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Vorhang auf für Anders, den Retter in der Not! Eine inklusive Geschichte voller Witz und Empathie In Ronjas Leben herrscht das Vollchaos, nachdem sie erfahren hat, dass sich ausgerechnet ihre überkorrekten Eltern trennen wollen. Dann kommt auch noch ein neuer Mitschüler namens Anders in die Klasse, der im Rollstuhl sitzt. Ronja hat gerade überhaupt keinen Nerv dafür, mit Anders besonders feinfühlig oder «korrekt» umzugehen und sich für ihn ein Bein auszureißen. Aber genau das mag Anders an ihr. Ronja wiederum braucht dringend jemanden an ihrer Seite, um den neuen Freund ihrer Mutter samt obernerviger Kinder zu überstehen. Und da scheint Anders genau der Richtige zu sein. Mit fröhlichen Illustrationen von Regina Kehn
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Seitenzahl: 179
Ariane Grundies
In Ronjas Leben herrscht das Vollchaos, nachdem sie erfahren hat, dass sich ausgerechnet ihre überkorrekten Eltern trennen wollen. Außerdem soll ihre Klasse mal wieder das Theaterstück von «Hänsel & Gretel» aufführen, und dann kommt auch noch ein neuer Mitschüler namens Anders in die Klasse, der im Rollstuhl sitzt. Ronja hat gerade überhaupt keinen Nerv dafür, mit Anders besonders feinfühlig oder «korrekt» umzugehen und sich für ihn ein Bein auszureißen wie alle anderen in der Klasse, inklusive der Lehrerin. Aber genau das mag Anders an ihr. Ronja wiederum braucht dringend jemanden an ihrer Seite, um den neuen Freund ihrer Mutter samt obernerviger Kinder zu überstehen. Und da scheint Anders genau der Richtige zu sein.
Mit Illustrationen von Regina Kehn
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch
Ariane Grundies wurde 1979 in Stralsund geboren. Sie studierte Germanistik sowie Prosa und Lyrik am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Seit ihrem Diplom 2003 arbeitet sie als freie Autorin. Für ihre Bücher und Radiogeschichten erhielt sie mehrere Auszeichnungen und Stipendien. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Regina Kehn studierte Illustration an der Hochschule für Gestaltung in Hamburg. Seit 1990 arbeitet sie als freie Illustratorin für Zeitschriften, Kinder- und Jugendbuchverlage. Für ihre Illustrationen wurde sie vielfach ausgezeichnet. Regina Kehn lebt mit ihrer Familie in Hamburg.
Prolog
1. Anders rollt rein
2. Es brennt
3. Es regnet Obst
4. Fette Schramme
5. Das Haus und die Mezzomix
6. Reis mit Pilzen
7. Was wo reinpasst
8. Der Stuhlkreis
9. 124 Kommentare
10. Unerlaubtes Entfernen
11. Ein warmes Feuerchen
12. Es hat geknallt
13. Nach Hause
14. Ohne Rettungsweste
15. Die Generalprobe
16. Bist du sauer auf mich?
17. Das Märchen
18. Das Polizeiverhör
19. Anders
Das mit dem Namen war natürlich Zufall, aber beides passierte ungefähr zur gleichen Zeit: Zuerst kam Anders neu in meine Klasse, und dann wurde plötzlich auch mein Leben anders. Sehr anders, wenn man bedenkt, dass meine Mutter in den Wochen darauf meiner Lehrerin Frau Drakow eine Ohrfeige geben würde und mein Vater sie mit einem geklauten Fahrrad von der Polizeiwache abholen wollte. Normalerweise machten wir Fahrradausflüge, bei denen wir alle einen Helm trugen und mit orangenen Kellen und Fahnen an unseren Gepäckträgern vor uns warnten.
Aber, wie meine Lehrerin Frau Drakow mal sagte, wenn man ein Märchen erzählen will, dann muss man schon mit dem Anfang beginnen. Ich fange meine Geschichte jetzt also von vorne an. Sie ist zwar kein Märchen, aber man muss ja trotzdem nicht immer alles glauben, was stimmt.
Es war kurz vor Pause, als die Tür aufging und unser neuer Mitschüler hereinkam. Frau Drakow tat ganz zahm. Sie ging ihm sogar entgegen, um hinter ihm die Tür zu schließen, obwohl sie uns immer Tür zu! entgegenbrüllte, noch bevor wir ganz drin oder ganz raus aus dem Klassenzimmer waren.
«So, ich habe ihn euch ja bereits angekündigt, und hier ist er nun.» Stolz präsentierte sie den Neuen, als wäre er unser repariertes Whiteboard. Sie zeigte sogar mit dem Finger auf ihn. «Euer neuer Mitschüler Anders.»
Es war Frau Drakow ganz wichtig zu sagen, dass Anders Anders hieß, weil sein Vater Schwede war und seinem Sohn einen ganz typisch schwedischen Namen gegeben hatte. Anders sei in Schweden ganz normal, ein ganz normaler Name und nichts Ungewöhnliches. Frau Drakow riss ihre Augen weit auf. «Anders ist also ganz normal», sagte sie streng. «Verstanden!?!»
Einige nickten stumm und starrten Anders weiter an. Und ein paar andere kicherten, weil Frau Drakow so tat, als wäre nur sein Name anders. Dabei saß der Neue im Rollstuhl, und das war das eigentliche Anders an ihm. Frau Drakow schien es gar nicht aufzufallen.
«Ach so», sagte sie aber schließlich doch noch, «jetzt hätte ich es fast vergessen. Aber es ist ja auch wirklich nicht so wichtig und heutzutage kein großes Problem mehr. Gott sei Dank.»
Sie legte ihre Hand auf seine Schulter und schaute uns an, bis Li fragte: «Ja, was denn, Frau Drakow?»
«Was, was?», fragte unsere Lehrerin zickig zurück. Dann guckte sie auf Anders. «Ach so, DAS! Na, das seht ihr ja wohl selbst, was da los ist. Man muss es doch nicht extra erwähnen, oder?»
«Dass Anders seine Mütze aufbehalten darf und wir nicht?», fragte Oskar.
«Genau!» Frau Drakow rollte genervt mit den Augen. Zum Rollstuhl sagte sie immer noch nichts. Anders sagte auch nichts. Er wurde auch nichts gefragt. Aber seine Mütze durfte er weiter aufbehalten.
«Fein!» Frau Drakow klatschte in die Hände. So gut gelaunt sah man unsere Lehrerin selten. «Anders, ich schlage vor, du setzt dich da mal – ähm, oder stellst dich da neben Ronja.»
Sophie sprang auf wie von irgendwas in den Hintern gestochen und ging unaufgefordert nach vorne. Dort schnappte sie sich den Rollstuhl und schob Anders durch den Klassenraum in meine Richtung.
«Er ist doch kein Einkaufswagen», sagte ich, als sie ihn neben mir abstellte.
«So gemein, Einkaufswagen zu ihm zu sagen, kannst auch nur du sein», antwortete Sophie kratzbürstig. Sie schielte zu Frau Drakow, die zustimmend nickte.
«Danke», sagte Anders leise und zog seine Mütze noch etwas weiter ins Gesicht.
Frau Drakow stützte sich auf dem Lehrertisch ab und schaute über den Rand ihrer Brille. «So, ich würde vorschlagen, wir machen dann jetzt einfach ganz normal weiter und kümmern uns mal wieder um unser Märchen.»
Weil unsere Schule zufällig so hieß wie die Brüder Grimm, hatte jedes Jahr eine andere Klasse die große Ehre, die Grimms mit einer Märchenaufführung zu erfreuen, auch wenn die beiden schon lange tot waren. Dieses Jahr waren wir an der Reihe. Frau Drakow erwartete nicht viel von uns, sagte sie, aber sie hoffte, dass wir es wenigstens besser hinkriegten als die 5b im vorletzten Jahr. So was Einfallsloses und Uninspiriertes wollte sie nicht noch einmal sehen. Sie schlug «Hänsel und Gretel» vor, weil man damit ihrer Meinung nach nicht viel falsch machen konnte.
«Dann sind wir uns einig?», fragte sie nur wenige Sekunden, nachdem sie ihren Vorschlag gemacht hatte.
«Aber da gibt’s ja nur fünf Rollen, und wir sind 21», hatte Li ausgerechnet.
Frau Drakows Rechnung ging anders. «Erstens kann man gut und gerne noch eine Katze gebrauchen», sagte sie, «und zweitens gibt’s in diesem Märchen doch nun wahrlich genug Bäume. Der Wald muss ja auch irgendwie dargestellt werden.»
Sie hatte gut gerechnet, denn wir haben genau fünf Streber in der Klasse, die sich immer meldeten. Und der Rest war gerne Baum.
Nachdem Frau Drakow die Hexe, die Eltern und die Geschwister losgeworden war, fiel ihr auf, dass die Katze noch fehlte. Sie versuchte es bei dem Neuen. «Möchtest du vielleicht die Katze in unserem Märchen spielen, Anders?», fragte sie und versuchte, wieder so lieb zu lächeln.
«Okay.» Anders nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern.
«Eine Katze in einem Rollstuhl?», fragte Shawn. «Ist doch total komisch.»
«Ein Baum im Rollstuhl ist noch komischer», fand Oskar. Fanden dann die anderen auch. Kurze Zeit später waren sich fast alle einig, dass Anders die Hexe spielen musste, weil eine alte Frau am besten zum Rollstuhl passte, aber da hatte Shawn auch wieder was dagegen. «Warum müssen denn immer die Behinderten die Bösen sein?»
«Müssen sie doch gar nicht immer?», widersprach Sophie, die wohl Angst hatte, dass ihr ein böser Behinderter gleich die Hexen-Rolle wegschnappte. Was übrigens auch fast passiert wäre. Denn plötzlich meldete sich Anders. Alle drehten sich zu ihm um. Ich war auf seine Stimme gespannt, denn die hatten wir ja noch gar nicht gehört. Sie war höher, als ich gedacht hätte.
«Ich finde auch, dass die Hexe vielleicht besser zu mir passt als der Baum», sagte er. «Also, wegen des Rollstuhls.»
«DAS find ich ja toll!», rief Frau Drakow erleichtert. «DAS ist ja super, dass du dich nicht verstecken willst und …»
«Ich bin aber schon die Hexe», unterbrach Sophie, womit sie recht hatte. «Und ein Mädchen. Kann er nicht einfach Hänsel sein?» Nun drehten alle den Kopf zu Hänsel, der Finn war. Finn war einverstanden. Wie immer. Frag Finn, ob er dir einen Fünf-Euro-Schein gibt, und er ist einverstanden. Und wenn er keinen hat, bringt er ihn dir morgen mit. Frau Drakow jubelte: «Grandios! Ein Hänsel im Rollstuhl. DAS ist mal ein Zeichen! Ich bin sehr stolz auf euch.»
«Hat er schon Ja gesagt?», fragte Rosa ihre Banknachbarin. Aber Amaya hatte gerade den Preisaufkleber von ihrem neuen Geodreieck gekratzt und wusste es auch nicht. Niemand wusste, ob Anders Hänsel sein wollte. Frau Drakow hatte vor lauter Begeisterung und Stolzsein vergessen, ihn zu fragen. Bei Li und mir dachte sie dann aber wieder dran. «Und ihr tauscht dann bitte die Rollen, weil Ronja ja im Erdgeschoss wohnt. Okay?»
Li verschränkte die Arme. «Wieso soll ich denn ein Baum sein, weil sie im Erdgeschoss wohnt?»
Das wollte ich auch gern wissen. Frau Drakow schob die Brille auf ihrer Nase für besseren Durchblick etwas hoch. «Hänsel und Gretel müssen sich am Wochenende treffen und ihren Text vorbereiten», sagte sie. «Und weil wir jetzt einen ganz besonderen Hänsel haben, einen, der …»
«Aber bei uns im Haus gibt’s einen Fahrstuhl», unterbrach Li.
«Genau», sagte ich schnell, um keine Gretel werden zu müssen, aber Frau Drakow ließ nicht mit sich reden. «Ja, ja!» Sie schüttelte den Kopf und nickte, und alles gleichzeitig. «Und dann kommt ihr Montag wieder an und sagt, ihr konntet euch leider nicht vorbereiten, weil ja irgendwas nicht in irgendeinen Fahrstuhl gepasst hat. Das Risiko wollen wir mal lieber nicht eingehen. Man kann sich seine Rollen im Leben eben nicht immer aussuchen.»
Zwar hatte sie uns also gefragt, ob wir einverstanden waren, aber dann ließ sie trotzdem einen Fahrstuhl und ein Erdgeschoss über die Rollen in unseren Leben entscheiden. Es gab keine weitere Diskussion.
«Viel Spaß mit deinem Einkaufswagen», flüsterte Sophie hinter mir und kicherte. Die Hexe.
Das Beste an Samstagen waren immer die Nordseekrabben zum Frühstück. Ich habe die schon geliebt, als ich noch bei meiner Mutter im Bauch war. Jedenfalls sagte sie immer, dass sie Krabben nur mochte, als sie mit mir schwanger war. Mein Vater brachte mir fast jeden Samstagvormittag Krabben vom Markt mit. Plus ein Croissant, plus Orangen für Orangensaft, plus den stinkenden Käse mit der klebrigen Rinde. Der war das Zweitbeste an Samstagen. Klar, da fragt man sich, wie schrecklich muss das Leben von einer sein, wenn der Stinkekäse das Zweitbeste an ihren Samstagen ist?! Aber ich hatte an meinem Leben wirklich überhaupt nichts auszusetzen. Nur die ganz normalen Dinge waren schrecklich: spazieren gehen, Tante Sabine ein Küsschen auf die stachelige Wange geben, Hausaufgaben machen, weiche Päckchen zu Weihnachten bekommen, wenn man sich einen Schokobrunnen gewünscht hat. Mein Leben war also in allerbester Ordnung, bis zu diesem Samstag, an dem mein Vater eine besonders große Portion Krabben vom Markt mitbrachte. Da ahnte ich schon, dass irgendwas sehr schiefgehen würde an diesem Wochenende. So viele Krabben gab es bisher nur ein Mal. Das war am Wochenende vor dem Montag, an dem mir die Mandeln rausoperiert wurden. Und das hatte echt wehgetan.
Als meine Mutter meine Taufkerze anzündete und auf den Frühstückstisch stellte, dachte ich, Opa Heiner sei gestorben. Oder jemand anderes. Aber erst mal war keiner tot. Meine Eltern taten weiter ganz normal. Mir fiel trotzdem auf, dass sie sich den Kaffee nur in die eigene Tasse gossen. Ich türmte mit einem Löffel die Krabben auf mein Brötchen. Sie sollten alle auf einmal raufpassen. Weil ich das wollte. Dafür musste ich mich sehr konzentrieren, sodass ich nicht mitbekam, ob außer dem Kaffee noch etwas falscher lief als sonst. Mein Vater fragte nach irgendwelchen besonderen Vorkommnissen in der Woche.
«Nö!», sagte ich.
Dann wollte meine Mutter wissen, ob ich fürs Wochenende schon Pläne hätte.
«Nö!» Vorsichtig balancierte ich das Krabbenbrötchen Richtung Mund. «Nur der Neue kommt noch irgendwann.»
«Welcher Neue?» Meine Mutter sah mich an, als hätte ich heimlich einen Neuen gebastelt, obwohl sie es mir verboten hatte.
«Wir haben so einen Neuen in der Klasse», sagte ich und schob mir die Brötchenhälfte in den Mund. Einigen Krabben gelang die Flucht zurück auf den Teller.
«Seit wann das denn?» Jetzt schaute mein Vater auch noch so vorwurfsvoll.
«Seit gestern», sagte ich mit vollem Mund. «Hab ich vergessen. Der ist behindert.»
Mein Vater ließ die Hand auf den Tisch knallen, sodass die Krabben auf dem Teller hüpften. «Du sollst nicht so reden, Ronja!», ermahnte er mich. «Es gibt Menschen, die sind wirklich …»
«Er ist wirklich behindert», unterbrach ich, bevor er sich weiter unnötig aufregte. «Sitzt im Rollstuhl.»
«Oh!» Meine Mutter hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund. «Wie kann man denn so einen vergessen zu erwähnen?»
Ich zuckte mit den Schultern. Meine Mutter legte ihren Finger ungläubig auf den Tisch. «Und der kommt hierher?»
«Ja.»
«Mit dem Rollstuhl?»
«Wie sonst?»
«Vielleicht dachte Mama, eine Spezialeinheit seilt ihn vom Hubschrauber ab», sagte mein Vater. Er und ich, wir lachten, und dann hatte ich eine noch bessere Idee, damit wir noch weiter zusammen lachen konnten. «Oder er verschickt sich selber als Päckchen!»
Meine Mutter fand das überhaupt nicht witzig. «Hört auf damit.» Sie tippte sich an die Stirn. «Ihr habt sie doch nicht mehr alle. Darüber macht man keine Scherze!»
Ich versuchte, noch ein bisschen weiterzulachen, aber mein Vater hörte auf damit und fegte mit der Handkante Krümel vom Tisch. Also hörte ich auch auf und schob mit dem Finger Krabben auf meinem Teller zusammen. Normalerweise hätte mir jetzt jemand sagen müssen, dass ich die Krabben-Sache mit Messer und Gabel erledigen musste und bloß nicht auf die Idee kommen sollte, mit meinen Krabben-Fingern jetzt irgendwas anzufassen. Aber meine Eltern interessierten meine Tischmanieren an diesem Samstagmorgen nicht.
Nachdem meine Mutter nun wusste, wie Anders hierher kam, wollte sie auch noch wissen, warum er mich überhaupt besuchen wollte. Ich fand die Frage merkwürdig. Warum sollte man mich nicht besuchen wollen?
«Er ist Hänsel, weil er im Rollstuhl sitzt, und ich bin Gretel, weil ich im Erdgeschoss wohne. Darum kommt er heute. Zum Üben.»
«Gut!», nickte sie.
«Gut? Ich find’s nicht so gut», antwortete ich. «Ich wollte lieber Baum sein. Ich find Gretel doof. Hänsel auch. Wie kann man denn Brotkrümel auf den Weg werfen und denken, die liegen da noch, wenn man zurück nach Hause will? Ist doch logisch, dass die Vögel die längst gefressen haben. Oder irgendwelche Eichhörnchen. Und wer beißt denn bitte von einem Haus ab?»
Aber meine Mutter meinte mit «gut», dass er heute kommen wollte, denn für den nächsten Tag hätte sie bereits andere Pläne. Ich schob die Krabben auf den Löffel und stellte mir unter den anderen Plänen ein Motorboot ausleihen und angeln vor. Ich fand das einen guten Plan für einen Sonntag. Aber so, wie die beiden auf den Tisch starrten, nach meiner Hand griffen, einer links, eine rechts, und mein Vater sagte: «Wir haben gedacht, dass du nun alt genug bist!», da freute ich mich plötzlich über ein Handy. Ich war mir sicher, dass meine Eltern endlich eingesehen hatten, dass ich die letzte Elfjährige der Stadt ohne Handy war und dringend eines haben musste. Endlich! Oder die bunten Sneaker für 250 Euro. Bloß: Es war überhaupt gar kein Handy. Und auch kein Motorboot. Und erst recht keine 250-Euro-Schuhe.
«Wir werden uns trennen, Ronja.» Die Stimme meiner Mutter klang, als würde sie gerade an ihrem Brötchen ersticken. Darum hatte ich sie schlecht verstanden und dachte, sie hätte vielleicht gesagt: «Du musst dich mal wieder kämmen, Ronja.» Oder: «Wer ein Handy will, muss rennen, Ronja.»
JA!, ich wollte rennen. So schnell wie möglich. So weit weg wie möglich. Und ich konnte richtig schnell und lange rennen, obwohl ich eher so aussah, als könnte ich richtig schnell und sehr viel Kuchen essen. Die Haare hätte ich mir auch gekämmt. Sofort, ohne zu meckern und ganz gründlich. Wäre mir egal gewesen, wie sehr es ziept und wehtut. Ich hätte sie ab jetzt jeden Morgen gekämmt, und ein Handy brauchte ich auch nicht mehr, Hauptsache, ich hatte mich verhört. Hatte ich?
«Mama hat das ein bisschen falsch formuliert», sagte mein Vater und drückte meine Hand noch fester. Mit der anderen drückte er Toast in den Toaster. Ich war erleichtert. In meinen Gedanken stieg ich morgen nun doch zu meinen Eltern auf ein Motorboot. Ich konnte mir aber gar nicht so schnell die Rettungsweste anziehen, wie mein Vater weitersprach: «Wir haben uns nämlich schon getrennt. Schon vor einer ganzen Weile.»
Da plumpste ich von meinem Boot ins Wasser und ging unter. Ich tauchte tiefer und tiefer. Es war sehr kalt. Es war dunkel und wurde dunkler. Dann wieder heller. Plötzlich sah ich das verschwommene Gesicht meiner Mutter vor mir. Ihre Stimme klang dumpf, so wie wenn ich in der Badewanne mit dem Kopf unter Wasser bin.
«Ich wollte dir morgen meinen neuen Freund und seine Kinder vorstellen. Deine neuen Stiefgeschwister. Die beiden sind wirklich sehr nett. Die haben auch zwei Schildkröten!»
Ab morgen waren zwei nette Schildkröten meine neuen Geschwister? Ich wischte mir Tränen vom Gesicht und verstand überhaupt nichts mehr. Meine Mutter ließ meine Hand los. «Du hast jetzt bestimmt ganz viele Gefühle», sagte sie. «Das ist okay, Ronja. Willst du uns sagen, was du fühlst?»
Ich zog Rotz die Nase hoch und sagte: «Ich fühle, dass wir gleich alle abfackeln.»
Hinter meinen Eltern, die mich anstarrten, als hätte ich was angestellt, stieg Rauch auf. Zwei Scheiben Toast standen in Flammen.
«Puh, gerade noch mal gutgegangen», freute sich meine Mutter und ließ erleichtert die zwei schwarzen Toastscheiben in die Papiermülltüte fallen. «Alles wieder in Ordnung!» Sie klatschte einmal in die Hände.
Die ganze Wohnung roch total verbrannt. Alles wieder in Ordnung? Meine Krabben lagen zwischen tausend Scherben auf dem Fußboden, weil mein Vater die Stoffserviette unter meinem Teller weggerissen und über den brennenden Toaster geworfen hatte. Der Teller war runtergefallen, und die Serviette hatte Feuer gefangen. Erst nachdem meine Mutter auch noch den dicken Wischlappen über den Toaster geschmissen hatte, hatte der Ruhe gegeben. Aber deshalb war trotzdem nichts wieder in Ordnung. Gar nichts war gut! Oder sollte das was Gutes sein, dass man plötzlich alt genug war, um sich sagen zu lassen: Wir haben uns getrennt. Schon vor einer ganzen Weile!?
Ich war also schon eine Weile lang ein Trennungskind, ohne zu wissen, was ich für eine war. Dabei tat mir immer noch Nisa leid, die auf dem Schulhof vor ungefähr zwei Wochen die Fassung verloren und Herrn Nawi-Breuer in den Hintern getreten hatte. Und dann so komisch rote Flecken am Hals bekommen und in einer ganz piepsigen Stimme gerufen hatte: «Sie sind so ein …, so ein …, so ein …»
Wir hatten alle Fäuste gemacht, um sie anzufeuern, und gehofft, sie würde es sagen. Sagte sie aber leider nicht. Na ja, wir wussten auch so, was Herr Breuer für einer war. Jedenfalls hörte ich stattdessen Frau Schlinger zu Frau Drakow sagen: «Völlig fertig mit den Nerven, das arme Kind. Die Nisa hatte ja schon immer ihre fünf Minuten, aber seit der Trennung ihrer Eltern hat sie sich wirklich gar nicht mehr im Griff.» Und dann lehnte sie sich nah an Frau Drakows Ohr rüber, aber ich hatte es trotzdem gehört: «Trennungskinder sind echt das Schlimmste!»
Und während mir Nisa leidtat, weil sich ihre Eltern getrennt hatten und sie deshalb neuerdings immer unfreiwillig für beste Unterhaltung auf dem Schulhof sorgte und echt das Schlimmste war, war ich längst auch das Schlimmste. Wie lange bloß schon hatten mir meine Eltern Theater vorgespielt?
Apropos Theater: Während ich noch darüber nachdachte, nahm einer das als Stichwort für seinen Auftritt und klingelte. Ich schaute zur Küchenuhr. Nein! Jetzt bloß nicht dieser Hänsel. Keine Lust. Echt null. Aber genau der stand draußen vor der Haustür und wollte zu mir. Meine Eltern erstarrten.
«Wer ist das?», fragte mein Vater.
«Das ist Anders.»
«Was ist anders?»
«Das, vor der Tür. Der Neue aus meiner Klasse. Heißt so. Anders. Ist angeblich Schwede.»
«Ach, das Rollstuhlkind?», erinnerte sich meine Mutter an das, was wir vor dem brennenden Toaster besprochen hatten.
Ich nickte.
«Dann sag doch nicht das zu ihm, als wär er ein Ding», beschwerte sie sich, nachdem sie ihn selber gerade DAS Rollstuhlkind genannt hatte.
«Kommt der überhaupt an unsere Klingel ran, wenn er …?», fragte mein Vater.
«Na, der hat doch schon geklingelt», unterbrach ihn meine Mutter und rollte verächtlich mit den Augen. «Hol ihn doch lieber mal rein. Wie lange soll er denn da noch vor der Tür stehen?» Sie drückte schnaufend auf den Türsummer.
«Vor der Tür sitzen», grummelte mein Vater und drängelte sich an uns vorbei. Er sprang die drei Treppenstufen im Hausflur hinunter und riss die Haustür auf.
«Entschuldige», begrüßte er Anders. «Tut mir echt leid. Hier ist irgendwer beim Bau dieses Hauses auf die irrwitzige Idee gekommen, unbedingt noch drei Stufen bis zu unserer Erdgeschosswohnung einzubauen.»
«Kein Problem», sagte Anders. Das glaubte ich ihm sofort. Konnte mir nicht vorstellen, dass er es meinem Vater persönlich übelnahm, dass irgendwer hier irrwitzige Stufen hingebaut hatte.
«So habe ich das früher mit deinem Kinderwagen auch gemacht», keuchte mein Vater und warf mir ein Lächeln über seine Schulter zu, während er den Rollstuhl die Stufen hochzog.
«Hi», sagte Anders, als er vor mir saß.
«Hi.» Ich hob die Hand und machte dabei ein paar Schritte rückwärts, damit ihn mein Vater in die Wohnung schieben konnte.