Die Tote auf dem Opferstein - Ann Rosman - E-Book
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Die Tote auf dem Opferstein E-Book

Ann Rosman

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Beschreibung

Hexenjagd im Sommerparadies.

Bei der Besichtigung der Festung Carlsten entdeckt eine Schulklasse ausgerechnet im angrenzenden Opferhain eine enthauptete Leiche im mittelalterlichen Gewand, und eine alte Dame muss feststellen, dass ein abgehackter Kopf ihren zauberhaften alten Klostergarten verschandelt. Laut Rechtsmedizin gehören Kopf und Körper jedoch gar nicht zusammen. Und auf Marstrand wimmelt es von seltsam gekleideten Menschen.

Karin Adler von der Kripo Göteborg ist kaum aus ihrem Segelurlaub an der schwedischen Westküste zurück, als Marstrand von einer Serie grausamer Frauenmorde erschüttert wird, die immer deutlichere Parallelen zu den Bohusläner Hexenprozessen des 17. Jahrhunderts aufweisen. Normalerweise ist die bodenständige Kommissarin gegen jede Art von Aberglauben immun, doch dieser Fall bringt auch sie ins Grübeln ...

»Erfrischend hellsichtig und gutgelaunt – ein spannender und einfallsreicher Krimi.« schreibt der NDR über Karin Adlers ersten Fall »Die Tochter des Leuchtturmeisters«.

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Aus dem Schwedischen von Katrin Frey

Impressum

Ann Rosman, Die Tote auf dem OpfersteinDie Originalausgabe mit dem TitelSjälakistanerschien 2010 bei Damm Förlag, Malmö.

ISBN E-Pub 978-3-8412-0439-4ISBN PDF 978-3-8412-2439-2ISBN Printausgabe 978-3-352-00825-2

Aufbau Digital,veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, März 2012© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, BerlinDie deutsche Erstausgabe erschien 2012 bei Rütten & Loening,einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG© Ann Rosman 2010First published by Damm Förlag, Sweden

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung capa, Anke Feselunter Verwendung zweier Fotos von Carla Brno / bobsairport,Caro / Muhs

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

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Nachwort

Quellen

Leseprobe aus "Die Wächter von Marstrand"

»Die Tür zur Vergangenheit lässt sich nicht ohne Knarren öffnen.«

Alberto Moravia

1

Hoch oben auf Marstrandsön thronte die Festung Carlsten über der salzigen Ostsee. Die grauen Steinmauern wurden langsam von der Septembersonne erwärmt, und die Schatten wanderten wieder über den Burghof. Weinrot blühendes Heidekraut suchte sich einen Weg zwischen sämtlichen Spalten in den Felsen von Bohuslän und bildete in der grauen Steinlandschaft ein unregelmäßiges Muster.

Beim Opferstein im Opferhain, zweihundert Meter von Tor 23, dem Eingang zur Festung Carlsten entfernt, kniete eine Frau in einem bodenlangen Leinenkittel, einer Weste und mit einem Ledergürtel um die Taille. In dieser Position befand sie sich nun schon seit rund acht Stunden. Der südwestliche Wind frischte auf und ließ das Buchenlaub oberhalb der Stelle rascheln, wo ihr Kopf hätte sitzen müssen. Vor dieser Nacht war Hunderte von Jahren kein Blut mehr auf dem Opferstein geflossen.

Klasse 9a von der Fiskebäcksskolan Västra Frölunda marschierte verhältnismäßig geordnet zur Festung von Marstrand hinauf. Rechts und links des steilen Weges lagen Holzhäuser.

Es war bereits halb zehn an diesem sonnigen, aber auch etwas windigen Freitagmorgen, dem achtzehnten September. Die Festung öffnete erst um elf, aber Rebecka und Mats hatten den Ablauf minutiös geplant. Mit siebenundzwanzig Jugendlichen im Schlepptau war das absolut notwendig. Sonst konnte alles Mögliche passieren.

»Okay, alle mal hergehört. Hier ist der Eingang zur Festung. Sie heißt ja nicht Festung Marstrand, sondern Festung Carlsten. Der Name kommt daher, dass König Carl Gustav X. ihren Bau anordnete. Carls Steine, Carlsten. Ihr erinnert euch vielleicht, dass Bohuslän 1658 schwedisch wurde …«

»Der Frieden von Roskilde«, sagte einer der Schüler.

»Genau«, erwiderte Rebecka. »Der Frieden von Roskilde beinhaltete, dass Bohuslän und Marstrand an Schweden fielen. Nun ist es so, dass die Lage von Marstrand sehr wertvoll war und ist. Hat jemand eine Ahnung, warum?« Unter den Schülern wurde es still. »Denkt daran, dass man sich damals häufig auf dem Wasser fortbewegt hat …«, fuhr Rebecka fort und nahm den einzigen Schüler dran, der sich meldete.

»Der Hafen?«, kam es zögerlich.

»Gut. Der Hafen war äußerst wertvoll. Einerseits hat er zwei Einfahrten, aber es hat auch damit zu tun, dass der Hafen aufgrund der Strömungen fast nie zufriert … Die Festung öffnet um eins. Ich erwarte euch dann pünktlich vor Tor 23. Und niemand geht vorher hinein.«

»Ja, aber …«

»Kein Aber. Alle warten, bis entweder Mats oder ich da sind. Verstanden?« Sie räusperte sich und sprach mit ihrer besten Erzählstimme weiter. »Wisst ihr noch, dass wir im Unterricht gestern über die Steinzeit und Siedlungen aus der Vorzeit gesprochen haben?«

Einige Schüler nickten zerstreut. Lebhaft begann Rebecka, Siedlungen, Riten, Rituale und die Menschen zu beschreiben, die einst über denselben Boden gestapft waren, auf dem sie jetzt standen. Die Schüler lauschten interessiert, und einige hoben sogar die Füße und betrachteten die Erde unter sich. Langsam arbeitete sie sich chronologisch vorwärts, bis sie schließlich bei der Zeit angelangt war, in der man die Festung erbaut hatte. Wohl wissend, dass die Ankündigung von Geheimgängen und Gefängniszellen die Schüler besonders aufhorchen lassen würde, hielt sie an dieser Stelle inne.

Nachdem sie einen Blick auf die Liste mit den Arbeitsgruppen geworfen hatte, öffnete sie ihren grünen Fjällräven-Rucksack und teilte die Schüler in Gruppen mit unterschiedlichen Aufgaben ein. Sie stattete jeden von ihnen mit einem Klarsichtordner verschiedenen Inhalts aus. Streithähne hatte sie sorgfältig getrennt und somit zumindest theoretisch dafür gesorgt, dass es funktionieren konnte.

Jede Gruppe erhielt eine Karte der Umgebung sowie eine vergrößerte Abbildung des Gebiets zwischen der Festung und dem Lotsenausguck auf der Anhöhe gleich nebenan. Der Ort war mit Bedacht gewählt worden: eine Ansammlung von alten Pfaden, die hier zusammenliefen, und ein Buchenhain mit dem sagenumwobenen Opferstein.

In ausgelassener Stimmung stiegen die Schüler den grasbewachsenen Hügel hinauf und verschwanden aus ihrer Sichtweite. Rebecka hatte sich gerade hingesetzt und von ihrem Schinkenbrot abgebissen, als sie eine Person im Stimmbruch laut schreien hörte.

»Ah ja«, sagte sie zu Mats. »Wie lange hat es gedauert?«

»Bleib sitzen. Ich geh nachsehen.« Mats stand auf, reichte Rebecka seinen Kaffeebecher und verschwand mit großen Schritten.

Rebecka überblickte die Umgebung. Sie saß auf einem der höchsten Punkte Marstrands, und die Aussicht war überwältigend. Koön im Osten, ein Stück weiter südlich der Albtrektsunds Kanal, ein offener Horizont im Westen, und im Norden auf der Insel Hamneskär erstrahlte rot der frisch gestrichene Leuchtturm Pater Noster.

»Du kommst besser auch, Rebecka.«

Mats kam zurückgerannt. Der Schreck war ihm ins Gesicht geschrieben. Rebecka stellte die beiden Becher ins Gras und stand hastig auf.

Åkerström, Trollhättan, Spätsommer 1958 Die geschlossene Tür

Ein magerer, kleiner Junge mit ungewaschenem Haar und zerrissenen Kleidern saß auf der untersten Stufe der Kellertreppe. Die geschlossene Tür hinter sich beachtete er gar nicht mehr. Er hatte schon lange die Hoffnung aufgegeben, dass sie sich eines Tages öffnen würde. Er starrte ins Leere oder vielleicht auf die dicke Mauer.

Es roch muffig, und durch die schmutzigen Kellerfenster drang nur gedämpftes Tageslicht. Außer an den Stellen, wo der Wind hereinblies, waren die Fensterrahmen von einer dicken Staubschicht bedeckt. Von der Decke hing eine nackte Glühlampe.

Oben hörte er seine Schwestern zanken und lachen. Fröhliche Füße rannten vom Hausflur in die Küche. An den Schritten hörte er, wer es war und wo sich die Personen befanden. Es war eine andere Welt. Eine Welt aus Licht und klaren Farben. Wo er sich befand, war fast alles grau und braun. Vor drei Tagen war er, ohne es zu wissen, sechs Jahre alt geworden. Zwei dieser Jahre hatte er im Keller zugebracht.

Die alte Frau Wilson besaß einen der gepflegtesten Gärten auf Marstrandsön. Er lag hinter dem weißgestrichenen Gartenzaun an der Kreuzung von Hospitalsgatan und Kyrkogatan. Als passionierte Gartenliebhaberin und ehemalige Besitzerin einer angesehenen Gärtnerei in Southampton an der Südküste Englands, wo sie und ihr verschiedener Gatte achtundzwanzig Jahre gelebt hatten, legte sie Wert darauf, immer etwas zu bieten zu haben, das Passanten zum Stehenbleiben und Staunen brachte. Im Frühling stahl der Kirschbaum mit seiner prächtigen rosa Blüte allem anderen die Schau, im Sommer waren es die Pfingstrosen und die atemberaubenden Stockrosen an der Hauswand. Im Spätsommer und Herbst verströmten die Rosen ihren bezaubernden Duft über den Gartenzaun und ließen die Leute auf der Straße behaglich seufzen. Das bereits im Jahre 1701 erbaute Haus gehörte zu den ältesten und kleinsten auf der Insel, doch der Garten war dafür umso größer. Im Volksmund wurde er die »Perle« genannt, und auch in den Broschüren der Touristeninformation war er abgebildet.

Am anderen Ende des Gartens standen zwei Stühle im Schatten eines riesigen Apfelbaums. Die Nachbarn im Haus hinter dem von Frau Wilson hatten lange versucht, den Apfelbaum loszuwerden, weil er ihnen einen Großteil ihres Meerblicks nahm. Sie hatten mit der alten Dame darüber gesprochen, doch die Antwort lautete: »Ein Baum braucht fünfzig Jahre zum Wachsen, aber es dauert nur zwanzig Minuten, ihn zu fällen.« Damit war die Sache für Frau Wilson erledigt. Nur ein kleines Stück des Gartens hatte sie unangetastet gelassen. Das war das Fleckchen zur Kirche hin. Im Mittelalter hatte es neben der Kirche ein Franziskanerkloster gegeben, und an dieser Stelle hatten die Mönche einen Garten mit Heil- und Würzkräutern gepflegt. Ein alter gepflasterter Weg, in dessen Ritzen sich nach Äpfeln duftende römische Kamille und schwarze Veilchen ausbreiteten, führte dorthin. Roter Sonnenhut, Alraune und Nachtviolen hießen die Besucher willkommen, bei denen es sich oft um Schmetterlinge und die schwarze Katze des Nachbarn handelte, die sich wollüstig auf den sonnenwarmen Steinplatten räkelte.

Unkraut hatte sich von diesem Teil des Gartens auf fast merkwürdige Weise ferngehalten, und daher ließ ihn Frau Wilson, zumal sie ihn als Erbe eines der Vorbesitzer betrachtete, in Ruhe. Die Pflanzen waren schon da gewesen, als sie und ihr Mann das Haus gekauft hatten. Die Robustheit des Rosmarinbuschs in Kombination mit der Tatsache, dass sich die Kugelsamige Platterbse und das Basilikum hier so wohl fühlten, verblüffte sie noch immer. Die Pflanzen standen zwar an der Südseite und im Schutz der Kirchenmauer, aber trotzdem. Die Platterbse war eine botanische Sensation gewesen, als man sie so hoch oben im Norden entdeckt hatte. Das Basilikum brauchte eigentlich Unmengen von Licht und hätte in dem alten Klostergarten eigentlich nicht so gut gedeihen dürfen. Es säte sich jedoch jedes Jahr aufs Neue von selbst aus und benötigte keine Pflege. Die Geschichte der Pflanzen amüsierte Frau Wilson, vor allem die des Basilikums. Es hatte im Mittelalter eine düstere Phase durchgemacht und das Böse repräsentiert. In den Gehirnen von Menschen, die daran gerochen hatten, konnten Skorpione wachsen, wurde behauptet.

Normalerweise holte Frau Wilson die Zeitung, bevor sie frühstückte, aber an diesem Morgen war sie zeitig auf den Beinen gewesen und hatte sich nach dem Frühstück zwei ihrer Spezialcocktails gemixt. Die eine Mischung war ein nährstoffreicher Sud aus Nesseln und die andere ein giftiges Gebräu, das Blattläuse und anderes Ungeziefer von den Rosen fernhielt. Die Ingredienzien der letzteren waren seit langem verboten, und die Totenköpfe auf den alten Kanistern im Schuppen ließen keinen Zweifel daran, dass ihr Inhalt mit größter Versicht zu behandeln war.

Frau Wilson band sich die abgetragene Schürze um und steckte die Gartenschere ein, bevor sie sich den Strohhut aufsetzte und hinaus auf die Steintreppe trat. Dort blieb sie eine Weile genüsslich stehen, jedenfalls bis sie den Gegenstand erblickte, der auf dem Pfosten steckte, an dem sich die Duftwicken und die preisgekrönten englischen Rosen hinaufrankten.

Ein Kopf mit langem, angegrautem Haar, das im Wind wehte. Wo sich einst die Nase befunden hatte, klaffte ein Loch.

Kriminalkommissarin Karin Adler saß barfuß auf einem Gneisfelsen und blickte über den glitzernden Fjord von Marstrand. Bohuslän ist einfach unschlagbar, dachte sie. Nichts berührte sie so wie das Rauschen der Wellen, der Wind in ihrem Haar und die in Jahrtausenden glattgeschliffene sonnenwarme Klippe unter ihr. Dazu der Duft nach Salz und Tang. Das Gefühl war überwältigend, fast religiös. Sie steckte sich die Ohrhörer in die Ohren und suchte auf ihrem Handy eins ihrer Lieblingslieder von Evert Taube heraus.

Graublauen Wogen gleich rollen Bohusläns Hügel einsam und majestätisch zum Meer ...

... wo der Wind weht von der Doggerbank und den Duft von Tang und Salz und Abenteuer mit sich führt …

Vor allem diese Zeile mit dem Abenteuer liebte sie. Jedes Mal, wenn sie den Motor ihrer Andante anließ, wurde sie von dem Gefühl erfüllt, hinaus aufs offene Meer zu fahren und sich auf den Weg zu neuen Möglichkeiten zu machen. Es war kein schneller Segler, sondern ein ausdauerndes Boot, auf das man sich in fast jedem Wetter verlassen konnte. So wie alles auf diesem Schiff und jede Einrichtung an Bord waren auch die Stagen und Wanten, die den Mast an Ort und Stelle hielten, ein wenig überdimensioniert. Die Andante war für alles gerüstet. Die Besatzung dagegen war das schwächere Glied.

Karin war mehrmals über die Nordsee nach Schottland gefahren und kannte das von Angst durchsetzte Entzücken, das diese Reisen hin und wieder mit sich brachten. Wenn die Dunkelheit hereinbrach und der Wind immer mehr zunahm, wenn eine steife Brise im Anmarsch war und sie inständig hoffte, dass die Wettervorhersage falschlag, was allerdings selten der Fall war. Da draußen war man seinem eigenen Können und dem Wetter restlos ausgeliefert. Doch damals waren sie zu zweit an Bord gewesen und hatten abwechselnd gesegelt und geschlafen.

Während sie die Abfahrt vorbereitete, ließ Karin den alten Motor, einen alten dieselbetriebenen Penta MD2B, immer eine Weile laufen und warm werden. Wenn man zu zweit war, konnte man immer den anderen bitten, die Leinen loszumachen und die Fender und das Tauwerk einzuholen. War man allein, war eine andere Art von Vorbereitung nötig. Sie blickte immer auf den Verklicker am Masttopp, um sich einen Eindruck von der Windstärke zu verschaffen und zu sehen, in welche Richtung das Wasser floss. Die laminierte Seekarte war aufgeschlagen und lag an ihrem Platz im Cockpit. Das GPS war eingeschaltet, und am UKW-Seefunkgerät war Kanal 16 eingestellt. Im Inneren des Bootes war alles aufgeräumt und verstaut. Nichts konnte auf den Boden fallen und kaputtgehen, falls es mal etwas schaukelte oder das Boot beim Segeln krängte. Vorne im Bug war die Koje gemacht, das Geschirr in der Pantry war abgewaschen und sicher in den Schapp aus Teak verstaut. Alles musste an seinem Platz sein, das war das ganze Geheimnis.

… und kam nach Långevik, der Kapitän Herr Johansson, der die Schaumkronen leid ist und sich um seine Apfelbäume und den Flieder kümmert und den Kräutergarten rings um sein Tusculum.

Bei den Strophen über den Kapitän, der an Land gegangen war, musste sie fast immer an Göran denken, ihren Exfreund. Er hatte als Kapitän gearbeitet und tat das, soweit sie informiert war, noch immer. Aber die Regel, dass man nach sechs Wochen Dienst sechs Wochen an Land verbrachte, hatte der Beziehung letztendlich den Garaus gemacht. Karin hatte getan, was sie konnte, um freie Tage zusammenzukratzen und ihn auf dem großen weißen Frachter zu begleiteten, sooft sich die Möglichkeit ergab. Immer wenn sie auf der Brücke stand, wurde ihr bewusst, wie gut der Beruf des Kapitäns zu Göran passte, und dann kam es ihr ungerecht vor, dass sie ihn dazu bringen wollte, einen Beruf aufzugeben, der ihm solchen Spaß machte. Aber die häufigen Trennungen hatten an ihren Kräften gezehrt, sie hatte gespürt, wie die am Anfang so heiße Liebe jedes Mal ein bisschen mehr verloschen war, so als lebte man zwei völlig verschiedene Leben.

Da das Boot ihr gehörte, war Karin auf die Andante gezogen, und Göran hatte die Wohnung behalten, die passenderweise neben dem Schifffahrtsmuseum in Göteborg lag.

Die Leidenschaft fürs Segeln hatten sie geteilt. Göran und sie hatten lange Törns nach Schottland, zu den Orkneys und den Shetlandinseln gemacht. Die langen Sommerferien hatten sie für diese weiten Fahrten genutzt, während sie im Frühling und im Herbst in Bohuslän geblieben waren. Diesen Sommer hatte Karin jedoch in Bohuslän verbracht. Mit Hilfe der abgegriffenen Seekarte ihres Vaters, auf der zahlreiche rote Markierungen und Notizen anzeigten, wo man einfahren konnte, obwohl die Karte etwas anderes behauptete, hatte sie viele Stellen mit wilden Erdbeeren entdeckt. Hier saß sie nun an ihrem letzten Urlaubstag und war tatsächlich zufrieden. Braungebrannt und voller neuer Eindrücke.

Gute Freunde hatten angeheuert und waren ein Wochenende mitgesegelt. Karins abenteuerlustige Großmutter Anna-Lisa hatte trotz ihrer achtzig Jahre ihr Bündel gepackt und sie eine ganze Woche begleitet. Karins Mutter war dazu eine Menge eingefallen. Aber abgesehen von den Gastspielen der Freunde und der Großmutter war sie allein an Bord der Andante gewesen und hatte sich dabei wohl gefühlt. Sie hatte dadurch genug Zeit, über den Fall nachzudenken, mit dem sie im Frühjahr befasst gewesen war und der sie in gewisser Weise nach Marstrand geführt hatte. Sie hatte zufällig dort angelegt und sich in dem alten Badeort mit den Kopfsteinpflastergässchen und den hübschen Holzhäusern schließlich zu Hause gefühlt. So sehr, dass sie nun hierher zurückgekehrt war, um das Boot im Herbst hier liegen zu lassen und von dieser Basis aus zur Polizeiwache nach Göteborg zu pendeln.

Das vertraute Signal des Dampfers Bohuslän ließ sie eine Weile die Augen schließen und sich ihren Gedanken hingeben. Wie anders es hier vor hundert oder zweihundert Jahren ausgesehen haben musste. Die Landschaft Bohusläns hatte sich wirklich verändert. Mit Wehmut betrachtete sie die blank polierten Schiffe an den Kais. Postkartenschöne Häuser so weit das Auge reichte, Vorhänge von Tricia Guild und Laura Ashley, aber Netze, Reusen und Kescher hingen höchstens noch zur Dekoration an den Bootsschuppen.

Das Klingeln ihres Mobiltelefons riss sie aus ihren Gedanken. Die Arbeit, stellte sie fest, als sie die Nummer auf dem Display sah, aber erstaunlicherweise war ihr das gar nicht mal unangenehm.

»Ich weiß, du hast heute eigentlich noch Urlaub, aber … wo bist du?«, begann ihr Kollege Robban.

»Ich sitze barfuß auf einer Klippe und schaue aufs Meer. Und ausgerechnet da musst du mich stören.«

Robban räusperte sich. Ohne wichtigen Grund hätte er nicht angerufen.

»Spaß beiseite, Robban, was ist passiert?«, fragte Karin.

»Wir haben zwei Notrufe aus Marstrand bekommen. Der eine betraf eine Leiche ohne Kopf, die oben bei der Festung von einer Schulklasse gefunden wurde, und der andere kam von der Nachbarin einer älteren Dame, die den Kopf in ihrem Garten gefunden hat. Ich dachte, wenn du sowieso gerade in Marstrand wärst, du wolltest doch das Boot dort wieder anlegen …« Als Robban verstummte, konnte Karin im Hintergrund eine zweite Person reden hören.

»… nicht wärst, sondern bist. Sie ist in Marstrand.« Die Stimme gehörte Folke, der sich selbst zum Sprachwächter seiner Kollegen auserkoren hatte, was allerdings wenig Anklang fand. Karin lächelte.

»Begleitet dich Folke nach Marstrand?«, fragte Karin.

»Nein, ich komme allein, weil er leider zum Arzt muss.« Robban war die Zufriedenheit darüber anzumerken, dass Folke verhindert war.

»Melde dich, wenn du an Kungälv vorbeifährst, dann treffen wir uns an der Fähre.« Karin zog sich die Schuhe an.

Beinahe wäre sie über einen windgepeitschten Wacholderbusch gestolpert, der seine Wurzel in einen Felsspalt krallte. Er sah erstaunlich grün und gesund aus. Zäh, dachte Karin. Wenn die Herbststürme aufkamen, würde der Marstrandsfjord auch ihn mit dem Salzwasser bedenken, das dann die Klippen hochspritzte. Eher herb als süß. Der Wacholder erweckte den Eindruck, als breitete er sich aus, um nach einem besseren Halt zu suchen. Wie sie selbst, dachte Karin. Ein wenig haltlos, aber in verhältnismäßig gutem Zustand. Eher herb als süß.

Sie drehte sich ein letztes Mal um und blickte über das verspielte Glitzern auf dem Fjord, bevor sie zurück zum Hafen ging.

Åkerström, Trollhättan, im Spätsommer 1958

Es war schon später Nachmittag, aber er hatte noch immer nichts zu essen bekommen. Er hatte noch einen aufgesparten Kanten Brot vom Vortag, oder war es der Tag davor? Er weichte ihn in seinem Wasserbecher ein, bis die Rinde nicht mehr so hart war.

Oben waren den ganzen Tag keine Schritte zu hören. Wie lange sie wegblieben. Sie würden doch bald nach Hause kommen? Niemand sonst wusste, dass im Keller ein kleiner Junge war, der Essen brauchte. Er würde hier unten sterben, wenn ihnen etwas zustieß. Vielleicht würde er sowieso hier unten sterben. Er stieg die steile Treppe hinauf und rüttelte an der Tür. Dass sie verschlossen war, wusste er, bevor er die Klinke berührt hatte. Die Phasen, in denen er eingesperrt wurde, waren immer länger geworden, aber in einem Winkel seines Herzens hoffte er noch immer, dass die Frau dort oben, zu der er nicht »Mutter« sagen durfte, sondern die er »die Frau« nennen musste, ihn eines Tages aus dem Gefängnis herauslassen würde.

Er nahm eins der Bücher zur Hand, dessen Bilder er seit langem auswendig kannte. Die Bücherkiste, die von einem früheren Besitzer hier vergessen worden war, war ein Schatz für ihn. Eine ganze Kiste voller Schul- und Kinderbücher, ein Nachschlagewerk von A bis P, das in Leder eingebunden war. Einige Seiten waren von der feuchten Kellerluft fleckig geworden, waren aber immer noch gut lesbar. Er strich mit der Hand über Olle, der durch den Wald lief und Blaubeeren pflückte. Blätterte um und sah, wie der Junge nach Hause kam. Seine Mutter umarmte ihn. Lange betrachtete er dieses Bild. Das Lächeln der Mutter und Olles rote Wangen. Langsam klappte er das Buch zu und legte es beiseite. Draußen hatte es zu dämmern begonnen. Er rollte sich auf der dünnen Matratze des Feldbetts zusammen und zog die Decke über seinen mageren Körper.

Der Platz wurde Opferhain genannt und lag hoch oben auf der Insel, genau zwischen der Festung und dem Lotsenausguck. Der Opferstein war ein fast quadratischer grauer Stein, bedeckt von blassgrünen Flechten. Einen guten Meter breit und fast ebenso hoch. Er befand sich direkt neben dem Weg, der auf der südlichen Seite zum Wasser hinunterführte. Abgesehen von der eigentümlichen Kerbe, die wie ein flacher, V-förmiger Graben über die Oberseite verlief, war der Stein eigentlich recht unansehnlich.

Kniend lehnte die Frau an dem Stein. Seine gesamte Oberseite war voller Blut, und über die Kerbe war das Blut an beiden Seiten den Stein hinunter und auf die Erde geflossen. Die blassgrünen Flechten bildeten kleine Inseln in all dem Rot.

»Ausgerechnet so zu sterben …« Karin brachte den Satz nicht zu Ende.

»Die Kleidung«, sagte Robban. »Sie ist offensichtlich für einen bestimmten Anlass gekleidet. Als bestünde ein Zusammenhang zwischen der Todesart und ihrem Aufzug.«

Karin musterte das lange Kleid und die Weste darüber.

»Wir müssen auf der Festung fragen, wie deren Guides herumlaufen. Vielleicht ist die Frau eine von ihnen.« Sie betrachtete das Kleid genauer. »Das ist Leinen, würde ich tippen, aber das Gewand muss eine Spezialanfertigung sein.«

Karin und Robban sahen sich um. Die Stelle war erstaunlich gut hinter grünem Laubwerk versteckt. Selbst von dem größeren Fußweg zwischen Festung und Lotsenausguck war die Frauenleiche nicht zu sehen. Robban zückte seine Digitalkamera.

»Jerker wird durchdrehen«, sagte Karin. Robban nickte. »Wir müssen hier und an der Stelle, wo der Kopf gefunden wurde, schnell alles absperren lassen.« Normalerweise näherten sie sich einem Tatort vor dem Eintreffen der Techniker äußerst vorsichtig, aber in diesem Fall war bereits eine ganze Schulklasse hier herumgetrampelt.

Zehn Minuten später kamen der Polizeifotograf und die Kriminaltechniker, drei Mann mit Jerker an der Spitze.

»Ich dachte, du hättest Urlaub«, sagte er, als er Karin erblickte.

»Das dachte ich auch«, erwiderte sie und deutete mit dem Daumen auf Robban.

Ächzend strich sich Jerker durch das rote Haar. Nicht genug damit, dass die Schulklasse das Gelände verwüstet hatte, sondern die Gerätschaften mussten auch noch per Hand angeschleppt werden, weil man nicht mit dem Auto an den Fundort herankam.

»Wir haben noch eine Adresse hier draußen bekommen.« Jerker blätterte in seinem Notizbuch.

»Stimmt«, sagte Robban, bevor Jerker das Gesuchte gefunden hatte. »Der Kopf der Frau ist in einem Garten gefunden worden. Karin und ich gehen jetzt dorthin. Ihr könnt ja nachkommen, wenn ihr hier fertig seid.«

»Wir sind dabei …«, begann Jerker, wie um zu erklären, dass das, was er und seine Kollegen hier zu tun hatten, eine Weile dauern würde.

»Präzisionsarbeit«, fiel Karin ihm ins Wort. Sie kannte seine Bemerkungen inzwischen auswendig. »Wir wissen es, Jerker. Robban und ich schießen ja nur so ins Blaue, aus der Hüfte, und raten, wer der Täter sein könnte. Und manchmal liegen wir zufällig richtig.« Sie lachte ihr herzhaftestes Lachen.

»Du …«, setzte Jerker zu einer Drohung an, suchte jedoch vergeblich nach einer bissigen Antwort.

»Nein, nein. Stürz dich nicht in ein verbales Match, das du nur verlieren kannst. Drück lieber auf die Knöpfe und dreh an deinen Rädchen.«

»Klingt, als hättest du schöne Ferien gehabt«, erwiderte Jerker schließlich und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Der Lotsenausguck«, sagte Karin zu Robban, als sie den Pfad zurück zur Festung und zu Tor 23 gingen, wo die Schulklasse und die Lehrer saßen und warteten. »Wir müssen nachsehen, ob der Lotsenausguck besetzt ist. Von dort hat man doch eine gute Aussicht. Man kann garantiert jeden sehen, der auf diesem Weg kommt und geht.«

»Die Sache wird sich in Windeseile verbreiten.« Robban deutete mit einer diskreten Kopfbewegung auf die Schüler, die auf dem Boden hockten und sich gegenseitig ihre Handydisplays hinhielten. »Mittlerweile hat jedes Kind eine Kamerafunktion in seinem Telefon, und es besteht die Gefahr, dass sie die Leiche fotografiert haben. Außerdem haben sie bestimmt längst Mama, Papa und ihre besten Freunde angerufen und ihnen alles brühwarm erzählt. Und wenn sie dazu gekommen sind, zu Hause anzurufen, haben sie wahrscheinlich auch schon die Bilder verschickt.«

Karin nahm an, dass er recht hatte. Sie beratschlagten kurz, welche Taktik sie anwenden sollten, und gingen dann mit entschiedenen Schritten und ernsten Mienen auf das Rudel Jugendlicher zu. Nicht weniger als siebenundzwanzig Schüler saßen im Gras auf dem Festungswall, einige von ihnen telefonierten. Als Karin und Robban sich vorstellten, standen eine dunkelhaarige Frau mit Kurzhaarschnitt und ein großer Mann mit dünnem Haar auf.

»Rebecka Ljungdahl, ich bin … wir sind«, sie deutete auf ihren Kollegen, »die Klassenlehrer der 9a.«

Breitbeinig und mit finsterer Miene baute Robban sich vor den Schülern auf, woraufhin das Gemurmel verstummte. Er sagte seinen Namen und erklärte, dass an diesem Ort ein Verbrechen stattgefunden habe und die Kriminalpolizei nun herausfinden werde, was passiert sei. Er verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust und fragte, ob jemand die Leiche fotografiert habe. Keiner der Jugendlichen antwortete. Einige Jungs sahen sich an. Robban ging mit großen Schritten auf sie zu und ließ sich ihre Handys zeigen.

»Guck mal, Karin«, sagte er ein Stück abseits. Auf allen drei Handys, die er zufällig beschlagnahmt hatte, waren Bilder vom Tatort gespeichert. Zudem hatte einer der Jungs bereits eine MMS abgeschickt.

»Leider können wir im Moment nicht viel mehr tun, als den Jugendlichen eine deutliche Ansage zu machen«, sagte Karin zu Robban. »Wir müssen die Handys an uns nehmen und alle Fotos löschen.«

Sie brauchten vierzig Minuten, um alle Mobiltelefone durchzugehen und sich die Namen der Schüler zu notieren, die noch Bilder gespeichert hatten.

»Laut Zeugen soll sich der Kopf auf einem Gestell aus Stahl befinden«, teilte Robban mit, als sie die Festung verließen und zwischen den Holzhäusern hindurch zum Hafen hinuntergingen.

»Steckt er da sichtbar?«, fragte Karin, während sie von dem blauen Straßenschild aus Emaille ablas, dass sie nun in die Hospitalsgatan bogen.

»Keine Ahnung, aber es klang so. Der Übeltäter wollte ihn offenbar nicht verstecken, aber wir werden es ja gleich sehen.«

»Übeltäter?«, gab Karin zurück. »Das sagst du sonst nie. Du hast zu viel Zeit mit Folke verbracht.«

»In dem Punkt sind wir uns einig«, antwortete Robban. Er räusperte sich und ahmte Folkes Stimme nach: »Was bedeutet dieses ›im Grunde‹, das du so oft verwendest, eigentlich genau?«

Die Hospitalsgatan war schmal und steil. Auf halbem Weg kamen sie an der weißgestrichenen Schule von Marstrandsön vorbei.

»Wie eine bessere schwarze Piste«, äußerte Karin mit Bezug auf die Neigung, »im Grunde.« Robban musste lachen. Nach weiteren fünfundsiebzig Metern blieb er plötzlich vor dem weißen Holzhaus stehen, das in direkter Nachbarschaft der Kirche an der Kreuzung von Hospitalsgatan und Kyrkogatan stand.

»Was in …?« Hochkonzentriert fixierte Robban einen Gegenstand auf der linken Seite. Als Karin den Blick hob und über die makellos lackierten weißen Zaunlatten blickte, entdeckte sie ein zierliches Gestell, an dem Duftwicken und Rosen hinaufkletterten. Der Umstand, der Robban aufseufzen und Karin den Kopf schütteln ließ, war der, dass irgendjemand ganz oben eine Papiertüte vom Fischgeschäft Feskarbröderna aufgesteckt hatte.

»Möchtest du Jerker mitteilen, dass irgendjemand die Güte hatte, den Kopf vor den Blicken der Allgemeinheit zu schützen, oder soll ich es tun?«, fragte Karin.

»Die Adresse stimmt.« Robban zeigte auf das Keramikschild neben dem Briefkasten. »Wilson« stand darauf.

Noch bevor sie angeklopft hatten, ging die Tür auf. Wahrscheinlich hatte die alte Dame hinter dem Vorhang gestanden und die beiden kommen sehen.

»Jaaa?«, fragte die Frau und blickte von Karin zu Robban. »Seid ihr von der Polizei Kungälv?«

»Polizei Göteborg«, erwiderte Robban. »Die Polizei Kungälv hat uns gebeten, die Angelegenheit zu übernehmen.«

»Aha«, antwortete die Frau skeptisch.

Obwohl es Frau Wilson gewesen war, die am Morgen in ihrem Garten die makabere Entdeckung gemacht hatte, wurden sie von der Nachbarin, Hedvig Strandberg, hereingebeten. Sie war auch so umsichtig gewesen, die Papiertüte über den Kopf zu ziehen.

»So ging das ja nun wirklich nicht«, sagte sie, während sie sich mit kritischem Blick vergewisserte, dass die beiden Besucher Schuhe und Jacken auszogen, bevor sie voran ins Wohnzimmer ging. Frau Wilson saß auf dem Sofa. Im Gegensatz zu ihrer Freundin war sie dünn und zart. In gewisser Weise erinnerten die beiden Frauen an Dick und Doof, waren allerdings bei weitem nicht so komisch.

Das Haus hatte niedrige Decken mit freiliegenden lackierten Balken. Im Flur hing ein verzierter goldener Spiegel, der alt und schwer aussah. Das Glas hatte ein spinnenwebartiges Muster. Die Wände im Wohnzimmer waren voller Bilder und eingerahmter Urkunden mit altmodischer Handschrift und roten Siegeln, und in einer Ecke des Raums stand ein brauner Kachelofen mit einem grünen Fleckenmuster.

»Ja …«, begann Hedvig Strandberg. »Ich bin hier draußen auf der Insel geboren, aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Ich kann mich noch an ein Frühjahr erinnern – oder war es Herbst? –, als …« Karin und Robban tauschten Blicke. Unter Aufbietung gewisser Überredungskünste lotste Robban die Nachbarin in die Küche, so dass Karin mit Frau Wilson unter vier Augen sprechen konnte.

»Eine Frechheit ist das«, sagte Frau Wilson schließlich. »Meinen Garten so zu verschandeln. Ein Glück, dass mein Mann das nicht erleben musste.«

Doch, dachte Karin, so kann man das auch sehen.

»Hast du eine Ahnung, wer das getan haben könnte?«, fragte Karin so vorsichtig wie möglich. Frau Wilson atmete hörbar ein, um die Frage zu beantworten, und genau in diesem Moment steckte die Nachbarin, die Karins Ansicht nach Fledermausohren haben musste, den Kopf herein und schnaubte:

»Nein, wirklich nicht!« Hedvig Strandberg warf Karin über den Rand ihrer Hornbrille hinweg einen scharfen Blick zu. »Willst du etwa andeuten, wir wüssten womöglich, wer das …, es handelt sich ja nicht gerade um einen Lausbubenstreich.«

»Natürlich nicht, aber wir müssen diese Frage stellen«, erklärte Robban, der der aufgebrachten Frau gefolgt war, und hob beschwichtigend die Hände.

»Wann bist du gestern ins Bett gegangen?«, fragte Karin Frau Wilson.

»Viertel nach zehn«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

»Na ja, als du das Licht ausgemacht hast, war es schon zwanzig nach«, fügte Hedvig Strandberg hinzu, die sich genau gegenüber von Frau Wilson in einem Sessel niedergelassen hatte. Sie machte keine Anstalten, sich wieder in die Küche zu begeben, so dass Robban sich resigniert auf einen dreibeinigen Hocker setzte, den er in einer Zimmerecke gefunden hatte.

»Wenn du meinst«, sagte Frau Wilson in erstaunlich strengem Ton zu ihrer Nachbarin. »Dann eben zwanzig nach, das mag sein. Ich habe den Wecker aufgezogen.«

»Hast du in der Nacht besondere Geräusche gehört?«, fragte Karin.

»Diese Menschen«, murmelte sie nachdenklich.

»Welche Menschen?«

»Sie waren verkleidet. Wie in alten Filmen.«

»Kannst du sie beschreiben? Wann hast du sie gesehen, und wie viele waren es?«

»Gegen sieben Uhr abends«, erwiderte Frau Wilson. »Sie gingen durch die Kyrkogatan, ziemlich viele … fünfzehn vielleicht. Ich glaube, sie waren mit der Fähre gekommen. Sie hatten viel Gepäck und andere Dinge zu schleppen. Eine alte Karre mit Holzrädern. Sie sahen aus, als kämen sie aus einer verschwundenen Zeit. Ich meine, Karren mit Holzrädern sieht man heutzutage ja nicht mehr. Ich dachte, sie würden einen Film drehen.« Frau Wilson blickte ihre Freundin an.

»Dreharbeiten?«, sagte Hedvig Strandberg. »Nein, davon habe ich nichts gehört. Allerdings hat in der Apotheke jemand was von … Wie heißt das noch mal?« Sie durchpflügte ihr Gedächtnis. »Larv«, sagte sie schließlich. »Ich meine, so hieß das.«

»Larv?« Robban machte ein fragendes Gesicht. »Vielleicht meinst du Larp, das ist eine Art Rollenspiel, glaube ich.« Karin zuckte die Achseln, um anzudeuten, dass sie das auch später herausfinden konnten.

»Sie halten sich im Sankt-Eriks-Park auf. Eigentlich wollten sie ja die Festung mieten, aber das durften sie nicht. Die Kommune scheint ansonsten gar nichts mehr abzulehnen, ihr müsst euch bloß mal diese schrecklichen Neubauten hier überall ansehen. Und trotzdem wird ständig behauptet, wir Einwohner von Marstrand seien schwierig.«

»Liegt der Sankt-Eriks-Park auf der Insel?«, fragte Robban. Karin konnte sich auch nicht an einen Park dieses Namens erinnern.

»Eigentlich ist es wohl gar kein Park«, sagte Frau Wilson. »Ich meine einen Park … Was ich als Park bezeichne, ist ja ein garden … Wie heißt das noch mal im Schwedischen …«

In belehrendem Ton und mit einem gelben Bleistift als Zeigestock in der Hand meldete sich Frau Wilsons Nachbarin zu Wort.

»Gustaf Edvard Widell, ein alter, an Gartenbau interessierter Rektor, ließ auf Marstrandsön und Koön zahlreiche Bäume pflanzen. Bohuslän hatte ja einst zu Dänemark gehört und musste den Leuchtturm von Skagen, der damals nur ein großes Feuer war, mit Brennholz versorgen. Das ist einer der Gründe, warum Bohuslän so kahl ist. Dass man mit Feuerholz anheizte, wenn man während des Heringsfangs Tran kochte, ist auch ein Grund. Damit machte man den bohuslänschen Wäldern endgültig den Garaus, wie der Historiker Holmberg im neunzehnten Jahrhundert sagte. Am Ende wurde es verboten, beim Trankochen Holz zu verwenden, man sollte stattdessen Torf nehmen. Es hat tatsächlich Wald gegeben, in Mooren und anderen Stellen hat man alte Baumstümpfe gefunden.«

Sie machte eine Kunstpause. »Nach dem Tod von Rektor Widell im Jahre 1882 wurde in Erinnerung an ihn der Sankt-Erik-Verein gegründet, der die Pflanzungen auf Marstrandsön pflegen sollte. Dieser Verein hat auch den Rundweg um die Insel angelegt, den ihr vielleicht schon gegangen seid?« Da weder Karin noch Robban antworteten, ließ sie die Frage im Raum stehen und fuhr fort. »Der Sankt-Eriks-Park liegt in der Talsenke, die man erreicht, wenn man auf Norden wandert.«

»Auf Norden?«, fragte Robban.

»In nördlicher Richtung, beim Societetshuset und dem Båtellet. Die Nordseite von Marstrandsön«, flocht Frau Wilson hastig ein.

Karin und Robban stellten noch einige Fragen, bedankten sich dann für die Mithilfe und kündigten an, dass ein Team von Kriminaltechnikern auftauchen würde, um zunächst den Garten zu untersuchen und schließlich den Kopf zu entfernen. Frau Wilson hatte ein entsetztes Gesicht gemacht, als Robban ihr erklärte, dass sie nicht in den Garten gehen durfte, bevor die kriminaltechnische Untersuchung abgeschlossen war, und Hedvig Strandberg hatte empört geäußert, das sei ja »ein starkes Stück«.

Als Karin und Robban gingen, standen die beiden Damen deutlich sichtbar am Fenster im Erdgeschoss und blickten ihnen hinterher.

»Wir hätten ihnen vielleicht von … du weißt schon … erzählen sollen …«, begann Hedvig Strandberg, die immer noch den Bleistift in der Hand hielt.

Frau Wilson drehte sich blitzschnell um und fixierte sie mit ihren grauen Augen.

»Wovon redest du, Hedvig?« Ohne die Antwort abzuwarten, machte Frau Wilson auf dem Absatz kehrt und ging in die Küche.

Hedvig verlagerte sorgenvoll das Gewicht von einem Bein aufs andere.

»Nun … von …« Frau Wilson unterbrach ihr Gemurmel mit einer Stimme, die ihr wie eine scharfe Gartenschere das Wort abschnitt.

»Ich habe diese alte Geschichte so satt, meine Liebe, und außerdem kann sie ja unmöglich etwas mit dieser Sache zu tun haben.«

2

Åkerström, Trollhättan, Herbst 1958

Was hatte sich das Mädchen bloß dabei gedacht? Nicht genug damit, dass ihr Tunichtgut von Mann wegen Diebstahls im Gefängnis gelandet war, eines Tages hatte sie auch noch einen Bastard im Bauch. Natürlich hatte sie nichts gesagt, aber Kerstin wusste trotzdem, dass es so war. Der Junge hatte schließlich mit keinem von den anderen die geringste Ähnlichkeit und musste zustande gekommen sein, nachdem Örjan von der Polizei abgeholt worden war. Das hatte Kerstin genau ausgerechnet. Sie schüttelte den Kopf. Was würden die Leute dazu sagen?

Die Mädchen spielten im Hof, und Hjördis saß auf einem Hocker und schälte Kartoffeln. Ihr Kopf war nach vorn gebeugt, und die Haare verbargen teilweise ihr Gesicht. Sie sieht unzufrieden aus, dachte die Mutter, die das erste Kleidungsstück schüttelte und dann auf die Wäscheleine hängte. Es war wahrlich kein Zuckerschlecken gewesen, als sie noch zu Hause wohnte, und somit eine Erleichterung, als sie heiratete und auszog. Die Nachbarn wunderten sich, dass sie einen so erfolgreichen Mann ergattert hatte. Einen Handelsvertreter. Hoffentlich würden sie nie erfahren, dass er ins Gefängnis gekommen war, weil er gestohlen hatte, und dass Hjördis deshalb wieder zu Hause wohnen musste. Witwe hörte sich besser an. Das war zwar keine gute Lösung, aber es gab keine bessere. Essen und Kleidung für drei Kinder. Sie hängte eine kleine graue Hose auf. Vier, wenn man den Unechten mitrechnete.

»Guck mal, Oma!«, rief das jüngste Mädchen. Kerstin nickte nur. Sie wendete den Blick von der Kleinen ab und ließ ihn zu dem schmutzigen Kellerfenster schweifen. Ein kleiner Junge aß wenig und war leicht zu verstecken. Ein größerer Junge brauchte mehr zu essen und noch mehr Platz. Früher oder später würde er die Kellertür selbst aufbekommen, und dann mochte Gott ihnen gnädig sein.

Kerstin hielt mit der Wäsche in der Hand inne. Es gab auch noch eine andere Möglichkeit. Man könnte ihn nach Norwegen auf diesen Hof schicken, wo Hjördis einige Sommer bei der Heuernte geholfen hatte. Das abgelegene Gut lag mitten in Telemark. Ferkel hatten die da auf dem flachen Land genug, aber eigene Kinder hatten der Bauer und seine Frau nie bekommen. Und kostenlose Arbeitskraft in Form von zwei zusätzlichen Händen, die mit anpackten, war immer willkommen. Diese Lösung würde allen zugutekommen.

Karin drehte sich um und betrachtete das Haus, das sie soeben verlassen hatten. Es war weiß und lag ganz dicht an der schmalen Straße, so dicht sogar, dass sich die Steinstufen zur Haustür eher auf der Straße als daneben befanden. Die zierlichen Sprossenfenster waren genauso alt wie die Kristallkaraffen mit den silbernen Henkeln, die auf der Fensterbank aufgereiht waren.

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