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Nach vielen Jahren trifft die Stralsunderin Gisela zufällig ihre ehemalige Nachbarin Rosi wieder. Die beiden stellen fest, dass sie das gleiche Schicksal ereilt hat: Arbeitslosigkeit und Langeweile. Kurz entschlossen und todesmutig beschließen sie, ein Unternehmen zu gründen, das zu Stadtführungen der besonderen Art einlädt – und zwar mit Erfolg: Sowohl das Rollmopswettrollen als auch das Bungeespringen von der Rügenbrücke finden Anklang. Doch die Freude der beiden trübt sich, als in Stralsund mehrere Touristen ermordet werden. Während die Polizei im Dunkeln tappt, ahnen Gisela und Rosi, was die Opfer verbindet: Sie alle haben an ihrer ersten Führung teilgenommen …
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ISBN 978-3-492-96559-0
Mai 2017
© Piper Verlag GmbH, München 2017
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In ihren I-love-Touris-Sweatshirts stehen sie vor dem Stralsunder Rathaus auf dem Alten Marktund warten auf Ingolf Wichmann aus dem sächsischen Merseburg. Neben sechs weiteren Touristen hat sich Herr Wichmann für einen Fischräucherkurs angemeldet. Verbindlich. Gisela schätzt Verbindlichkeit. Und Pünktlichkeit. Aber Touristen machen ja nicht zum Spaß Urlaub, sondern um aller Verbindlichkeit zu trotzen. Darum haben sich Gisela Klawitter und ihre Firmenpartnerin Rosi Hafenmeister darauf geeinigt, den Teilnehmern zehn Minuten Verspätung kommentar- und folgenlos zuzugestehen. Außerdem darf man nicht vergessen, dass es in Stralsund Altstadtgassen gibt, die extra so gebaut worden sind, dass Angreifer leicht die Orientierung verlieren können. Vielleicht hat sich Herr Wichmann also bloß verlaufen.
Rosi hüpft ein wenig auf und ab. Für »ohne Jacke« ist es heute eigentlich einen Tick zu frisch. Wahrscheinlich wird es sogar bald anfangen zu regnen. Der Himmel ist grau, grau und noch mal grau. Ein Allerweltshimmel für Einheimische. Für die Touristen hätte man den Himmel manchmal gern etwas freundlicher. Aber man kann nicht alles haben, und für die Touristen gibt es in Stralsund schon eine ganze Menge.
Als Herr Wichmann aus Merseburg um 15:12 Uhr noch immer nicht am Treffpunkt erschienen ist, stimmt Gisela in ihrer unbeschwerten Art einen Wolfgang-Petry-Schlagerhit an, den sie umdichtet in: »Aaalsoo kommt er oder kommt er nicht, ganz egal, wir warten nicht!«
Die sechsköpfige Touristengruppe kichert.
»Hölle! Hölle! Hölle!«, sagt der kleine Dicke, während er sich fröhlichen Gemütes eine Banane schält. Auch das hat Gisela als Neuunternehmerin in der Tourismusbranche gelernt. Touristen sind ein dankbares Publikum, sehr leicht zu erheitern und nie um einen Draufsetzer verlegen.
»Geht lohos!«, ruft Rosi und reibt sich die kalten Hände, als hätte sie etwas ausgeheckt.
Gisela schaut noch mal auf die Uhr. Wieso kommt der Wichmann nicht? Der hat schon bezahlt. Und wer etwas bezahlt hat, der holt sich das auch ab. Gefälligst! Gibt doch sonst später nur Ärger; mühselige Diskussionen über Stornogebühren, Arztatteste oder verstorbene Schwiegermütter irgendwo in Sachsen. Über Vertragsbrüche haben sich Gisela und Rosi noch keine Gedanken gemacht. Das hier ist erst ihre dritte Stadtführung. Bisher lief alles reibungslos.
»Na ja, ein bisschen Schwund ist immer.« Gisela hebt ratlos die Schultern, was für Rosi der endgültige Startschuss ist. Etwas militärisch dreht sie sich auf den Absätzen ihrer Stiefeletten um 45 Grad nach links und marschiert los. Der Trupp folgt. Rosi macht Tempo. Gisela hat sie bereits zweimal darauf hingewiesen, dass sie viel zu schnell läuft. Als gebürtige Stralsunderin hat Rosi das Kopfsteinpflaster auch auf Absätzen gut im Griff, während die Touristen hinter ihr mit den Unebenheiten kämpfen und versuchen Schritt zu halten, ohne umzuknicken.
»Hast noch ’nen wichtigen Termin heute?«, versucht Gisela ihre Kollegin erneut dezent auf das Problem hinzuweisen.
»Wieso?« Rosi kapiert es leider nicht.
»Entschuldigung?!«, ruft eine Frauenstimme.
»Haaaalt!«, brüllt der kleine Dicke, in dessen Hand die Bananenschale baumelt wie ein Wahrsagependel. Die Gruppe stoppt. Rosi und Gisela gucken den kleinen Dicken fragend an. Er deutet mit dem Daumen über seine Schulter auf die junge Frau in Jack-Wolfskin-Montur. Die wiederum zeigt auf ein herrschaftliches Gebäude. »Und was ist das?«
»Was? Ach das!« Rosi winkt ab. »Nichts Aufregendes!«
Gisela wirft ihr einen vorwurfsvollen Blick zu und erklärt etwas gestelzt: »In diesem wunderschönen Palais befindet sich seit 1920 unsere Stadtbibliothek. 1725 errichtet, wurde sie in den letzten Jahren aufwendig saniert und ganz modern ausgestattet.«
Nach einer kurzen Kunstpause fragt Rosi: »Ist das nicht aufregend?«
Die Touristen lachen und wenden den Blick erwartungsvoll zurück zu Gisela.
»Also, ich mag Bücher«, sagt sie und ärgert sich, dass ihr nichts Peppigeres eingefallen ist. Aber die Touristen grinsen.
Für den Anfang, haben sich die beiden Stadtführerinnen gedacht, machen sie ihre Touren zu zweit. Man kann von den Fehlern der anderen lernen, zum Beispiel langsamer zu gehen oder Nachfragen zu geschichtsträchtigen Gebäuden nicht leichtfertig abzubügeln. Gemeinsam wollen sie sehen, ob ihr Konzept der außergewöhnlichen Stadtführungen aufgeht. Apropos Konzept. Gisela will zur Einstimmung auf das anstehende Event noch ihre Räucheranekdote loswerden. Die hat sie sich gestern Abend vor dem Schlafengehen überlegt und heute früh immer noch für gut befunden. Nachdem sich der Tross wieder in Bewegung gesetzt hat, legt sie los. Einmal habe ihr Mann Rainer ja auch versucht zu räuchern, aber am Ende des Versuchs habe die Feuerwehr anrücken müssen. In Wirklichkeit hat zwar bloß jemand eine Hundedecke über den stark qualmenden Räucherofen geworfen, aber das macht nichts. Die Touristen glucksen vor Freude. Und das ist die Hauptsache.
»Kein Mensch will die Wahrheit wissen, Mutti«, hat Kati prophezeit. »Die Leute wollen nur entertaint werden.« Diesen Ratschlag ihrer Tochter will Gisela beherzigen. Kati hat Werbepsychologie studiert. Für irgendwas muss das ja gut gewesen sein.
»Schnucki, ich versuch’s noch mal!«, ruft Rosi, die ihr Tempo nun so gedrosselt hat, dass sie ganz am Ende der Gruppe angelangt ist. Sie soll doch vor den anderen nicht Schnucki sagen! Das ist so unprofessionell. Gisela dreht sich um und nickt. Diese kurze Schrittverzögerung nimmt die Dame in der roten Windjacke gleich zum Anlass, um Gisela aus Versehen in die Hacken zu treten. »Uuups«, lautet die Entschuldigung. Schuldbewusst schiebt sie ihren Fotoapparat zurück in die Jackentasche. Ein Graus ist das mit den Fotoapparaten. Sind denn nicht mittlerweile genug Kirchtürme und Möwen fotografiert worden? Trotzdem, lieber hat Gisela am Ende des Tages ein paar blutige Hacken als verdrehte Däumchen, so wie in den letzten 22 Monaten der Arbeitslosigkeit.
Rosi nimmt ihr Handy vom Ohr und verzieht den Mund zu einer vielsagenden Schnute. Wichmanns Telefon ist offenbar noch immer ausgeschaltet. Dabei hat er so getan, als könne ihn nichts von dem heutigen Räucherkurs abhalten. Ganz begeistert, geradezu aufdringlich, hat er sich im Anschluss der Premierenstadtführung vor sechs Tagen nach weiteren Terminen erkundigt. Die Aussicht auf den heutigen Räucherkurs schien unfassbare Glücksgefühle in ihm auszulösen. »Woahnsinn!«, hat er sich gefreut. »Dass isch nochämo räuschorn würrde. Hab doch das Roochn vor siebn Joahrn erfolgreisch uffgegähm!«
»Warum?«, hat die ständig rauchende Rosi keck gefragt. »Räucherware hält sich doch viel länger!«
In Vorkasse ist Wichmann übrigens auch getreten, mit immerhin 40 Euro.
Plötzlich geht ein Raunen durch die Gruppe. Fast gleichzeitig schießen Knirpse zu Regenschirmen auf.
»Keine Sorge!«, ruft Gisela und zieht nun ihrerseits das Tempo an. »Fietes Kutter hat ’ne Plane. Da kuscheln wir uns gleich drunter. Dat is nur ’n büschen Niesel jetzt!«
»Nur ’n bisschen Niesel!«, mault der Typ, der für seinen klassischen Schnauzer eigentlich viel zu jung ist. Schnurrbart ist in großen Städten wahrscheinlich gerade angesagt. Gisela und Rosi müssen sich als Gästeführerinnen noch daran gewöhnen, dass sie vom Wettergott abhängig sind. Und auch das schlechte Gewissen in Augenblicken wie diesem müssen sie ertragen lernen. Noch fühlen sie sich, als würden sie persönlich Wasser über den Köpfen ihrer zahlenden Gäste ausschütten. Dabei hat Gisela ihren Schirm zur Sicherheit extra zu Hause gelassen. Jeder Mensch weiß ja, dass man in der Wohnung keinen Schirm aufspannen sollte, wenn man Zank und Streit vermeiden will. Aber Gisela geht da noch einen Schritt weiter. Sie findet es mehr als logisch, dass das Öffnen eines Regenschirms, egal ob drinnen oder draußen, Regen überhaupt erst heraufbeschwört. Wenn sie eine höhere Macht wäre und hier unten auf Erden etwas zu sagen hätte, dann würde sie die Menschen, die mit Regenschirmen das Haus verlassen, nicht enttäuschen wollen und einen kleinen Guss hinunterschicken. Gisela ist passionierte Anhängerin einer weitverbreiteten Glaubensform im Nordosten: dem Aberglauben. Sie dreht sich um, wenn sich von links eine schwarze Katze nähert, und wenn sie sich die Fingernägel schneidet, dann starrt sie danach eine Weile auf ihre Füße. Händegucken bringt Unglück, aber anschließendes Füßegucken vermag das Unheil noch abzuwenden. Es ist wirklich nicht so schwer, Unheil zu vermeiden. Man muss nur wissen, worauf man achten muss.
Wenn es dann aber tatsächlich regnet, so wie jetzt, hat Gisela natürlich nichts gegen Schirme. Sie duckt sich unter Rosis und hakt sich bei ihrer Freundin unter.
»Sag mal, müssen wir uns Sorgen machen?«, flüstert sie.
»Mit Sorgen bleib mir weg!«, sagt Rosi. »Bin gerade gut versorgt.«
»Ich meine wegen dem Sachsen. Der hat doch schon bezahlt.«
»Was willst du dir denn da für Sorgen machen?«
»Müssen wir im Krankenhaus anrufen oder die Polizei verständigen? Das ist doch komisch, dass der bezahlt und nicht kommt. Findste nicht?«
»Nö.«
Am Hafen hört man die Seile gegen die Segelmasten schlagen. Himmel und Sund haben beinahe die gleiche Farbe, Grau. Hat man, wie Gisela, reichlich Niesel auf der Brille, ist es schwer zu sagen, wo der Himmel in diesem Grau beginnt und der Sund aufhört. Auf der Mole stehen nur noch wenige Heringsangler, gleichmäßig bewegen sie ihre Ruten auf und ab. Die Heringssaison ist vor Kurzem zu Ende gegangen.
»Tach auch!«
Gisela dreht sich um. Sie sieht Karlchen auf seinem Fahrrad nur noch von hinten. Er hält grüßend die Hand hoch. Unter seinem dicken Hintern federt das klapprige Rad so langsam über das feuchte Kopfsteinpflaster, dass man sich wundern muss, warum es nicht den physikalischen Gesetzen folgt und samt Karlchen einfach zur Seite kippt. »Tach!«, ruft Gisela ihm hinterher.
»Hier kommen unsere Freiwilligen!«, kündigt Rosi ihr Grüppchen an und trippelt ein paar Schritte nach vorne in Richtung des Kutters.
Fiete Marquart streckt den Kopf aus der Kajüte und wischt sich mit einem alten Lappen die Hände sauber.
»Die Freiwilligen der besonderen Art!«, sagt er, ohne dabei durchblicken zu lassen, ob er das albern findet oder ob es einfach nur eine Feststellung ist.
Den Touristen ist alles egal. Sie interessieren sich jetzt weder für Ironie noch für den prämierten Museumsbau des Ozeaneums hinter ihnen, der einige Stralsunder an gigantische Klorollen erinnert. Es will auch niemand wissen, ob das die echte Gorch Fock ist, die hier einen Liegeplatz im Stralsunder Hafen hat. Die Touris haben nur noch eine Mission: Raus aus dem Regen! Noch bevor Fiete sie dazu einlädt, entern sie seinen Räucherkutter und schauen von dort aus ihre Führerinnen erwartungsvoll an. Eingeschüchtert starrt Gisela zurück. Angesichts all der auf sie gerichteten Regenschirme fühlt sie sich ein wenig bedroht. »Wenn ihr die Schirme schließt«, sagt sie, »passen wir auch noch drauf!«
»Uuups«, macht die Frau in der roten Windjacke. Vielleicht wegen ihres Schirms. Vielleicht aber auch, weil sie gerade neben sich den großen Eimer mit Aalen entdeckt hat.
»Hast du Räucheraal mitgebracht?« Rainer schließt die Tür hinter Gisela. Sie zieht den Aal aus der Tüte und drückt ihn ihrem Mann wortlos in die Hand. Etwas unschlüssig steht er da in seinen Römerlatschen aus den Achtzigern. Sein Pullover hängt an ihm, wie unsorgfältig auf einen Bügel gehängt. Er hat zwei, drei Kilo abgenommen. Dürr ist er eigentlich nicht, dick natürlich auch nicht. So, wie er weder groß noch klein ist, weder eine besonders laute noch eine auffällig leise Stimme hat. Er ist nicht sehr humorvoll, aber auch nicht unbedingt humorlos, durchschaubar in manchen Dingen, in anderen rätselhaft. Er ist, wie er ist, Rainer Klawitter, grundsolide, zuverlässig und, wenn er gute Laune hat, ein klitzekleines bisschen übermütig. Leider bekommt ihm die Arbeitslosigkeit nicht besonders gut, und so hat er nicht sehr oft gute Laune. Meistens hat er gar keine Laune, bewegt sich durch den Tag wie eine träge Stubenfliege, lässt sich mal hier nieder, mal da. Irgendwo fehlt vielleicht eine Schraube, und wenn er sie ersetzt hat, dann ist es auch schon Zeit für den täglichen Spaziergang um den Ententeich. Gisela hat ihren Mann nicht für einen Ententeichspaziergänger gehalten. Und das ist er in Wirklichkeit bestimmt auch nicht. Sie glaubt an ein Missverständnis. Aus unerfindlichen Gründen scheint er die Kündigung nicht nur auf seine Arbeit, sondern auch auf alle seine Interessen bezogen zu haben. Eines Tages wird ihm das wie Schuppen von den Augen fallen, und dann wird alles wieder ganz normal, so wie früher. Das wird schon wieder!
»Und lieb, dass du fragst«, sagt sie. »War zwar blöd mit dem Nieselregen, aber hat trotzdem allen gut gefallen. Traut man Fiete gar nicht zu, ist aber ein echter Entertainer.«
»Na, das ist doch gut«, antwortet Rainer und trägt den Aal schlurfenden Schritts in die Küche.
»Ja, das ist echt gut«, murmelt Gisela. »Sehr gut!« Sie ist mächtig stolz auf ihren Neuanfang. Rainers Gleichgültigkeit macht ihr bald die ganze Freude kaputt. Als sie in die Küche kommt, hat er dem Aal bereits den Kopf abgeschnitten und leckt sich die Finger.
»Schmeckt?«, fragt sie.
Er nickt.
»Hab ich selber geräuchert.«
»Schmeckt!« Rainer nickt noch mal.
Giselas Blick fällt auf die Zeitung, die neben dem kopflosen Aal auf dem Küchentisch liegt. Wer hat Christiane Lohmeier gesehen? Die Frage steht über dem Foto einer etwas mürrisch dreinblickenden Frau; kinnlanges Haar, randlose Brille, Ende 40. »Ich!?«, sagt Gisela erschrocken und greift nach der Zeitung.
»Was?«, fragt Rainer.
»Scht!«, zischt Gisela und macht die dazugehörige Handbewegung.
Seit dem 12. Mai wird Christiane Lohmeier aus Baden-Baden vermisst. Familie Lohmeier bittet um Hinweise zum Aufenthalt von Christiane L. Sie war auf dem Pilgerweg der Hanse-Route unterwegs, in Stralsund verliert sich ihre Spur. Christiane Lohmeier gilt als sehr zuverlässig, daher hält ihre Familie ein freiwilliges Verschwinden für ausgeschlossen. Sachdienliche Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.
Gisela schaut auf den Wandkalender, ein Werbegeschenk von Mitsubishi. Am 12. Mai hat Christiane Lohmeier definitiv noch gelebt, jedenfalls so gegen 14:30 Uhr. Gisela steigt das Blut in den Kopf, wie ein 20-cl-Fläschchen halbtrockner Rotkäppchensekt auf ex. Ihr wird heiß und düsig. Wen zuerst anrufen? Rosi? Jede Polizeidienststelle? Familie Lohmeier aus Baden-Baden? Gisela kann es nicht fassen. Gerade erst letztes Jahr konnte sie einen entscheidenden Hinweis zur Auflösung eines Verbrechens liefern. In der ZDF-Sendung Aktenzeichen XY ungelöst hatte man sich an die Bevölkerung gewandt: Wer hat einen grünen Ford mit auffälliger roter Beifahrertür und polnischem Kennzeichen nach dem 23. August 2008 gesehen?
Gisela hat sich in jenem Moment gefühlt, als hätte sie im Lotto gewonnen. Aufgeregt hat sie zum Hörer gegriffen und dem ZDF erzählt, dass sie sich immer über diese Art von Fragen lustig gemacht habe, aber tatsächlich könne ausgerechnet sie nun mit sehr großer Sicherheit sagen, dass sie diesen Ford Anfang September 2008, also nach dem 23. August, auf Usedom gesehen habe, auch wenn das ein paar Jahre zurückliege. Weil ihr Sohn Christoph für seine Diplomprüfung in Wirtschaftsinformatik habe lernen müssen, sei sie nämlich das erste Mal alleine mit ihrem damals knapp zweijährigen Enkel nach Zinnowitz unterwegs gewesen. Zur Ablenkung des quengelnden Enkels habe sie Geschichten erzählt. In diesem Moment sei sie von einem grünen Ford mit roter Tür überholt worden, der sie zu einer Geschichte um ein verzaubertes Feuerwehrauto inspiriert habe. Ganz bestimmt sei das im September gewesen, nicht im August, weil Christophs Prüfung eben Mitte September stattgefunden habe. Auf Nachfrage war sich Gisela dann mit dem polnischen Kennzeichen doch nicht mehr ganz sicher, und ob das Auto tatsächlich ein Ford war, hätte sie nicht unter Eid schwören wollen. Aber grün sei es ganz sicher gewesen, mit einer roten Tür und eigentlich auch mit einem polnischen Nummernschild.
»Polizeidienststelle Stralsund, Krüger?«
»Guten Tag, Klawitter, ich habe Hinweise!«
»Tach. Was für Hinweise haben Sie denn?«
»Wegen der Vermissten.« Gisela wischt sich ihre schweißnassen Hände am I-love-Touris-Sweatshirt trocken.
»Vermisste?«
»Christiane Lohmeier aus Baden-Baden.«
»Da müssten Sie sich an meinen Kollegen wenden«, antwortet die nette Polizistin.
»Ach so«, sagt Gisela.
»Ja«, heißt es am anderen Ende der Leitung. Nach einer kurzen Pause wagt Gisela einen weiteren Vorstoß:
»Verbinden Sie mich?«
»Nee, geht nicht.«
»Und können Sie nicht einfach meine Hinweise weiterleiten?«
»Nee, das geht auch nicht.«
»Warum nicht?«
»Bin nicht zuständig.«
»Okay.«
»Ja.«
Pause.
»Ähm, können Sie mir dann die Nummer geben?«
»Sicher. 5466554.«
»Momentchen. Muss mir mal einen Kuli besorgen.« Sie streckt die Hand aus. Rainer reicht ihr den Kugelschreiber, der seinen Stammplatz auf dem speckigen Küchenradio hat. Da könnte man mal wieder mit Fit drüberwischen. Die Polizeibeamtin wiederholt die Nummer und legt dann grußlos auf. Es gibt sicher viel zu tun.
»Wat für ’ne Vermisste?« Rainer pflückt sich Weintrauben aus der Obstschale.
Gisela hält ihm die Zeitung hin und tippt auf den Artikel.
»Woher kennst du denn ...«, er kneift die Augen zusammen und zieht den Kopf etwas zurück, um besser lesen zu können, »Christiane Lohmeier aus Baden-Baden?«
»Sie hat das Saßnitzer Kreidepeeling gewonnen. War unsere allererste Teilnehmerin bei unserer Jungferntour am 12.!«
»Und jetzt isse weg!«, stellt Rainer nicht ohne einen leicht gehässigen Unterton fest.
Seit Gisela in der Tourismusbranche arbeitet, hasst er Touristen noch mehr. Jetzt verderben sie ihm nicht nur die sommerlichen Ostseefreuden, sondern beanspruchen auch noch die Zeit seiner Frau.
»Aber mach dir nichts draus«, er zeigt auf den Artikel neben der Vermisstenmeldung, »wenn die damit erst mal anfangen, sind wir noch viel mehr Touristen los!«
Gisela schnaubt ungeduldig durch die Nase. Sie interessiert sich nicht für die Erdölbohrungen in Vorpommern. Jetzt nicht. Jetzt ist erst mal Christiane Lohmeier aus Baden-Baden verschwunden, und zwar seit dem 12. Mai, dem Tag, an dem Gisela und Rosi ihren Einstand als selbstständiges Zwei-Frau-Unternehmen gefeiert haben. Und vielleicht, vermutlich sogar, sind sie die Letzten, die Frau Lohmeier lebend gesehen haben.
Rainer wickelt den Aal wieder ins Papier und schlurft rüber ins Wohnzimmer.
»Füße heben!«, ruft Gisela und erschrickt ein bisschen über sich selbst. Nicht mal in dieser angespannten Situation vergisst sie, es ihm hinterherzurufen. Vielleicht hat der mysteriöse Wichmann mit dem Verschwinden zu tun? Gisela wählt die Nummer, die die Polizeibeamtin ihr diktiert hat, und hält sich den Hörer ans Ohr.
»Kohlhaase!?«
Erschrocken legt Gisela auf. Mit Andreas Kohlhaase spricht sie nicht. Schon seit 38 Jahren nicht mehr. Am Tag, als alle Sigmund Jähns Weltraumflug feierten, legte der damals 19-jährige Andreas Kohlhaase Gisela eine tote Ratte vor die Tür. Er fand das wohl passend, um seiner verschmähten Liebe Ausdruck zu verleihen. Weil Gisela ihn jedoch auch weiterhin ignorierte, wurde im Verlauf der einseitigen Lovestory die tote Ratte zunächst gegen einen Kackhaufen und schließlich gegen eine Mausefalle ausgewechselt. Giselas gequetschte Zehen waren tagelang lilablaugrünrot. Unverzeihlich findet sie das, auch wenn Kohlhaase stets behauptet hat, mit der Mausefalle nichts zu tun zu haben. In den vergangenen Jahrzehnten hat er wirklich oft versucht, sich zu entschuldigen. Das letzte Mal Anfang des Jahres im Netto, sogar im Beisein seiner Frau. Und wer weiß, vielleicht wird Gisela seine Entschuldigung eines Tages annehmen, aber heute passt es ihr nicht so gut.
Kurz überlegt sie, ihre Stimme zu verstellen und bei der Personalienaufnahme zu schummeln, aber das traut sie sich nicht. Kackhaufen hin oder her, Andreas Kohlhaase ist immerhin eine Staatsgewalt. Rosi muss den Job übernehmen. Gisela wählt ihre Nummer.
»Rosi? Gisela!«, sagt Gisela, um es kurz zu machen. »Du, hast du’s noch mal bei dem Wichmann probiert?«
»Ach, Schnucki. Wenn der wat will, meldet er sich schon.«
»Ist der nicht wieder aufgetaucht?«
»Bei mir nicht!« Rosi lacht.
»Da ist jetzt noch eine von unseren Leuten verschwunden«, sagt Gisela. »Du musst bei der Kripo anrufen und das melden. Also, dass die halb drei noch gelebt hat am 12. Mai, diese Christiane Lohmeier aus Baden-Baden.«
»Wer?«
»Das war die mit dem Kreidepeeling, du weißt schon, unsere Erste, und du musst sagen, dass der Wichmann auch weg ist!«
»Ich ruf doch nicht deswegen bei der Polizei an. Wir wissen doch gar nicht, ob der weg ist«, protestiert Rosi.
»Wo soll der denn sein? Natürlich ist der weg. Versuch’s doch noch mal auf seinem Handy, und wenn das immer noch aus ist, dann rufst du aber die Polizei an, ja?«
»Wahrscheinlich ist der Wichmann mit der Lohmeier durchgebrannt!«, vermutet Rosi. Diese Bonnie-und-Clyde-Romantik passt zu ihr. Sie ist schon ein bisschen eine Wilde, hat sich einen kleinen Anker auf den Knöchel tätowieren lassen und einen Exmann.
»Oder er hat sie umgebracht!«, sagt Gisela streng.
»Oder sie ihn!«, überlegt Rosi. »Warum sollen’s immer die Kerle gewesen sein? Du, Schnucki, ich muss los. Ruf mal selber bei der Polizei an, wenn du meinst, das nützt was. Bis denne.« Und dann legt sie einfach auf. Gisela lässt sich auf den Küchenstuhl fallen. Sie wickelt den Aal wieder aus und zieht ihm mit den Fingern etwas von der ledernen Haut ab. Es kann natürlich Zufall sein, dass in Stralsund eine Frau aus Baden-Baden ebenso plötzlich verschwindet wie ein Mann aus einer sächsischen Kleinstadt. Vielleicht passiert so etwas öfter. Wenn man nicht beruflich mit Touristen zu tun hat, bekommt man das ja nicht unbedingt immer mit. Es kann aber auch kein Zufall sein. Erst recht nicht, wenn beide an der gleichen Stadtführung teilgenommen haben. Nun mal immer schön mit der Ruhe!, mahnt sich Gisela selbst und pult mit dem Zeigefinger etwas vom Aal ab. Erst mal abwarten. Solange keiner tot ist, ist’s ja vielleicht nicht so schlimm. Sie leckt sich die Finger. Schmeckt.
Die Möwen, die sind immer da. Und natürlich wissen sie Bescheid, als Fiete Marquart seinen Kutter Sprotte aus der Hafeneinfahrt Richtung Nordwesten steuert. Die Sonne ist auf dem Weg und kündigt sich bereits mit einem tief orangefarbenen Himmel am Horizont an.
Fiete war früher Fischer und ist ein glücklicher Mann. Er hat aufgegeben. Seinen seit Jahren nicht mehr seetauglichen Zweitkutter Scholle hat er vor wenigen Wochen endlich abwracken lassen. Lange musste er das kaputte Boot an der Küste liegen lassen, weil er auf die Fangquoten, die er darauf bekam, angewiesen war. Seitdem ihm Fangquoten und auch der ganze andere Irrsinn der EU-Fischereipolitik egal sein können, macht er sich Gedanken über Sonnenaufgänge und deren Farbspektren. Dieses dunkle Orange, kurz bevor die Sonne hinter der Rügenbrücke aus dem Sund steigt, das an anderen Tagen altrosa ist, fliederfarben sein kann oder so dunkellila, dass Schwarz nur noch einen Moment entfernt ist. Und ja, auch schwarz wie Öl kann der Sund sein, im Winter, wenn die Sonne erst spät aufgeht. Es macht Fiete fassungslos, dass das schon immer so gewesen sein soll. Früher, als er jeden Morgen rausfuhr, um zu arbeiten, war der Himmel für ihn stets derselbe.
Langsam tuckert Fiete über den Sund. Er hat Zeit. Die kleinen ochsenblutroten Fähnchen der Reusenmarkierungen flattern im Fahrtwind. Im Netz liegt sein Rollkoffer wie sein größter Fang.
Gegen 6:30 Uhr erreicht Fiete den Neuendorfer Hafen an der Küste von Hiddensee. Genau genommen darf er nicht mehr im Bereich des Fischereihafens festmachen, sondern nur auf einem der Wasserwanderrastplätze, aber Manfred Schülke hat nichts dagegen. Und hier in Neuendorf kommt es nur darauf an, ob Manfred Schülke etwas dagegen hat oder nicht. Fiete hat seine Kindheit in Neuendorf verbracht. Seine Großeltern sind Süder gewesen, wie man auf der Insel die Neuendorfer nennt. Sie besaßen hier eines der Häuser, die wie hingeworfene weiße Perlen verstreut auf der Wiese stehen. Einmal, Fiete war neun oder zehn Jahre alt, da hatte Manfred Schülke etwas gegen Fietes imposanten Bernsteinfund. Schülke hat am Strand versucht, den Bernstein mit einem herben Faustschlag einzukassieren. Aber als dann Blut aus Fietes aufgeschlagener Lippe in den Sand tropfte, ist Schülke lieber nach Hause gerannt. Seitdem kommen die beiden eigentlich gut miteinander aus. Dieses Bernsteinplätzchen am Strand hat Fiete heute im Sinn, während er den Rollkoffer über den unebenen Sandweg gen Süden zieht. Praktisch ist der Koffer nicht, aber man bekommt eine Menge in ihn hinein. Eine Menge Papier und eine Menge Farben, eine Thermoskanne Tee, eine zerschnitte Isomatte, Pinsel, Bleistifte und zwei Marmeladengläser voll Wasser. Hiddensee ist der farbenprächtigste Ort, den Fiete kennt. Im August blüht die Heide lila, und im Herbst besprenkeln orange Sanddornfrüchte das Inselbild. In zwei Wochen wird der Ginster gelb blühen. Fiete freut sich darauf. So lange will er mindestens noch weitermalen. Neben Himmel und Meer sind seine bevorzugten Motive Möwen. Die bekommt er gut hin, wie er findet. Farblich sind die auch nicht so anspruchsvoll wie ein Sonnenaufgang, nur ein bisschen Weiß und Rot für die Beinchen. Die rotbeinigen Möwen mag er am liebsten. Natürlich hat er sich auch schon an Schiffen, Reetdachhäusern, Windflüchtern, Schilf und Dünen versucht. Auch den Leuchtturm von Dornbusch hatte er schon am Wickel. Fiete legt ein Stück Isomatte in den Sand und packt seine Malutensilien aus. Er beginnt den Pinselkopf in der blauen Farbe kreisen zu lassen. Zwei Stunden hat er bereits mit dem Versuch verbracht, das Meer in seinen changierenden Farbtönen auf Papier zu bannen, als er mit einem herzhaften »Moin, moin!« begrüßt wird.
Keine Einheimischen, weiß Fiete sofort. Moin sagen nur die aus’m Westen.
»Tach«, antwortet er so freundlich, wie es ihm gelingt, und schaut hoch. Nur kurz.
»Sieht man auch nicht alle Tage, einen Fischer in Klamotte, der auf seinem Koffer Aquarellbilder malt«, sagt der Mann um die 50 zu seiner Frau, als sei der Fischer in Klamotte persönlich gar nicht anwesend.
»Ach«, macht Fiete und versucht seinen Körper ein wenig mehr zwischen Bild und Pärchen zu schieben.
»Doch, doch«, sagt die Frau und reckt den Hals, wobei ihr der Trageriemen der Strandmuschel von der Schulter rutscht und die Strandmuschel in den Sand fällt. »Hat schon was, so ’n Fischer, der malt. Kommen Sie von hier?«
»Nee!« Fiete bleibt einsilbig. Betreten blickt er auf sein Bild. Das Blau darauf hat mit dem wirklichen Meeresblau nichts zu tun. Die beiden wissen ja nicht, dass das nicht so soll, aber trotzdem ist es ihm unangenehm.
»Wir kommen aus Flensburch. Ist unser erster Urlaub hier, also eigentlich in Stralsund, sind sozusagen nur Tagestouristen auf Hiddensee.« Der Mann bückt sich, um die Strandmuschel aufzuheben. »Ist ja praktisch, mit der Fähre hier fix mal rüber.«
Er klopft den Sand ab, hält eine Sekunde inne und sieht seine Frau an, überrascht von seinem eigenen Einfall. Sie versteht wortlos, verzieht ihren Mund zu einem spontanen Warum nicht? und nickt.
Bloß nicht, denkt Fiete, aber da wird schon der Reißverschluss gezogen. In Sekundenschnelle ploppt die Strandmuschel auseinander. Sandkörner rieseln auf das Aquarellbild. Während der Mann den Strandmuscheleingang gen Ostsee dreht, bemerkt die Frau: »Ist wirklich goldig hier, ja, aber auch viel Seetang, oder? Kommt da nachher noch einer, der das wegmacht? Bei uns wird der Strand regelmäßig aufgeräumt.«
»Ist eben Naturstrand, ne!« Fiete versucht vorsichtig mit dem Fingernagel die Sandkörner aus der Farbe zu kratzen.
»Sieht irgendwie nicht aus!«, kommentiert der Mann.
Fiete findet das unverschämt, bemerkt dann aber, dass gar nicht sein Bild gemeint ist. »Wir sind ja auch von der Küste«, sinniert der Flensburger weiter. »Und kommen mit der Natur gut klar, aber so ’n bisschen die Algen wegmachen, also, das könnte man schon für seine Badegäste! Man zahlt ja auch Kurtaxe. Für was eigentlich?«
Als wäre die Kurtaxe seine Angelegenheit, versucht Fiete tatsächlich eine Antwort zu geben: »Ist auf Hiddensee eben bisschen schwierig, wenn es bei ungünstigen Windlagen zu Aufwurf von Seegras kommt, nich?«
»Tja«, lacht die Frau. »Wer Autos verbietet, muss mit verdreckten Stränden leben, was?«
Mit dieser Weisheit krabbeln die beiden Touristen endlich in ihre Muschel, die in einem Abstand von drei oder vier Metern neben Fiete ihren endgültigen Platz gefunden hat. Fiete versucht sich wieder auf sein Bild zu konzentrieren, zu malen, aber das ist unmöglich.
»Und wie lange malen Sie schon so schöne Bilder?«, fragt die Frau aus der Muschel heraus, während sie beginnt ein Ei zu pellen.
»’ne Weile!« Fiete atmet tief ein. Über Leute wie ihn sagt man: Er hat die Ruhe wech. Aber das ist bei Fiete nur der Fall, wenn man ihn auch in Ruhe lässt. Er säubert die Pinsel und dreht die Deckel auf die beiden Marmeladengläser mit dem schmutzig grünblau verfärbten Wasser. Er hebt die Gläser hoch und hält sie gegen die Sonne. Der Inhalt ist so trüb wie das Wasser kurz über dem Meeresboden, wo kaum noch Licht hinfällt. Der Zufall hat die Farben des Meeres besser hinbekommen, als Fiete das je auf einem Blatt Papier passieren wird. Er packt seine Sachen zusammen und wünscht anstandshalber noch einen schönen Urlaub. Unschlüssig schaut er auf die Uhr. Für das Mittagessen ist es noch etwas früh. Er beschließt trotzdem schon nach Vitte zu fahren. Der Ort liegt nur sechs Kilometer entfernt, und dennoch spricht man da angeblich einen anderen Dialekt.
Mit dem Boot braucht Fiete 20 Minuten bis zum dortigen Hafen. Nach der Ankunft bleibt er noch eine Weile an Bord, macht Skizzen der Segelboote, Bojen, Reusen, der Fischtonnen und seiner Kollegen in den gelben Öllatzhosen. Schwere Zeiten kündigen sich an. Noch schwerere Zeiten. Aber ihn geht das nichts mehr an, wenn die Stellnetze wegen der geplanten Ölförderung an den angestammten Fangplätzen bei Sundhagen nicht mehr aufgestellt werden dürfen. Der Dorsch ist so oder so schon weg. Letztes Jahr konnte er die Dorschfangquote nicht mal abfischen. Und die Heringe? Sind ja nicht blöd. Sind dann natürlich auch längst über alle Berge, wenn das schwarze Gold erst mal das Meer verseucht. Die Natur wird sich rächen. Das wird böse enden, denkt Fiete. Ganz, ganz böse.
Gegen viertel zwölf gießt er sich den letzten Schluck Hagebuttentee aus der Thermoskanne in den Becher, trinkt aus und geht an Land. Ein einziges Mal hat er in seinem früheren Leben im Vittener Kombüsenstübchen gegessen, zu Renates 40. Geburtstag. Was ganz Besonderes hatte sie sich damals gewünscht, und vielleicht ein bisschen nobel.
Im Kombüsenstübchen bestellt Fiete zwei Spiegeleier mit Bratkartoffeln und Flundern. Dazu einen schwarzen Tee. Er lässt es sich schmecken und zahlt, gibt ein gutes Trinkgeld. Das gehört sich so, wenn man es sich leisten kann. Sicherlich zerreißt man sich das Maul über ihn, aber so viel die Leute hier oben auch tratschen, so verschwiegen sind sie, wenn es drauf ankommt. Fiete glaubt nicht daran, dass seine Renate was erfährt, bevor er die Situation selber erklären wird.
Am Hafen hilft Ullrich ihm, vier Kisten Fisch in den Kutter zu laden, heute vor allem Heringe, aber auch Aale, einige Barsche und zwei Hechte. Auch ihm gibt Fiete ein großzügiges Trinkgeld. Seit sieben Wochen kauft er jetzt Ulli Fisch ab, um ihn am frühen Nachmittag in Stralsund zu räuchern und zu verkaufen. Einmal hat Ullrich gefragt, wat dat eigentlich solle. Warum er denn nicht mehr selber fische.
Fiete antwortete: »Dat is numa so, neuerdings!«
Fiete käme es wie ein Verrat vor, wenn er es zuerst jemand anderem erzählen würde als Renate. Er will ihr bald die Wahrheit sagen, aber erst mal noch nicht. Erst will er die Farben auf den Bildern so hinbekommen, wie die Natur das hinbekommt. Renate besteht darauf, immer alles mit eigenen Augen zu sehen. Wenn er ihr von dem vielen Geld erzählen würde, dann würde sie gleich die ganze weite Welt mit eigenen Augen sehen wollen. Als die beiden Söhne Rad fahren lernten, lief sie mit den Worten »Das will ich mit eigenen Augen sehen« auf die Straße. Und wurde beinahe überfahren. So wollte sie auch den Mauerfall mit eigenen Augen sehen und musste am Morgen des 10. November unbedingt zum nächstgelegenen Grenzübergang fahren. Eine kleine Weile möchte Fiete noch seine Ruhe genießen, bevor Renate die Welt mit eigenen Augen sehen und bereisen will. Ein bisschen Gnadenfrist hat sich Fiete verdient, nach all den Jahren des Unterwegsseins. Diese Ruhe von innen, die Sicherheit. Das beruhigt. Fisch ist natürlich immer da, aber wenn die Dieselpreise höher sind als der Gewinn, den der Fisch bringt, dann fällt es nicht leicht, zuversichtlich zu bleiben. Mit einem stattlichen Lottogewinn geht das schon besser. Die Fische zappeln in der Kiste, schlagen verzweifelt die Schwänze auf den Boden.
»Na denn!«, sagt Ulli.
»Jo! Danke, ne!?« Fiete springt ins Boot. Während er die Festmacherleine vom Poller wickelt, sieht er seine neuen Flensburger Freunde aus einer Pferdekutsche steigen. Wäre man hier nicht auf die Touristen angewiesen, könnte man wirklich gut auf sie verzichten.
»Wie kann man sich denn die Strandmuschel klauen lassen?«, schimpft der Mann.
»Du hast sie doch dahin gelegt«, beschwert sich seine Frau.
»Ich verpass doch jetzt nicht die Fähre wegen einer Strandmuschel.«
»Aber du hast sie dahin gelegt! Zusammen mit der Tasche. Wo is’n eigentlich die Tasche?«
»Die hast du.«
»Hab ich nicht.«
»Musst du aber haben!«
»Siehst du irgendwo eine Tasche, du Witzbold?«
Im Wasser spiegeln sich die Wolken. Fiete zieht kräftig am Starterseil des Motors. Zeitgleich legt die Fähre ab. Ohne die beiden Flensburger.