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Der erste Roman des beliebten Tatort-Kommissars
Eigentlich hätte es ein entspanntes »Mörderisches Wochenende« werden sollen für den Tatort-Schauspieler Miroslav Nemec: Lesung aus einem Krimi und gutes Essen in einem schönen Berghotel. Doch dann kommt es auf der »Falkneralm« zu einer Serie seltsamer Todesfälle. Und der Kommissar-Darsteller Nemec muss nicht nur echte Leichen anfassen, er sieht sich sogar veranlasst, wirklich zu ermitteln. Kann das gut gehen?
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Seitenzahl: 292
Über das Buch
Miroslav Nemec, den viele als Ivo Batic aus dem Münchner »Tatort« kennen, soll bei einem »Mörderischen Wochenende« aus einem Krimi von Henning Mankell lesen und über »Mord in Fiktion und Wirklichkeit« diskutieren. Und so fährt er an einem Freitag im August in das Berghotel »Falkneralm«, zu dem nur eine einsame Seilbahn führt. Doch das Wochenende wird alles andere als nette Routine: Nicht nur kommt ein gewaltiger Gewittersturm auf, plötzlich kommen nacheinander auch drei Gäste zu Tode. Unfall oder Mord? Eine Verkettung unglücklicher Umstände, wie die Berchtesgadener Polizei meint. Doch Nemec und ein anderer Gast, die Polizeimeisterin Bergending aus Augsburg, beginnen zu zweifeln, ob wirklich alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Und so muss der Kommissardarsteller Nemec selbst zum Ermittler werden und der Gefahr ins Auge blicken, sich so richtig lächerlich zu machen.
Über den Autor
Miroslav Nemec, geboren 1954 in Zagreb, aufgewachsen in Freilassing, spielt seit 1991 im »Tatort« den aus Kroatien stammenden Münchner Kommissar Ivo Batic. Der Schauspieler begann seine Laufbahn am Theater (u. a. Münchner Residenztheater) und steht seit Ende der 80er Jahre in verschiedenen Rollen vor der Kamera. Auch als Musiker ist er aktiv, u. a. mit der Miro Nemec Band. Miroslav Nemec wohnt mit seiner Familie in München.
Miroslav Nemec
Die Toten von der Falkneralm
Mein erster Fall
Knaus
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Für Mila und KatrinEin Schauspieler macht es, oder er macht es doch.
1
An manchen Tagen meide ich den Umgang mit mir selbst. Auch diesmal, als ich im Flur stand und nicht mehr wusste, was ich eigentlich vorgehabt hatte. Ich hatte gerade geduscht und mich angezogen. Das Handy in meiner Jackentasche an der Garderobe klingelte und das Telefon im Wohnzimmer ebenfalls. Ich ging nicht ran. Ich war nicht da.
Ach ja. Ich wollte packen. Nein, ich wollte nicht, ich musste. Es war Freitag, kurz nach zwei, und ich sollte am Abend im Hotel Falkneralm, irgendwo weit hinten in den Berchtesgadener Alpen, sein, um an einem »Mörderischen Wochenende« teilzunehmen, bei dem ich am nächsten Vormittag aus einem Kriminalroman von Henning Mankell lesen und mich am Abend an einem Gespräch zum Thema »Mord und Totschlag in Fiktion und Wirklichkeit« beteiligen sollte. Der Nachtdreh von gestern steckte mir noch in den Knochen. Ich war erst bei Tagesanbruch nach Hause gekommen und hatte ein Bier zu viel als Betthupferl getrunken, um überhaupt schlafen zu können. Es musste schon fast sechs Uhr gewesen sein, als ich schließlich in unserem Gästezimmer weggedämmert war. Meine Frau wollte ich nicht wecken, und geweckt werden wollte ich auch nicht, wenn sie und unser Töchterchen gegen sieben aufstehen würden. Jetzt hatte ich das Gefühl, der Boden unter meinen Füßen sei irgendwie nicht wirklich hart genug.
Dummerweise war gestern nicht, wie ursprünglich geplant, der letzte Drehtag für den Tatort gewesen. Der gesamte Dreh war um ein paar Tage verschoben worden. Wir würden also noch zwei volle Studiotage benötigen. Vor mir lagen nicht nur dieses verdammte Wochenende, bei dem ich meiner Müdigkeit nicht würde nachgeben können, sondern auch zwei 14-Stunden-Tage am Montag und Dienstag, für die ich noch jede Menge Dialoge aufzufrischen hatte.
»Du hast keine Lust«, sagte meine Frau, die mit unserer Tochter gerade zur Haustür hereinkam.
»Ich bin müde, mein Schatz, aber ich habe einen Vertrag und muss Geld verdienen«, sagte ich.
Meine Frau lächelte.
Sie hatte Mila extra früher aus dem Kindergarten abgeholt, damit sie sich noch vom Papa richtig verabschieden konnte. Doch Mila nahm mich an der Hand und zog mich ins Wohnzimmer. Das macht sie besonders gern, wenn sie weiß, dass ich zum Arbeiten gehen muss.
»Komm, Papa, wir machen mein Puzzle fertig. Aber du sollst nur zuschauen.«
Eine Kristallkugel existiert nicht in unserem Haushalt, und ich hätte auch kein Talent, damit umzugehen, ebenso wenig wie mit einer eventuellen Zeitkrümmung oder was auch immer Leuten wie Einstein oder Heisenberg als Handwerkszeug gedient haben mag: Ich kann nicht in die Zukunft sehen. Hätte ich es gekonnt und einen Blick auf die nächsten vierundzwanzig Stunden geworfen, dann wäre mir jedes Hindernis recht gewesen. Stimmbandzerrung, ein Anfall von Tourette, Nervenzusammenbruch, was auch immer. Ich wäre nicht gefahren.
Später, als meine Tasche schon im Kofferraum lag, lehnte ich noch kurz am Türrahmen und sah der Kleinen zu, wie sie in zügigem Tempo, ohne noch groß hinzusehen, die Puzzleteile aneinanderlegte, und mir wäre jede Ausrede recht gewesen, jetzt nicht wegzumüssen, aber ich küsste meine Tochter auf den Lockenkopf und meine Frau auf den Mund und erinnerte mich an den Spruch meines Kollegen Hans Stetter, mit dem ich am Residenztheater engagiert war: Ein Schauspieler macht es, oder er macht es doch.
Die Autos glänzten in der Sonne, als wären sie eben gerade aus der Fabrik abgeholt und vorher noch von Hand poliert worden. Eine Zeitlang versuchte ich Ausschau zu halten nach einem rostigen oder verbeulten oder wenigstens alten Auto, aber entweder schaute ich nicht richtig hin oder fuhr auf der für ein solches Vorhaben falschen Autobahn, denn nicht mal die wenigen Lieferwagen, die noch unterwegs waren, hatten nennenswert Jahre auf dem Buckel oder gar Dreck an den Radkappen, und die alten Autos, die ich sah, waren liebevoll und teuer restaurierte Schmuckstücke, die nur zum Wochenende aus der Garage dürfen.
An einem Freitagnachmittag im August auf der A8 von München aus nach Süden zu fahren, ist nichts, was ein ungeduldiger Mensch wie ich sich vornehmen sollte, aber ich hatte keine Wahl. Ich konnte das Hotel nicht an einen anderen Ort verlegen und mein selbstverständlich ebenfalls glänzendes Auto nicht in einen Hubschrauber verwandeln, also versüßte ich mir dieses nervige Stop-and-go schon vor Holzkirchen mit lauter Musik von Sting und Lucio Dalla. Dann legte ich die CD, die ich mit meiner Band aufgenommen hatte, ein und sang mit als Stimmübung. Zuerst »Give me some lovin«, »Junimond«, später »Still my guitar« und so weiter.
Am Rasthof Irschenberg verließ ich erstmal den Stau, holte mir einen Kaffee und beeilte mich, wieder zurück ins Auto zu kommen, weil ich die Blicke der Leute in meinem Rücken spürte und manches Flüstern und Lachen, das an meine Ohren drang, auf mich bezog. Ich weiß eigentlich noch immer nicht, wie das geht: Ein Gesicht spazieren zu tragen, das vielen Leuten bekannt vorkommt. Ich bin nett, ich tue so, als merkte ich es nicht, oder ich erwidere jeden genickten oder gelächelten Gruß, aber so richtig wohl fühle ich mich nicht, weil: Eine Raststätte ist keine Bühne, und einen Kaffee bestellen ist keine Kunst. Und die Hauptrolle in dem Stück »Herr Nemec kauft sich einen Kaffee« ist auch nicht gerade abendfüllend. Da fällt mir der alte Schauspielerwitz ein: Treffen sich zwei Kollegen. Sagt der eine: Du, ich hab dich gestern in der Straßenbahn gesehen. Sagt der andere: Und, wie war ich? Was ich damit sagen will: Dieses Öffentlichsein fühlt sich immer irgendwie falsch an, ist aber immer irgendwie nicht zu ändern und muss deshalb immer irgendwie gemeistert werden. Und da verlasse ich mich ganz auf meine Intuition.
Natürlich bin ich eitel genug, um mich darüber zu freuen. In dieser Aufmerksamkeit stecken ja schließlich Interesse und Anerkennung, aber das muss ich mir in solchen Momenten dann jedes Mal wieder in Erinnerung rufen. Was ich fühle, ist nur diese gewisse Unbequemlichkeit, das Im-Dienst-Sein. Ich bin dann manchmal auch froh um jeden Holländer, Kroaten oder Italiener, der neben mir an der Kasse steht und mit meinem übernächtigten Gesicht nichts anfangen kann.
Eigentlich liebe ich ja den Geruch an Rasthöfen. Vor allem bei Sommerwetter, wenn sich Staub und Auspuff mit Sonnencreme, Kaffee und Heuduft mischen und das Rauschen und Brummen der Autobahn den ewigen Refrain vom Wegfahren und Ankommen intoniert. Ich weiß dann nie, ob ich Heimweh oder Fernweh habe und wo genau daheim ist, in Kroatien oder hier in Bayern.
Ich beeilte mich mit dem Kaffee, trank ihn so schnell es ging, denn ich konnte mich bei der Hitze nicht ins Auto setzen, und mich danebenzustellen, kam mir zu ausgestellt vor, und ich erinnerte mich an einen Satz von Helmut Fischer: »Auf geht’s in die Fußgängerzone, geh ma uns a bissl erkennen lassen.« Und genau das wollte ich im Moment nicht.
Als ein paar Meter weiter ein Faber-Reisebus aus Dinkelsbühl parkte und eine Menge fröhlicher Damen und Herren herausströmten, beeilte ich mich, den Kaffeebecher loszuwerden, denn es ging um Sekunden. Wenn sie mich erspähten, wäre es zu spät, und ich müsste ein Foto nach dem anderen mit mir und einer strahlenden Dame, der ich, ebenfalls strahlend, den Arm um die Schulter lege, schießen lassen.
Einen Stau später, in der Nähe von Rosenheim, schaltete ich das Radio ein, um zu hören, wie lange das so weitergehen würde, und am Ende der Nachrichten hieß es, der Wetterdienst habe eine Warnung herausgegeben für die Landkreise Garmisch und Berchtesgaden, man rechne mit Starkregen und Windböen bis über hundert Kilometer, ein veritabler Sturm sei also im Anmarsch, und man solle möglichst ab neunzehn Uhr abends das Haus nicht mehr verlassen. Na servus. Das Hotel war nur über eine Seilbahn zu erreichen, und meine Hoffnung, an deren Bodenstation noch vor halb sieben anzukommen, schwand langsam. Seilbahnen sind nicht meine Leidenschaft. Die Fischer in Istrien sagen: Lobe das Meer und bleibe am Ufer. Auf mich abgewandelt hieße das: Lobe den Berg und bleibe im Tal.
Im Südwesten sah der Himmel schon dramatisch dunkelgrau aus, aber direkt über mir schien eine giftige Sonne, und von Windstößen oder gar Sturmböen war noch nichts zu spüren. Wenigstens lief der Verkehr jetzt ein bisschen flüssiger, und ich war kurz nach sechs tatsächlich an der Seilbahnstation. Kein Sturm weit und breit.
Ein paar Autos standen auf dem Parkplatz. Mercedes, Porsche Cayenne, BMW und Audi, ein kleiner Kastenwagen von Renault, ein Golf, ein Passat und ein gepflegter alter Morgan +8. Wenn der Großteil der Gäste nicht per Bus angeliefert worden war, dann konnten dort oben nicht viel mehr als zwei, drei Dutzend Leute sein, zumal das Personal des Hotels ja auch irgendwie hergekommen sein musste.
Ich versuchte, meine Frau zu erreichen, es meldete sich aber nur die Mailbox. Da fiel mir ein, sie wollten ja noch zum Starnberger See fahren, um zu baden. Ich hinterließ Küsse und dass ich gut angekommen sei. Dann stieg ich aus, ging zum Kofferraum und nahm meine Tasche heraus. Den Impuls, meinem Auto das Dach zu tätscheln, unterdrückte ich. Ein junger Mann in T-Shirt, Jeans und Janker kam mir entgegen, als ich meine Reisetasche herausnahm, stellte sich als Oliver, Sohn der Managerin, vor und wollte mir die Tasche abnehmen.
»Lassen Sie mal«, sagte ich, »das schaff ich schon.«
»Das wär aber Service«, sagte er, »sind’s doch nicht so bescheiden, Herr Nemec.«
Ich hörte die Stimme meines Vaters, der es damals in Jugoslawien zeitlebens abgelehnt hatte, sich auf der Straße die Schuhe putzen zu lassen: »Niemand ist was Besseres«, aber dann gleich hinterher die Stimme meiner Oma: »Tu nicht so bescheiden, so groß bist du nicht.« Also ließ ich den jungen Mann die Tasche zur Kabine tragen. Und fühlte mich unwohl dabei, wie immer, wenn mir jemand einen Gefallen tat. Ich wollte einfach niemandem dankbar sein müssen. Das hatte man in meiner Kindheit wohl zu oft von mir verlangt.
Oliver ging vor mir her, und ich sah an seinem Gang, dass er sich bemühte, souveräner zu wirken als er war. Er hatte sich vorgenommen, mich cool zu empfangen, und war jetzt erleichtert, dass ich mitgespielt hatte. Er stellte die Tasche in die Seilbahnkabine und hielt mir die Tür auf.
»Ich schick Sie hoch und wart hier auf die nächsten Gäste«, sagte er, »es fehlen noch eine Menge Leut. Wir sind ausgebucht, Herr Nemec.«
Als ich die Kabine betrat und mich umsah, erklärte er mir noch, dies sei früher mal ein Materiallift für die Hochalm gewesen, mit dem man Lebensmittel und Kleinvieh rauf- und Milch und Käse heruntergefahren habe. »Jetzt ist es schon sehr viel komfortabler«, sagte er, wohl weil er meinen Gesichtsausdruck ganz zutreffend als eher skeptisch eingeordnet hatte.
»Sie könnten auch den alten Jägersteig nehmen«, sagte er lächelnd, »aber das ist dann schon eher was für Extremsportler.«
»Ich hab heut mein Training schon hinter mir«, winkte ich ab, und er drückte einen dicken Knopf an der Innenwand der Kabine, schloss die Tür und erklärte mir von draußen, dass ich den Bügel herunterkippen solle, erst dann würde es losgehen. Ich tat, was er sagte, und die Kabine setzte sich in Bewegung.
Mir war es recht, dass ich alleine fuhr. Ich schaute zwar nach draußen, aber tendenziell eher zur Bergseite hin. Ein Mann stellt sich mutig seinen Dämonen. Auch wenn er sich unbeobachtet weiß. Aber man muss nicht ihre grausliche Fratze anstarren, es reicht, wenn man ihnen auf die Füße guckt.
Wie sagte mein Opa immer: »Mut ist, mit dem nackten Arsch einen blanken Säbel hinunterzurutschen.« Er war Torpedomeister bei der königlichen Marine gewesen.
Es ging steil nach oben. Anfangs über längst nicht mehr beweidete Almen, deren Trampelpfade in Jahrhunderten von Rindern geformt worden waren und sich jetzt wieder nivellierten und verschwanden. Dann, fast auf Wipfelhöhe, über Wald hin, den kein Mensch an diesem Steilhang gepflanzt haben konnte, und der dennoch nur aus Fichten bestand, über eine Felsnase, eine weitere Alm und wieder über Wald. Zur Talseite schaute ich nicht, denn falls mich oben jemand erwarten würde, wollte ich nicht als kreidebleicher Harlekin aus der Kabine wanken, sondern dynamisch und lächelnd und bergfest.
Wenigstens ließ der Sturm noch auf sich warten. Die Kabine schwebte, ohne zu schwanken, bergan. Von ferne sah das sicher majestätisch aus, für mich war es nur instabil, aber es hatte ein Ende, ich kam an, hob den Bügel vor der Tür und trat nach draußen auf den endlich wieder festen Boden.
Das Hotel Falkneralm, ein imposanter Altbau aus den Dreißigerjahren und erst vor Kurzem umgebaut, lag vor mir in vielleicht hundert Metern Entfernung und duckte sich unter dem inzwischen anthrazitfarbenen Himmel auf einen Felsvorsprung. Von den Zimmern zur Talseite hin musste man einen grandiosen Blick haben. Als ich näher kam, konnte ich die Schrift eines Banners lesen, das über dem Portal hing: »Mörderisches Wochenende.«
Das Hotel war noch nicht lange in Betrieb und versuchte, sich mit Veranstaltungen einen Namen zu machen. Maria, die Frau, die meine Lesungen und Soloabende organisiert, hatte mir einen Flyer geschickt. In der Woche zuvor war der Fernsehkoch Johann Lafer zu Gast gewesen, und in der nächsten würde Reinhold Messner einen Lichtbildvortrag halten. Man nahm ordentlich Geld in die Hand, um Publikum hierherzulocken. Es juckte mich schon, den Veranstaltern bei Gelegenheit den Messner-Witz zu erzählen: Zwei Yetis unterhalten sich. Sagt der eine: »Du weißt, außer uns gibt es hier oben niemanden.« »Ja«, sagt der andere Yeti, »ich weiß.« »Aber gestern«, sagt der Erste, »da hab ich doch jemanden gesehen. Diesen … diesen … wie heißt er bloß? Diesen … ich hab’s, Reinhold Messner.« »Ach was«, sagt der andere Yeti, »gibt’s den wirklich?«
Kurz bevor ich den Eingang erreicht hatte, riss eine erste Böe den Lappen halb herunter, und ich musste dem unansehnlichen Banner, als das es jetzt vor der Tür hin und her schlug, ausweichen.
Eine blonde Frau im sandfarbenen Kostüm empfing mich strahlend. Sie kam hinter der Rezeption hervor und breitete die Arme aus, als wolle sie mich umhalsen, aber als sie nach ein paar Schritten bei mir angekommen war, streckte sie doch nur manierlich die Hand vor und sagte: »Lindner. Herr Nemec, schön, dass Sie da sind.«
»Ich bringe schlechtes Wetter mit«, sagte ich, »tut mir leid.«
»Kein Problem«, sagte sie, »das ziehen wir von Ihrer Gage ab.«
Ich lachte und dachte, das muss die Mutter von Oliver sein, die haben sich beide zur Lässigkeit verabredet. Sie eilte zur Rezeption zurück, nahm einen Zimmerschlüssel vom Regal und ging mir voraus, den Flur entlang. Auch ihr Gang war beredt. Sie musste entweder früher mal Model gewesen sein, oder sie hatte sich sonst irgendwo abgeschaut, wie man auf einer imaginären Linie geht, um den Hintern in elegante Schwingung zu versetzen, während man die Schultern stolz und entspannt gerade hält. Als ich den Blick für eine Sekunde von ihrer Silhouette abwandte, sah ich, dass das Haus geschmackvoll renoviert worden war. Der graublaue Teppichboden passte zum rötlichen Holz der Zimmertüren und der eierschalenfarbenen Wand.
Wir kamen an, und sie öffnete mir die Tür zur »Wettersteinsuite« mit Blick ins Tal, kleinem Obstkorb, einer Flasche italienischem Rotwein, aus Gaiole von 2008, wie ich später erfreut registrierte, und einem nicht übertrieben üppigen, aber fröhlich bunten Blumenstrauß. Offensichtlich hatte meine Agentin Maria meine Vorliebe für Chiantiwein ausgeplaudert.
»Sehr schön«, sagte ich und stellte meine Tasche ab, während Frau Lindner mir noch erklärte, wann es Essen gab, dass Schwimmbad und Sauna rund um die Uhr benutzt werden durften und wie sehr sie sich auf meine Matinee am nächsten Vormittag und das Kamingespräch am Abend freue.
Vor dem Fenster war es nicht mehr August, sondern November oder Januar. Dunkel und unheimlich.
Als ich die Suite in Ruhe inspiziert und für sehr komfortabel befunden hatte, ließ ich mich von dem Bademantel, der neben der Dusche lag, und den Frotteeschläppchen zu einem Besuch des Pools inspirieren, zog meine vorsorglich eingepackte Badehose an, nahm den Schlüssel und ging zum Fahrstuhl.
Dort sah ich mich mehrfach von hinten, der Seite und vorn, die Kabine war verspiegelt. Der optimale Lift für Schauspieler, dachte ich, aber eher nichts für Leute, deren Selbstbewusstsein unterhalb des roten Bereichs liegt. Vielleicht nicht der glücklichste Einfall des Architekten.
Das Schwimmbad war leer, das Becken groß genug, um jeweils vier, fünf Schwimmzüge zu machen, bevor man wenden musste, aber die Zehenprobe sagte mir, dass das Wasser zu kalt für mich war. Ich konnte, weil ich allein war, das Schwimmvorhaben noch mal überdenken. Wäre mein Freund Udo hier, der mich bei jeder Gelegenheit bei den Dreharbeiten als »Klimamemme« auf die Schippe nimmt, weil es mir in unserem Wohnmobil immer entweder zu warm oder zu kalt ist, hätte ich jetzt dagegenhalten müssen. Rein mit Prusten und scheiß auf den eventuellen Herzstillstand.
Dann eben die Sauna. Dort konnte ich mich erst mal aufwärmen und hinterher als lebender Tauchsieder ins Becken hechten. Zwar war Sauna eigentlich nichts für den Sommer. Eher ein Wintervergnügen. Oder eine Winterpflicht. Aber draußen herrschte ja quasi Winter, also konnte ich auch drinnen in die Sauna gehen.
Ich hängte meinen Bademantel an einen Haken neben der Tür, meine Badeshorts dazu und griff mir eines der dunkelroten Saunatücher, die neben der Tür auf einer Bank lagen.
Als ich die Tür geöffnet hatte und drei Frauen sah, die mir im ersten Moment abweisend, aber dann gleich sehr einladend entgegenblickten, wich ich instinktiv zurück, schaffte es gerade noch, das rote Saunahandtuch vor meine wesentlichen Teile zu halten und eine mehr oder weniger höfliche Begrüßung zu murmeln: »Hallo, die Damen, da will ich aber lieber nicht stören«, bevor ich die Tür wieder schloss.
»Aber Sie stören doch nicht«, rief es mir durch den Türspalt hinterher.
»Das ist mir zu heiß«, sagte ich noch halbherzig und hoffte, sie würden das als doppeldeutig und damit halbes Kompliment für ihre durchweg ansehnlichen Erscheinungen nehmen. Und sie taten es. Sie lachten. Die Ausrede war akzeptiert worden.
»Dann schicken Sie halt den Herrn Leitmayr herein«, klang es dumpf durch die geschlossene Tür, und ein Lachen aus drei Frauenkehlen folgte.
Jetzt war ich schon mal hier unten, also sprang ich doch in den Pool, ignorierte den Herzstillstand, und nach zwei, drei Minuten bekam ich auch wieder Luft und schwamm, bis die drei Grazien, jetzt sittsam in Bademänteln, sich fröhlich winkend an mir vorbei und in Richtung Aufzug entfernten.
Kaum waren sie durch die Glastür verschwunden, kletterte ich raus aus dem eiskalten Wasser, trocknete mich ab und trödelte mit dem Anziehen meines Bademantels, damit die drei auch sicher im Aufzug verschwunden sein würden. Dann verzog ich mich in meine Suite, schoss dort ein Foto mit meinem Handy, schickte es mit einem Smiley und Herzchen an Frau und Kind, damit sie sahen, dass es mir hier oben an nichts fehlte.
Das kalte Wasser des Pools hatte mich nur kurz wieder richtig wach gemacht. Jetzt spürte ich nur umso deutlicher, wie mir der Nachtdreh und die Betthupferl-Bierchen noch in den Knochen hingen. Wenn’s nach mir gegangen wäre, dann hätte ich mir was zu essen aufs Zimmer bestellt, den Rotwein dazu geöffnet und mich in aller Ruhe auf meine Lesung vorbereitet. Das tue ich normalerweise auf der Bahnfahrt, aber diese Strecke in die Berge war nichts für den Zug gewesen. Also nahm ich mir jetzt den Ausdruck des Mankell-Textes vor, um den zu Hause vorbereiteten Text nochmals laut durchzugehen. Es kommt mir bei Lesungen immer darauf an, die Betonungen, die Bögen und unterschiedlichen Stimmlagen so gut wie möglich herauszuarbeiten. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es Zeit war, mich sehen zu lassen. Maria hatte erklärt, ich sei für dieses Wochenende auch »zum Anfassen« gebucht.
2
Der Sturm war jetzt da, es heulte und fauchte ums Haus herum, Frau Lindner hatte eine deutlich sichtbare Sorgenfalte zwischen den fein gezupften Augenbrauen, und das Lächeln der beiden Bedienungen war viel zu optimistisch und extra unbeschwert, als dass man sich nicht von der allgemeinen Ängstlichkeit hätte anstecken lassen müssen.
Dazu kam, dass der holzvertäfelte Speisesaal nur halb besetzt war. Vielleicht vierzig Leute saßen verstreut und entweder sichtbar bedrückt oder sichtbar aufgekratzt an den Tischen verteilt und gaben sich, jeder auf seine Art, Mühe, der Statik und Widerstandskraft des Hauses zu vertrauen.
Eine der beiden Bedienungen, eine hübsche Schwarzhaarige, die mich an eine Kollegin erinnerte, führte mich zu einem Tisch, an dem schon zwei Paare saßen. Eine der Damen erkannte ich aus der Sauna wieder.
»Das sind Ihre Gesprächspartner morgen Abend«, sagte die Bedienung, »Herr Mees aus Landsberg mit Gattin und Herr Siebert von der Süddeutschen Zeitung, ebenfalls mit Gattin. Den Herrn Nemec kennen Sie ja sicher alle.«
»Batic«, sagte der korpulente Herr Mees lächelnd und erhob sich, um mir die Hand zu geben. Sie standen alle auf, wir schüttelten Hände, ich sagte: »Nein, nein, Nemec passt schon«, obwohl das als humorlos aufgefasst werden konnte. Es ist normal, die meisten nennen mich Batic, wenn sie mich zufällig sehen, damit muss ich leben. Aber ich bin nun mal kein Kommissar, ich spiele nur einen.
Mees war, wie ich gleich erfuhr, Kriminalhauptkommissar außer Dienst und sollte wohl morgen Abend in unserem Gespräch die kriminalistische Realität gegen die Fiktionen im Kriminalroman und auch die im Tatort verteidigen. Der Herr von der SZ würde vor allem mir als »Fiktion« kritische Fragen stellen und moderieren, nahm ich an, er schrieb Rezensionen fürs Feuilleton.
Frau Mees, meine Fast-Saunabekanntschaft, sagte: »Sie sehen genauso aus wie im Fernsehen.«
»Ja«, sagte ich, »in der Maske vorhin haben sie sich Mühe gegeben.«
Sie lachte nicht. Dafür aber ihr Mann und die anderen beiden. Es tat mir leid. Ich wollte nicht unhöflich sein, aber was soll man denn auf so eine Bemerkung auch antworten – außer vielleicht gar nichts? Aber das ist mir meistens leider nicht gegeben. Ich nahm mir vor, ihr bei nächster Gelegenheit ein Kompliment zu machen, um sie wieder zu versöhnen. Sie schien Klasse zu haben. Auch was die Wahl ihrer Kleidung anbetraf. Sie hatte sich gegenüber ihrem schon durchaus beachtlichen Saunakostüm noch deutlich gesteigert. Und sie wirkte in ihrer teuren Aufmachung überhaupt nicht wie eine Polizistenfrau. Vielleicht war ja sie diejenige, die das Geld in die Ehe eingebracht und ihrem Kriminalhauptkommissar einen verfrühten Ruhestand ermöglicht hatte. Er war höchstens Mitte fünfzig, meiner Schätzung nach.
Ich hatte keine Zeit, meine Beobachtungen weiterzubetreiben, denn Frau Lindner stand jetzt in der Tür und erhob die Stimme, worauf sofort alle verstummten und sich ihr zuwandten.
»Liebe Gäste, das Wetter macht uns den sprichwörtlichen Strich durch die Rechnung«, erklärte sie, »wir mussten die Seilbahn einstellen, ab Windstärke acht darf sie nicht mehr in Betrieb genommen werden. Das heißt, mehr als die Hälfte der erwarteten Gäste hat es bis jetzt nicht zu uns geschafft. Ich konnte telefonisch jemanden organisieren, der in der Talstation auf die Leute wartet und ihnen die Übernachtung in verschiedenen Hotels unten anbietet. Der Sturm soll die ganze Nacht über wüten. Wir hoffen aber, dass morgen früh wieder alles läuft und wir im Laufe des Vormittags dann vollzählig sein werden. Unser Programm verschiebt sich dadurch. Die Matinee mit Herrn Nemec, die eigentlich um elf Uhr stattfinden sollte, machen wir jetzt am Nachmittag. Bis dahin sollten es alle geschafft haben, zu uns vorzustoßen. Das ist Ihnen doch recht, Herr Nemec?«
Das klang nach Ausschlafen und den Text noch mal in Ruhe durchgehen können, also nickte ich, obwohl ich fand, sie hätte mich vorher auch fragen dürfen.
»Das Dach wird uns nicht wegfliegen«, fuhr sie fort, »bitte genießen Sie trotz der Unbill den Abend, und vor allem erst einmal unser Menü.« Sie deutete mit einer entspannten Armbewegung zur Küchentür, wo sich jetzt die Servicekräfte mit den Amuse-Gueules in Bewegung setzten.
Frau Lindner kam zu unserem Tisch.
»Das war ein spontaner Einfall, Herr Nemec, ich hätte Sie vorher fragen sollen«, sagte sie, »tut mir leid. Ist es trotzdem okay?«
»Kein Problem«, sagte ich, »nachmittags ist halt die Gage etwas höher.«
Sie lächelte.
»Und Worte wie Unbill höre ich nicht oft, aber sehr gern, sie erinnern mich an alte Theaterzeiten.«
Sie lächelte breiter und entfernte sich wieder.
Irgendwo in Hörweite, aber nicht lokalisierbar, krachte es und rumpelte hinterher, es musste einen Baum umgerissen haben. Ich ließ mir nichts anmerken, falls ich der Einzige war, der es gehört hatte, aber mir schien, Frau Mees wäre auch ein wenig blasser um die Nase geworden. Wir tauschten einen kurzen Blick und waren uns einig, unseren Schrecken geheimzuhalten. Das war besser als ein Kompliment. Komplizenschaft.
Schon bei der Suppe hatte sich eine Art trotziger Tapferkeit durchgesetzt, nicht nur an unserem Tisch, sondern im ganzen halbleeren Speisesaal. Die Leute unterhielten sich, lachten, ich war anscheinend nicht der Einzige, der Witze erzählte, und das Gebrüll des Wetters dort draußen ging uns alle nichts an.
Kriminalhauptkommissar Mees, der mich ein bisschen an Heinz Erhard erinnerte, entpuppte sich als Entertainer. Seine Frau lächelte eher verständnisvoll oder gar verzeihend über seine Bonmots und Anekdoten, sicher hatte sie das alles schon mehrfach gehört, aber Herr und Frau Siebert und natürlich ich waren amüsiert. Ich war sogar sehr angetan von seiner Präsenz und Lebenslust, auch weil mich das entlastete. Ich konnte mich zurücklehnen und ein bisschen umsehen, was mir selten vergönnt ist. So geht es vermutlich schönen Frauen: Sie müssen ins Leere oder in die Luft schauen, weil alle nach ihnen schauen. Sie hätten sonst andauernd Augenkontakt mit Fremden, und das kann missverstanden werden.
Die meisten Menschen hier waren mittleren Alters, von so etwa Mitte dreißig bis vielleicht Mitte fünfzig, Anfang sechzig. Nur zwei Frauen und Oliver waren deutlich jünger. Die meisten Gäste schienen Paare zu sein, ich glaubte, nur drei Singles und ein Mutter-Tochter-Paar auszumachen, die ein bisschen öfter als die anderen und beiläufig, fast verstohlen in die Runde blickten.
Ich liebe es, Menschen dabei zuzusehen, wie sie Messer und Gabel benutzen, ein Weinglas heben, sich den Mund abtupfen oder die Brille putzen. Was immer sie tun, es sagt etwas über ihr Wesen aus, und ich versuche mir davon, so viel ich kann, abzuschauen. Niemand, auch nicht die Beherrschteste oder der Verkrampfteste, kann sich komplett verstecken und als neutrale Maske durch die Welt wandeln. Schon der Versuch, neutral dreinzuschauen, sagt etwas über denjenigen aus, der ihn unternimmt, nämlich, dass er gerade etwas fühlt oder denkt, von dem niemand wissen soll. Oder er ist tatsächlich ein gefühlloser Psychopath. Oder will, dass man ihn dafür hält.
In der Schauspielschule in Zürich wurden wir rausgeschickt zur Straßenbahnhaltestelle, damit wir dort beobachteten, wie Menschen auf unterschiedliche Weise warten. Ich habe seither viel für meine Rollen gelernt, jeweils nur vom Zuschauen.
Das Mutter-Tochter-Paar fiel ein bisschen aus dem Rahmen. Die Mutter war eher alternativ gekleidet, so betont Naturfaser und Ethno und Dritte Welt, die Tochter hingegen kam eher großstädtisch hip, wenn auch im Stil der Achtzigerjahre, herüber in ihrem Schlauchkleid mit Leopardenmuster und einer dünnen schwarzen Lederjacke. Leider konnte ich die beiden nicht näher studieren, weil sie zu mir hersahen. Sie redeten wohl über mich. Ich wandte mich meinem Essen zu und tat so, als lauschte ich interessiert den Ausführungen von Herrn Siebert von der SZ, der ein Loblied auf Mickey Spillane sang, der mir nichts sagte, und dabei seinen gepflegten Vollbart mit der einen Hand zauste, während er die andere dazu benutzte, die Stücke seines Schnitzels, die er sich wie ein Amerikaner mundgerecht vorgeschnitten hatte, mit der Gabel zwischen seinem Vortrag in den Mund zu befördern.
Das Essen war gut. Einfach, aber schön serviert und ohne Blütenblatt, Beerenzweig oder andere alberne Applikationen und Schnörkel. Auf dem Teller lag das, was man auch essen wollte. Als Amuse-Gueule ein Streifen Quiche, gedünsteter Staudensellerie und Frühlingszwiebeln, dann eine Kraftbrühe mit Lauchstreifen, dann ein zartes Wiener Schnitzel mit Petersilienkartoffeln und fein geschnittenem Wirsing. Jeder Gang hatte auf der kleinen Speisekarte, die neben dem Teller lag, einen irgendwie krimibezogenen Namen: Poirot, Wallander, Ripley.
Leider wurden das Ächzen und Krachen draußen immer lauter, sodass die fast heitere Stimmung im Saal bald wieder einem bedrückten Murmeln wich.
Frau Lindner ergriff erneut das Wort. Sie stellte sich in die Mitte des Raums und lud uns alle ein, nach dem Essen in der Kaminbar auf Kosten des Hauses »nach Herzenslust« zu trinken und es sich ungeachtet des wilden Wetters da draußen gut gehen zu lassen.
Ich hätte mich, müde wie ich war, heute gern in mein Zimmer verzogen, meine Frau angerufen, vielleicht meiner Tochter, wenn sie noch wach wäre, einen Gutenachtkuss per Skype geschickt, aber Frau Lindner hakte sich bei mir ein, gleich nachdem ich aufgestanden war, und ging mit mir nach nebenan.
Die Kaminbar war mit schlanken schwarzen Sesseln und runden Tischchen eingerichtet, Wände und Decken dunkelrot, das Licht gedämpft, aber nicht schummrig, und hatte den Vorzug, dass sie kleiner war als der Speisesaal, also war sie gut gefüllt mit den Gästen, und außerdem hatte man ihre Fensterläden geschlossen, sodass das Toben und Tosen außen vor blieben.
Ich bin gern unter Menschen. Als Einzelgänger würde ich mich nicht gerade bezeichnen, wobei ich natürlich am liebsten Familie, Freunde und Kollegen um mich habe, aber nach ein paar Minuten in der Bar überkam mich starke Sehnsucht nach einer Zigarre, und mir fiel ein, dass ich auf dem Weg zum Schwimmbad im Untergeschoss ein Hinweisschild mit der Aufschrift »Raucherlounge« gesehen hatte.
Zum Glück waren alle noch mit dem Aussuchen und der Bestellung von Getränken beschäftigt, sodass ich mich von meiner Tischgesellschaft, mit der ich herübergekommen war, noch ohne unhöflich zu wirken separieren konnte. Nur Frau Siebert bemerkte meinen Abgang und erwiderte mein kleines Winken mit einem Lächeln.
Eine Lounge war es nicht direkt, stellte ich fest, nachdem ich zuerst hinter der falschen Tür nur zerlegte und gestapelte Sonnenschirme, Stühle und Sitzkissen entdeckt hatte. Es war ein länglicher, rechteckiger, fast geschlossener Innenhof, von dessen Seiten je eine Metalltür abging und an dessen Stirn ich eine Art Garagentor sah. Vielleicht für ein Schneewiesel. Nach rechts öffnete sich der Hof in eine Einfahrt zum Berg hin. An den Wänden waren Gitter aus Holz angebracht, an denen sich der jetzt noch spärliche Efeu einmal hochranken sollte, der unten eingepflanzt war. In ein paar Jahren wäre dieses triste Loch wenigstens grün. Der Aschenbecher stand in der Mitte des Rechtecks, zwar an der Wand, aber bei Regen würde man den kleinen, von einem Vordach geschützten Bereich unter der Tür verlassen müssen und würde nass werden bis auf die Knochen.
Es hatte geregnet in der letzten halben Stunde, nicht zu knapp, alles glänzte, roch erdig und frisch. Im Aschenbecher stand Wasser, in dem zum Glück noch keine ekligen Kippen schwammen. Also war ich der Erste, der heute hier rauchte.
Mich umschlossen zwei solide gemauerte Stockwerke, deshalb machte sich der unvermindert heftige Sturm hier unten fast nur noch akustisch bemerkbar, und ich schaffte es ohne größere Verrenkungen, mir meine Zigarre anzuzünden.
Ein paar Versuche brauchte ich dennoch. Als sie endlich zog, war es schon vorbei mit dem Alleinsein, denn die Tür ging auf, und ein Mann trat heraus, der schon Zigarettenschachtel und Feuerzeug in der Hand hielt, als habe er es kaum erwarten können, sich endlich eine anzuzünden, und tatsächlich war die Tür noch nicht hinter ihm zugefallen, als die Zigarette schon brannte.
»Erschwerte Bedingungen«, sagte er.
»Dafür sind wir was Besonderes«, sagte ich, »die letzten fünf Prozent.«
»In China sieht das noch anders aus«, fand er.
»Ja. Da rauchen sie noch wie die Schlote.«
»Und die Schlote selber rauchen erst recht.«
»Da wollen wir aber nicht hinziehen«, gab ich zurück, und er lachte und hatte schon den dritten tiefen Zug inhaliert.
Er starrte nach oben, als wolle er prüfen, ob von dort ein Ast oder sonst etwas auf uns herabstürzen konnte, und ich sah ihn mir an, wie ich das mit jedem tue, wenn die Gelegenheit sich bietet.
Die Haare etwas zu künstlermäßig lang, gut geschnitten und dekorativ angegraut, die Brille teuer, das Jackett ebenso, die Hose ein bisschen zu modisch für einen eher Sechzig- als Fünfzigjährigen, Budapester an den Füßen, ein Hemd mit Stehkragen im selben Graugrün wie das Sakko. Ein Homme à Femmes. Der klassische Frauenheld. Ich erinnerte mich, ihn an einem Tisch links hinter mir wahrgenommen zu haben, mit einer Frau, deren missmutiger Gesichtsausdruck mir aufgefallen war, weil er sich so unterschied von dem blitzenden Lachen, das ich an ihr gesehen hatte, als sie im Schwimmbad mit den beiden anderen Saunagrazien an mir vorbeigegangen war.
»Und? Wie finden Sie Ihr Publikum?«
Er schien jetzt überzeugt davon, dass uns der Himmel nicht in den nächsten Minuten auf den Kopf fallen würde.
»Im Moment noch gar nicht«, sagte ich, »das kann ich erst beurteilen, wenn ich gelesen habe, falls Sie das meinen.«
»Ihren Harem könnten Sie hier aber nicht nennenswert erweitern, oder?«
Sakrament. Der ließ keine Sekunde ungenutzt, um gleich aufs Wesentliche zu kommen.
»Seh ich aus wie ein Scheich?«, fragte ich, und er lachte.
»Nein, nicht wirklich, auch nicht wie ein Mormone, aber schon wie einer, der an jedem Finger zehn Weiber haben kann.«
Jetzt lachte ich. Obwohl ich keine Lust auf diese Art Gespräch hatte. Früher war das anders gewesen. Nicht was den Text betrifft, da war ich schon immer der Ansicht, dass ein Gentleman genießt und schweigt, aber den Glanz im Frauenauge wusste ich sehr wohl zu schätzen, und wenn es sich ergab, dann schlug ich auch kein Angebot aus. Aber das ist lange her. Ich löse die Gutscheine nicht mehr ein.
»Können und wollen sind nicht dasselbe«, sagte ich deshalb und hoffte, damit das Thema vom Tisch zu haben.