hinter ihnen drang ein schwacher Lichtschein durch das große Rosettenfenster an der Ostfassade: Der Morgen brach an und jagte die bösen Geister davon. Der dämonische Lärm war nun gänzlich verstummt, und der Gesang schwoll noch immer an. Ein großer, gut aussehender Mönch trat an den Altar. Gwenda erkannte ihn als Anthony, den Prior von Kingsbridge. Er hob die Hände zum Segen und sagte laut: »Und wieder einmal wurden das Böse und die Dunkelheit dieser Welt durch die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Harmonie und das Licht von Gottes heiliger Kirche verbannt.«
»Amen!«, dröhnte es durch die Kathedrale, und alle schlugen das Kreuzzeichen, womit die Zeremonie endete.
Gwenda wand sich im Griff des Ritters, und Sir Gerald verstand und setzte sie ab. Das Gesicht noch immer von ihm abgewandt, schob Gwenda sich an ihm vorbei und hielt auf den hinteren Teil der Menge zu. Die Menschen drängten jetzt nicht mehr zum Altar, und so konnte Gwenda sich zwischen ihnen hindurchzwängen. Je weiter sie nach hinten kam, desto leichter wurde es für sie, bis sie sich schließlich am großen Westportal wiederfand, wo ihre Familie bereits auf sie und die Beute wartete.
Pa schaute sie erwartungsvoll an, bereit, wütend zu werden, sollte sie versagt haben. Gwenda holte die Börse aus ihrem Hemd und warf sie ihm zu; sie war froh, das Ding loszuwerden. Pa fing die Börse auf, drehte sich ein wenig zur Seite und warf einen verstohlenen Blick hinein. Gwenda sah ihn grinsen. Dann reichte er die Börse an Ma weiter, die sie rasch in den Falten der Decke verschwinden ließ, die sie um das Baby gewickelt hatte.
Das Martyrium war vorbei, die Gefahr jedoch nicht. »Ein Mädchen hat mich bemerkt«, berichtete Gwenda und hörte die schrille Angst in ihrer Stimme.
Zorn loderte in Pas kleinen, dunklen Augen auf. »Hat dieses Mädchen gesehen, was du getan hast?«
»Nein, aber sie hat zu den Leuten gesagt, sie sollten mich nicht totquetschen, und da hat der Ritter mich hochgehoben, damit ich besser sehen kann.«
Ma stieß ein leises Stöhnen aus.
Pa sagte: »Dann hat er dein Gesicht gesehen?«
»Ich habe versucht, es von ihm wegzudrehen.«
»Trotzdem ist es besser, wenn er dir nicht noch mal über den Weg läuft«, sagte Pa. »Wir gehen nicht mehr ins Hospital zurück. Wir frühstücken in einer Schänke.«
Ma sagte: »Wir können uns nicht den ganzen Tag verstecken.« »Nein, aber wir können in der Menge untertauchen.«
Gwenda atmete ein wenig auf. Offenbar hielt Pa die Situation nicht für gar so gefährlich. Gwenda war froh, dass nun er wieder das Kommando übernahm und sie von der Verantwortung befreite.
»Außerdem«, fuhr Pa fort, »habe ich den wässrigen Brei der Mönche satt. Ich will Brot und Fleisch. Jetzt können wir’s uns leisten!«
Sie traten aus der Kirche hinaus in die Morgendämmerung. Der Himmel war perlgrau. Gwenda wollte Mas Hand halten, aber das Baby fing zu schreien an, und Ma war abgelenkt. Dann erblickte Gwenda einen kleinen, dreibeinigen Hund mit schwarzem Gesicht, der mit vertrautem Humpeln auf den Kathedralenplatz lief. »Hop!«, rief Gwenda, hob ihn hoch und drückte ihn an sich.
Merthin war elf, ein Jahr älter als sein Bruder Ralph; doch zu seinem größten Verdruss war Ralph größer und stärker.
Das sorgte für Probleme mit den Eltern. Der Vater der Jungen, Sir Gerald, war Soldat, und so konnte er seine Enttäuschung nicht verbergen, wenn Merthin sich als unfähig erwies, eine schwere Lanze hochzuheben, Erschöpfung zeigte, noch ehe der Baum gefällt war, oder weinend nach Hause kam, wenn er einen Kampf verloren hatte. Und ihre Mutter, Lady Maud, machte alles noch schlimmer. Immer wieder brachte sie Merthin mit ihrer übertriebenen Fürsorge in Verlegenheit, wo es dem Jungen doch viel lieber gewesen wäre, sie würde so tun, als hätte sie nichts bemerkt. Wann immer Vater seinen Stolz auf den großen, starken Ralph bekundete, versuchte Mutter, einen Ausgleich zu schaffen, indem sie Ralphs Mangel an Intelligenz hervorhob. Ralph war in der Tat ein wenig langsam im Denken, doch dafür konnte er nichts, und wann immer jemand ihn deswegen verspottete, geriet er in Wut, und es war an der Tagesordnung, dass er sich mit anderen Jungen raufte.
Am Morgen von Allerheiligen waren beide Eltern gereizt. Sir Gerald hatte nicht nach Kingsbridge kommen wollen, doch ihm war keine Wahl geblieben: Er schuldete der Priorei Geld. Allerdings konnte er seine Schulden nicht zahlen, sodass Lady Maud zu ihm sagte, man würde ihm seine Ländereien wegnehmen, worauf Sir Gerald sie daran erinnerte, dass er von Thomas abstamme, der in dem Jahr zum Grafen von Shiring erhoben worden war, als König Heinrich II. den Erzbischof Becket ermordet hatte. Graf Thomas wiederum war der Sohn von Jack Builder, dem Erbauer der Kathedrale von Kingsbridge, und Lady Aliena von Shiring gewesen – einem beinahe schon legendären Paar, dessen Geschichte an langen Winterabenden in einem Atemzug mit den Heldensagen Karls des Großen und Rolands erzählt wurde. Angesichts einer solchen Ahnenreihe könne kein Mönch seine Länder konfiszieren, rief Sir Gerald wutentbrannt, vor allem nicht dieses alte Waschweib Prior Anthony. Als ihr Gemahl zu toben begann, legte sich ein Ausdruck müder Resignation auf Mauds Gesicht, und sie wandte sich ab.
Prior Anthony mochte ja ein altes Waschweib sein, aber er war zumindest Manns genug gewesen, sich bei Sir Geralds Lehnsherrn, dem derzeitigen Grafen von Shiring, über den säumigen Schuldner zu beschweren. Das war der Grund für Sir Geralds schlechte Laune, die sich auch durch das Spektakel in der Kathedrale nicht gebessert hatte.
Merthin hingegen hatte das Schauspiel genossen: die Dunkelheit, die seltsamen Geräusche, die Musik, die so leise begonnen hatte und dann so laut geworden war, dass sie die ganze Kirche erfüllte, und schließlich das bedächtige Entzünden der Kerzen. Auch hatte Merthin, als es wieder heller geworden war, bemerkt, dass einige Leute die Dunkelheit ausgenutzt hatten, um kleinere Sünden zu begehen, welche ihnen nun vergeben werden konnten: So hatte er im aufflammenden Licht zwei Mönche gesehen, die sich geküsst und hastig voneinander abgelassen hatten, als es so plötzlich hell geworden war, und einen durchtriebenen Kaufmann, der rasch die Hand vom üppigen Busen einer lächelnden Frau genommen hatte, die das Weib eines anderen zu sein schien.
Merthin war noch immer ganz aufgeregt, als sie ins Hospital zurückkehrten.
Während sie nun darauf warteten, dass die Nonnen das Frühstück austeilten, ging ein Küchenjunge durch den Raum. Er trug ein Tablett mit einem großen Krug Bier und einem Teller heißen Salzfleischs die Treppe hinauf. Mürrisch bemerkte Lady Maud: »Man hätte doch meinen sollen, dass dein Verwandter, der Graf, uns einlädt, mit ihm in seinem Privatgemach zu speisen. Schließlich war deine Großmutter die Schwester seines Großvaters.«
Graf Roland hatte Gerald für heute nach Kingsbridge bestellt, um sich mit ihm und dem Prior zusammenzusetzen und eine Lösung zu besprechen.
Sir Gerald erwiderte: »Wenn du keinen Brei willst, können wir ja in eine Schänke gehen.«
Merthin spitzte die Ohren. Er mochte das Frühstück mit frischem Brot und Salzbutter im Wirtshaus. Aber Mutter sagte: »Das können wir uns nicht leisten.«
»Doch, können wir«, widersprach Sir Gerald und tastete nach seiner Börse – und das war der Augenblick, da er bemerkte, dass sie verschwunden war.
Zuerst schaute er auf den Boden, als wäre sie hinuntergefallen; dann bemerkte er den Schnitt am Lederband und brüllte entrüstet auf. Alle drehten sich zu ihm um, mit Ausnahme von Lady Maud, die zu Boden blickte. Merthin hörte sie leise vor sich hin murmeln: »Das war alles, was wir hatten.«
Sir Gerald funkelte die anderen Gäste im Hospital vorwurfsvoll an. Die lange Narbe, die von seiner rechten Schläfe bis zum linken Auge verlief, verdunkelte sich vor Zorn. Gespannte Stille senkte sich über den Raum. Ein wütender Ritter war gefährlich, selbst einer, der offensichtlich vom Pech verfolgt war.
Dann sagte Lady Maud: »Ohne Zweifel hat man dich in der Kirche beraubt.«
Merthin vermutete, dass sie recht hatte. In der Dunkelheit hatten die Leute nicht nur Küsse gestohlen.
»Sakrileg!«, rief Vater.
»Ich nehme an, es ist passiert, als du dieses kleine Mädchen hochgehoben hast«, fuhr Mutter fort. Ihr Gesicht war verzerrt, als hätte sie etwas Bitteres gegessen. »Der Dieb hat dir vermutlich von hinten um die Hüfte gegriffen.«
»Er muss gefunden werden!«, brüllte Vater.
Der junge Mönch mit Namen Godwyn meldete sich zu Wort. »Was geschehen ist, bedaure ich, Sir Gerald. Ich werde sofort gehen und John Constable Bescheid geben. Er kann dann nach einem armen Kerl suchen, der unverhofft zu Reichtum gelangt ist.«
Dieser Plan kam Merthin nicht gerade vielversprechend vor. Es gab Tausende von armen Menschen in der Stadt und noch Hunderte mehr von außerhalb. Der Büttel konnte sie unmöglich alle beobachten.
Aber Vater zeigte sich beschwichtigt. »Der Schuft soll hängen!«, sagte er mit nicht mehr ganz so lauter Stimme.
»Und in der Zwischenzeit ... Vielleicht wollt ihr, Lady Maud und Eure Söhne uns ja die Ehre geben, Euch an den Tisch vor dem Altar zu setzen«, schlug Godwyn vor.
Vater knurrte. Merthin wusste, dass es ihn freute, einen höheren Status als die Masse der Gäste zugesprochen zu bekommen, die auf demselben Boden essen mussten, auf dem sie auch geschlafen hatten.
Der Augenblick, da Gewalt in der Luft gehangen hatte, verging, und Merthin entspannte sich ein wenig; doch als die vier ihre Plätze am Altar einnahmen, fragte er sich besorgt, was nun aus der Familie werden würde. Sein Vater war ein tapferer Soldat – das sagte jeder. Sir Gerald hatte für den alten König bei Boroughbridge gefochten, wo ihm das Schwert eines Lancaster-Rebellen die Narbe auf der Stirn beigebracht hatte. Aber das Schicksal hatte es nicht gut mit ihm gemeint. Viele Ritter machten in der Schlacht reiche Beute: geplünderte Juwelen, eine Wagenladung flämisches Tuch und italienische Seide oder den geliebten Vater einer hochwohlgeborenen Familie, der ein Lösegeld von tausend Pfund wert war. Sir Gerald hatte jedoch nie viel nach Hause gebracht. Trotzdem musste er nach wie vor Waffen, Rüstung und ein teures Schlachtross finanzieren, um weiter seine Pflicht dem König gegenüber erfüllen zu können, und aus unerfindlichen Gründen reichten die Erträge seiner Ländereien dafür nie aus. Also hatte er gegen den Willen seiner Frau begonnen, sich das Geld zu leihen.
Die Küchenhilfen brachten einen dampfenden Kessel herein. Sir Geralds Familie wurde als erste bedient. Der Brei war aus Gerste gemacht, gewürzt mit Rosmarin und Salz. Ralph, der die Familienkrise nicht verstand, begann aufgeregt über das Hochamt zu reden, doch die mürrische Stille, die auf seine Worte folgte, brachte ihn zum Schweigen.
Nachdem der Brei gegessen war, ging Merthin zum Altar. Dahinter hatte er seinen Bogen und seine Pfeile verstaut. Jeder zögerte, etwas von einem Altar zu stehlen. Natürlich überwand manch einer seine Angst, wenn die Versuchung groß genug war, aber ein selbst gemachter Bogen war keine große Beute. Also war er tatsächlich noch da.
Merthin war stolz auf seine Waffe. Natürlich war sie klein; um einen großen Sechs-Fuß-Bogen zu spannen, bedurfte es der Kraft eines Erwachsenen. Merthins Bogen war vier Fuß lang und schlank, doch in jeder anderen Hinsicht glich er dem typischen englischen Langbogen, der schon so viel schottisches Bergvolk, walisische Rebellen und französische Ritter in Harnisch ins Jenseits befördert hatte.
Vater hatte bis jetzt nie etwas zu dem Bogen gesagt, und nun schaute er ihn sich an, als würde er ihn zum ersten Mal sehen. »Wo hast du denn den Bogen her?«, fragte er. »Die sind teuer.«
»Nicht der hier – er ist zu klein. Ein Bogenmacher hat mir das Holz gegeben.«
Vater nickte. »Abgesehen von der Länge ist der Bogen perfekt«, sagte er. »Er ist aus dem inneren der Eibe gefertigt, wo Splintholz auf Kernholz trifft.« Er deutete auf die zwei verschiedenen Farben.
»Ich weiß«, sagte Merthin eifrig. Er hatte nicht oft Gelegenheit, seinen Vater zu beeindrucken. »Das dehnbare Splintholz ist besonders gut geeignet für die Vorderseite des Bogens, denn es biegt sich wieder in seine ursprüngliche Form zurück, und das harte Kernholz ist am besten für die Innenseite, denn es drückt wieder zurück, wenn der Bogen sich nach innen biegt.«
»Genau«, sagte Vater. Er gab seinem Sohn die Waffe wieder. »Aber vergiss nicht: Das ist nicht die Waffe eines Edelmannes. Die Söhne von Rittern werden keine Bogenschützen. Gib ihn einem Bauernjungen.«
Merthin war geknickt. »Ich habe ihn noch nicht einmal ausprobiert!«
Mutter mischte sich ein. »Lass sie doch spielen«, sagte sie zu ihrem Gemahl. »Sie sind doch noch Jungen.«
»In der Tat«, sagte Vater und verlor das Interesse. »Ob diese Mönche uns wohl auch einen Krug Bier bringen würden?«
»Fort mit euch«, sagte Mutter zu ihren Söhnen. »Merthin, pass auf deinen Bruder auf.«
Vater knurrte. »Wahrscheinlich wird es eher andersherum sein.«
Das traf Merthin hart. Vater hatte keine Ahnung, wie es in Wirklichkeit aussah. Merthin konnte sehr wohl auf sich selbst aufpassen, doch Ralph allein würde zweifelsohne in eine Keilerei geraten. Allerdings wusste Merthin es besser, als sich mit seinem Vater in dieser Stimmung auf einen Streit einzulassen, und so verließ er ohne ein Wort das Hospital. Ralph trottete ihm hinterher.
Es war ein klarer, kalter Novembertag, und eine hohe blassgraue Wolkenbank bedeckte den Himmel. Sie verließen das Kathedralengelände und gingen die Hauptstraße hinunter, vorbei an Fish Lane, Leather Yard und Cookshop Street. Am Fuß des Hügels überquerten sie die Holzbrücke über den Fluss, verließen die Altstadt und kamen in die Vorstadt, die Newtown genannt wurde. Hier führten von Holzhäusern gesäumte Straßen zwischen Weiden und Gärten hindurch. Merthin ging zu einer Wiese, die man Lovers’ Field nannte. Dort hatte die Stadtmiliz Schießstände aufgebaut, Ziele für Bogenschützen, denn auf Befehl des Königs waren alle Männer verpflichtet, sich nach dem Kirchgang im Schießen zu üben.
Dieser Verfügung musste nicht viel Nachdruck verliehen werden: Es bedeutete keine Härte, sonntags morgens ein paar Pfeile abzuschießen, und gut hundert junge Männer aus der Stadt warteten bereits darauf, dass sie an die Reihe kamen, beobachtet von Frauen, Kindern und Männern, die sich selbst als zu alt zum Schießen oder den Bogen als unter ihrer Würde betrachteten. Einige hatten ihre eigenen Waffen dabei. Für jene, die zu arm waren, um sich einen Bogen zu leisten, hatte John Constable billige Übungsbögen aus Eschen- oder Haselholz machen lassen.
Es ging zu wie an einem Festtag. Dick Brewer verkaufte Humpen voll Bier aus einem Fass auf einem Karren, und Betty Baxters vier heranwachsende Töchter gingen umher und boten Gewürzbrötchen von ihren Tabletts feil. Die wohlhabenderen Stadtbewohner trugen Pelzkappen und neue Schuhe, und selbst die ärmeren Frauen hatten ihr Haar frisiert und ihre Mäntel neu gesäumt.
Merthin war der einzige Junge, der einen Bogen dabeihatte, und damit erregte er sofort die Aufmerksamkeit der anderen Kinder. Sie drängten sich um ihn und Ralph. Die Jungen stellten neidische Fragen, und die Mädchen schauten entweder bewundernd oder verächtlich drein, je nach Veranlagung. Eines der Mädchen fragte: »Woher hast du gewusst, wie man so was macht?«
Merthin erkannte sie: Sie hatte in der Kathedrale neben ihm gestanden. Sie war ungefähr ein Jahr jünger als er, schätzte er, und sie trug ein Kleid und einen Mantel aus teurer, dicht gewebter Wolle. Normalerweise empfand Merthin Mädchen seines eigenen Alters eher als lästig: Sie kicherten meist und weigerten sich, irgendetwas ernst zu nehmen. Doch dieses hier schaute ihn und seinen Bogen mit einer offenen Neugier an, die ihm gefiel. »Ich habe ihn einfach gemacht, wie ich es für richtig hielt«, antwortete er.
»Das klingt klug. Funktioniert er denn auch?«
»Ich habe ihn noch nicht ausprobiert. Wie heißt du?«
»Caris, aus der Familie Wooler. Und wer bist du?«
»Merthin. Mein Vater ist Sir Gerald.« Merthin schlug die Kapuze zurück, griff hinein und holte eine zusammengerollte Bogensehne hervor.
»Warum trägst du die Sehne unter der Kapuze?«
»Damit sie nicht feucht wird, wenn es regnet. Das tun echte Bogenschützen auch.« Er machte die Sehne an beiden Enden fest, wobei er den Bogen leicht durchbog, sodass die Spannung die Sehne festhielt.
»Willst du auf die Ziele schießen?«
»Ja.«
Ein Junge sagte: »Sie werden dich nicht lassen.«
Merthin schaute ihn an. Der Junge war ungefähr zwölf Jahre alt, groß und dünn mit großen Händen und Füßen. Merthin hatte ihn und seine Familie vergangene Nacht im Hospital der Priorei gesehen; sein Name war Philemon. Philemon hatte sich häufig in der Nähe der Mönche aufgehalten; er hatte ihnen Fragen gestellt und bei der Verteilung des Abendessens geholfen. »Natürlich werden sie mich schießen lassen«, erwiderte Merthin. »Warum auch nicht?«
»Weil du zu jung bist.«
»Das ist dumm.« Noch während er sprach, wusste Merthin, dass er sich dessen lieber nicht so sicher sein sollte: Erwachsene waren oft dumm. Aber dass Philemon so tat, als wüsste er mehr, ärgerte Merthin – besonders nachdem er sich vor Caris so selbstbewusst gegeben hatte.
Er verließ die Kinder und ging zu einer Gruppe von Männern, die darauf warteten, auf eine Scheibe schießen zu können. Er erkannte einen von ihnen: einen ungewöhnlich großen, breitschultrigen Mann mit Namen Mark Webber. Mark bemerkte den Bogen und fragte Merthin auf seine langsame, freundliche Art: »Wo hast du den her?«
»Ich habe ihn selbst gemacht«, antwortete Merthin stolz.
»Schaut Euch das an, Elfric«, sagte Mark zu seinem Nachbarn. »Das hat er gut hinbekommen.«
Elfric war ein kräftiger Mann mit verschlagenem Blick. Er schaute sich den Bogen nur flüchtig an. »Zu klein«, sagte er abschätzig. »Damit kannst du nie einen Pfeil abschießen, der die Rüstung eines französischen Ritters durchschlägt.«
»Das vielleicht nicht«, räumte Mark ein, »aber ich nehme an, dass der Junge höchstens noch ein, zwei Jahre hat, bevor er gegen die Franzosen wird kämpfen müssen.«
John Constable rief: »Wir sind bereit. Lasst uns anfangen. Mark Webber, ihr seid der Erste.« Der Riese trat an die Linie. Er nahm sich einen kräftigen Bogen, prüfte ihn und bog das dicke Holz mühelos durch.
Da bemerkte John Constable auch Merthin. »Keine Kinder«, sagte er.
»Warum nicht?«, protestierte Merthin.
»Das soll dir egal sein. Mach einfach, dass du aus dem Weg kommst.«
Merthin hörte ein paar der anderen Kinder kichern. »Es gibt nicht den geringsten Grund dafür!«, erklärte er entrüstet.
»Ich muss Kindern keine Gründe nennen«, erwiderte John. »Also gut, Mark Webber, schießt!«
Merthin fühlte sich gedemütigt. Der schmierige Philemon hatte vor allen bewiesen, dass Merthin unrecht hatte. Er wandte sich von den Zielen ab.
»Das habe ich dir ja gesagt«, erklärte Philemon.
»Oh, halt einfach den Mund, und verschwinde.«
»Du kannst mich nicht vertreiben«, sagte Philemon, der einen halben Kopf größer war als Merthin.
»Ich aber schon«, warf Ralph ein.
Merthin seufzte. Ralph war schier unglaublich loyal, aber er verstand einfach nicht, dass Merthin nicht nur als Narr, sondern auch als Schwächling dastehen würde, wenn Ralph sich für ihn mit Philemon prügelte.
»Ich wollte ohnehin gehen«, sagte Philemon. »Ich werde Bruder Godwyn helfen.« Er trollte sich davon.
Auch die anderen Kinder zerstreuten sich auf der Suche nach neuen Attraktionen. Caris sagte zu Merthin: »Du könntest doch irgendwo anders hingehen, um deinen Bogen auszuprobieren.« Offensichtlich war sie begierig darauf zu sehen, was geschehen würde.
Merthin schaute sich um. »Aber wohin?« Wenn er ohne Aufsicht schoss, würde man ihm den Bogen vielleicht abnehmen.
»Wir könnten in den Wald gehen.«
Merthin war überrascht. Es war Kindern verboten, in den Wald zu gehen. Dort gab es Gesetzlose, Männer und Frauen, die vom Stehlen lebten. Kinder könnte man ihrer Kleider berauben oder sie zu Sklaven machen, und es gab noch schlimmere Gefahren, die Eltern nur andeuteten. Und selbst wenn sie solchen Gefahren entkamen, drohten Kindern bei ihrer Rückkehr Schläge von ihren Vätern, weil sie eine Regel gebrochen hatten.
Doch Caris schien sich nicht im Mindesten davor zu fürchten, und Merthin wollte nicht weniger mutig wirken als sie. Außerdem hatte die Abfuhr durch den Stadtbüttel seinen Trotz geweckt. »Also schön«, sagte er. »Aber wir werden dafür sorgen müssen, dass uns niemand sieht.«
Caris hatte schon eine Idee. »Ich kenne da einen Weg.«
Sie ging zum Fluss. Merthin und Ralph folgten ihr. Ein kleiner dreibeiniger Hund humpelte neben ihnen her. »Wie heißt der Hund?«, fragte Merthin Caris.
»Der gehört nicht mir«, antwortete sie, »aber ich habe ihm ein Stück schimmeligen Schinken gegeben, und jetzt werde ich ihn einfach nicht mehr los.«
Sie gingen am verschlammten Flussufer entlang, vorbei an Lagerhäusern, Anlegestellen und Kähnen. Unauffällig musterte Merthin dieses Mädchen, das sich so mühelos zu ihrer Anführerin aufgeschwungen hatte. Sie besaß ein kantiges, entschlossenes Gesicht, war weder hübsch noch hässlich, und sie hatte den Schalk in den grünlichen Augen mit den braunen Flecken. Ihr hellbraunes Haar war zu zwei Zöpfen geflochten, wie es bei den wohlhabenden Frauen Mode war. Ihre Kleider waren teuer, aber sie trug praktische Lederstiefel und nicht die bestickten Stoffschuhe, wie Edelfrauen sie bevorzugten.
Caris wandte sich vom Fluss ab, führte sie über einen Holzlagerplatz, und plötzlich befanden sie sich in gestrüppreichem Waldland. Merthin wurde leicht unbehaglich zumute. Nun, da er im Wald war, konnte hinter jeder Eiche ein Gesetzloser lauern, und er bereute seinen Wagemut; doch er schämte sich zu sehr für seine Angst, als dass er wieder hätte umkehren können.
Sie gingen weiter und suchten nach einer Lichtung, die groß genug zum Bogenschießen war. Plötzlich sagte Caris in verschwörerischem Tonfall: »Seht ihr den großen Stechpalmenstrauch da drüben?«
»Ja.«
»Sobald wir daran vorbei sind, hockt euch mit mir nieder, und seid still.«
»Warum?«
»Ihr werdet schon sehen.«
Einen Augenblick später kauerten Merthin, Ralph und Caris hinter dem Busch. Der dreibeinige Hund saß bei ihnen und schaute Caris hoffnungsvoll an. Ralph wollte eine Frage stellen, doch Caris brachte ihn mit einem »Pssst!« zum Schweigen.
Eine Minute später kam ein kleines Mädchen vorbei. Caris sprang aus dem Gebüsch und packte sie. Das Mädchen schrie auf.
»Sei still!«, befahl Caris. »Wir sind nicht weit von der Straße entfernt, und wir wollen nicht gehört werden. Warum verfolgst du uns?«
»Du ... Du hast meinen Hund, und er will nicht wieder zurückkommen!«, schluchzte das Kind.
»Ich kenne dich ... Ich habe dich heute Morgen in der Kirche gesehen«, sagte Caris mit sanfterer Stimme zu ihr. »Nun gut, es gibt keinen Grund zu weinen. Wir werden dir nichts tun. Wie heißt du?«
»Gwenda.«
»Und der Hund?«
»Hop.« Gwenda nahm den Hund auf den Arm, und er leckte ihr die Tränen ab.
»Nun, jetzt hast du ihn ja. Du solltest besser mit uns kommen für den Fall, dass er wieder weglaufen sollte. Außerdem wirst du allein wohl kaum den Weg in die Stadt zurückfinden.«
Sie gingen weiter. Merthin fragte: »Was hat acht Arme und elf Beine?«
»Ich gebe auf«, sagte Ralph sofort. Das tat er immer.
»Ich weiß es«, sagte Caris und grinste. »Wir. Vier Kinder und der Hund.« Sie lachte. »Das ist gut.«
Das freute Merthin. Die Leute verstanden seine Scherze nicht immer, Mädchen fast nie. Einen Augenblick später hörte er, wie Gwenda es Ralph erklärte. »Zwei Arme und zwei Arme und zwei Arme und zwei Arme, das macht acht«, sagte sie. »Zwei Beine und ...«
Sie sahen niemanden, was gut war. Die wenigen Leute, die rechtmäßig im Wald etwas verloren hatten – Holzfäller, Köhler, Eisenschmelzer –, arbeiteten heute nicht, und an einem Sonntag würde man auch keine adelige Jagdgesellschaft sehen. Demnach würde es sich bei jedem, auf den sie trafen, höchstwahrscheinlich um einen Gesetzlosen handeln. Allerdings war es ein großer Wald, der sich über viele Meilen hinweg erstreckte. Merthin war nie so weit gereist, als dass er sein Ende gesehen hätte.
Sie kamen zu einer breiten Lichtung, und Merthin sagte: »Das wird reichen.«
Am gegenüber liegenden Ende, gut fünfzig Schritt entfernt, stand eine Eiche mit breitem Stamm. Merthin stellte sich schräg zum Ziel, wie er es bei den Männern gesehen hatte. Dann holte er einen seiner drei Pfeile heraus und legte ihn auf die Sehne. Die Pfeile waren genauso schwer herzustellen gewesen wie der Bogen. Sie bestanden aus Eschenholz und hatten Gänsefedern als Befiederung. Da Merthin kein Eisen für die Spitzen hatte bekommen können, hatte er die Schäfte schlicht angespitzt und im Feuer gehärtet. Er legte auf den Baum an und spannte. Das kostete ihn viel Kraft. Er ließ los.
Der Pfeil fiel schon weit vor dem Ziel zu Boden. Hop, der Hund, tollte über die Lichtung, um ihn zurückzuholen.
Merthin war überrascht. Er hatte damit gerechnet, dass der Pfeil durch die Luft fliegen und sich mit der Spitze in den Stamm bohren würde. Nun erkannte er, dass er den Bogen nicht weit genug gespannt hatte.
Merthin versuchte es mit dem Bogen in der rechten und dem Pfeil in der linken Hand. Was das betraf, war er sehr ungewöhnlich, denn er war weder Links- noch Rechtshänder, sondern mit beiden Händen gleichermaßen geschickt. Beim zweiten Pfeil zog er mit aller Kraft an der Sehne und drückte den Bogen mit der anderen Hand nach vorne, und tatsächlich gelang es ihm, die Waffe weiter zu spannen als zuvor. Diesmal erreichte der Pfeil den Baum fast.
Für den dritten Schuss richtete er den Bogen nach oben in der Hoffnung, der Pfeil würde in einem Bogen durch die Luft fliegen und den Stamm so endlich treffen. Doch er schoss zu steil, und so flog der Pfeil ins Geäst und fiel inmitten eines Schauers trockener brauner Blätter abermals zu Boden.
Merthin war peinlich berührt. Das Bogenschießen erwies sich als weit schwerer, als er gedacht hatte. Der Bogen selbst war wohl in Ordnung. Das Problem war sein Können ... Oder sein Mangel daran.
Erneut schien Caris sein Unbehagen nicht zu bemerken. »Lass mich mal versuchen«, sagte sie.
»Mädchen können nicht schießen«, sagte Ralph und riss Merthin den Bogen aus der Hand. Mit der Schulter zum Ziel, wie auch Merthin es getan hatte, schoss er nicht sofort, sondern spannte den Bogen mehrere Male, um ein Gefühl dafür zu bekommen. Wie Merthin, so fand auch er es weit schwerer als erwartet, doch nach nur wenigen Augenblicken schien er damit umgehen zu können.
Hop hatte Gwenda alle drei Pfeile vor die Füße gelegt, und nun hob das kleine Mädchen sie auf und reichte sie Ralph.
Ralph zielte, ohne den Bogen zu spannen. Er richtete den Pfeil auf den Baumstamm aus, solange noch kein Druck auf seinen Armen lastete. Merthin erkannte, dass er es genauso hätte machen sollen. Warum fielen Ralph solche Dinge nur so leicht, wo er doch noch nicht einmal das einfachste Rätsel lösen konnte? Ralph spannte den Bogen zwar nicht ohne Mühe, doch in einer fließenden Bewegung, wobei er die Spannung hauptsächlich mit seinen Beinen abzufangen schien. Dann ließ er den Pfeil los, und das Geschoss traf die Eiche und drang gut einen Zoll in das weiche äußere Holz. Ralph lachte triumphierend.
Hop lief dem Pfeil hinterher. Als er den Baum erreichte, blieb er verblüfft stehen.
Ralph spannte den Bogen erneut. Merthin erkannte, was er vorhatte. »Nicht ...«, rief er, doch es kam einen Moment zu spät. Ralph schoss auf den Hund. Der Pfeil traf das Tier im Nacken und drang ein. Hop fiel nach vorne und lag zuckend auf dem Boden.
Gwenda schrie. Caris sagte: »O nein!« Die beiden Mädchen liefen zu dem Hund.
Ralph grinste. »Na? Wie war das?«, fragte er stolz.
»Du hast ihren Hund erschossen!«, sagte Merthin wütend. »Das ist doch egal. Er hatte sowieso nur drei Beine.«
»Das kleine Mädchen hat ihn gemocht, du Narr! Schau nur, wie sie weint.«
»Du bist nur neidisch, weil ich so gut schießen kann.« Irgendetwas erregte Ralphs Aufmerksamkeit. Mit einer geschmeidigen Bewegung legte er einen neuen Pfeil ein, riss den Bogen herum und schoss, noch während er sich bewegte. Merthin sah erst, worauf sein Bruder schoss, als das Geschoss sein Ziel traf und ein fetter Hase von der Wucht des Treffers in die Luft geschleudert wurde. Der Schaft steckte tief in seinen Hinterbeinen.
Merthin konnte seine Bewunderung nicht verbergen. Selbst mit Übung konnte nicht jeder einen laufenden Hasen treffen. Ralph besaß ein angeborenes Talent dafür. Merthin beneidete ihn, obwohl er das niemals zugegeben hätte. Er sehnte sich danach, ein Ritter zu sein, kühn und stark, wie sein Vater für den König zu kämpfen, und es trieb ihn jedes Mal zur Verzweiflung, wenn er sich bei solchen Dingen wie dem Bogenschießen als hoffnungsloser Fall erwies.
Ralph nahm einen Stein, zerschmetterte dem Hasen den Schädel und machte so seinem Leiden ein Ende.
Merthin kniete sich neben die beiden Mädchen und Hop. Der Hund atmete nicht mehr. Vorsichtig zog Caris dem Tier den Pfeil aus dem Nacken und gab ihn Merthin. Kein Blut strömte hervor: Hop war tot.
Einen Moment lang sagte niemand ein Wort. Dann hörten sie mitten in der Stille einen Mann rufen.
Merthin sprang auf. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er hörte einen weiteren Ruf, eine andere Stimme: Da war mehr als nur eine Person. Beide Stimmen klangen wütend und aggressiv. Offenbar fand dort eine Art Kampf statt. Merthin hatte schreckliche Angst, wie auch die anderen. Während sie wie erstarrt dastanden und lauschten, hörten sie ein weiteres Geräusch: den Lärm von jemandem, der kopfüber durch den Wald rannte und dabei Zweige, Setzlinge und totes Laub zertrat.
Er kam in ihre Richtung.
Caris fand als Erste ihre Sprache wieder. »Ins Gebüsch!«, sagte sie und deutete auf ein dichtes Gestrüpp von Immergrün – vermutlich das Heim des Hasen, den Ralph erschossen hat, dachte Merthin. Einen Moment später lag Caris flach auf dem Bauch und kroch ins Dickicht. Gwenda folgte ihr mit dem toten Hop in den Armen. Ralph schnappte sich den erlegten Hasen und gesellte sich zu ihnen. Merthin war bereits auf den Knien, als ihm einfiel, dass sie einen verräterischen Pfeil im Baum hatten stecken lassen. Er rannte über die Lichtung, zog ihn heraus, lief zurück und tauchte in den Busch.
Sie hörten den rauen Atem des Mannes, bevor sie ihn sahen. Er keuchte so schwer beim Laufen, schnappte derart verzweifelt nach Luft, dass er schon fast am Ende seiner Kräfte zu sein schien. Die Stimmen gehörten seinen Verfolgern, die einander zuriefen: »Da entlang ... Hier drüben ... !« Merthin erinnerte sich daran, dass Caris gesagt hatte, sie seien nicht weit weg von der Straße. War der Flüchtende vielleicht ein Reisender, der überfallen worden war?
Einen Augenblick später brach er aus dem Unterholz und stürmte auf die Lichtung.
Der Mann war ein Ritter Anfang zwanzig. Er trug ein Schwert und einen langen Dolch am Gürtel. Seine Kleidung war edel: ledernes Reisewams und hohe Stiefel, die oben umgeschlagen waren. Er stolperte und fiel, rollte herum, stand wieder auf, stellte sich mit dem Rücken an die Eiche, schnappte nach Luft und zog die Waffen.
Merthin schaute zu seinen Spielkameraden. Caris war weiß im Gesicht und biss sich auf die Lippe. Gwenda drückte den toten Hund an sich, als fühlte sie sich dadurch sicherer. Auch Ralph sah verstört aus, doch seine Angst war nicht groß genug, als dass er nicht den Pfeil aus dem Hasen gezogen und sich das tote Tier vorne in den Kittel gesteckt hätte.
Einen Moment lang starrte der Ritter das Gebüsch an, und Merthin dachte entsetzt, dass er die versteckten Kinder entdeckt hatte. Oder vielleicht hatte er auch die abgebrochenen Zweige und das zertrampelte Laub bemerkt, wo sie sich durch das Gestrüpp gedrängt hatten.
Aus dem Augenwinkel heraus sah Merthin, dass Ralph einen Pfeil auf die Sehne legte.
Dann kamen die Verfolger. Es waren zwei kräftige Soldaten, die wie richtige Raufbolde aussahen, und sie hielten Schwerter in den Händen. Sie trugen auffällige, zweifarbige Waffenröcke: Die linke Seite war gelb, die rechte grün. Der eine hatte einen Überrock aus billiger grüner Wolle, der andere einen schmuddeligen schwarzen Mantel. Alle drei Männer standen da und versuchten, erst einmal wieder zu Atem zu kommen. Merthin war sicher, gleich mit ansehen zu müssen, wie der Ritter in Stücke gehackt wurde, und er kämpfte gegen das beschämende Verlangen an, in Tränen auszubrechen. Dann plötzlich drehte der Ritter sein Schwert um und bot es seinen Verfolgern zum Zeichen der Kapitulation mit dem Heft voran an.
Der ältere Soldat, der in dem schwarzen Mantel, trat vor und streckte die linke Hand aus. Vorsichtig empfing er das ihm angebotene Schwert, reichte es an seinen Kameraden weiter und nahm darauf auch den Dolch des Ritters entgegen. Dann sagte er: »Es sind nicht Eure Waffen, die ich will, Thomas Langley.«
»Ihr kennt mich, aber ich kenne euch nicht«, erwiderte der Angesprochene. Falls er Angst hatte, dann wusste er sich zumindest zu beherrschen. »Euren Waffenröcken nach zu urteilen, seid ihr Männer der Königin.«
Der ältere Mann setzte ihm die Schwertspitze an den Hals und schob ihn an den Baum zurück. »Ihr habt einen Brief.«
»Anweisungen vom Grafen für den Sheriff zur Steuererhebung. Ihr dürft ihn gerne lesen.« Das war ein Scherz. Die Soldaten waren mit ziemlicher Sicherheit nicht des Lesens mächtig. Dieser Thomas Langley hat Nerven, dachte Merthin, Männer zu verspotten, die bereit zu sein scheinen, ihn zu töten.
Der zweite Soldat griff unter dem Schwert seines Kameraden hindurch und packte die Brieftasche an Thomas’ Gürtel. Ungeduldig schnitt er das Leder mit dem Schwert entzwei. Dann warf er den Gürtel weg und öffnete die Tasche. Sie enthielt eine kleinere Tasche, die offenbar aus geölter Wolle bestand, und daraus zog er ein Stück Pergament hervor, das zusammengerollt und mit Wachs versiegelt war.
Ging es bei diesem Kampf wirklich nur um einen Brief?, fragte sich Merthin. Falls ja, was stand dann dort geschrieben? Um alltägliche Anweisungen für den Sheriff handelte es sich vermutlich nicht. Ein schreckliches Geheimnis musste sich in diesen Zeilen verbergen.
»Wenn ihr mich tötet«, sagte der Ritter, »wird dieser Mord von jenen bezeugt werden, die sich in dem Strauch dort verstecken, wer immer es auch sei.«
Die ganze Szene wirkte einen Moment wie eingefroren. Der Mann in dem schwarzen Mantel drückte weiter das Schwert an Thomas’ Hals und widerstand der Versuchung, über die Schulter zu schauen. Der Mann in Grün zögerte, sah dann aber doch in Richtung Busch.
In diesem Moment schrie Gwenda auf.
Der Mann in dem grünen Überrock hob das Schwert und machte zwei lange Schritte über die Lichtung hinweg auf das Gebüsch zu. Gwenda stand auf und rannte los. Der Soldat sprang ihr hinterher und streckte die Hand aus, um sie zu packen.
Plötzlich erhob sich Ralph, spannte den Bogen in einer fließenden Bewegung und schoss einen Pfeil auf den Mann. Das Geschoss schlug dem Mann durchs Auge und bohrte sich mehrere Zoll tief in seinen Schädel. Seine linke Hand fuhr hoch, als wolle er den Pfeil wieder herausziehen; dann erschlaffte er und fiel um wie ein Sack Korn. Er schlug so heftig auf dem Boden auf, dass Merthin die Erschütterung spüren konnte.