Die tote Lady - Daisy Waugh - E-Book
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Die tote Lady E-Book

Daisy Waugh

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Beschreibung

Mit 93 Jahren muss Sir Ecgbert Tode of Tode Hall die irdischen Gefilde verlassen – zur Erleichterung seiner erheblich jüngeren Frau Emma. Die frisch gebackene Witwe träumt von einem stilvollen Lebensabend auf Capri und hat nicht das geringste Interesse, sich um das marode Herrenhaus zu kümmern. Unglücklicherweise will auch keines ihrer lästigen drei Kinder diese Bürde übernehmen, weshalb Tode Hall an einen entfernten Verwandten und dessen glamouröse Ehefrau vererbt wird. Doch nicht lange, nachdem diese eingezogen sind, findet man Lady Todes Leiche im Mausoleum. Und ihr Tod war alles andere als natürlich ...

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Buch

Mit 93 Jahren muss Sir Ecgbert Tode of Tode Hall die irdischen Gefilde verlassen – zur Erleichterung seiner erheblich jüngeren Frau Emma. Die frischgebackene Witwe träumt von einem stilvollen Lebensabend auf Capri und hat nicht das geringste Interesse, sich um das marode Herrenhaus zu kümmern. Unglücklicherweise will auch keines ihrer lästigen drei Kinder diese Bürde übernehmen, weshalb Tode Hall an einen entfernten Verwandten und dessen glamouröse Ehefrau vererbt wird. Doch nicht lange nachdem diese eingezogen sind, findet man Lady Todes Leiche im Mausoleum. Und ihr Tod war alles andere als natürlich …

Autorin

Daisy Waugh, die Enkelin des britischen Schriftstellers Evelyn Waugh, ist Autorin und Tarotkartenlegerin. Sie hat eine Reihe von Romanen sowie diverse Sachbücher, Zeitungsartikel und Kolumnen verfasst. Zusammen mit ihrer Familie lebt sie in Barnes, South West London. »Die tote Lady« ist der Beginn einer Reihe von humorvoll-nostalgischen Kriminalromanen.

Daisy Waugh

Die tote Lady

Ein Herrenhaus-Krimi

Aus dem Englischen von Sonja Hauser

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »In the Crypt with a Candlestick« bei Piatkus, Little, Brown Book Group, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2021

Copyright © der Originalausgabe 2020 by Daisy Waugh

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Gestaltung des Umschlags und der Umschlaginnenseiten: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Irmgard Perkounigg

BH · Herstellung: ik

Satz- und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-641-26448-2V001

www.goldmann-verlag.de

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Zur Erinnerung an meine flotten Großeltern Pamela, Arthur, Evelyn und Laura.

Alium Dime in Jukebox Pone

Eins

Die Todes von Tode Hall

Lady Tode beobachtete, ganz schlanke, kummervolle Dame, vom Großen Nördlichen Tor ihres imposanten Herrenhauses aus, wie ihr Gatte das Gebäude zum letzten Mal verließ. Wie immer regnete es, und Sir Ecgbert war tot. Am anderen Ende des Parks wartete das Familienmausoleum der Todes, die riesige hohe Kuppel von Nebel umhüllt, darauf, seine sterblichen Überreste aufzunehmen.

Das Mausoleum nahm seit zehn Generationen tote Sir Ecgberts auf und wartete auf diesen bereits seit dem Tag seiner Geburt dreiundneunzig Jahre zuvor. Was ihm während seines langen Aufenthalts im Sterbebett tiefen Trost gespendet zu haben schien. Noch lange nachdem er seine Angetraute nicht mehr erkennen und nicht mehr ohne Hilfe zur Toilette hatte gehen können, war er klar im Kopf gewesen und hatte hektisch Fragen über seine letzte Ruhestätte gestellt. War sie für ihn bereit? Wusste jeder, welche Nische er für sich reserviert hatte? Keinesfalls wollte er in die Nähe seines Onkels Gilbert (eines Homosexualisten) und auch nicht – Gott bewahre! – in die Nachbarschaft von »dem Amerikaner«. Hatten sie den Pfad durch den Park für den Leichenwagen gemäht? Würden sie daran denken, das Vieh von dem Feld neben dem Weg zu entfernen? Schließlich sollten ja die Ochsen den Leichenwagen nicht mit den Hörnern attackieren … Wieder und wieder musste Lady Tode ihm versichern, dass alles in Ordnung sei. Ja, mein Eggie-Peg, beruhigte sie ihn. Wir wissen, welche Nische du möchtest! Sämtliche Vorbereitungen sind getroffen! Mach dir keine Gedanken! Doch seine Fragen hatten nie aufgehört. Fast war es, als wäre die bloße Anwesenheit des Mausoleums, das unverändert an der Stelle stand, an der seine Vorfahren es in grauer Urzeit hatten errichten lassen, für ihn der Beweis dafür, dass er seine Pflicht und Schuldigkeit getan hatte. Das Mausoleum befand sich nach wie vor im Besitz der Todes. Er konnte in Frieden ruhen.

Allerdings war es in einem lausigen Zustand. Wer nicht zur Familie gehörte, musste einen Schutzhelm tragen und Formulare, die die Todes von der Haftung entbanden, ausfüllen, bevor er sich ihm nähern durfte. Die Wände waren von Rissen durchzogen, auf dem Dach fehlten Schindeln, dazu kamen Schwamm und Schimmel sowie in einer der vier unterirdischen Kammern (jede davon mit zwanzig oder mehr Fächern) widerlicher Termitenbefall. Steine und Platten hatten sich gelockert oder gelöst, und überall standen Schilder, die Touristen anwiesen, sich fernzuhalten. Ganz zu schweigen von dem Anbau aus dem Jahr 1995. Er stammte von einem Millionär aus Missouri, besagtem »Amerikaner«, der der Verwaltung von Tode Hall 35 000 Pfund gezahlt hatte dafür, dass seine plebejische irdische Hülle in einer leeren Gruft neben Sir Ecgberts Ururururgroßvater zur letzten Ruhe gebettet werden durfte.

Egal, in welchem Zustand es war oder wessen Gebeine darin ruhten: Das Mausoleum der Todes bot einen imposanten Anblick. Es war riesig. Grotesk. Ein Bauwerk von so atemberaubender Gewichtigkeit und Schönheit, dass Studenten der Architektur aus aller Welt anreisten, um es zu bewundern. Der Name »Tode« war praktisch identisch mit dem deutschen Wort »Tod«. (Woran der verblichene Sir Ecgbert seine Gäste gern erinnerte, wenn er sie begrüßte – der einzige Scherz, den man je aus seinem Munde hörte: »Willkommen in der Halle des Todes.«) Vielleicht hatten die Todes von Tode Hall deswegen so viel Geld in die Errichtung der Familiengrabstätte investiert. Möglicherweise beschäftigten sie sich seit jeher auf ungesunde Weise mit dem Ende.

Jedenfalls konnte Lady Tode sich fast nicht überwinden, das verdammte Ding anzusehen. Sie hasste es seit jenem Tag vierundfünfzig Jahre zuvor, an dem sie irrtümlicherweise Sir Ecgberts Braut geworden war. Damals hatte sie, als sie aus der Familienkapelle, aus der Sir Ecgberts Sarg gerade gebracht wurde, trat, zufällig einen Blick auf die prächtige Kuppel des Mausoleums geworfen, die sich hinter Nebel und Regen abzeichnete, und ihr war klar geworden, dass dieses verfluchte Bauwerk auf sie lauern würde bis zu dem Tag, an dem sie an der Reihe wäre, in eine der Nischen geschoben zu werden, es sei denn, sie täte etwas Radikales und ziemlich Wagemutiges, was sie als eher unwahrscheinlich erachtete.

Doch unter den gegebenen Umständen würde das noch lange nicht geschehen. Emma Tode war einundzwanzig Jahre jünger als der Ehemann, den sie an diesem Tag zu Grabe trug. Kerngesund und fit und quicklebendig und nach vierundfünfzig Jahren pflichtschuldigen Gattinnendaseins von dem Wunsch beseelt, die Verantwortung für das Anwesen an die nächste Generation zu übergeben und mehr Zeit in ihrer hübschen Villa auf Capri zu verbringen.

Nur drei Wolken hingen am Horizont: Nicola, Ecgbert und Esmé, von denen keiner auf die sie erwartenden Aufgaben vorbereitet war. Schade, denn irgendjemand musste sie ja erledigen. Lady Tode hatte ihre Pflicht und Schuldigkeit getan. Sie hatte lange genug gewartet.

Nach der Totenwache würde es einen gewaltigen Krach geben.

Zwei

Doch zuerst zur Beisetzung.

Ecgbert und Emma Todes Kinder Nicola, Ecgbert und Esmé (dreiundfünfzig, einundfünfzig respektive neunundvierzig Jahre alt) hatten schon viele Jahre keine gemeinsame Zeit mehr unter dem Dach von Tode Hall verbracht. Dafür gab es zahlreiche Gründe. Nicola war leidenschaftliche Sozialistin. Ihrer Ansicht nach war jeglicher Besitz Diebstahl, weswegen sie sich zutiefst für ihr Elternhaus schämte und sich davon fernhielt. Ecgbert – nun natürlich Sir Ecgbert, der zwölfte Baronet – weilte als »Gast« in einer privat geführten Luxusnervenheilanstalt ganz in der Nähe, während Esmé mit Frau und Familie in Australien lebte. Bei Letzterem spielten also die geografischen Gegebenheiten eine Rolle. Doch hauptsächlich trafen sie sich weder hier noch unter irgendeinem anderen Dach, weil sie einander nicht sonderlich mochten.

So hatten sie nun viele Auseinandersetzungen nachzuholen. In der vergangenen Woche, in der die sterbliche Hülle ihres Vaters in der Kapelle am hinteren Ende des Hauses aufgebahrt gewesen war, hatten sie sich ohne Unterlass gestritten: während sämtlicher Mahlzeiten und auch in den langweiligen Pausen dazwischen. Sie zankten sich über Politik, Religion, den Namen von Nicolas zweitem Pony, darüber, was Mrs Carfizzi ihnen zum Abendessen kochen würde, und vor allen Dingen über jedes noch so winzige Detail der Bestattung ihres Vaters.

Trotz Lady Todes Versprechen am Sterbebett ihres Gatten stellte sich heraus, dass der moderne Leichenwagen es nicht ohne zu schlittern durch das nasse Gras des Parks schaffen würde, weshalb die Familie sich schließlich darauf einigte, den Sarg (aus Ökopappe – worüber man sich selbstverständlich auf unsägliche Weise stritt) auf einen Anhänger zu laden und besagten Anhänger (wieder Gezänk) nicht an Lady Todes praktischem und überdies dem Anlass sehr viel angemessenerem schwarzem Range Rover zu befestigen, sondern am Traktor des Anwesens, der in leuchtendem Orange erstrahlte.

Der orangefarbene Traktor und der schmutzige Anhänger mitsamt biologisch abbaubarem Sarg aus Karton sollten den stattlichen Trauerzug von traditionell knapp einem halben Kilometer durch den Park anführen, beginnend am Großen Nördlichen Tor, an dem Lady Tode, Familie und Gäste nun warteten, dann am See vorbei, hinauf zum Africa Folly (ein kleiner, ziemlich beschwerlicher Umweg, der jedoch einen eindrucksvoll pittoresken Ausblick bot) und schließlich wieder hinunter durch das Feld, auf dem für gewöhnlich Ochsen grasten, und zu den Toren des Mausoleums.

Lady Tode würde unmittelbar hinter dem Anhänger hergehen, begleitet von ihren Kindern und gefolgt von allen anderen: von Freunden (einige), Beschäftigten des Anwesens, Hauspersonal und Pächtern (viele) sowie Trauernden (keine).

Angesichts der Länge des Fußmarschs vom Haus zum Mausoleum und (es war Frühherbst in Yorkshire) dem fast garantiert grässlichen Wetter hatte Lady Tode es für praktisch gehalten, keine übertrieben förmliche Kleiderordnung vorzuschlagen. Ihre Kinder hingegen, die sich ausnahmsweise einmal einig waren, hätten ihr nicht heftiger widersprechen können. Sie bestanden darauf, dass alle sich herausputzten, weil »Vater sich das gewünscht hätte«. Unglaublich!

An diesem Morgen nun musste Lady Tode feststellen, dass die drei beschlossen hatten, sich selbst nicht an die von ihnen verlangte Kleiderordnung zu halten; vielmehr waren sie samt und sonders in schlammbespritzten Jacken erschienen, die sie im letzten Moment aus dem Vorraum mitgenommen hatten. Dazu trug Nicola ein rotes Wollbéret im Che-Guevara-Stil, um zu demonstrieren, wie wichtig ihr die politische Einstellung war. Der ältere ihrer beiden Brüder, den alle nur liebevoll »Mad Ecgbert«, den »Verrückten Ecgbert«, nannten, hatte Stiefel an, die kein Paar waren. Und Esmé mit den kleinen Füßen war in leuchtend pinkfarbene Damengummistiefel geschlüpft, die ebenfalls aus dem Vorraum stammten.

Hier waren sie also: Lady Tode und ihre schwierigen Kinder inmitten einer Menge von etwa zweihundertfünfzig dem Anlass angemessen gekleideten, entsetzlich frierenden Trauergästen. Der Traktor holperte auf sie zu, dahinter der Sarg, der auf acht feuchten Heuballen balancierte und mit einem einzigen Lilienkranz geschmückt war. Der Text auf der darauf liegenden Karte, die in einer Plastikhülle steckte, damit die Tinte nicht verlief, lautete:

Für Vater

Viel Glück!

Von der Familie

Nicht sonderlich liebevoll, zugegeben. Aber diese Eigenschaft hatte ja auch Sir Ecgbert nicht ausgezeichnet. Man erntet, was man sät.

Der Traktor näherte sich. Er wurde, wie zuvor diskutiert und gemeinsam beschlossen, von Oliver Mellors, dem ungemein attraktiven Wildhüter des Anwesens, gelenkt.

Als Mad Ecgbert Oliver Mellors auf dem Traktor sitzen sah, reagierte er beunruhigt: Das war anders, als er es sich vorgestellt hatte, und irgendwie gefiel es ihm nicht. Er stampfte mit dem Fuß auf. Er als ältester Sohn, ganz zu schweigen davon, dass er von nun an den uralten Titel tragen würde, sollte derjenige sein, der den Traktor steuerte. Das teilte er seiner Mutter mit ziemlich lauter Stimme mit. »Ich kann das«, fügte er hinzu, »und es macht mir Spaß.«

Lady Tode hatte nie herausgefunden, wie sie mit Ecgbert umgehen sollte. Am allerwenigsten dann, wenn er mit dem Fuß aufstampfte. Sie war eine durch und durch korrekte Frau, der Dinge schnell peinlich wurden, und eine Szene wollte sie im Augenblick nun wirklich nicht. Sie blickte verlegen Oliver Mellors an, der zu diesem Zeitpunkt vierunddreißig Jahre alt war und bereits seit siebzehn Jahren auf dem Anwesen arbeitete. Lady Tode hatte immer schon eine Schwäche für ihn gehabt. Er schaltete in den Leerlauf und kletterte vom Fahrersitz herunter.

Ecgbert bedankte sich. Es klang ein wenig arrogant. Weil ihm das selbst aufzufallen schien, schenkte er Oliver ein verschwörerisches Lächeln. Als müssten sich diese beiden – Oliver und Ecgbert – gegen die ganze Welt wappnen.

Oliver fragte: »Sie sind schon mal damit gefahren, oder? Ich meine, mit dem Anhänger hinten dran?«

»Natürlich«, antwortete Ecgbert.

»Passen Sie auf das hintere linke Rad auf. Ohne schwere Last könnte es …«

»Ich weiß, ich weiß«, fiel Ecgbert ihm ins Wort. »Wollen wir weiterfahren? Die armen Leute frieren sich im Regen zu Tode. Sorgen wir dafür, dass der alte Mann endlich in die Gruft kommt!«

»Okay«, meinte Mellors.

»Vater hat sich seit Ewigkeiten auf diesen Tag gefreut, nicht wahr, Mutter?« Ecgbert erklomm den Fahrersitz. Von dort aus schenkte er allen ein freundliches, ein wenig irres Lächeln, gab meckernd Gas und lenkte den Traktor absichtlich in eine Pfütze.

Esmé und Nicola riefen ihm nach, er solle langsamer machen, doch er konnte oder wollte sie nicht hören. Er entfernte sich, und ihnen blieb nichts anderes übrig, als irgendwie mit ihm Schritt zu halten. Sie hasteten ihm keuchend und schnaufend hinterher, so schnell sie konnten, und taten dabei so, als wäre das völlig normal. Kurz darauf ereignete sich, wie nicht anders zu erwarten, die Katastrophe.

Auf halbem Weg durch den Park, fast oben auf der Anhöhe mit dem Folly, so weit weg, dass diejenigen, die zu Fuß unterwegs waren, Mad Ecgbert kaum noch wahrnahmen, scherte der Traktor aus. Ecgbert stieß einen Schrei aus, und der Traktor kam bebend zum Stehen. Der Motor heulte auf, es folgte ein weiterer wütender Schrei, und dann tat der Anhänger das, was Anhänger ohne ausreichend Last, um sie am Boden zu halten, eben so tun, wenn sie von eifrigen Amateuren auf einer steilen Anhöhe gelenkt werden. Das linke Hinterrad war gegen einen Stein gefahren, und nun kippte der Anhänger.

Eins … zwei … drei … Der Anhänger fand das Gleichgewicht zu langsam wieder, um die Ladung zu retten. Zuerst fielen die Lilien herunter, dann der Sarg und die Heuballen. Der Sarg landete verkehrt herum und knickte unter den schweren Ballen ein, die darauf zu liegen kamen.

Die Leute, die zu Fuß unterwegs waren, schwiegen schockiert, doch Nicola begann zu kichern. Esmé bedachte sie mit einem mörderischen Blick, bevor er in seinen kleinen pinkfarbenen Stiefeln zum Ort der Katastrophe rannte. Egal, wie verrückt oder ärgerlich Esmé seinen Bruder auch fand: Ecgbert gehörte zur Familie, und er brauchte Hilfe.

Als Esmé den Traktor erreichte, war Ecgbert bereits vom Fahrersitz heruntergeklettert und wühlte in dem Chaos; er hob die Heuballen von dem Sarg herunter und lud sie eiligst auf den Anhänger. Dabei schaute er zu Esmé hinüber und dann zu den etwa einhundertfünfzig Meter entfernten Trauergästen, die mit jeder Sekunde näher kamen.

»Keine Sorge!«, rief er. »Alles unter Kontrolle!« Er lachte, aber Esmé sah, wie seinem Bruder Tränen in die Augen traten.

»Idiot!«, schalt Esmé ihn. Von all den Dingen, die er seinem Bruder in der vergangenen Woche an den Kopf geworfen hatte, war dies noch bei Weitem der freundlichste Ausdruck.

Ecgbert hievte gerade einen weiteren Heuballen hoch. »O Gott, ist das sein Arm, Es? Ragt da sein Arm heraus? Es! Ja, es ist sein dürrer kleiner Arm – schau! Igitt … Das ist Vaters Arm!«

»Drück ihn wieder rein«, wies Esmé ihn an.

»Es ist sein Arm, Es! Sein verdammter Arm! Den rühr ich nicht an …«

Esmé schob seinen Bruder beiseite, packte den Arm (der starr wie ein Brett und leicht wie eine Feder war), stopfte ihn zurück in den Sarg und klappte diesen zu. »Der Sarg liegt verkehrt herum«, stellte er fest. »Hilf mir, ihn umzudrehen. Schnell. Den kriegen wir rauf auf den Anhänger, bevor sie uns erreichen. Vergiss die Heuballen, Ecgbert. Beeil dich!«

Ecgbert tat, wie ihm geheißen. Tränen liefen ihm übers Gesicht. »Wir hätten keinen so albernen Sarg kaufen dürfen!«, keuchte er.

»Mach!«

»Wenn wir einen anständigen Sarg genommen hätten …«

Sie stellten ihn mit einem dumpfen Geräusch zurück auf den Anhänger. Dann hob Esmé den Kranz vom Boden auf, der unter den gegebenen Umständen noch ziemlich gut in Schuss war, wischte ihn sauber und legte ihn auf den zerbeulten Sarg. Als die Trauergäste eintrafen, war alles wieder mehr oder minder an Ort und Stelle. Ecgbert und Esmé hatten die letzten beiden unten verbliebenen Heuballen in Form einer improvisierten Sitzgelegenheit arrangiert, jeder auf einem Platz genommen und plauderten nun, als wäre nichts geschehen. Abgesehen davon, dass Ecgbert zitterte.

»Gott, dieser Regen!«, bemerkte Lady Tode, als sie sie erreichte. »Es gießt ja wie aus Kübeln!«

»Ja, Emma, das finde ich auch!«, pflichtete ihre Freundin Veronica Snell von Snell Manor ihr bei. »Grässliches Wetter!«

Nicola gesellte sich zu ihnen; ihr politische Identität stiftendes Béret wippte beim Gehen auf und ab.

»Dein blöder Sarg ist aufgeplatzt«, knurrte Ecgbert, bevor sie Zeit für Schadenfreude hatte. »Ich hab dir gleich gesagt, dass der nicht halten würde. Vaters Arm ist rausgerutscht. Es musste ihn wieder reinstopfen.«

»Grundgütiger!«, rief Lady Tode aus. »Das ist aber ein hübscher ›Sitzbereich‹, den du da arrangiert hast, Ecgbie! Was für eine großartige Idee! Schätze, einige von uns sind nach dem Aufstieg dankbar für diesen Rastplatz. Uff! Oder sollen wir weitergehen?«

Man beschloss, ohne Verschnaufpause weiterzugehen.

Ecgbert sah Oliver Mellors an, der ihn mit einem sanften, mitfühlenden, sexy, attraktiven, verständnisvollen, beruhigenden, selbstbewussten Lächeln bedachte. Nicola war nicht scharf auf Cis-Männer, weswegen es ihr bestimmt nicht auffiel. Und alle anderen waren damit beschäftigt, wieder zu Atem zu kommen. Ecgbert erwiderte das Lächeln wehmütig. »Ich denke«, sagte er, »Sie sollten jetzt übernehmen, Oliver. Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

Nachdem die Ordnung wiederhergestellt war, konnte Sir Ecgberts Trauerzug seinen Weg feierlich fortsetzen.

Drei

Danach verlief alles ziemlich problemlos. Die Gäste trugen während der Trauerfeier keine Schutzhelme. Esmé hatte sie, als sie sich ins Kondolenzbuch eintrugen, gebeten, Formulare zu unterzeichnen, in denen sie die Todes von der Haftung entbanden, doch das erwies sich als unnötige Vorsichtsmaßnahme, weil während der Feier niemand stolperte oder ausrutschte und auch niemandem lose Dachziegel auf den Kopf fielen. Nach einer kurzen Zeremonie in dem Kuppelraum über den Kammern folgten die engsten Familienangehörigen dem Pappsarg hinunter in die Gruft zur endgültigen Grablegung. Mr Carfizzi, Tode Halls langjähriger Hausmeister und selbst ernannter »Butler«, kam ebenfalls mit. Er ging sogar vorneweg, mit einer süßlich duftenden Kerze in einem silbernen Halter. Niemand hatte ihn eingeladen, aber von sämtlichen Anwesenden war er der Einzige mit Tränen in den Augen, was die Familie (aus vielerlei Gründen, denn ohne ihn wäre sie verloren gewesen) dankbar zur Kenntnis nahm. Seine Gegenwart minderte die Intimität der Atmosphäre ein wenig und reduzierte somit das Potenzial für eventuelle Peinlichkeiten. Während der Leichnam samt Sarg in die dafür vorgesehene Lücke geschoben wurde, unterhielten sich die Anwesenden im Plauderton. Lady Tode bemerkte, wie elegant der Raum aussehe, und bedankte sich bei Mr Carfizzi dafür, dass er »alles so gut organisiert« habe. Nach einigen doch noch ziemlich peinlichen Momenten letztlich unvermeidlichen Schweigens bewegten sie sich wieder hinaus ans Tageslicht.

Der Weg zurück zur Hall gestaltete sich immer recht angenehm, dafür hatten die Vorfahren der Todes dreihundert Jahre zuvor gesorgt. Aus dieser Perspektive präsentierte sich das Haus von seiner Schokoladenseite: Die beiden lang gezogenen Flügel sowie die riesige Kuppel in der Mitte – Tode Hall besaß die Ausdehnung eines Dorfes – wirkten aus diesem erhöhten Blickwinkel absolut symmetrisch. Das Gebäude fügte sich wie ein gewaltiges uraltes Raumschiff in die Landschaft, trotzig in seiner Pracht und lächerlich in seiner Größe (auf besagte Größe kann gar nicht genug hingewiesen werden). Es sah irgendwie absurd aus. Schön und zugleich absurd. Jedenfalls entlockte sein Anblick Mad Ecgbert jedes Mal ein Kichern.

Haus und Anwesen waren an diesem Tag der Tage für die Öffentlichkeit geschlossen. Normalerweise, selbst an einem verregneten Tag wie diesem, hätten sich im Park unzählige Barbaren getummelt (die an den Toren eine Eintrittskarte erworben hatten). Unten beim Bootshaus, das jetzt als Café genutzt wurde, befand sich ein Abenteuerspielplatz, und die alten Stallungen auf halber Höhe der Auffahrt waren in einen geschmackvollen Souvenirshop umgewandelt worden, in dem Besucher feinen Tee und astronomisch teuren Nippes erstehen konnten. Um das klarzustellen: Tode Hall war nicht irgendein x-beliebiges Herrenhaus, es gehörte zu den berühmtesten des Landes. Dieser Ruhm hatte genauso viel mit seiner bemerkenswerten, von Vanbrugh entworfenen Kuppel, dem fast fünfzig Meter langen Ballsaal et cetera et cetera zu tun wie mit einem der populärsten Romane des zwanzigsten Jahrhunderts, mit Tanze im Takt zur Musik.

Der Überlieferung nach hatte seine Autorin, die geniale Lesley Piece, zwischen den Kriegen zum Tee in Tode Hall vorbeigeschaut – und war von seiner Pracht dermaßen beeindruckt gewesen, dass sie einen Roman verfasste. Tanze im Takt ist eine Geschichte über die aristokratischen Eigentümer besagten imposanten Gebäudes, mit besonderem Fokus auf Tintin, den jüngsten Sohn der Familie, einen Alkoholiker und Amateurdetektiv mit mutmaßlichen homosexuellen Neigungen. Die meisten Besucher von Tode Hall hatten dieses berühmte Buch mit ziemlicher Sicherheit nicht gelesen, aber davon gehört und mindestens eine der glamourösen Verfilmungen gesehen. Derer gab es zwei, vor etwa zwanzig Jahren eine extravagante mehrteilige TV-Serie mit einprägsamer Titelmelodie, die noch immer in Warteschleifen auf der ganzen Welt zu vernehmen war, und aktueller einen Hollywood-Film mit einem Schauspieler, der danach James Bond verkörperte! Laut Aussage von Esmé Tode, dem in puncto modernes Leben bei Weitem aufgewecktesten der Geschwister (ihm gehörte eine kleine Kette von Luxusfitnessstudios im Umland von Melbourne), führte man bei der BBC gegenwärtig Gespräche über eine weitere Dramatisierung, diesmal mit deutlicher Betonung des LBGTQ-Aspekts, den Ms Piece in ihrem Werk aufgrund der damals herrschenden Moralvorstellungen lediglich angedeutet hatte.

Was sich natürlich positiv auf die Kasse der Tode-Familie auswirkte, jedoch den verblichenen Sir Ecgbert verärgert hatte, welcher der Ansicht war, dass man sich des Anwesens aus weit mehr Gründen entsinnen sollte als nur eines »einzigen verdammten homosexualistischen Romans« wegen, den er nie gelesen hatte. Sir Ecgberts Auffassung nach sollten »Leute« – Gäste, Touristen, Handwerker – beim Anblick des Hauses nicht sofort die Titelmelodie von Tanze im Takt zu summen beginnen. Das sei impertinent, pflegte er zu sagen. Was selbstverständlich stimmte, die »Leute« jedoch nicht daran hinderte, es weiter zu tun. Denn die Melodie war ein veritabler Ohrwurm.

Trotz seiner Abneigung dem Buch gegenüber, das er niemals gelesen hatte, zögerte Sir Ecgbert nicht, die Verbindung zu nutzen. Ein Flügel des Hauses war komplett Tanze gewidmet. Dort konnte man die Titelmelodie hören und Fotos des späteren James-Bond-Darstellers mit seinem berühmten Teddy Idefix auf dem Arm sehen, der zwischen den Takes mit Schauspielerkollegen plauderte.

Möglicherweise hörte Lady Tode, wie einige der Trauergäste nach der Grablegung leise das Filmlied sangen, denn auf dem Weg zurück zum Haus summte sie es selbst. Menschen sollen bei der Beisetzung ihres Ehegatten nicht summen, am allerwenigsten die Melodie, die ebendieser Gatte am meisten hasste. Ihre Tochter, die neben ihr herging, erklärte ihr, sie sei »vulgär«. Worauf Lady Tode sofort aufhörte und sich entschuldigte. Danach trotteten sie schweigend dahin – Fetzen der Titelmelodie drangen ihnen vom Fußvolk an die Ohren, wenn »Leute« immer wieder unwillkürlich zu singen anfingen.

Die aristokratische Familie in dem Roman war glamourös, elegant, sympathisch und unglaublich charmant, und in der Fernsehserie (deren Titel zu einem einprägsameren Tanze verkürzt wurde) war das Anwesen stets in goldenes Sonnenlicht getaucht und voll geistreicher Menschen, die mit Picknickkörben im Park lagerten. Dazu kamen Bedienstete in angemessener Kleidung sowie hochglanzpolierte altmodische Autos und …

»Schade, was?«, meinte Mad Ecgbert, der zwischen seiner Mutter und seiner Schwester herschlenderte. »Wir sind viel unattraktiver als die Leute im Film.«

»Unsinn, Ecgbert«, widersprach Lady Tode. »Stell dein Licht nicht unter den Scheffel.«

Endlich erreichten sie das Haus. Mrs Carfizzi hatte kleine Kanapees vorbereitet und vor der Trauerfeier im Gelben Salon arrangiert. Sie und ihr Mann Mr Carfizzi waren auf Mellors’ Anhänger zur Hall zurückgefahren, damit sie rechtzeitig dort wären, um die Gäste zu begrüßen – oder besser gesagt: damit Mrs Carfizzi, die Köchin, in die Küche konnte, und Mr Carfizzi, der Hausmeister/Butler, mit ernstem Blick an der Tür stehen und den Gästen die Mäntel und Jacken abnehmen konnte.

Wie alles in Emma Todes bisherigem Leben verging die Totenwache für ihren Gatten in einem Nebel aus Small Talk und Nichtigkeiten. Sie fand in dem (bereits erwähnten) Gelben Salon statt, der sonst den neugierigen Blicken der Öffentlichkeit preisgegeben war, mit einer roten Kordel abgetrennt, damit niemand die Möbel berührte oder sich auf einen Stuhl setzte. Ein prächtiges Zimmer. An der einen Wand hingen ein Gemälde von Stubbs und eines von Reynolds, an der anderen klaffte eine Lücke, wo normalerweise ein großer Gainsborough prangte. Aufgrund eines komplizierten Deals mit den Behörden zur Vermeidung der Erbschaftssteuer befand sich besagtes Gemälde gegenwärtig in einem der Öffentlichkeit zugänglichen Raum in der Downing Street 10. Niemand wusste, wann genau und ob es überhaupt jemals wieder an seinen angestammten Platz zurückkehren würde.

Die Gäste nippten, eingeschüchtert von der Umgebung, am billigen Weißwein und knabberten an Mrs Carfizzis grässlichen Kanapees. Alle waren sich einig, dass es eine sehr schöne Trauerfeier gewesen sei und Sir Ecgbert ein gesegnetes Alter erreicht habe. Danach machten sie sich auf den Heimweg und überließen den Carfizzis, die eine Wohnung im Keller hatten, das Aufräumen.

Mittlerweile war es vier Uhr nachmittags. Emma Tode zog sich zu einem Nickerchen in ihr Zimmer zurück, und die Kinder begaben sich in die Lange Galerie, um auf ihren jeweiligen iPhones unterschiedliche Fernsehsendungen anzuschauen.

Später gab es dann Abendessen.

Vier

Lady Tode kannte ihre Kinder nicht sehr gut. Nach einem geschäftigen Leben pflichtschuldiger Fröhlichkeit kannte sie sich ja selbst kaum. Sie ging völlig zu Recht davon aus, dass ihre Kinder verärgert sein würden über das, was sie ihnen mitteilen wollte, aber sie hatte nicht bedacht, wie verärgert sie sein würden, und auch über die Ursache dafür hatte sie sich nicht ernsthaft Gedanken gemacht. Aus ihren eigenen, Lady Tode unerklärlichen Gründen schienen sie ohnehin stets ein wenig verärgert über sie zu sein. Weswegen sich an der Situation nicht allzu viel ändern würde.

Das Dinner sollte wie üblich um acht Uhr im Roten Speisezimmer serviert werden (in Tode Hall gab es drei solcher Zimmer; dieses war das kleinste), und alle wussten, dass es den Bediensteten gegenüber rücksichtslos wäre, zu spät zu kommen. Nach einem erholsamen Schläfchen und einem langen, heißen Bad mit einem Duft von Floris kämmte Lady Tode sich die Haare, trug dezent ein wenig Farbe auf ihr nach wie vor attraktives Gesicht auf und wappnete sich auf diese sorgsame Weise für den bevorstehenden Abend. Mit ein wenig Glück würde es zu keiner großen Szene kommen.

Da klopfte es an ihrer Tür. Mr Carfizzi. Wie immer sog er den Duft von Lady Todes Schlafzimmer tief ein, als sie öffnete. Den unverwechselbaren Duft. So feminin. So leicht und elegant. So dezent. So Lady Tode. Noch nach all der Zeit verkörperte sie seine Idealvorstellung einer Frau: unnahbar, unberührbar, köstlich duftend. Seine arme nichts ahnende Gattin hatte auch nach vierzig Jahren Ehe nicht begriffen, dass Mr Carfizzi, wenn es ums Berühren ging, eine deutliche Vorliebe für Männer hegte.

Er entschuldigte sich bei Lady Tode für die Störung. Mrs Camer warte unten, teilte er ihr mit, sie bestehe darauf, mit ihr zu sprechen.

»Mrs Camer? Was, jetzt? Aber es ist fast Zeit fürs Abendessen!«, erwiderte Lady Tode. »Kann das nicht bis morgen warten?«

»Leider sei das nicht möglich, sagt sie.«

Mr Carfizzi hatte seine kalabrische Heimat mehr als fünfzig Jahre zuvor verlassen, jedoch niemals seinen starken italienischen Akzent abgelegt. (Seine italienische Ehefrau, die Italien etwa zur gleichen Zeit den Rücken kehrte, sprach so schlecht Englisch, dass nichts von dem, was ihrem Mund entströmte, zu verstehen war. Die Todes vermuteten seit jeher, sie drücke sich absichtlich unverständlich aus – falls sie sich überhaupt die Mühe machten, darüber nachzudenken –, aber niemand konnte sich so recht erklären warum.)

»Nicht möglich? Ist mit ihr alles in Ordnung?«

»Ja, völlig …« Mr Carfizzi musste sich sehr beherrschen, nicht mit der Neuigkeit herauszuplatzen.

»Warum ist sie überhaupt noch da? Ich dachte, alle hätten sich schon vor Stunden verabschiedet. Sie hat doch nicht gearbeitet, oder? Die Arme arbeitet zu viel … An einem Tag wie diesem sollte sie sich eine Auszeit gönnen. Finden Sie nicht?«

Mrs Camer, achtundvierzig, geschieden und oft einsam, hatte ihr eigenes Büro im Osttrakt des Hauses. Sie wohnte in einem zum Anwesen gehörenden Cottage und fuhr einen ebenfalls zum Anwesen gehörenden Wagen. Ihr offizieller Titel lautete »Verwalterin von Haus und Anwesen der Tode Hall Estates«, obwohl ihr eine andere Bezeichnung, die mehr nach einer leitenden Position geklungen hätte, lieber gewesen wäre. Leider hatte Sir Ecgbert, dessen Gehirn dieser Titel entsprungen war, als er sie zehn Jahre zuvor einstellte, sie für impertinent gehalten, als sie den Vorschlag machte, und davon nichts wissen wollen. Seitdem hegte Mrs Cramer ihren Arbeitgebern gegenüber Groll. Wie unfair! Lady Tode war ihr gegenüber stets höflich gewesen und hatte sie sogar in der Auseinandersetzung über die Bezeichnung ihrer Funktion unterstützt. Doch das änderte nichts. Mrs Camer war seit jeher neidisch auf Lady Tode und konnte sie einfach nicht leiden.

»Ich glaube«, hob Mr Carfizzi an, der sich nicht länger zügeln konnte, »sie muss auf den Zug. Sie verlässt uns, Lady Tode. Angeblich hat sie einen Herrn gefunden, der sie heiraten möchte, aber das kann ich mir nicht vorstellen. Sie etwa?«

»Wie bitte?«

Mr Carfizzi erbebte. »Irgendein armer Kerl hat um ihre Hand angehalten, behauptet sie. Sie wird ihm das Leben zur Hölle machen, indem sie bei ihm einzieht …« Er schwieg kurz. »Sie hat mir gesagt, wohin sie fahren will, doch ich habe es vergessen. Sie möchte sich verabschieden, bevor sie heute Abend von hier abreist.«

Lady Tode überlegte kurz. »Das kommt ziemlich überraschend«, meinte sie dann.

Mr Carfizzi zuckte mit den Achseln. Ja, das stimmte.

»Ja nun, dann werde ich ihr wohl auf Wiedersehen sagen müssen.« Lady Tode seufzte. »Sie hätte wirklich einen oder zwei Tage warten können. Aber egal. Wir müssen einen Ersatz für sie finden … eine Anzeige aufgeben … Gibt es die Zeitschrift The Lady noch?« Emma Tode folgte Mr Carfizzi aus ihrem extravaganten Schlafzimmer (in ihrem Bett hatte einmal George II. geschlafen) und überließ es ihrer slowakischen Haushälterin Kveta, die Lichter zu löschen und in ihrer Abwesenheit aufzuräumen. »Danke, Mr Carfizzi. Ich muss mich um sie kümmern. Sagen Sie bitte den Kindern, ich geselle mich später zu ihnen. Sie sollen ohne mich mit dem Essen anfangen. Es wird nicht lange dauern. Wir wollen Mrs Carfizzi schließlich nicht warten lassen.«

In der Zeit, die Lady Tode benötigte, ihr Schlafzimmer zu verlassen, den langen Flur entlangzugehen und in den Großen Saal zu gelangen (zwei Minuten strammer Fußmarsch), stieg ein leichtes Gefühl der Ungehaltenheit über Mrs Camer in ihr auf, denn diese Mitteilung so kurz vor dem Abendessen zu machen, und noch dazu unmittelbar nach Sir Ecgberts Beisetzung, zeugte von sehr schlechten Manieren. Es war nachgerade schockierend.

Sie bot Mrs Camer nichts zu trinken an. Mrs Camers Blick nach zu urteilen hätte sie das Angebot vermutlich ohnehin nicht angenommen. Einen kurzen Moment lang standen sie Auge in Auge vor dem prasselnden Kaminfeuer unter der hallenden zwanzig Meter hohen Kuppel, zwei klein gewachsene Frauen in einem wahnwitzig großen Raum, und warteten darauf, dass eine von ihnen etwas sagte. Dann fingen beide gleichzeitig zu reden an.

»Es tut mir schrecklich leid, Sie zu stören, Lady Tode …«, begann Mrs Camer (plötzlich nervös) und verstummte.

»Carfizzi meint, Sie wollen uns verlassen«, begann Lady Tode in ihrer frostigsten Stimme. (Natürlich war es Lady Tode, die danach fortfuhr.) »Das bedauere ich sehr.«

»Ich auch«, sagte Mrs Camer. Auf diesen Moment hatte sie sich seit ihrem ersten Arbeitstag bei den Todes gefreut. Dann brach sie in Tränen aus.

Lady Tode tröstete sie und entledigte sich ihrer in der Zeit, die ihre Kinder benötigten, um den ersten Gang (gebratener Käse auf dünn geschnittenen Weißbrotscheiben) zu verspeisen, sich über die Mondlandung zu streiten und nach Mrs Carfizzi zu klingeln, damit sie die leeren Teller abräumte.

Fünf

Als Hauptgang gab es Cottage Pie. Ecgberts Lieblingsspeise.

Lady Todes Kinder wollten wissen, warum sie so spät zum Abendessen erschien. Als sie ihnen den Grund nannte, jubelten sie: Ausnahmsweise einmal waren sie sich einig. Keiner von ihnen hatte sich je für Mrs Camer erwärmen können. »Außerdem«, meinte Mad Ecgbert, »hat sie uns gehasst.«

»Aber nein«, widersprach Lady Tode.

»O doch«, sagte Esmé.

»Wieso denn das?«, fragte Lady Tode.

»Wieso denn nicht?«, knurrte Nicola unter ihrem Béret hervor. »Sie hat unserer Familie doch faktisch gehört – uns ›gehörten‹ ihr Haus, ihr Wagen, das Essen, das sie auf den Tisch brachte …«

»Wie üblich machst du dich lächerlich«, erwiderte Esmé. »Uns gehörte das Essen, das sie auf den Tisch brachte, keineswegs. Für dieses Essen hat sie mit ihrem Lohn bezahlt.«

»Den sie von uns bekam.«

»Natürlich. Schließlich war da dieses komische Arrangement, das man einen ›Job‹ nennt. Vielleicht sollte ich dir erklären, wie das funktioniert.«

»Du widerst mich an«, meinte Nicola. »Diese Familie hat ihr Vermögen durch Sklaverei zusammengerafft.«

»Nein, das hat sie nicht«, korrigierte Lady Tode sie. »Unser Vermögen stammt aus der Landwirtschaft. Was nicht …«

»Wir haben es durch die Ausbeutung von Arbeitern verdient. Mir ist egal, wie du das umschreibst, für mich ist es Sklaverei.«

»Sag dazu, wie du möchtest, du blöde Kuh«, erwiderte Mad Ecgbert. »Nenn es meinetwegen Salsa. Aber bitte reich mir endlich den Ketchup.«

Nicola gab ihm den Ketchup, dann schwiegen sie eine Weile. Irgendwann räusperte Lady Tode sich.

»Ich finde, es war eine schöne Trauerfeier«, bemerkte sie.

»Absolut«, pflichtete Esmé ihr bei. »Wenn man die kurze Szene außer Acht lässt, als Vater aus seinem Sarg rutschte. Wirklich eine wunderbare Feier.«

»Das war übrigens deine Schuld, Nicola«, stellte Ecgbert fest. »Alles wäre wunderbar gewesen, wenn du uns nicht genötigt hättest, unseren Vater in einer verdammten Zigarettenschachtel beizusetzen. Du solltest dich was schämen. Das wird unsere Familie vermutlich nie verwinden.«

»Du solltest dich schämen, nicht ich. Schließlich war nicht ich diejenige, die sich bei der Beerdigung ihres Vaters wie auf dem Rummelplatz aufgeführt und den armen Kerl aus seinem Sarg gekippt hat.«

Lady Tode räusperte sich ein zweites Mal. »Aber egal …«, hob sie an.

»Bin ganz deiner Meinung, Mutter!«, rief Ecgbert aus. »›Aber egal.‹ Herrgott, lasst uns von was anderem reden. Esmé, du bist ein Idiot. Und Nicola, mir fehlen die Worte, um auszudrücken, wie wenig ich von dir halte. Aber egal. Ich finde, wir sollten auf die Zukunft anstoßen. Vater hatte ein langes Leben … ein sehr langes Leben … Und natürlich tut es uns allen leid, dass er nicht mehr unter uns weilt. Nachdem das geklärt ist, möchte ich euch mitteilen, dass ich für meinen Teil mich darauf freue, hier einige Veränderungen zu sehen. Mutter, willst du das Anwesen auf Vordermann bringen, jetzt, da der alte Mann aus dem Weg ist? Ich hoffe das jedenfalls.«

Lady Tode räusperte sich ein drittes Mal. »Das ist eine gute Frage, Ecgbie. Ich bin sehr froh, dass du sie stellst …«

Ihr Tonfall veranlasste die drei jüngeren Todes, kurz mit dem Kauen aufzuhören. Ihre Mutter sah aus wie eh und je. Elegant und gepflegt, distanziert und gelassen. Doch sie klang ernst. Nervös. Bis zu diesem Moment war keinem von ihnen in den Sinn gekommen, dass sich tatsächlich etwas ändern könnte. Schließlich war Lady Tode noch nicht alt und hatte das Anwesen faktisch jahrelang geführt. Der Vater war mit seinem Rollstuhl immer nur zu besonderen Anlässen herausgeschoben worden – um Hände zu schütteln, Feiern zu eröffnen et cetera; er hatte nicht einmal gelernt, wie man einen Computer einschaltete. Und er hatte nicht die geringste Ahnung von geschäftlichen Dingen, weil seine junge Frau sich um alles kümmerte. Warum also sollte sich irgendetwas ändern?

Über das schimmernde Silber und Mahagoni des Esstischs hinweg blickte Mad Ecgbert seine Mutter an und fasste die Frage in Worte, die ihm und seinen Geschwistern auf den Nägeln brannte: »Is was, Doc?«

»Nun, Ecgbie …«, hob sie an, »… ich könnte mir vorstellen, dass du ein ganz klein wenig verärgert sein wirst.«

»Über dich, Ma? Niemals!«

»Ich denke doch. Esmé … Nicola. Das geht euch alle an. Ich fürchte, ihr werdet alle ein klein wenig verärgert sein. Aber, meine Lieben, ich habe das Gefühl …« Sie schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Ich habe wirklich das Gefühl, meine Pflicht und Schuldigkeit getan zu haben. Für die Todes und Tode Hall.«

Sie sahen sie mit großen Augen an, unsicher, was sie ihnen mitzuteilen versuchte, oder, besser gesagt: welche Auswirkungen das, was sie ihnen mitzuteilen versuchte, auf sie haben konnte.

»Du hast Großes geleistet«, meinte Esmé. »Das ist allgemein bekannt, Mutter. Du bist ein absoluter Schatz. Wenn du dich nicht auf so erstaunliche Weise um sämtliche Belange gekümmert hättest, wäre dieses Haus schon vor Jahren an irgendeinen Oligarchen verscherbelt worden.«

»Selbst ein Oligarch wäre meiner Ansicht nach nicht willens gewesen, sich ein so großes Haus ans Bein zu binden«, seufzte Lady Tode.

»Oder noch schlimmer.« Bei dem Gedanken schauderte Esmé. »Am Ende hätten wir es gar dem National Trust überlassen müssen.«

»Um Himmels willen!«, rief Mad Ecgbert aus. »Nicola, hast du vor, die Erbsen den Rest deines Lebens bei dir zu behalten? Sag mal, was hast du eigentlich für ein Problem?«

»Ich habe überhaupt kein Problem. Warum hast du mich nicht einfach gebeten, sie dir zu reichen?«

Lady Tode erhob nicht oft die Stimme, doch nun musste sie sich Gehör verschaffen. »Es ist nämlich so …«, begann sie – fast hätte sie geschrien, »… Ecgbert, Nicola, Esmé: Ich will die Zügel in Tode Hall nicht mehr in der Hand halten. Nicht ohne euren Vater. Ich konnte mich glücklich schätzen, so lange Zeit von so viel Schönheit umgeben zu sein. Aber jetzt reicht es mir. Ich bin müde. Es wird Zeit, die nächste Generation ans Ruder zu lassen … Natürlich bin ich bereit, die folgenden Monate hierzubleiben – auch ein Jahr, wenn es sein muss – und beim Wechsel zu helfen. Doch danach, habe ich beschlossen … Kinder, wie ihr wisst, liebe ich mein kleines Haus auf Capri sehr, und ich habe nie so viel Zeit dort verbringen können, wie ich eigentlich wollte. Hier ist mein Plan: Ich werde nächste Woche aus der Hall aus- und in das Gärtnerhaus umziehen, noch eine Weile da sein und meine hiesige Basis nicht ganz aufgeben. Aber ich werde sehr viel mehr Zeit auf Capri verbringen.«

»So ein Unsinn.« Esmé sprang auf. »Das ist absurd.« In seiner Stimme schwang Panik mit. »Ecgbert kann das Anwesen nicht ohne dich leiten, Mummy. Das weißt du.«

»Und ob ich das kann!«, herrschte Ecgbert ihn an. Hinter der Wut war auch bei ihm Panik zu hören.

»Und Nicola schafft das nicht. Sie würde das Ganze in einen Tuntentreff verwandeln. Oder irgendeiner verdammten radikalislamischen Lesbierinnengruppe überlassen, die hier Biotofu anbaut. Mutter, du scheinst dir das nicht gründlich überlegt zu haben. Und ich kann es übrigens auch nicht übernehmen. Nur für den Fall, dass du das denkst. Ich mach das verflucht noch mal nicht. Jesus …«

Esmés Erregung wuchs. Er wusste, was gleich kommen würde. Dem Blick seiner Mutter sah er an, worum sie ihn bitten würde. Und das kam nicht infrage. Schon der Gedanke daran trieb ihm Tränen in die Augen – alles an England trieb ihm Tränen in die Augen: diese Familie, dieses Haus, diese Mutter, die da saß und ruhig darauf wartete, das Unmögliche zu erbitten, dieser Vater, der aus seinem Pappsarg rutschte, diese Nische im Mausoleum … Esmé stellte sich vor, wie er nach Australien zurückkehrte und seiner Frau Chelsea die Neuigkeit eröffnete: Sie würde ihm ins Gesicht lachen! Und sie würde ihm raten, sich seine familiären Verpflichtungen in seinen fetten englischen Arsch zu schieben (denn so redete sie, anders als Lady Tode – nicht zuletzt deshalb liebte er sie). Sie würde Piper und Kyle nehmen, weil die bestimmt nicht mit ihm nach England wollten. Seine Kinder hassten England. Und so würde er den Rest seines Lebens einsam mitten in Yorkshire sitzen, ohne Frau und ohne Kinder, in einem Haus von der Größe einer Stadt, und mit Leuten wie Mrs Camer über die Kosten von Schildern mit der Aufschrift »Betreten des Rasens verboten« reden.

Er begann zu hyperventilieren.

»Setz dich, mein Lieber«, sagte Lady Tode. »Und atme tief durch.«

»Ich mach das nicht, Mutter. Du brauchst mich gar nicht zu fragen.«

»Nun beruhig dich mal wieder, Es«, meinte Ecgbert und schlug ihm – nicht unfreundlich – auf den Rücken. »Dich fragt ja gar niemand. Mutter, wenn ich in die Bresche springen soll, musst du es bloß sagen. Mir wäre es eine Freude!« Doch niemand achtete auf ihn.

Lady Tode nahm sich einen Moment Zeit, ihre Kinder zu betrachten, die sie über das schimmernde Silberbesteck hinweg wütend anstarrten. Vierundfünfzig Jahre lang hatte sie sich für den Bestand ihres Erbes aufgeopfert. (Das ging ihr durch den Kopf.) Nun waren sie an der Reihe. Ecgbert kam nicht infrage, das lag auf der Hand. Doch Esmé eignete sich. Wenn er sich weigerte, musste sie jemand anders finden.

»Esmé«, sagte sie traurig. »Du enttäuschst mich.«

»Wie bitte? Warum? Warum ich? In dieser Familie gibt es drei Kinder. Ich bin der Einzige von ihnen, der im Leben Erfolg hat. Warum möchtest du, dass ich das kaputt mache? Bitte doch einen von diesen beiden Scherzbolden. Herrgott noch mal, die haben nichts zu verlieren. Ich habe eine Frau, Kinder, ein florierendes Unternehmen …«

»Dieses Haus«, fiel sie ihm ins Wort, »befindet sich seit über dreihundert Jahren im Besitz deiner Familie. Kannst du dir vorstellen, wie hart jede Generation kämpfen musste, damit es so blieb?«

»Vater habe ich nicht gerade hart darum kämpfen sehen«, mischte sich Nicola ein. »Ihm ist alles in den Schoß gefallen.«