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Die Tote aus dem Moor.
Nichtsahnende Spaziergänger entdecken im Moor von Klöverö eine weibliche Leiche mit einem toten Säugling im Arm. Kommissarin Karin Adler wird hinzugerufen. Für die Gerichtsmedizin ist die Sache klar: Die Moorleichen liegen schon eine halbe Ewigkeit dort. Die Akte wird daraufhin geschlossen. Doch einige Tage später wirft ein weiterer Todesfall neue Fragen auf: Eine Frau auf einem nahe gelegenen Gutshof wird tot aufgefunden. Nur ein Zufall? Oder haben die beiden Toten eine gemeinsame Geschichte? Der Fall lässt Kommissarin Adler nicht mehr los, denn sie vermutet mehr dahinter. Bei ihren Ermittlungen stößt sie bald auf ein tief bewegendes Frauenschicksal – die Spur führt zurück bis ins 18. Jahrhundert, in eine Zeit der Seeräuber, Schmuggler und Mörder im Freihafen von Marstrand ...
»Ann Rosman lässt mit Karin Adler eine schwedische Ermittlerin die Bühne betreten, die so süchtig macht wie der berühmte Wallander.« Cosmopolitan.
»Ein gut gebauter Krimi von der schwedischen Westküste: Spannung, Mord und ungelöste Geheimnisse aus längst vergangenen Zeiten. Lesen und genießen!« ALLAS VECKOTIDNING.
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Seitenzahl: 483
Ann Rosman
DIE WÄCHTER VON MARSTRAND
KRIMINALROMAN
- Leseprobe -
Aus dem Schwedischen von Katrin Frey
Die Originalausgabe mit dem Titel
Porto Francos väktare
erschien 2011 bei Damm Förlag, Malmö.
ISBN 978-3-8412-0570-4
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Februar 2013
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die deutsche Erstausgabe erschien 2013 bei Rütten & Loening,
einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
© 2011 Ann Rosman
First published by Damm Förlag, Sweden
Published by arrangement with Nordin Agency, Sweden
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Inhaltsübersicht
1
Gut Näverkärr Anno 1793
2
Trankocherei Karlsvik, Härnäs
3
Agne Sundberg kommt in der Handelsstadt Marstrand an
KLEINE DIEBE HÄNGT MAN,VOR GROSSEN ZIEHT MAN DEN HUT.
Astrid Edman manövrierte ihr Pater-Noster-Motorboot rückwärts an den Anlegesteg in der Bremsegårdsvik und ließ die Enthusiasten von der Botanischen Vereinigung Göteborg auf Klöverö an Land. Zuletzt kam Sara von Langer, die kein Mitglied des Vereins war, sondern den Heimatverein von Marstrand vertrat.
»Danke, Astrid. Begleitest du uns?«, fragte Sara.
»Nein, meine Liebe. Ich habe zu tun.« Sie vertäute mit ihren groben Händen das Boot, während ihr Blick auf Sara ruhte.
»Wie schade.« Sara stieg auf den Anleger.
Astrid Edman, auf Klöverö geboren und aufgewachsen, kannte die Insel besser als jeder andere. Auch im Schärengarten fand sie sich nahezu blind zurecht, da sie bis zu ihrem siebzigsten Geburtstag vor drei Jahren Taxiboot gefahren war.
»Ich kann den Wichtigtuer nicht leiden«, sagte Astrid, ohne die Stimme zu senken. Sie deutete mit dem Kinn auf den Vereinsvorsitzenden mit der schwarzen Baskenmütze, der das Schild mit der Wanderkarte studierte.
Sara hatte von der Wanderung im vergangenen Jahr gehört, an der Astrid teilgenommen und so lange von der Insel erzählt hatte, bis der Mann sich einmischte. Als er die Insel beharrlich Klauverö nannte, anstatt wie die Einheimischen den Namen Klöverö zu verwenden, lief die Diskussion vollends aus dem Ruder. Astrid wendete sich kurzerhand ab und zog sich in ihr Häuschen nach Lilla Bärkulle zurück. Da die Insel über keine Fährverbindung verfügte, hatte sich die Gruppe nach einem anderen Kapitän umsehen müssen, der sie zurück nach Koö brachte, wo bereits der Bus nach Göteborg wartete.
Unter der heißen Julisonne setzte das Grüppchen nun seine Wanderung durch die Talsenken von Klöverö fort. Sara nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und stellte fest, dass sie unter den in die Jahre gekommenen Mitgliedern des Marstrander Heimatvereins die einzige war, die einer Wanderung über die hügelige Insel gewachsen gewesen wäre. Der Mann mit der Baskenmütze von der Westküstenstiftung machte erneut Halt, bückte sich und grub in der von Muscheln durchsetzten Erde, bis er das Gesuchte offenbar gefunden hatte. Er hielt den Gegenstand in die Höhe.
»Ein bearbeiteter Feuerstein. Klöverö ist seit der Altsteinzeit besiedelt. Es sind mehrere Siedlungsplätze ausgegraben worden. Offenbar waren die ersten Siedler Experten für Feuersteine und haben daraus Werkzeuge hergestellt, die als Tauschware benutzt wurden. Wahrscheinlich dank der reichen Vorkommen in dieser Gegend gibt es auf der Insel alte Feuersteinwerkstätten.«
Die Dame neben Sara machte sich fleißig Notizen. Die weißen Kniestrümpfe, die sie zu derben Wanderstiefeln trug, waren mit Edelweiß bestickt. Ab und zu zog sie einen abgegriffenen Wälzer aus dem Rucksack und schlug etwas nach. Es handelte sich um eine eingespielte Truppe, die sich geschickt wie eine Herde Bergziegen durch den Laubwald auf den hohen Lindenberg gekämpft hatte und sich nun auf der Südseite der Insel befand. Sie waren bereits vor zwei Stunden angekommen, und Sara freute sich auf die baldige Kaffeepause und ein kühles Bad.
Die Frau hörte auf zu schreiben und blickte hoch.
»Ist die Insel heute noch bewohnt?«
Der Mann mit der Baskenmütze drehte sich zu Sara um.
»Das müsstest du am besten wissen, Sara. Du wohnst schließlich in Marstrand.«
»Auf Klöverö stehen gut fünfzig Häuser, und im Sommer ist hier einiges los. Acht Häuser sind das ganze Jahr über bewohnt, unter anderem von einem Paar, das seine kleine Tochter jeden Tag mit dem Boot in die Vorschule bringt. Einige von den alten Höfen, die heute als Wochenendhäuser dienen, gehören Einwohnern aus Marstrand, deren Vorfahren früher auf Klöverö gewohnt haben.«
»Und welcher der Höfe auf der Insel ist am ältesten?«
»Klöverö Nordgård, den die meisten hier inzwischen Pfarrhof nennen. Er soll zum Marstrander Franziskanerkloster gehört haben, wir sprechen also vom Mittelalter. Später diente der Hof als Witwensitz des Pastorats. Er gilt als das älteste Gebäude. Daneben gibt es noch den Bremsegård, das ist das gelbe Gutshaus, an dem wir gleich zu Beginn vorbeigekommen sind. Man strich die reichsten und größten Gutshöfe gelb an, um ihre Stellung zu betonen. Ich glaube, dieser stammt aus den Neunzigerjahren des sechzehnten Jahrhunderts und wurde von Peder Brems gebaut, der damals Bürgermeister in Marstrand war. Das heutige Gebäude ist allerdings jünger.«
»Danke, Sara. Dann schlage ich vor, dass wir uns zur Korsvike Landzunge begeben. Da wir das Alte Moor überqueren, das mitunter äußerst trügerisch ist, bleibt ihr bitte hinter mir.«
Der Mann schritt vorsichtig voran. Hin und wieder blieb er stehen und steckte seinen Wanderstock in den sumpfigen Untergrund. Auch wenn Sara keine Markierungen entdecken konnte, die signalisiert hätten, dass sie sich auf einem Weg befanden, schien er einer bestimmten Route zu folgen. Hier und dort wuchsen Teichbinsen, an denen sich ablesen ließ, dass reichlich Wasser vorhanden war.
Sara trat hinter der Frau mit den Edelweißstrümpfen auf die Grasbüschel. Teilweise war das Gras grün und üppig, an anderen Stellen wirkte es gelblich und wie abgestorben. Nicht weit von ihnen entfernt war eine Gruppe von Menschen zu erkennen. Sara zählte zwölf Personen.
Der Mann mit der Baskenmütze begrüßte die Frau, die offensichtlich die Truppe anführte. Er räusperte sich.
»Hier habe ich noch eine kleine Überraschung für euch. Darf ich euch eine gute Freundin von mir vorstellen? Sie ist promovierte Biologin am Institut für Umweltwissenschaften an der Uni Göteborg. Sie und ihre Studenten sind gerade dabei, das Moos zu untersuchen. Magst du uns kurz erläutern, was ihr hier macht?«
»Natürlich. Zunächt müsst ihr wissen, dass Torf eigentlich aus totem Torfmoos besteht, auf Lateinisch Sphagnum, das ist eine andere Pflanze als die, in die man die Adventskerzen steckt. Ein Moor ist schließlich einmal ein See gewesen, der allmählich ausgetrocknet ist. Die Studenten hier besuchen ein Aufbauseminar in Pflanzenökologie. Mit Hilfe eines weißrussischen Stechbohrers haben wir eine Bodenprobe genommen, die wir nun analysieren wollen.«
Die Frau hielt ein Werkzeug in die Höhe, das die Form des Buchstaben T hatte. Der Mann mit der Baskenmütze sah ihr bewundernd zu, als sie behutsam den Bohrkern entfernte und fortfuhr.
»Wir drücken das Gerät von Hand in den Untergrund und erhalten so einen anderthalb Meter langen und viereinhalb Zentimeter dicken Bohrkern.«
Sara betrachtete die schlangenförmige Bodenprobe, die vor ihnen auf dem Klapptisch lag. Die Frau erzählte weiter.
»Da das Moor unheimlich langsam wächst, wissen wir, dass Pflanzenpollen in einem Meter Tiefe dort vor etwa tausend Jahren gelandet sind, als der Torf an dieser Stelle noch das frische Torfmoos an der Oberfläche darstellte. Mitunter entdecken wir auch andere interessante Pflanzenpartikel, die eine Untersuchung lohnen.«
»Die Kombination aus Moorboden und Muschelschalen bietet zweifelsohne besondere Voraussetzungen für die hiesige Pflanzen- und Tierwelt«, meldete sich der Mann mit der Baskenmütze zu Wort und machte ein Gesicht, als erhoffte er sich von der Frau ein Lob. Er winkte die anderen näher heran.
»Kommt an den Tisch, damit ihr alles ganz genau seht.«
»Hier haben wir einen Gegenstand.« Die Frau stocherte mit dem Messer. »Mal sehen, was das ist. Oh, mein Gott!« Sie schlug sich die Hand vor den Mund und riss die Augen auf. Als Sara den Blick auf die Platte richtete, verstand sie auch, warum. Vor ihnen lag ein Teil eines menschlichen Ohrs.
Im Alten Moor lag eine Leiche.
»Wein, Fräulein Agnes?« Das Dienstmädchen hielt eine Kristallkaraffe in der Hand.
Der Vater gab mit einem diskreten Nicken seine Zustimmung. Er hatte sich für den teuren französischen Wein entschieden, der zuletzt bei Mutters Beerdigung serviert worden war.
»Ja, gerne.«
Der Vater hob sein Glas und trank auf das Wohl der Gäste. Agnes nahm auch einen vorsichtigen Schluck und strich mit der Hand über den zarten hellblauen Stoff ihres Kleides. Es war bereits vor einer Woche fertig geworden, aber die Schneiderin hatte es am Abend vor dem Festmahl erneut enger näher müssen. Die ohnehin schmal gebaute Agnes war so unruhig, dass sie noch einmal zwei Kilo abgenommen hatte. Doch welches junge Mädchen war vor der eigenen Verlobungsfeier nicht nervös?
Der Tisch war reich gedeckt. Das Küchenpersonal hatte sein Bestes gegeben, und es war nicht zu übersehen, dass Vater mit besonderen Speisen beeindrucken wollte. Mit Pfifferlingen gefüllter Zander aus dem Ofen, französische Pastete, glasierter Schinken mit eingelegten Kirschen, Lammfrikassee mit Austern, gebratene Erdbirnen mit Petersilie. Die Saucen glänzten samtig, und mehrere Teller waren mit roten Krebsen dekoriert. Essen im Überfluss. Unter normalen Umständen hätte sie es sich schmecken lassen.
Sie fühlte sich schön. Ihre Haare hatte sie mit Mutters Perlmuttkämmen hochgesteckt, und Vater hatte die Halskette seiner verstorbenen Frau geholt und sie seiner Tochter schweigend um den Hals gelegt.
Agnes warf einen verstohlenen Blick über den Tisch zu ihrem Zukünftigen. Bryngel Strömstierna. Er trug einen gut sitzenden schwarzen Frack und sah mit seiner aufrechten Haltung sehr stattlich aus. Seit der Begrüßung hatte er noch kein Wort zu ihr gesagt. Er wirkte abwesend. Sie stellte sich so viele Fragen – wer war zum Beispiel der Ansicht gewesen, sie beide könnten ein gutes Paar abgeben? Hatte Bryngel etwas dazu zu sagen gehabt, oder war die Sache auch über seinen Kopf hinweg entschieden worden? War er mit der Wahl zufrieden? Sie hatte nie über ein sonderlich weibliches Aussehen verfügt. Ihre klaren Züge waren erstaunlich androgyn geblieben, obwohl sie die Pubertät hinter sich gelassen hatte und nun erwachsen war. Sie war es von Kindesbeinen an gewohnt, auf Bäume zu klettern, über Hügel zu rennen und über die Äcker zu reiten. Sie schwamm in der Bucht und ruderte oder segelte gemeinsam mit ihrem Bruder Nils. Im Laufe der Jahre hatte sie jedoch einige der Aktivitäten durch andere ersetzen müssen. Auf Bäume zu klettern, schicke sich nicht für eine junge Dame, erklärte ihr Vater an dem Tag, als der Stallknecht das Pferd mit dem silberbeschlagenen Damensattel sattelte.
Nun saß sie jedenfalls da und überlegte, was Bryngel wohl dachte. Sie war zart und schlaksig wie ein Jüngling, und ihr winziger Busen war so gut es ging nach oben gepresst worden, damit er in dem Kleid zur Geltung kam. Agnes trank einen Schluck Wein und spürte, wie sich ihr Körper in dem eng geschnürten Korsett ein wenig entspannte. Die Farbe seiner Augen hatte sie noch nicht erkennen können, Wärme strahlten sie jedenfalls nicht aus. Der Mann zeigte kein Interesse. Weder an ihr, noch an allem, was um ihn herum vor sich ging.
Zo als en zwakke tulpensteel.
»Wie ein schlaffer Tulpenstiel«, hätte Großmutter gesagt, dachte Agnes und richtete ihren Blick stattdessen auf ihren zukünftigen Schwiegervater, der rotwangig mit seinem erhobenen Glas gestikulierte. Dann stellte er es neben den blau-weißen Fayenceteller und wandte sich an Agnes.
»Wie ich gehört habe, kümmert sich das Fräulein um einen Großteil der Buchführung für die Trankocherei.«
»Das ist richtig.«
»Mit solchen Dingen brauchen Sie Ihr süßes kleines Köpfchen nicht mehr zu belasten, wenn Sie die Ehefrau meines Sohnes sind. Buchhaltung ist etwas für Männer. Außerdem haben wir eine ausgezeichnete Haushälterin. Wenn Sie erst Bryngels Frau sind, werden sie keine schweren Arbeiten schultern müssen.«
»Aber ich …«
»Agnes!«, fiel Vater ihr hastig ins Wort. Agnes senkte den Blick und fixierte das Webmuster der Damasttischdecke. So war es also geplant. Sie würde ihre Stellung verlieren und nur noch Ehefrau sein, die tat, was man ihr sagte. Natürlich war es keine gute Idee, seinem zukünftigen Schwiegervater schon von Anfang an zu widersprechen.
Die mittlere Kerze im Silberleuchter war heruntergebrannt, Wachs tropfte schwer auf die Tischdecke. Als ob die Kerze Tränen vergießen würde. Das Dienstmädchen eilte herbei, um die Kerze zu löschen und durch eine neue auszutauschen.
Vater räusperte sich.
»Sie müssen ihr verzeihen, wir haben die Zügel vielleicht zu locker gelassen, aber die Großmutter des Mädchens bestand darauf, dass wir beiden Kindern gleichermaßen ermöglichten, Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Sie stammte aus Holland, und ich nehme an, dass man diese Dinge dort etwas anders sieht. Und Agnes ist wahrlich nicht auf den Kopf gefallen, sie spricht fließend Holländisch.«
»Bildung von Frauenzimmern ist Verschwendung«, sagte ihr Schwiegervater und leerte sein Glas in einem Zug.
»Der Platz einer Frau ist ihr Zuhause.« Vollkommen unerwartet hatte Bryngel den Mund geöffnet.
»Selbstverständlich. Und als Ihre Ehefrau wird sie Gut Vese alle Ehre machen.«
Lieve Oma. Großmutter, liebe gute Großmutter, dachte Agnes. Sie hatte immer ihren eigenen Kopf gehabt und war keineswegs eine Frau gewesen, die sich herumkommandieren ließ. Großmutter war in ihrem Heimatland Holland an Bord eines Schiffes gegangen und in Schweden gelandet, wo sie auf dem Gut Näverkärr nördlich von Lysekil den Rest ihres Lebens verbrachte. Sie hatte den Mut gehabt, zu sagen, dass Jungs es viel leichter hatten, weil man ihnen mehr Freiheiten ließ. Ihr großer Bruder Nils war auf die Landwirtschaftsschule geschickt worden, er sollte Hof und Trankocherei übernehmen.
Lief kind. Liebes Kind, hätte sie gesagt und Agnes über den Kopf gestrichen.
Het komt wel goed. Alles wird gut. Diesmal machte sich Agnes allerdings keine große Hoffnung, dass sich das Problem auf eine Weise lösen ließe, mit der sie zufrieden wäre. Und da Großmutter und Mutter nicht mehr am Leben waren, war sie auf sich allein gestellt.
Die Standuhr in der Diele schlug elf. Die Herren erhoben sich von der Tafel und nickten Agnes zu. Vergeblich versuchte sie, Bryngels Blick aufzufangen, bevor er die befrackten Männer ins Raucherzimmer begleitete. Mit schweren Schritten ging Agnes die Treppe zu ihrer Kammer hinauf.
Agnes stand im Raum und betrachtete die tänzelnden Flammen im grünen Kachelofen. Der Lichtschein erzeugte lange Schatten, die über die Tapete und die Kommode bis zu dem Himmelbett mit dem gemusterten Vorhang huschten. Seufzend wandte sie sich dem mattweißen Lehnstuhl daneben zu. Darauf hatte Großmutter immer gesessen und abends mit ihr geredet, bis es dunkel wurde. Am Ende hatte sie die Kerzen an der Wand angezündet. In deren Lichtschein sah ihr Gesicht wunderschön aus. Geliebte Großmutter. Die alte Frau hätte bestimmt Rat gewusst. Vielleicht hatte Vater recht, wenn er sagte, sie habe zu viel gelesen und zu viele Grillen im Kopf. Aber was war so falsch daran, einen eigenen Willen zu haben? Sie war Vater auf Näverkärr eine große Hilfe gewesen, das hatte er selbst gesagt. Da hatte Mutter allerdings noch gelebt, und alles war anders gewesen. Wie würde es morgen sein? Würde sie wie üblich zur Arbeit gehen, oder würde jetzt, wo sie Bryngel von Hof Vese versprochen worden war, jemand anders die Buchhaltung übernehmen? Würde Nils früher zurückkehren, hatten ihr Vater und ihr Bruder das vielleicht vereinbart, ohne ihr davon zu erzählen?
Agnes setzte sich an den Sekretär und zog die oberste Schublade heraus, in der sie ihr Tagebuch aufbewahrte. Sie überlegte eine Weile, bevor sie mit Feder und Tinte Buchstaben auf dem Papier formte.
Bryngel Strömstierna.
Agnes hatte geglaubt, dass sie etwas empfinden würde, dass es zum Zeichen ihrer Zusammengehörigkeit irgendein unsichtbares Band zwischen ihr und Bryngel geben würde. Wie albern. Das einzige, was er von sich gegeben hatte, war, dass der Platz einer Frau ihr Zuhause sei. Er würde niemals zulassen, dass seine Frau als Buchhalterin arbeitete. Viele Leute in der Gegend hielten ihn für eine gute Partie, zumindest tat das ganz offensichtlich ihr Vater. War er möglicherweise genauso nervös gewesen wie sie? Agnes schloss die Augen und versuchte, sich selbst Arm in Arm mit ihm vor sich zu sehen. Mutter und Vater waren immer liebevoll miteinander umgegangen, sogar Großmutter hatte von Vater einen Gutenachtkuss auf die Wange bekommen. Doch sich von Bryngel Strömstierna küssen zu lassen und ihm zu gestatten, dass er seine Finger über ihre Haut wandern ließ? Undenkbar.
An der Tür war ein zartes Klopfen zu hören.
»Ja?« Agnes streute Sand auf das Tagebuch und klappte es hastig zu, bevor sie sich umdrehte.
Das Hausmädchen öffnete die Tür und hielt die Tranlampe in die Höhe.
»Ich habe noch Licht unter der Tür gesehen und dachte, ihr hättet vielleicht vergessen, die Kerzen auszublasen.«
»Ich habe noch gelesen.« Sie stand auf.
»Braucht ihr etwas, Fräulein Agnes?«
Agnes schüttelte den Kopf, sie bekam keinen Ton heraus.
»Die Herren Strömstierna sind nun gegangen. Ich dachte, das Ihr das wissen wolltet. Euer Vater hat ihnen angeboten, über Nacht zu bleiben, aber sie haben sich trotz der späten Stunde zurück nach Vese begeben.«
Gott sei Dank waren sie nicht geblieben.
»Ach, liebe Josefina, was soll ich denn nur tun?«
»Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie alle sagen«, erwiderte das Hausmädchen und machte ein erschrockenes Gesicht.
»Was sagen denn alle?«
»Die Leute reden viel.«
Agnes durchbohrte sie mit ihrem Blick.
»Was sagen sie, Josefina? Ist er geisteskrank?« Sie hatte den schmächtigen Mann vor Augen, der so desinteressiert und leblos wirkte.
»Davon weiß ich nichts, aber man spricht über Bryngels verstorbene Frau.«
Josefina verstummte.
»Und? Raus damit!« Agnes’ Ton klang schärfer als beabsichtigt.
»Es wird behauptet, sie sei ins Wasser gegangen.«
Agnes konnte unmöglich einschlafen. Immer wieder ging sie den Abend durch. Hatte Bryngels erste Frau sich tatsächlich umgebracht? Sie brauchte Gewissheit. Eine der Mägde hatte früher auf Gut Vese gearbeitet, vielleicht wusste sie etwas über den Tod ihrer Herrin? Die Standuhr in der Diele schlug fünf Uhr. Draußen wurde es hell. Agnes grübelte noch eine Weile, erhob sich aus dem Bett und schlüpfte in ihr Leibchen und den Rock. Leise tappte sie die Treppe hinunter. Das Gras war taufeucht, und im Stall hörte sie die Kühe muhen, als sie den Hof überquerte. In Kombination mit der Wärme und den Gerüchen wirkte der Klang beruhigend auf sie.
Die Magd saß auf dem dreibeinigen Schemel und zog mit geübten Händen an den Zitzen. In dünnen Strahlen strömte die Milch in den Eimer.
Um ihr keinen Schreck einzujagen, hüstelte Agnes. Die Magd hielt mit dem Melken inne und blickte erstaunt auf. Besorgt betrachtete sie den unerwarteten Gast.
»Tut mir leid, ich bin ein bisschen spät dran …«
»Keine Angst.« Agnes holte tief Luft. »Du warst doch auf Gut Vese, bevor du bei uns angefangen hast, nicht wahr?«
»Ja, Fräulein.«
»Erzähl mir, wie es dort ist.«
»Es ist ein schöner Hof. Große Ländereien und viele Tiere.«
»Und die Herrschaft?«
Agnes hatte den Eindruck, dass sie zusammenzuckte, aber das konnte auch daran liegen, dass die Kuh sich ein Stück zur Seite bewegt und die Magd gezwungen hatte, ihr samt dem Hocker auszuweichen.
»Ich war Magd im Kuhstall und habe mich um die Tiere gekümmert. Die Dienstboten im Gutshaus kennen die Herrschaft besser.« Die Kuh schüttelte brüllend den Kopf.
»Melk ruhig weiter.« Agnes dachte nach. Die Magd war zu neu, um sie zu kennen. Außerdem gehörte Agnes zur Herrschaft auf dem neuen Hof. Das Mädchen würde es nicht wagen, etwas zu sagen. Sie musste es anders angehen.
»Bryngel Strömstierna und sein Vater waren gestern hier und haben um meine Hand angehalten. Ich möchte gern mehr über Gut Vese erfahren, bevor ich dort die Herrin werde.«
Die Magd sah sie erschrocken an. Diesmal bestand kein Zweifel. Sie hat Angst, dachte Agnes. Die Frage ist nur, warum? Entweder, weil ich einfach zu ihr komme und sie mit meinen Fragen in eine schwierige Situation bringe, oder weil sie befürchtet, dass das, was sie sagt, ihrem früheren Hausherrn zu Ohren kommt.
»Ich weiß nichts, aber ich fühle mich wohl hier und will nicht zurück nach Vese.« Ohne Agnes anzusehen, arbeitete die Magd weiter.
»Was ist mit Bryngels erster Frau passiert? Ist es wahr, dass sie ins Wasser gegangen ist?«
Zu ihrer Verwunderung begann die Magd zu weinen.
»Ich weiß nichts.«
Agnes hockte sich neben sie.
»Ich schwöre, dass ich niemandem davon erzählen werde, aber ich muss es wissen.« Agnes flehentlicher Ton schien nichts auszurichten. Vielleicht hatte sie keine Ahnung. Agnes wartete noch eine Weile und ging dann in Richtung Tür.
Die Magd stand vom Schemel auf und strich der Kuh langsam über den Rücken. Sie sprach leise und zögernd.
»Mein früherer Dienstherr war oft bei ihr.«
»Und?« Agnes drehte sich um.
»In ihrem Schlafzimmer.«
»Aber daran war doch nichts Unrechtes, Bryngel und sie waren schließlich verheiratet.«
»Der alte Hausherr, Bryngels Vater. Er war so oft bei der jungen Frau im Zimmer.«
Agnes blieb die Luft weg. Hastig verließ sie den Kuhstall.
Als die Polizei kam, war Sara noch immer blass im Gesicht. Sie fröstelte trotz der sommerlichen Hitze und konnte den Blick nicht vom Alten Moor abwenden. Irgendjemand hatte ihr einen Becher mit heißem Kaffee in die Hand gedrückt, aber als die Besatzung des Polizeiboots eintraf, war er längst kalt.
Sara spürte eine Hand auf ihrer Schulter.
»Was gibt es?«
Ein Polizist in Uniform setzte sich neben sie auf die Klippe.
Sie hatte eine trockene Kehle und nahm einen Schluck von dem kalten Kaffee.
»Da liegt jemand im Moor.«
Sara zeigte zitternd auf die Stelle. Ein anderer Polizeibeamter ging nun vorsichtig über die Grasbüschel zum Fundort, der lediglich aus einem Bohrloch im Moos bestand, aber im Torf darunter lag eine Leiche. Eingehend betrachtete der Mann den Untergrund, während ein weiterer Kollege eine Absperrung aufstellte.
»Die Kriminalpolizei ist unterwegs. In der Zwischenzeit werden wir eure Aussagen aufnehmen.« Der Uniformierte wandte sich wieder Sara zu.
»Habt ihr Karin benachrichtigt?«, fragte Sara. »Ich glaube, sie und Johan sind mit dem Boot draußen.«
»Wer?«, fragte der Polizist.
»Karin Adler, sie ist Kriminalkommissarin in Göteborg, aber sie wohnt hier draußen auf ihrem Boot.« Sara überlegte, ob sie Karins Nummer auf ihrem Handy gespeichert hatte. Suchend schob sie die Hand in die Tasche und zog das Telefon heraus. Kein Empfang.
»Mein Kollege hat Alarm ausgelöst. Dafür musste er übrigens zum Bootsanleger gehen, denn auf dieser Seite der Insel scheint es keinen Empfang zu geben. In Kürze werden Rechtsmediziner, Techniker und Kommissare hier sein, um den Ort genauer zu untersuchen.«
»Habt ihr versucht, Karin zu erreichen? Karin Adler?«
»Das weiß ich nicht, aber warte kurz, ich sehe mal nach.« Der Polizist stand auf und ging zu seinem Kollegen hinüber. Sara sah, wie die beiden sich zu ihr umdrehten und sie ansahen.
Beide Beamten kehrten zu Sara zurück.
»Wir haben tatsächlich versucht, sie zu erreichen. Sagtest du, sie sei auf einem Segeltörn?«
»Skagen«, sagte Sara. »Johan und sie wollten übers Wochenende nach Skagen.«
»Danke. Wunderbar. Dann rufe ich die beiden stattdessen über UKW-Funk. Du weißt nicht zufällig das Rufzeichen des Bootes?«
»Das Rufzeichen?«
»Das Kennzeichen im UKW-Funk.«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass das Boot Andante heißt.«
»Okay. Danke.«
Früher als gewöhnlich ging Agnes den Weg vom Hof Näverkärr zum Kontor in der Karlsvik hinunter. Der Hof lag in einem schmalen Tal und war auf beiden Seiten von Hügeln und dichtem Wald umgeben. Agnes beugte sich hinunter und hob ein paar Haselnüsse von der Erde auf. Obwohl sie für die Trankocherei ständig Unmengen an Brennholz benötigten, hatte Vater starrsinnig darauf beharrt, die Laubbäume im Storskog zu behalten. Daher mussten sie Torf und anderes Brennmaterial nun über weite Strecken transportieren. Sie öffnete die Pforte und passierte das Erlenmoor, bevor das Wasser in Sichtweite kam. Der Rauch aus den drei Kesseln auf Sladholm stieg in den graublauen Himmel hinauf, und der scharfe Geruch von Fischöl lag schwer über Karlsvik. Zwischen den vielen Gebäuden in der Bucht bewegten sich Menschen hin und her, und während Agnes den Hügel überquerte, legten am großen Holzsteg zwei weitere Boote an, um ihre Ladung zu löschen. Wenn ein kürzlich geleerter Kupferkessel wieder gefüllt werden sollte, hallten zwischen den Klippen von Sladholm laute Rufe wider. Ein Drittel fetter Hering wurde unter Umrühren acht Stunden lang in zwei Dritteln Meerwasser gekocht. Wenn der Hering zerkocht war, trieb der Tran an die Oberfläche, wurde abgeschöpft, umgefüllt und weiterbehandelt. Der restliche Bodensatz, ein übelriechender Brei, wurde in den eigens angelegten Teich geschüttet, damit er das Meer nicht verunreinigte. Dort faulte er stinkend vor sich hin, bis die Bauern ihn zum Düngen ihrer Äcker nutzten. Sowohl in der Bucht als auch auf den landwirtschaftlich genutzten Flächen hatte man, wohin man auch ging, den herben Duft von verfaultem Fisch in der Nase.
Vater war noch nicht im Kontor. Agnes schloss die Tür hinter sich und ging ins obere Stockwerk. Eigentlich wusste sie nicht, was man von ihr erwartete. Würde Vater vielleicht mit sich reden lassen? Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und stellte die Zahlen für die nächste Verschiffung zusammen. Siebzehneinhalb Tonnen Hering, ungefähr sechsunddreißig Hektoliter, ergaben einhundertfünfundsechzig Liter Tran, was einem Fass entsprach. Ein Großteil des Tranöls wurde in ferne Länder verkauft, unter anderem nach Frankreich, wo damit die Straßen von Paris beleuchtet wurden. Großmutter hatte einiges über Frankreich erzählt, am meisten jedoch über Holland.
Het komt wel goed.
Agnes war sich jedoch nicht so sicher, ob alles gut werden würde.
So sehr sie sich auch bemühte, an etwas anderes zu denken, ihre Gedanken wanderten immer wieder zu dem gestrigen Abendessen und der bevorstehenden Veränderung in ihrem Leben zurück.
Draußen ertönten erboste Stimmen. Agnes stand auf und sah aus dem Fenster. Zwischen den Besatzungen der beiden Boote, die am Steg lagen, schien ein Streit ausgebrochen zu sein. Ein Mann blutete kräftig aus der Nase. Sie erkannte einige der Männer wieder und wusste, dass sie zwei verschiedenen Kompanien von Fischern angehörten. Mit schnellen Schritten kam ihr Vater anmarschiert. Bis nach oben ins Kontor hörte Agnes die Diskussion und Vaters strenge Stimme, die alle anderen übertönte. Die eine Gruppe hatte einen Heringsschwarm in eine Bucht getrieben und anschließend die Mündung der Bucht mit einem Schleppnetz verschlossen. Das habe mehrere Stunden in Anspruch genommen, betonte einer der Männer. Langsam hatten sie das Netz immer näher an das Ufer gezogen, als plötzlich eine andere Gruppe auftauchte und mir nichts, dir nichts ein Treibnetz von oben auf den Schwarm warf. So konnten sie die Heringe einfach herausfischen. Agnes verstand die Wut der Männer sehr gut und wunderte sich nicht über die derben Ausdrücke, die durch die Wände an ihr Ohr drangen. Am Ende bewegte Vater die beiden Gruppen offenbar zu einer Einigung, und Agnes kehrte an ihren Schreibtisch zurück.
Als Vater in der Tür stand, warf er ihr einen erstaunten Blick zu.
»Vater.« Agnes zögerte.
»Was machst du denn hier, liebe Agnes? Hast du denn jetzt nicht andere Dinge zu tun?«
»Und was ist mit der Verschiffung nach Marstrand, Vater?«
»Darum kümmere ich mich, meine Liebe. Kümmere du dich um deine Brauttruhe. In Zukunft wirst du dich nicht mehr mit Verschiffungen und Kontorsarbeit beschäftigen. Du musst gemeinsam mit Josefina die Hochzeit planen.« Er hielt ihr die Tür auf, und Agnes verließ nachdenklich das Kontor.
Als Agnes zur Kirche in Bro ritt, schien die Vormittagssonne über die Felder. Die weiße Steinkirche strahlte in der Sonne, als hätte ihre äußere Hülle eine besondere Leuchtkraft.
Sie strich mit der Hand über den kalten Stein des Familiengrabs.
»Ik moet gaan Oma. Ich muss gehen. Du bist die einzige, die mich verstanden hätte.«
Ein Rotmilan flog aus einer der alten Buchen auf, segelte lautlos ganz nah an ihr vorüber und verschwand in Richtung Bucht. Großmutter hatte ihr etwas aus ihrer Kindheit in Holland über diese Vögel erzählt, die dort rode wouw hießen. Sie hatte sich gefreut, dass die Vögel auch hier vorkamen und eine Art Band zwischen Schweden und Holland darstellten. Es erschien Agnes nahezu wie ein Zeichen, dass der Rotmilan an ihr vorbei- und dann auf das Meer hinausgeflogen war. Was willst du mir damit sagen, Großmutter? Soll ich wirklich gehen? Ich weiß, wann die Schiffe kommen, wann sie ablegen und wohin sie fahren, überlegte Agnes. Erst gestern hatte sie einem Angestellten der Trankocherei ein Zeugnis ausgestellt, weil er in Mollösund eine neue Arbeit antreten wollte. Sie hätte auch sich selbst ein Zeugnis schreiben können, doch als Frau brauchte sie eine Begleitung. Alternativ konnte sie als Mann reisen. Würde sie als Mann durchgehen? Vater sagte immer, dass man mit fast allem durchkam, wenn man nur entschieden genug auftrat. Hätte sie Vater dazu bringen können, sie weiter ihre Arbeit machen zu lassen, wäre nichts davon nötig gewesen. Vielleicht war es noch nicht zu spät.
»Fräulein Agnes?« Eine vertraute Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
Hastig stand Agnes auf und nickte dem Pastor zu.
»Guten Tag.«
»Sprechen Sie mit Ihrer Großmutter?«
Agnes nickte.
»Wenn der Tag einst kommt, werden Sie jedoch im Innern der Kirche in der Grabkammer der Familie Strömstierna liegen, nicht wahr?« Er deutete auf den rötlichen Stein, unter dem Großmutter ruhte. Agnes wurde es eiskalt. Sie hatten bereits mit dem Pastor gesprochen. Es war zu spät. Wie im Halbschlaf hörte sie sich selbst den Pastor um Hilfe bei einem Zeugnis für einen Angestellten der Trankocherei bitten.
»Wenn Fräulein Agnes kurz warten kann, erledigen wir das sofort.«
»Danke, das ist kein Problem.« Sie würde das Zeugnis gleich ausgehändigt bekommen. Vater brauchte nichts davon zu erfahren.
»Für wen ist das Zeugnis?«
Agnes blickte zum Himmel und hielt die Luft an.
»Agne Sundberg«, sagte sie mit so fester Stimme wie möglich.
»Und welchen Beruf hat Agne Sundberg?«
Agnes überlegte schnell. Oft hießen Fassmacher mit Nachnamen Sundberg.
»Er ist Fassmacher.«
»Und wo möchte er hin?«
Das Schiff, das zur Zeit in Karlsvik beladen wurde und im Morgengrauen in südliche Richtung fahren sollte, hatte Marstrand zum Ziel. Dort würde ein Fassmacher mit Sicherheit Arbeit finden.
»Nach Marstrand.«
»Und wo kommt er her?«
»Aus Mollösund.«
Wenn man schon lügen musste, dann wählte man lieber einen Ort, den man zumindest mit eigenen Augen gesehen hatte.
»Ist Fräulein Agnes der Ansicht, dass er seinen Katechismus beherrscht?«, fragte der Pastor.
»So gut wie ich.« Agnes senkte den Blick. Wer den Pastor anlog, landete bestimmt in der Hölle. Aber sie war ja ohnehin auf dem Weg dorthin.
Mit dem Zeugnis in der Satteltasche ritt sie zur Anlegestelle, um sich zu erkundigen, ob es für den Fassmacher Agne Sundberg einen Platz auf dem Schiff nach Marstrand gab.
Kapitän Wikström strich sich nachdenklich über den Bart.
»Ist er auch kein entlaufener Unhold?«
»Er hat ein Zeugnis vom Pastor aus Bro.«
»Na dann, alles klar. Er muss rechtzeitig hier sein. Sobald das letzte Fass an Bord ist, legen wir ab. Und er muss die Fahrt bezahlen.« An diesem Abend unternahm Agnes einen letzten Versuch, mit ihrem Vater zu reden. Er hörte zu, aber er verstand sie nicht.
»Es ist am besten so, Agnes. Irgendeinen musst du doch sowieso heiraten.«
»Aber er hat mich nicht einmal angesehen. Sollte man nicht irgendetwas füreinander empfinden, sich gernhaben?«
»Vese ist ein schönes Gut. Große Ländereien, gute Zahlen.«
»Wie war es bei dir und Mutter?«
Zum ersten Mal seit langem lächelte Vater.
»Deine Mutter und ich«, seufzte er und schien in Erinnerungen zu versinken. »Ich muss wirklich sagen, dass wir glücklich zusammen waren.« Er nickte bedächtig. Sein Lächeln verschwand. »Aber Glück kommt mit der Zeit, in erster Linie geht es darum, eine gute Partie zu machen. Ich wünschte, deine Mutter oder wenigstens deine Großmutter wären noch am Leben, Frauenzimmer eignen sich besser für solche Gespräche.«
»Und was ist mit dem Hof und der Heringssalzerei? Wer soll dir in der Trankocherei und bei der Buchhaltung helfen?«
»Agnes, wenn du mein Sohn wärst, hättest du hier weitermachen und auf lange Sicht ganz Näverkärr übernehmen dürfen, aber nun macht das Nils. Du wirst die neue Herrin auf Gut Vese. Du wirst dich dort um den gesamten Haushalt kümmern. Das ist eine große Aufgabe und gar nicht so leicht, das wirst du noch sehen.« Er legte eine kurze Pause ein. »Du weißt, dass es so sein muss.«
Agnes fasste sich ein Herz.
»Es gibt Gerüchte über Bryngel und seinen Vater.«
»Zeig mir denjenigen, über den sie sich nicht das Maul zerreißen.«
»Aber … es wird behauptet …«
»Die Leute reden viel, wenn der Tag lang ist, und mischen sich in Dinge ein, die sie nichts angehen. Du wirst es gut haben auf Gut Vese, davon bin ich überzeugt.«
Es war schon nach Mitternacht, aber Agnes war noch wach. Auf Hof Näverkärr war es still und vor ihrem Fenster herrschte Dunkelheit. Im Schein der Tranlampe packte sie sorgfältig Großmutters alten Robbenfellkoffer und setzte sich dann vor den Spiegel. Sie kämmte ihr langes Haar, das ihr ein gutes Stück über die Schultern hing. Dann griff sie zur Schere. Sie nahm eine Strähne in die Hand und schnitt sie ab. Es war kein großer Unterschied zu erkennen. Agnes ließ die Haare auf den Boden fallen und schnitt noch mehr ab. Mit dem Haar fielen Tränen, in Gedanken suchte sie ein letztes Mal einen anderen Ausweg, aber die Antwort war immer dieselbe.
Entsetzt sah sie Agnes verschwinden, während sich auf dem Fußboden die Haare türmten. Am Ende schaute sie eine Person mit kurzen Haaren aus dem Spiegel an. Ein Mädchen mit einer schlecht geschnittenen Frisur. Oder ein Junge? Sie hatte es hinter sich gebracht. Agnes fegte die Haare zusammen und legte sie in die Schublade des Sekretärs. Eigentlich wollte sie das Haar mit zu Großmutter nehmen und es ihr an das Grab legen, aber dafür blieb keine Zeit. Bald würde der Hof erwachen.
Geld. Sie würde Geld brauchen. Vorsichtig öffnete sie die Tür und schritt lautlos über die alten Holzdielen in den Raum neben Vaters Schlafzimmer, wo sich die Truhe mit dem Geld befand. Den Schlüssel würde sie allerdings aus Vaters Zimmer holen müssen. Mit angehaltenem Atem drückte Agnes die Klinke hinunter. Vater schnarchte. Seine Schlüssel hingen neben seinem Bett. Sie klimperten, als Agnes sie vom Haken nahm … Das Schnarchen verstummte. Sie stand regungslos da und atmete erst auf, als ihr Vater sich auf die Seite drehte und weiterschlief. Leise machte sie die Tür hinter sich zu und schloss die mit Blumen verzierte Truhe auf. Neben Kaufverträgen und Vereinbarungen lagen Münzen von ganz unterschiedlichem Wert. Auf einem der Papiere las sie »Mitgift« und staunte über die Höhe der Summe. Dass Vater tatsächlich bereit war, so viel Geld zu bezahlen, um sie loszuwerden. Sie hatte das Gefühl, ihn gar nicht mehr zu kennen. Als ob er ein anderer geworden wäre. Agnes nahm sich etwas von dem Geld und versuchte einzuschätzen, wie viel sie brauchen würde.
Wie soll ich bloß allein zurechtkommen?, dachte sie verzweifelt. Doch in der Erinnerung hörte sie Großmutter sagen:
Met jouw komt het altijd goed mijn kind. Du klarar dig alltid, mitt barn.
Als die Sonne an diesem Morgen aufging und die Mägde auf Gut Näverkärr zum Melken gingen, befand sich Agnes bereits ein Stück südlich von Bohus-Malmö. Sie segelten an den Brandschären, Gäven und Bonden vorbei. Ein frischer Wind trieb das Schiff immer weiter fort von der Halbinsel Härnäs, immer weiter weg von ihrem einstigen Zuhause.
Sie musste eine Weile geschlafen haben, denn als sie erwachte, betrachtete sie verwundert ihre Hose und die Stiefel. Sie hörte das Wasser gluckern und wusste wieder, wo sie war. Wie hatte Vater wohl reagiert? Hatte er begriffen, dass sie wirklich fort war, oder glaubte er vielleicht, dass sie zurückkehren würde, sobald sie Hunger bekam? Mit der Zeit würde ihm klar werden, dass Agne Sundberg und seine Tochter ein und dieselbe Person waren. Und was würde der Pastor sagen? Armer Vater.
Ihr kurzes Haar blitzte unter der Mütze hervor.
Das Schiff legte sich knarrend auf die Seite, aber die gut vertäute Ladung rührte sich nicht von der Stelle. Agnes nahm Brot und Käse aus ihrer Tasche und begann zu essen.
»Na, Agne Sundberg«, sagte der Kapitän. »Das Fräulein auf Näverkärr hat anscheinend einen Narren an Ihnen gefressen, wenn sie Ihnen schon eine Reise nach Marstrand organisiert, anstatt dass Sie selbst zu mir kommen und fragen.«
»Fräulein Agnes hat ein gutes Herz.« Agnes antwortete mit so tiefer Stimme wie möglich, achtete auf jede Bewegung und wählte ihre Worte mit Bedacht. Sie versuchte, so zu sprechen wie ihr Bruder Nils, und rief sich ins Gedächtnis, wie er gestikuliert und sich bewegt hatte.
»Ich habe noch nie einen Fassmacher mit so mickrigen Händen gesehen.« Der Mann musterte sie von Kopf bis Fuß. »Was ist der Grund eurer Reise? Sie lassen das Fräulein Agnes doch nicht in Schwierigkeiten zurück?«
»Um das Fräulein auf Näverkärr brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Und der Grund meiner Reise geht nur mich etwas an.«
»Käpt’n!«, schallte es aus dem Ausguck. »Die Strömung treibt uns zu nah an Härmanö heran.«
Agnes blickte auf. Die Klippen stellten keine Gefahr dar, dachte sie. Das offene Boot, das plötzlich mit hoher Geschwindigkeit auftauchte, jedoch schon.
»Die Piraten von Strömstierna.«
Agnes sah ihn verwundert an.
»Was hat Strömstierna mit Piraten zu tun?«, fragte sie.
»Was glauben Sie denn, wo das Geld auf Gut Vese herkommt? Für einen Fassmacher kennen Sie sich mit den Zuständen hier in der Gegend aber schlecht aus.«
Das Boot kam näher. Agnes überlegte fieberhaft. Vater hatte zwar erwähnt, dass sie einige Ladungen verloren hatten, aber Agnes hatte dies immer den schlechten Wetterbedingungen zugeschrieben. Ein einziges Mal war ihr zu Ohren gekommen, dass die Besatzung überfallen und die Ladung geraubt worden war, aber das war doch unten auf der Höhe von England und nicht hier passiert. Oder etwa doch?
»Wir entkommen ihnen nicht.« Der Kapitän gab den Männern an Bord zu verstehen, dass sie sich für den Fall, dass es Probleme gäbe, bereit machen sollten. Agnes berührte ihren Hals, wo normalerweise das Kreuz hing, doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie die Kette abgenommen hatte. Sie griff in die Hosentasche und strich mit dem Finger über das silberne Schmuckstück.
»Wissen sie denn, dass wir Waren an Bord haben, die dem Gutsbesitzer von Näverkärr gehören?«, fragte Agnes besorgt.
»Natürlich ist ihnen das bekannt. Deshalb erwarten sie uns ja bereits.«
Die Männer waren gerade dabei, ihre Büchsen zu laden, als der erste Schuss aus dem Boot der Verfolger knapp hinter ihnen vorbeisauste.
»Glauben Sie bloß nicht, dass die ihr Ziel verfehlen. Das war lediglich ein Warnschuss.«
»Haben Sie eine Waffe dabei?«, fragte der Kapitän Agnes.
Stumm schüttelte sie den Kopf und nahm die Pistole entgegen, die ihr gereicht wurde.
Vermutlich würde Bryngel nicht schlecht staunen, wenn seine eigenen Seeräuber seine Zukünftige gefangen nahmen und vielleicht sogar umbrachten. Und Vater, was würde er dazu sagen? Sie dankte Gott, dass Großmutter dies nicht mehr miterleben musste.
Agnes kam eine Idee.
»Sagen Sie ihnen, dass die Ladung dem zukünftigen Schwiegervater von Bryngel Strömstierna gehört.«
Kapitän Wikström fiel die Kinnlade hinunter.
»Dem will der Alte seine Tochter geben? Sind Sie sich da sicher?«
»So wahr mir Gott helfe«, sagte Agnes.
»Wir hissen die weiße Flagge und lassen sie bis in Hörweite herankommen. Hoffen wir, dass sie uns noch einmal davonkommen lassen, wenn sie diese Neuigkeit erfahren.«
Als sich das Schiff näherte, geriet Agnes ins Schwitzen. Neben dem Kapitän zählte sie vierundzwanzig bewaffnete Männer an Bord.
»Unsere Ladung gehört dem Herrn von Näverkärr«, rief Kapitän Wikström.
Der andere Schiffsführer lachte höhnisch. Die Besatzung fiel in sein Lachen ein.
»Das ist uns bekannt. Wenn Sie sie uns freiwillig übergeben, kommt niemand zu Schaden.«
»Dann wissen Sie wahrscheinlich auch, dass Bryngel Strömstierna und der Eigentümer unserer Ladung, der Herr von Näverkärr, demnächst verwandt sein werden. Letzterer wird seine Tochter Agnes mit dem jungen Herrn auf Gut Vese verheiraten. Es könnte allerdings Probleme mit der Hochzeit geben, wenn Sie Güter stehlen, die Bryngels Schwiegervater gehören.« Kapitän Wikström sprach mit lauter und ruhiger Stimme, aber Agnes sah die weißen Knöchel seiner Finger, die sich krampfhaft an das Steuerrad klammerten. Er ging ein hohes Risiko ein.
Die Schiffe lagen nun nebeneinander. Strömstiernas kräftige Männer sahen ihren Befehlshaber erwartungsvoll an. Wäre auch nur ein einziges Fischereigerät an Bord gewesen, hätte man sie für Fischer halten können. Der Mann schien gedanklich den Wahrheitsgehalt der Information zu überprüfen.
»Sind Sie sich Ihrer Sache sicher?«
»Vollkommen.«
»Glauben Sie mir, Kapitän Wikström, wenn Sie mich angelogen haben, werden Sie es bitter bereuen.« Das andere Boot fiel vom Wind ab und war nach wenigen Minuten hinter einer Insel verschwunden. Der Kapitän wirkte erleichtert.
»Dieses Manöver funktioniert nur einmal, habe ich recht?«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Agnes.
»Beim nächsten Mal wissen Strömstiernas Seeräuber, dass sich Bryngels Zukünftige aus dem Staub gemacht hat.«
Agnes riss die Augen auf. Er hatte sie durchschaut.
»Erzählen Sie es bitte nicht weiter.«
»Was denn?« Er lächelte. »Dass ein Fassmacher unser Passagier war?«
Kapitän Wikström zeigte auf die Silhouette, die sich in weiter Ferne vom Himmel abhob.
»Die Festung Carlsten. Wir sind noch vor dem Abend in Marstrand.«
In einem alten Männerhemd und mit Kopftuch stand Vendela ganz oben auf der Leiter. Erbarmungslos schabte sie mit einem Spachtel die alte Leinölfarbe vom südlichen Giebel des Bremsegård. Hin und wieder wandte sie sich von der gelbgestrichenen Wand ab und ließ ihren Blick abwechselnd über das Wasser nach Marstrandsö oder die Wiesen von Klöverö und den etwas weiter entfernten Lindenberg schweifen.
Da das Holz in gutem Zustand war, hatten sie erst wenige der Schalbretter erneuern müssen. Die Leinölfarbe hatte Wind und Wetter in erstaunlichem Maß getrotzt.
»Was gibt es zu essen?«
Die Frage kam von Jessica, die in einem Liegestuhl gemütlich im Forbes Magazin blätterte. Ihre Haare waren unter einem breitkrempigen Sonnenhut verborgen und ihr knappes Bikini-Oberteil bedeckte gerade eben die Brustwarzen.
Vendela hinterließ vor Wut eine tiefe Kerbe in der alten Holzverschalung. Bei der Wahl seiner Ehefrau hatte ihr Bruder wirklich keinen guten Fang gemacht. Bei ihrer ersten Begegnung mit Jessica hatte Vendela gedacht oder vielmehr gehofft, es würde sich wie schon so oft nur um eine kurze Affäre handeln. Rickard hatte immer Schwierigkeiten gehabt, seine Begeisterung längerfristig aufrechtzuerhalten, doch entgegen aller Prognosen war es Jessica gelungen, sich festzubeißen.
»Da musst du deinen Mann fragen«, erwiderte Vendela. Obwohl sie Jessica am liebsten aufgefordert hätte, ihren durchtrainierten Hintern zu erheben, Kartoffeln aufzusetzen und sich selbst zu überlegen, was man dazu essen könnte, biss sie sich auf die Zunge. Jessica hatte Ferien, das war nicht zu übersehen. Dass alle anderen ebenfalls frei hatten und trotzdem das alte Haus renovierten, schien ihr entgangen zu sein.
Vendela stieg von der Leiter und ging in den Keller, wo Marmelade, Konserven, Getränkekisten und Kartoffeln aufbewahrt wurden. Sie füllte einen Blecheimer mit Wasser aus dem Gartenschlauch und setzte sich auf die Steintreppe, um die Frühkartoffeln zu waschen. Die Sonne schien, und wenn Jessica nicht so ein Störfaktor in ihrem Blickfeld gewesen wäre, hätte sie die Tätigkeit in vollen Zügen genossen. Der Bremsegård und Klöverö hatten schon immer eine beruhigende Wirkung auf sie gehabt. Hier hatte sie ihre Sommer und alle anderen Ferien verbracht, und hierhin war sie zurückgekehrt, um Kraft zu tanken. Wie damals, als Charlies Vater in die USA fuhr und einen Monat später mitteilte, dass er nicht beabsichtige, zu Vendela und dem gemeinsamen Sohn in Schweden zurückzukehren. Möglicherweise wären die Dinge anders verlaufen, wenn Charlie einen Vater gehabt hätte, an dem er sich orientieren konnte, aber im Grunde bezweifelte sie das. Sie stellte den Eimer ab und ging hinters Haus, um Charlie zu fragen, ob er Durst habe. Das Gerüst, auf dem ihr fünfzehnjähriger Sohn am Morgen gestanden und die Farbe von der Wand geschabt hatte, war jedoch leer. Der Spachtel und seine Kappe lagen auf dem Boden, und das Radio lief noch. Vielleicht hatte er nur eine Pause eingelegt, doch wie immer, wenn er ohne ein Wort verschwand, wurde Vendela unruhig.
Obwohl sie regelmäßig kamen, konnte sie sich einfach nicht an die Anrufe von Lehrern und Schulleitern gewöhnen.
»Hat er sich aus dem Staub gemacht?« Jessica kam um die Ecke. Sie nahm die große Sonnenbrille ab und sah sich um. Der Duft von Sonnencreme mit Kokosnuss umgab sie.
»Ich weiß nicht. Wann hast du ihn denn zuletzt gesehen?«, fragte Vendela.
Jessica zuckte die Achseln.
»Typisch Charlie. Er ist bestimmt zu seinen Jungs nach Göteborg gefahren.« Vendela überlegte kurz, widerstand aber dem Impuls, zur Bremsegårdsvik hinunterzurennen und nachzusehen, ob das Boot noch da war.
Als hinter ihnen die alte Kuhstalltür knarrte, drehten sie sich um. Charlie stand im Türrahmen.
»Gibt es noch Ersatzklingen für den Schaber, Mama? Meiner ist schon ganz stumpf.«
Vendela warf Jessica einen wütenden Blick zu und ging zu ihrem Sohn hinüber.
»Wenn dort keine sind, gibt es vielleicht im Holzschuppen noch welche, aber was hältst du davon, erst mal etwas zu trinken und dann baden zu gehen. Ich muss nur noch die Kartoffeln aufsetzen.«
»Ich bin dabei!«
Vendela machte sich gar nicht erst die Mühe, Jessica zu fragen, ob sie mitkommen wolle. Sie fragte sich, ob Jessica die ganze Zeit gewusst hatte, dass Charlie im Kuhstall war. Gewundert hätte es sie nicht.
Gemeinsam mit ihrem Sohn ging Vendela durch das Gartentor und bog in den Trampelpfad zur Bremsegårdsvik ein. Rickard kam ihnen auf dem grasbewachsenen Weg entgegen.
»Wir gehen baden. Kommst du mit?«
»Ich komme gerade von dort. Es ist ziemlich kalt.« Sein dunkles Haar kringelte sich, und auf sein grünes T-Shirt tropfte Salzwasser.
»Du warst doch schon immer eine Memme, Brüderchen. Aber umso besser, dann kannst du dir überlegen, was wir zu den Kartoffeln essen sollen.«
»Klar. Was haben wir denn?«
»Keine Ahnung. Wirf doch mal einen Blick in den Kühlschrank. Ich glaube, es ist noch ein Stück Kassler da. Ansonsten muss einer von uns mit dem Boot nach Koö hinüberfahren. Wenn wir allerdings noch irgendetwas zum Abendessen finden, können wir auch morgen einkaufen gehen.«
Vendela betrachtete Charlie, der von den Klippen ins Wasser sprang. Er wurde seinem Vater von Tag zu Tag ähnlicher.
»Ist es kalt?«
»Nee. Jetzt komm, Mama!«
Vendela hielt sich die Nase zu und sprang hinein. Salzwasser umfing sie. Als sie wieder auftauchte und Luft holte, fühlte sie sich wie neugeboren. Keine Feuerquallen. Obwohl das Wasser hier sechs Meter tief war, sah man die Algen am Grund wogen. Vendela schwamm ein paar Züge auf Marstrandsö zu. Einmal waren Rickard und sie über den ganzen Sund bis zum Strandverket hinübergeschwommen. Als sie am anderen Ufer angekommen waren, hatten sie keine Kraft mehr zurückzuschwimmen. Sie hatten bereits den Hinweg nur mit Mühe und Not geschafft. Es war das einzige Mal, dass Tante Astrid richtig böse auf sie wurde. Astrid hatte in der letzten Ferienwoche auf der Insel die Verantwortung für sie gehabt. Vendelas und Rickards Eltern, die wieder arbeiten mussten, erfuhren nie von dem Vorfall, der Gott sei Dank gut ausgegangen war.
»Du musst endlich lernen zu tauchen«, sagte Charlie, während er auf die Felsen kletterte. Er legte sich das Handtuch über die Schultern. Vendela stieg aus dem Wasser und setzte sich neben ihren Sohn.
»Dein Vater ist ein guter Taucher.«
»Ich weiß.«
Sie wrang ihr Haar und flocht es zu einem Zopf. In ihrer Jugend war sie im Sommer immer weißblond geworden. »Engelchen« hatte Astrid sie dann immer genannt. Mittlerweile wurden nur noch einzelne Strähnchen heller und erinnerten noch im Herbst an den Sommer auf Klöverö. Ihr Sohn war jedoch schon hellblond und hatte eine gesunde Bräune.
»Geht es dir gut, Charlie?«
»Hör auf, Mama.«
»Nerve ich dich?«
»Ständig, ey.«
Vendela verkniff sich die Bemerkung, dass sie das Wort »ey« verabscheute. Sie wollte so gern, dass er sich auf Klöverö wohlfühlte. Natürlich war es nicht besonders aufregend, mit der Mutter, dem Onkel und dessen Frau hier zu sein, aber vielleicht machte es ihm ja Spaß, bei der Renovierung zu helfen und Verantwortung zu bekommen. Außerdem war es eine Erleichterung, dass man die Insel nicht so einfach verlassen konnte. Hier konnte er sich nicht trollen und mit seinen Freunden herumhängen. Jessica hatte einen wunden Punkt angesprochen, als sie die Vermutung äußerte, Charlie hätte sich auf den Weg nach Göteborg gemacht. Vendela zeigte auf die südliche Hafeneinfahrt und die Badeanstalt beim Strandverket.
»Guck mal, die vielen Leute.« Kurz darauf bereute sie schon, dass sie es gesagt hatte. Was, wenn ihm plötzlich einfiel, dass er sich langweilte, weil er hier so allein war.
»Vielleicht sollten wir langsam zurückgehen. Rickard und Jessica haben bestimmt das Essen fertig.«
»Jessica? Machst du Witze? Als ob die kochen würde.«
»Stimmt, du hast recht. Die Arbeit hat wahrscheinlich mein Bruder übernommen.«
Auf halbem Weg kam ihnen Astrid entgegengeradelt.
»Willst du noch mal baden?«, fragte Charlie erstaunt.
»Nein, nein«, antwortete Astrid und fuhr im selben Atemzug fort: »Im Alten Moor haben sie eine Leiche gefunden.«
»Eine Leiche?« Charlie sah Astrid fasziniert an. Sie nickte. Vendela schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund.
»Wissen sie, wer es ist?«, fragte sie.
»Keine Ahnung, aber ich glaube nicht. Ich weiß nur, dass die Botanische Vereinigung Göteborg von der Polizei zurück nach Koö gebracht wird. Also muss ich das nicht machen.«
»Eine Leiche im Alten Moor«, murmelte Vendela. »Ist denn im Laufe des vergangenen Jahres jemand verschwunden?«
»Soweit ich weiß, nicht.«
»Wir waren gerade auf dem Weg nach Hause. Du kannst uns gern begleiten.«
»Tja, ich bin ja vorhin am Hof vorbeigekommen. Die Frau von Rickard, wie heißt sie noch mal?«
»Jessica.«
»Genau. Die ist jedenfalls ganz hysterisch geworden. Die kann überhaupt nichts vertragen. Was will dein Bruder mit der?«
»Das kann ich dir sagen«, meldete sich Charlie zu Wort. »Ich höre die beiden nachts.«
»Hör auf, Charlie«, sagte Vendela. »Hast du ihnen das erzählt?«
»Klar.«
»Wir müssen zurück. Möchtest du mitessen?«
»Danke, meine Liebe, aber ich komme ein andermal.« Astrid strich Vendela über die Wange und klopfte Charlie auf die Schulter. »Mach keinen Unsinn.«
»Du auch nicht«, erwiderte Charlie. Astrid grinste.
Vendela und Charlie hörten die aufgebrachte Jessica schon von Weitem.
»Meine Güte, Rickard! Eine Leiche! Sie haben hier draußen eine Leiche gefunden.«
»Jetzt beruhige dich mal, Jess. Das war auf der anderen Seite der Insel, dahin braucht man zu Fuß eine Stunde. Wäre so etwas zu Hause in London passiert, hättest du gar nicht reagiert.«
»Wir befinden uns aber auf einer Insel. Jemand ist mit dem Boot gekommen und hat vielleicht an unserem Steg angelegt oder ist an unserem Haus vorbeigegangen. Das Opfer hätte genauso gut ich sein können.«
»Eigentlich schade, dass es anders gekommen ist«, sagte Charlie zu seiner Mutter.
»Sei still, Charlie!«, zischte Vendela, konnte sich ein Lächeln jedoch nicht verkneifen.
Rickard stellte gerade die Salatschüssel auf den Tisch, als Vendela und Charlie um die Ecke kamen. Eine gelbe Wachstuchdecke mit Blümchenmuster lag auf dem Gartentisch, der zwischen den knorrigen Birnbäumen gedeckt worden war. Da Astrid immer sagte, sie seien 1769 gepflanzt worden, nahm Vendela an, dass es jemand irgendwo aufgeschrieben hatte.
»Perfektes Timing. Wenn ihr Getränke aus dem Keller geholt habt, könnt ihr euch hinsetzen.« Rickard hastete ins Haus und kehrte zwei Minuten später mit einer dampfenden Auflaufform aus der Küche zurück.
»Aua, verdammt, diese Topflappen sind viel zu dünn. Macht mal schnell Platz auf dem Tisch, damit ich das Ding abstellen kann. So ein Mist!«
Vendela schob die Gläser beiseite, und Rickard stellte die Form ab.
»Wir haben Astrid getroffen. Es ist doch verrückt, dass sie eine Leiche im Alten Moor gefunden haben. Erinnerst du dich noch an das Pärchen, das jeden Sommer mit dem Zelt kam? Du weißt schon, wir fanden die Leute etwas merkwürdig. Stell dir vor, die Tote wäre sie, und er hätte sie im Moor ersäuft!« Vendela lachte gespenstisch.
»Hör auf, Schwesterchen. Wenn sonst keiner anfängt, tu ich es, denn ich brauche jetzt was zu essen. Pellkartoffeln mit überbackenem Kassler. Ich habe diese gelbe Sauce nach Mutters Rezept dazu gemacht, und wer möchte, kann eine Scheibe Ananas aus der Dose dazu haben.«
»Jetzt hast du dich fast so angehört wie Mama, wenn sie gekocht hat.« Vendela nahm sich ein bisschen Sauce.
»Stimmt. Vielleicht hätte ich noch erwähnen sollen, dass dies ihr einziges Rezept war. Eine gelbe Sauce. Stundenlang zerbrach sie sich den Kopf darüber, was man dazu essen könnte.«
»Ich könnte mich nur von Butter und Astrids neuen Kartoffeln ernähren.« Vendela begann mit Appetit zu essen. »Hm, wie lecker!«
»Wie könnt ihr einfach dasitzen und euch übers Essen unterhalten, nachdem so etwas Schreckliches passiert ist?«
»Essen müssen wir trotzdem, Jessica. Möchtest du ein Glas Wein?« Rickard beugte sich nach vorn.
»Ja, das kann ich jetzt gebrauchen.«
Rickard füllte nacheinander die Gläser.
»Das Alte Moor liegt vollkommen abgeschieden. Der perfekte Ort«, sagte Charlie.
»Jetzt hör endlich auf«, rief Jessica.
»Wir können ja mal hinterm Haus nachsehen, wer fehlt. Bei Anderssons sind alle fünf noch da, abgehakt. Edman ist auch da, aber bei Lindströms sind nur drei Personen anwesend … wo ist die vierte abgeblieben? Hm.«
»Lass das, Charlie«, sagte Jessica.
»Er scherzt doch nur«, wandte Rickard ein.
»Aber ich habe ihn doch gebeten, damit aufzuhören. Ich finde das gar nicht witzig. Begreift ihr denn nicht, dass hier ein Mörder frei herumläuft?«
»Davon hat niemand etwas gesagt. Man hat eine Leiche gefunden. Es könnte sich auch um eine Pilzsammlerin handeln, die im Moor eingesunken ist.« Rickard griff nach dem Salzfass.
»Hör mal, du Städter, um diese Jahreszeit gibt es hier keine Pilze«, bemerkte Vendela.
»Okay. Dann eben eine Beerensammlerin.«
»Das Essen war superlecker, Brüderchen. Verrätst du mir dein Geheimnis?«
»Reifer Käse. Eine dicke Schicht reifer Käse und eine Prise Oregano auf dem Kassler, natürlich vor dem Käse.«
»Aha. Was habt ihr eigentlich für Pläne? Werdet ihr diesen Sommer viel Zeit hier verbringen? Ihr habt noch gar nicht darüber gesprochen.«
»Nein, es ist nämlich so … ach, nichts.«
»Jetzt komm schon, was wolltest du sagen?«
»Wir wollen vielleicht nach Italien fahren.«
»Und euch den schwedischen Sommer entgehen lassen, seid ihr verrückt? Ist es in Italien um diese Jahreszeit nicht tierisch heiß?« Vendela schüttelte den Kopf.
»Wo in Italien warst du denn schon?«, fragte Jessica.
»Um ehrlich zu sein, nirgendwo.«
»Wie kommst du dann darauf, dass ein Sommer hier auf der Insel besser ist als Urlaub in Italien?«
»Weil es für mich nichts Schöneres gibt als einen Sommer auf dem Bremsegård. Sonne und Salzwasser.«
»In schwedischen Sommern hat man allerdings oft Dauerregen bei neun Grad Celsius«, stellte Jessica nüchtern fest. »Wie aufregend ist es dann hier? Man kann doch überhaupt nichts machen.«
»Dann spielt man eben Spiele, liest oder sieht sich Papas alte Fotoalben aus unseren ersten Sommern hier an. Oder man sitzt mit Astrid am Kachelofen und plaudert. Sie hat mir beigebracht, dem Seufzen und Knacken des Hauses zu lauschen. Und wenn man Hummeln im Hintern hat, macht man einen Spaziergang oder einen Ausflug nach Marstrandsö. Dort gibt es meistens Fotoausstellungen im Rathaus. Oder man besucht eine der Galerien und betrachtet Kunst, die man sich nie im Leben leisten könnte.«
»Hättest du gern genug Geld, um dir Kunst anzuschaffen?«, fragte Jessica.
»Es gibt viele Dinge, für die ich gern genug Geld hätte. Zum Beispiel ein neu gedecktes Dach auf diesem Haus. Keine Ahnung, ob einer von euch auf dem Dachboden war, aber ich habe leider den Eindruck, dass wir diese Investition in Angriff nehmen müssen. Die Dachpappe ist vollkommen hinüber, und es regnet an einigen Stellen durch, vor allem bei Nordwind. Was meint ihr? Sollen wir uns mal nach hiesigen Zimmerleuten umhören, die vielleicht an dem Auftrag interessiert wären? Wenn wir uns alle als Handlanger zur Verfügung stellen, lassen sich die Kosten eventuell senken.«
»Aber da müssen Rickard und ich sagen, dass …«, begann Jessica, verstummte jedoch, nachdem Rickard sie scharf angesehen hatte.
»Muss das wirklich jetzt gemacht werden?«, fragte Rickard. »Kann das nicht warten?«
»Ich glaube nicht. Wenn wir noch länger warten, könnte das Haus kaputtgehen, denn es dringt bei jedem Regen Feuchtigkeit ein. Am Ende verfault das Haus, und dann wird die Renovierung noch aufwendiger und teurer.«
»Lass uns später darüber reden. Würdest du dich um das Dessert kümmern, während ich Kaffee koche, Jess?«
»Klar. Worauf habt ihr Appetit?«, fragte sie Charlie und Vendela.
»Wahrscheinlich solltest du erst mal nachsehen, was es noch gibt«, sagte Rickard.
Vendela hielt die Schale mit der gelben Sauce hoch.
»Mach es wie unsere Mutter. Fang mit der Sauce an.«
Agnes war gerade am Kai von Marstrand an Land gegangen. Der Boden unter ihren Füßen schien zu schwanken. Sie versuchte vergeblich, das unangenehme Gefühl abzuschütteln, nachdem sie ertappt worden war. Ich muss mir selbst einreden, dass ich ein junger Mann bin, anders geht es nicht, dachte sie. Die Tragweite ihres Betrugs war ihr erst in dem Moment ernsthaft bewusst geworden, als sie in die nördliche Hafeneinfahrt einfuhren, wo ihnen ein Boot nach dem anderen voller Zollbeamter und Soldaten entgegenkam. Sie bewachten die Hafeneinfahrt und riegelten sie fast hermetisch ab, um sicherzugehen, dass alle An- oder Abreisenden einwandfreie Papiere hatten. Die Festung auf dem höchsten Punkt der Insel erinnerte an den Ort, an dem diejenigen landeten, die das Gesetz übertreten hatten. Allerdings galten gerade diese Regeln nur noch in eingeschränktem Maße, seit die Stadt zum Freihafen ernannt worden war. Agnes wurde eskortiert, damit sie sich nicht vor der Anmeldung drückte. Mit schweren Schritten ging sie zu der Stelle, wo sie ihren Namen und den Grund ihres Aufenthalts melden musste. Kapitän Wikström hatte alle Hände voll mit dem Zoll zu tun, nickte ihr jedoch zu, als sie ihm zum Abschied winkte.
Obwohl es draußen bereits dunkel war, waren Leute unterwegs. Ein kleiner Junge, der keine Schuhe trug und viel zu dünn angezogen war, hielt ihr seine Mütze hin. Agnes zog ein Stück Brot aus der Tasche und reichte es ihm.
»Danke, Herr.« Unverzüglich machte sich das Kind über Josefinas frisch gebackenes Brot her.
Auf dem Kai vor ihr lag der mittlere Zoll, ein zweistöckiges rotes Holzhaus. Hinter dem Fenster sah sie einen Mann am Schreibtisch sitzen. Vor der Tür standen drei Personen Schlange. Agnes stellte sich ebenfalls an und wartete, bis sie an der Reihe war.
»Was führt Sie in die Stadt Marstrand?« Der Mann sah Agnes prüfend an und ließ seinen Blick dann zu dem bewaffneten Mann neben ihm schweifen, der jederzeit einsatzbereit war. Die gelbe Hose und die grüne Jacke verrieten, dass er den Bohusläner Dragonern angehörte. Auf der Steinschlossmuskete an seiner Seite steckte ein Bajonett, und seine Gesichtszüge waren wie versteinert. Sie war nicht darauf gefasst gewesen, dass es hier so viele Soldaten geben würde. Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass einige der weniger gefährlichen Insassen der Festung außerhalb der Mauern arbeiteten und sich tagsüber frei in der Stadt bewegen durften, weil man der Meinung war, sie hätten ohnehin keine Möglichkeit, die Insel zu verlassen.
Agnes betrachtete das dicke Buch und die Eintragungen über der leeren Zeile, in der der Name von Agne Sundberg stehen sollte. Mehrmals las sie das Wort »Schulden«, »Zerrüttete finanzielle Verhältnisse« und etwas weiter unten war ein Paar verzeichnet, das gegen den Willen der Eltern heiraten wollte. In ihrem Fall war es umgekehrt.
»Was ist Ihr Anliegen?«, wiederholte der Mann etwas lauter. »Warum sind Sie hergekommen?«
»Ich bin gekommen, um eine Eheschließung zu vermeiden.« Ihr ging durch den Kopf, dass sie auch gestohlen hatte, aber als Dieb würde sie auf der Insel wohl keine Arbeit finden.
»Ah so.«
»Und woher kommen Sie?«
Agnes zögerte. Dann suchte sie in ihrer Tasche nach dem Zeugnis vom Pastor aus Bro.
»Woher kommen Sie?«, fragte der Mann, der zu glauben schien, sie hätte die Frage nicht verstanden.
»Mollösund«, log Agnes und überreichte ihm das Dokument. Sie befürchtete, ihr wäre anzusehen, dass sie nicht die Wahrheit sagte, aber falls der Mann Verdacht geschöpft hatte, kümmerte ihn das anscheinend nicht. Diese plötzliche Einsicht tat weh. Hier kümmerte es niemanden, dass Fräulein Agnes vom Hof Näverkärr verschwunden war, während in Marstrand gerade ein vollkommen unbekannter Agne Sundberg an Land ging.
Mit eleganter Schrift trug der Mann Agne Sundberg aus Mollösund in das Buch ein und notierte ihre Angaben auf einem Freibrief, den er Agnes überreichte. Anschließend verabschiedete er sich mit einem Winken und rief den nächsten Mann aus der Schlange herein. Den nächsten Mann, dachte Agnes. So muss ich denken. Die ganze Zeit. Irgendwann wird es besser. Mit dem Papier in der Hand, das ihre wiedererlangte Freiheit darstellte, trat sie vor die Tür. Irgendwie ließ sich die Abendluft nun leichter atmen. Gleichzeitig fühlte sie sich so einsam wie noch nie. Sie betrachtete die Menschen, die bei der Gaststätte im Eckhaus ein- uns ausgingen. »Wärdshus« stand auf dem Metallschild, das sich knarrend im Wind bewegte. Nun war sie zumindest hier.
Niemand öffnete das Tor, als Agnes anklopfte. Da die Gasse nur schwach beleuchtet war, sah Agnes sich ängstlich um. Sie klopfte noch einmal, bis ihr einfiel, dass sie ein junger Mann war, und pochte stattdessen mit der ganzen Faust an das Türblatt.
Gleich darauf ging die Luke auf und ein Frauengesicht zeigte sich.
»Ja?«