Die Toten von Friesland - Fynn Jacob - E-Book
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Die Toten von Friesland E-Book

Fynn Jacob

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Beschreibung

Rätselhafte Morde an der Nordsee

Schiermonnikoog, Aurich, Sylt. Kurz hintereinander werden drei Leichen in unterschiedlichen friesischen Regionen gefunden. Den Opfern sind Botschaften in die Haut geritzt, ein Mordmotiv ist nicht erkennbar. Der junge Kriminalhauptkommissar Marten Jaspari übernimmt die Ermittlungen in Deutschland, stößt jedoch schnell an seine Grenzen. Erst die Zusammenarbeit mit der niederländischen Kollegin Iska van Loon führt zu einem alten Geheimnis und zu einem ungeheuerlichen Verdacht. Als eine weitere Leiche auftaucht, rennt ihnen die Zeit davon – und der Fall spitzt sich dramatisch zu.

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DASBUCH

Schiermonnikoog, Aurich, Sylt. Kurz hintereinander werden drei Leichen in unterschiedlichen friesischen Regionen gefunden. Den Opfern sind Botschaften in die Haut geritzt, ein Mordmotiv ist nicht erkennbar. Der junge Kriminalhauptkommissar Marten Jaspari übernimmt die Ermittlungen in Deutschland, stößt jedoch schnell an seine Grenzen. Erst die Zusammenarbeit mit der niederländischen Kollegin Iska van Loon führt zu einem alten Geheimnis und zu einem ungeheuerlichen Verdacht. Als eine weitere Leiche auftaucht, rennt ihnen die Zeit davon – und der Fall spitzt sich dramatisch zu.

DERAUTOR

Fynn Jacob heißt im richtigen Leben Christian Kuhn und lebt in Langenfeld in der Nähe seiner Geburtsstadt Köln. Schon als Kind fuhr er gemeinsam mit seiner Familie den Rhein hinab, um mit dem Segelboot der Eltern die Nordsee und ihre Inseln zu erkunden. 2020 erschien bei Heyne mit »Nordseedämmerung« der erste Band der Kriminalromane um BKA-Hauptkommissar Tobias Velten. »Die Toten von Friesland« ist der Auftakt einer neuen Romanreihe, die an unterschiedlichen Orten der deutsch-niederländischen Nordseeküste spielt.

Kuhn ist Mitglied im SYNDIKAT e.V., dem Verein für deutschsprachige Kriminalliteratur. Mehr unter www.kuhnchristian.de

Fynn Jacob

DIE TOTEN VON FRIESLAND

Kriminalroman

Ein Fall für Jaspari und van Loon

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 03/2023

Copyright © 2023 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur EDITIODIALOG, Dr. Michael Wenzel (www.editio-dialog.com).

Redaktion: Loel Zwecker

Covergestaltung: bürosüd, www.buerosued.de unter Verwendung von mauritius images/Busse & Yankushev

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28437-4V002

www.heyne.de

Für meine Familie

1

Schiermonnikoog. Freitag, 25. Juli

21:30 Uhr

Es war ihr Chef. Iska van Loon blickte mit einer Geste der Entschuldigung zu Maaike und Marc, bevor sie das Gespräch annahm. »Hey, Dirk, was kann ich für dich tun?«

»Arbeiten.« Er räusperte sich. »Einen Tatort ansehen. Hast du Zeit?«

Nein, hatte sie nicht. Heute war der letzte Tag ihres gemeinsamen Urlaubs. Zwei Wochen im Ferienhaus ihrer Familie, wie die letzten zehn Jahre schon, seitdem sie das Sorgerecht aufgeteilt hatten. Diese zwei Wochen gehörten die beiden ihr, bevor sie sie wieder an ihren Ex-Mann abgeben musste, von jedem zweiten Wochenende abgesehen. Und der letzte Abend war sowieso heilig. Die Skatkarten lagen schon auf dem Tisch, um Mitternacht würden sie einen Horrorfilm gucken, irgendetwas Trashiges mit viel Blut. Außerdem hatten sie vor fünf Minuten Pizza bestellt, es war ihr eigener Vorschlag gewesen.

»Worum geht es denn?«

»Du musst wirklich sagen, wenn es nicht passt. Es ist offensichtlich Mord. Ich dachte nur, weil du eh im Moment auf deiner Nordseeinsel bist …«

»Ein Mord. Hier auf Schiermonnikoog?«

»Die Kollegen von der Polizei vor Ort haben die Meldung eben erst herausgegeben. Eindeutig Mord, aber sehr undurchsichtige Begleitumstände. Vielleicht sowieso ein Fall für uns.« Der Dienst Landelijke Recherche der Nationale Politie war unter anderem auf die Strafverfolgung bei schwerer und organisierter Kriminalität sowie die Terrorismusbekämpfung spezialisiert. »Wenn ich jetzt ein Team vom Festland losschicke, wären die erst in ein paar Stunden da. Darum kam ich auf dich.«

»Was ist denn passiert?«

Wenn sie den Fall jetzt annahm, dann würde sie ihn auch zu Ende führen müssen. Wer zuerst am Tatort ankam, übernahm in der Regel auch die Leitung bei den Ermittlungen. Eigentlich brauchte sie keine Entscheidung mehr zu treffen, die war schon gefallen. Urlaub hin oder her, es war ihr Fall. Es hätte sich komisch angefühlt, wenn einer der Kollegen ihn zugeordnet bekommen hätte. Mehr noch, wahrscheinlich hätte sie es Dirk übel genommen, wenn er sie nicht angerufen hätte.

»So ganz schlau bin ich aus den Kollegen nicht geworden, sie berichteten von runenartigen Schriftzeichen. Die Bilder waren verstörend, man muss aber auch sagen, das Licht war schlecht. Ich leite ihre Meldung an dich weiter. Schau dir das alles selbst an. Die Spurensicherung wird wahrscheinlich erst morgen früh eintreffen. Wir telefonieren nachher noch, wenn du dir einen Überblick verschafft hast.«

»Ich mache mich direkt auf den Weg.«

»Danke dir. Bis nachher.«

Sie beendete den Anruf. Marc und Maaike blickten sie an, die beiden hatten jedes Wort mitgehört und wussten, dass sich die Abendplanung gerade geändert hatte.

»Du hast gerade einen Fall bekommen?«, fragte Marc. Sie konnte den Stolz aus seiner Stimme heraushören. Ich bin eine Mutter, mit der man angeben kann, dachte Iska. Na ja, schränkte sie ein. Marc war dreizehn Jahre alt. Sie sollte sich nichts einbilden, das war nicht unbedingt das Alter, in dem man sich als Junge so sehr mit seiner Mutter identifizierte, cooler Beruf hin oder her.

»Ja. Tut mir leid, dass ich unsere Abendplanung durcheinanderbringe.«

»Cool.« Er schien sich zu freuen. Vielleicht ein wenig zu sehr.

Maaike sagte nichts. Sie saß in ihrer Lieblingsecke auf dem Sofa, in die Kuscheldecke eingehüllt, und tippte auf ihrem Smartphone herum, als wäre nichts passiert.

»Ist alles okay?« Maaike antwortete nicht, sie hatte ihren verliebten Gesichtsausdruck aufgesetzt und grinste gedankenverloren in Richtung Display, wie immer, wenn ihr Typ ihr geschrieben hatte. Erste Liebe. Iska erinnerte sich daran, wie sie und Daniel, Maaikes und Marcs Vater, sich damals so oft geschrieben hatten, das waren noch SMS gewesen, und vor allem nicht kostenfrei. Es war ein Kampf um jedes Wort gewesen, um das Zeichenlimit nicht zu überschreiten. Ein Leben mit Schmetterlingen im Bauch. Sie hatte früh gewusst, dass er der Richtige für Nachwuchs war. Maaike war ihr gemeinsames Wunschkind gewesen, sie hatte viel von ihrem Vater, die gleiche liebe, aufopfernde, ehrliche Art. Sie würde auf ihre Tochter aufpassen, versprach sich Iska in Gedanken. Wehe, dieser Kerl brach ihr das Herz.

Ihr eigenes Smartphone vibrierte, die von Dirk weitergeleitete Meldung. Der Tote war bereits identifiziert worden, Ruben Veenstra, der örtliche Fahrradhändler. Ein Aussteiger, vormals Manager eines IT-Unternehmens aus Amsterdam. Er hatte sich während seiner Urlaube in die Insel verguckt und war schließlich übergesiedelt. Sie erinnerte sich, wie eines Tages das Namensschild über der Tür des Geschäftes geändert wurde. Das war bestimmt über zehn Jahre her. Sie hatte ihn als ruhigen, freundlichen Menschen in Erinnerung. In den letzten Jahren hatte er sich im Stadtrat immer wieder mit neuen Ideen dafür eingesetzt, die Insel für Bewohner und Touristen attraktiver zu machen. Zuletzt hatte er sich für eine Modernisierung des Gemeindehauses von Schiermonnikoog engagiert, in dem nun auch Räumlichkeiten und Säle für Seminare, Kongresse und Feiern angemietet werden konnten.

Der Nachricht waren Fotos des Opfers beigefügt. Iska schluckte, es war eindeutig Ruben. Eine Detailaufnahme des Oberkörpers war dabei, zwar schlecht ausgeleuchtet, zeigte aber eindeutig Schnittwunden.

Die Kollegen würden am Tatort auf sie warten. Keine Adresse, nur ein Kreuz auf einer Landkarte.

Die festen Wanderstiefel lagen noch im Hausflur, wo sie sie nachmittags ausgezogen hatte. Ruben war östlich des Dorfes aufgefunden worden, in dem Naturschutzgebiet, in dem die Wiesen und Dünen weitgehend sich selbst überlassen waren. Gegen den allgegenwärtigen Wind wickelte sie sich einen Schal um den Hals.

»Es könnte später werden, Mama, oder?« Marc schlurfte zu ihr in den Flur, auch er hatte sein Smartphone in der Hand, auch er tippte dort irgendetwas ein. Und grinste recht ähnlich wie eben noch seine Schwester. »Dann bin ich nach der Pizza auch gleich noch mal weg.«

Bloß nicht. Und die Pizza hatte sie auch schon wieder vergessen. »Moment – äh, ich meine, nein!«

»Was?«

»Mir wäre es lieber, wenn ihr beide heute Abend zu Hause bleibt.« Die Verblüffung war ihrem Sohn deutlich im Gesicht abzulesen. »Ich möchte erst wissen, was da draußen passiert ist, okay?«

»Wenn mir jemand mit einer blutigen Axt entgegenkommt, laufe ich vor ihm weg, versprochen.«

»Marc, das ist nicht witzig. Bleibt zu Hause, bitte.«

»Vergiss es.«

Und Marc kommt ganz nach mir, stellte sie resigniert fest. »Ich verbiete es, verstanden? Ende der Diskussion.«

»Ich hab dich lieb, Mama«, sagte er grinsend. »Wir sehen uns morgen.«

»Ich verlasse mich auf euch!« Das würde nun auch nichts nützen, da machte sie sich keine Illusionen. Sie winkte noch einmal zu Maaike ins Wohnzimmer, dann zog sie die Tür hinter sich zu.

Das Ferienhaus hatten einst ihre Großeltern väterlicherseits gebaut, deren Familie schon immer als Fischer hier gelebt hatten. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte es die van Loons zwar auf das Festland verschlagen, aber sie hatten den Grund und Boden auf Schiermonnikoog nie aufgegeben. Und mit irgendwelchen Tricks hatte ihr Vater es auch geschafft, eine Fahrerlaubnis für Autos zu erhalten, die eigentlich nur den Insulanern zustand. Sie öffnete das vom Wetter gezeichnete hölzerne Garagentor und stieg in den uralten Passat, das »Inselauto«, wie sie ihn nannten.

Behutsam steuerte sie den Wagen durch den abendlichen Trubel im Dorf. Touristen flanierten in Ausgehkleidung im Dämmerlicht, die Restaurants waren gut besetzt. Die typische Unbeschwertheit auf einer Urlaubsinsel in der Nordsee. Iska mochte die Ironie, dass der Name der Insel an ganz andere Wurzeln erinnerte: Auf Westfriesisch hieß schier »grau«, monnik »Mönch« und oog »Insel«, die Insel der grauen Mönche. Die Zisterziensermönche, die die Insel im Mittelalter bewirtschaftet hatten, trugen graue Kutten.

Hinter den letzten Häusern bog Iska auf den Heereweg ab, die zentrale Straße des Banckspolders. Vor Ewigkeiten schon hatten die Inselbewohner dieses Gebiet zwischen Dorf und heutigem Hafen eingedeicht und damit dem Meer abgetrotzt. Heute war der inzwischen entsalzte Boden so fruchtbar, dass er Viehzucht auf der an sich eher kargen Nordseeinsel ermöglichte. Sie passierte die Entenkoje, einen idyllischen Teich, in dem die Inselbewohner in früheren Zeiten Wildenten gefangen und getötet hatten. Als Kind war ihr das Gelände unheimlich gewesen.

Die Sonne war bereits untergegangen, das Restlicht lag grau über dem Naturschutzgebiet, die Scheinwerfer beleuchteten tiefgrüne Wiesen am Wegesrand, im Hintergrund bewegten sich niedrige Büsche und gedrungene Bäume auf den sanft geschwungenen Dünen. Die Straße war zwar befestigt, aber schmal, der Wagen passte gerade so drauf, eigentlich war sie für Fahrräder ausgelegt.

Sie parkte am Fahrradparkplatz, der auch das Ende des für Autos befahrbaren Teils der Straße markierte. Vor ihr stand das Geländefahrzeug samt leerem Fahrradanhänger der Firma Veenstra. Daneben der Polizeiwagen der Insel, er verdeckte den Anfang des Wanderweges, der von hier weiter in das Naturschutzgebiet führte. Es war niemand zu sehen, erst als sie ausstieg, kam eine junge Kollegin in Uniform von ihrem Streifenwagen auf sie zu. Sie betrachtete prüfend erst ihren Dienstausweis, ihr Gesicht, dann wieder den Dienstausweis. »Entschuldigen Sie. Ich hatte Sie nicht direkt erkannt …«

Ja, das Bild ist etwas älter, dachte Iska.

Von hier aus ging es nur noch zu Fuß weiter. Der Wind hatte weiter aufgefrischt, wehte nun aus südlicher Richtung, verstärkte die aufkommende Flut, die das Wattenmeer in die großen Priele der Südseite drückte und die Salzwiesen überspülte.

Die Kollegin ging voraus und leuchtete mit einer Stabtaschenlampe den Weg. »Präziser Schuss aus nächster Nähe. Der Tod wird sehr schnell eingetreten sein.«

»Der Wagen auf dem Parkplatz, der mit dem Anhänger, das ist doch der Wagen von Ruben, oder? Wissen wir, warum er hier war?« Iska stolperte über ein Kaninchenloch, sie bekam gerade noch den Arm der Kollegin zu fassen. »Danke.«

Die Kollegin half ihr hoch. »Wissen wir nicht, aber wir haben eine Vermutung. Ruben hatte seit dieser Saison eine neue Kooperation mit einer Reiseagentur. Eine geführte Inseltour: erst mit dem Fahrrad hierhin, dann zu Fuß weiter durch das Naturschutzgebiet, weiter am Strand, von dort zurück mit dem Bus. Möglichst viel von der Insel sehen mit möglichst wenig Anstrengung. Er stellt die Fahrräder und holt sie abends wieder von den Fahrradplätzen ab. Holte …«

»Und das ist allgemein bekannt?«

»Ja.«

Eine perfekte Gelegenheit, wenn man es drauf angelegt hätte. Das Opfer lag in einer Mulde am Fuß der Düne, in einer halb aufrechten Position. Zwei weitere Kollegen waren gerade dabei, eine Zeltplane wie ein Dach über ihn auszuspannen. Für die Nacht war leichter Nieselregen angesagt, und die Spurensicherung hatte bereits darum gebeten, den Toten nach Möglichkeit nicht zu bewegen, aber trotzdem bestmöglich zu schützen.

Iska wartete, bis die Kollegen fertig waren. Endlich wandte sich ihr der ältere, er hatte ein rundes Gesicht mit einem auffälligen Schnauzer, zu. Sander Hoepkens, der Leiter der Dienststelle. Vor vierzig Jahren waren sie gemeinsam in den Sommerferien mit BMX-Fahrrädern über die Insel gerast, er hatte ihr die geheimen und mitunter verbotenen Wege durch die Dünen gezeigt. »Iska. Dass wir mal beruflich was miteinander zu tun haben …. Wow, du bist tatsächlich Hauptinspektorin?« Er bot ihr die Hand, damit sie besser in die Mulde hinabsteigen konnte.

»Hallo, Sander. Ja. Was zur Hölle ist passiert?«

»Purer Zufall, dass das Opfer heute Nacht noch entdeckt wurde. Zwei Wanderer hielten sich noch ganz im Osten der Insel auf. Als sie auf dem Heimweg hier vorbeikamen, fanden sie ihn genau so vor. Sie riefen uns an.« Es war angenehm, dass er sofort in den dienstlichen Modus gewechselt war.

»Gibt es Hinweise auf den oder die Täter?«

»Nein, bislang nicht. Einer der beiden berichtete, dass er eine halbe Stunde vorher so etwas wie einen Schuss gehört hätte, aber zuerst nicht weiter darauf geachtet habe. Wir schätzen, dass zwischen Tat bis zu unserem Eintreffen hier ungefähr eine Dreiviertelstunde vergangen ist.«

Alleine die halbe Stunde bis zum Anruf bedeutete, dass jemand genug Zeit gehabt hatte, um unerkannt bis ins Dorf zu gelangen. Oder an jeden anderen Ort auf dieser Insel. Zumindest per Auto oder Motorrad. »Hatte er irgendwelche Feinde, von denen wir wissen?«

»Nein. Privat lebte er in einer festen Partnerschaft mit seinem Freund, Lars, seit zwei Jahren schon. Er weiß noch nichts. Sie wollten nächstes Jahr heiraten, soviel ich gehört habe. Ich fahre gleich zu ihm rüber und überbringe ihm die Nachricht.«

Iska betrachtete den leblosen Körper. Eine Einschusswunde in der Mitte der Stirn, ein einsamer dunkelroter Punkt. Die Augen waren geöffnet und blickten leer in die Ferne. Die Arme lagen neben dem Oberkörper ausgestreckt, das blau-weiß karierte Hemd war aufgeknöpft, das ehemals weiße T-Shirt hochgeschoben worden, der Oberkörper blutverschmiert. Keine Schleifspuren oder irgendwelche Anzeichen, dass das Opfer nach seinem Tod bewegt wurde.

»Keine weiteren Wunden, außer die offensichtlichen«, beantwortete Sander ihre in Gedanken gestellte Frage.

Das musste nicht von Wichtigkeit sein, ließ aber zumindest Rückschlüsse auf den Tathergang zu. »Irgendwelche Hinweise auf Medikamente, Drogen, irgendwas in der Art? War er mal in dieser Richtung auffällig?«

»Nicht dass wir wüssten. Ich kenne ihn flüchtig, wie man halt jeden auf dieser Insel kennt.«

Sein Mörder hat wohl gewusst, dass er ihn hier antreffen würde. Hat ihn hier abgepasst. Aber Ruben hat sich offenbar nicht gewehrt. Es wirkte fast so, als sei er überrascht worden. Oder als ob er das, was ihm angetan wurde, hingenommen hätte. Eine Hinrichtung? Iska nahm die Stablampe, die ihr Sander anbot, und ging in die Knie, um das Opfer näher zu betrachten.

Unter dem Blut auf dem Oberkörper zeichneten sich Strukturen ab. Schnittwunden, wie sie sie bereits auf dem Foto gesehen hatte. Sie bildeten ein Muster. Grobe, ungelenke Zeichen. Eindeutig Buchstaben, die aufgrund der langen Schnitte an Runen erinnerten. Beim genaueren Hinsehen ergaben sich Wörter, die zusammen … Sie musste schlucken, als sie erkannte, was dort in die Haut eingeritzt worden war.

Dann rief sie Dirk an. »Ich übernehme die Leitung der Ermittlungen. Und ich brauche ein richtig großes Team hier vor Ort.«

2

Aurich. Montag, 28. Juli

06:30 Uhr

Marten Jaspari steuerte den alten Golf stadtauswärts in südöstlicher Richtung. Sein Vater hatte ihm den Wagen zu seinem achtzehnten Geburtstag geschenkt, und er fuhr ihn immer noch, obwohl Katharina schon mehrfach Andeutungen gemacht hatte, dass inzwischen doch etwas anderes angemessen wäre. Er passierte Haxtum und Rahe, die letzten Viertel des Stadtgebietes, dann lenkte er den Wagen von der Landstraße in eine kleine Seitenstraße. Sie führte entlang dichter, robuster Hecken, zwischen denen an wenigen Stellen die goldgelben Felder dahinter durchschienen, direkt zu einem Gehölz, das sich nur unmerklich über die flache ostfriesische Landschaft erhob. Der Upstalsboom.

Auch wenn man sich nicht für die Geschichte der Gegend interessierte, hatte man, sofern man aus Aurich stammte, zwangsläufig schon mal etwas über den Upstalsboom gehört. Dieser war, soweit er sich erinnerte, im Mittelalter der wichtigste Versammlungsplatz der freien Friesen gewesen. Hier wurden damals strategische Beratungen geführt, Recht gesprochen und ganz allgemein das Zusammenleben geregelt. Anders als in den meisten Teilen Europas hatte es in den friesischen Gebieten keinen herrschenden Adel, sondern freie, selbstständige Gemeinschaften gegeben. Und der Upstalsboom war ein Symbol für diese sogenannte Friesische Freiheit geworden. Nachdem er über die Jahrhunderte allmählich in Vergessenheit geraten war, hatte man ihn nach den Napoleonischen Kriegen wiederentdeckt, als Denkmal wiederhergerichtet und in diese waldartige Parkanlage eingebettet. Später hatten auch die Nazis versucht, den Upstalsboom in ihrem Sinne zu verklären – aus dem historischen Gelände hatte eine Thingstätte werden sollen, so hatten sie es genannt. Ein Ort, um ihrem Bild der nordischen, unbeugsamen Germanen propagandistisch zu huldigen. Zum Glück war ihr Interesse, weshalb auch immer, schnell wieder abgeflaut.

Nun war dort vor einer knappen Stunde von einem Jogger eine Leiche aufgefunden worden. Wie schaffte man es eigentlich, sich zu dieser Uhrzeit zum Laufen zu motivieren? Marten hatte sich noch im Tiefschlaf befunden, als ihn, da er Rufbereitschaft hatte, die Einsatzzentrale der Polizei Aurich aus dem Bett geklingelt hatte. Relativ knapp waren ihm die wichtigsten Fakten durchgegeben worden. Männliches Opfer, Mordverdacht. Mit einem letzten Gähnen brachte er den Golf hinter einem Streifenwagen zum Stehen. Zu beiden Seiten des Eingangs standen mehrere Fahrzeuge, rot-weißes Flatterband wogte in der Brise. Seine Müdigkeit ließ nach, das Adrenalin übernahm. Der erste Tote in seiner Verantwortung. Aus dem Handschuhfach holte er das eingeschweißte Paket mit den Tatort-Utensilien und stieg aus.

»Hier ist gesperrt, bitte wenden Sie wieder.« Ein uniformierter Kollege kam ruhigen Schrittes auf ihn zu, schüttelte den Kopf. Dann breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Ach, du bist es. Äh, also … du …?«

»Ich übernehme, ja.« Marten zeigte ihm seine Kriminaldienstmarke. »Guten Morgen.« Marten erkannte den Mann wieder. Frisch von der Polizeiakademie, vor ein paar Wochen hatten sie sich bei der Betriebsfußballmannschaft kennengelernt. Der Junge hatte ihn beim Spiel mehrmals nicht gut aussehen lassen. »Was ist denn bisher bekannt?«

»Die Leiche liegt im Zentrum der Anlage. Der schwarze 1er BMW da vorne war als einziges Fahrzeug hier geparkt. Kann gut sein, dass er dem Opfer gehört, der Schlüssel steckt noch.«

»Halterabfrage?«

»Ein Firmenwagen, GreenVision GmbH, der Windkraftanlagenhersteller.« Das Unternehmen hat seinen Hauptsitz in Aurich.

»Gut. Habt ihr sonst schon was feststellen können?«

»Keine auffälligen Spuren, wenn man von der Platzierung der Leiche absieht, natürlich. Wir haben mal alles weiträumig abgesperrt. So, wie das hier … na ja, besser ist es bestimmt. Vorsichtshalber.«

»Danke.« Die Kollegen hatten sich keinen Fehler zuschulden kommen lassen wollen. Marten trat zum BMW und sah durch die Seitenscheibe. Auf der Rückbank stand eine prall gefüllte Sporttasche, zwei blaue Anzüge baumelten an Kleiderbügeln von den Haltegriffen herunter.

Hinter ihm ertönten Motorgeräusche, ein roter Sportwagen rollte über die Straße auf ihn zu. Gudrun Hubel. Sie stieg aus, ihre schulterlangen Haare waren strähnig und wurden nur von einem einfachen Haarband zusammengehalten. Ihr hageres Gesicht wirkte noch blasser als sonst, auf Make-up hatte sie verzichtet. Auch bei seiner fünfzigjährigen Kollegin war die Morgendusche ausgefallen. »Einen wunderschönen guten Morgen«, begrüßte er sie.

»Moin, Chef.«

»Na denn mal los.«

Das letzte Mal war er auf einem Schulausflug hier gewesen, erinnerte sich Marten. Das war bestimmt gut zwanzig Jahre her. Seither hatte sich das Parkgelände nicht verändert. Warmes Licht fiel durch die Baumkronen. Vögel zwitscherten, aus dem Gehölz am Wegesrand hörten sie ein Rascheln, als ob Mäuse darin umherhuschten. Es roch noch feucht vom morgendlichen Tau. Schweigend erreichten sie die Mitte des Parks.

Der Ort wirkte erhaben, entrückt, eine stumme Erinnerung an vergangene Größe. Ein unscheinbarer sanfter Hügel, auf dem eine steile, knapp drei Meter hohe Steinpyramide aus unregelmäßigen, bräunlich grauen Quadern thronte. Errichtet von den Ständen Ostfrieslands im Jahre 1833, verkündete eine Granittafel auf halber Höhe. Genau so hatte es bei seinem letzten Besuch auch ausgesehen.

Heute lag nun unter dieser Tafel etwas, das von den Kollegen zum Schutz gegen den immer wieder einsetzenden Nieselregen mit einer weißen Plane verdeckt worden war. Nachher würde der Erkennungsdienst sie gegen ein Zelt eintauschen, unter dem man ungestört arbeiten konnte.

Der Kollege, der den Fundort bewachte, warnte sie, dass sie kein schöner Anblick erwarten würde. Sie zogen die weißen Overalls und Einweghandschuhe an, dazu Plastiküberzüge über die Schuhe, bevor sie die letzten Meter zum Fundort hinaufgingen. Gudrun schoss routiniert die ersten Fotos.

Behutsam schlug Marten die Plane zurück. Der Tote lag auf dem Rücken, ein blutverkrustetes, aber bleiches Gesicht schaute ihn an. In der Stirn ein einziges Einschussloch, wahrscheinlich ein kleines Kaliber unter sieben Millimeter. Die Augen des Toten waren starr geöffnet. Markante Züge, ungefähr dreißig Jahre alt, Dreitagebart. Es roch nach Eisen.

Der blaue Pullover, den er getragen hatte, war der Länge nach von oben nach unten durchtrennt und auf die Seite geschlagen worden, wie auch das ehemals weiße T-Shirt darunter, sodass der Oberkörper frei lag. Irgendwelche Insekten hatten sich schon auf den unbedeckten Hautstellen niedergelassen.

»Eala Frya Fresena«, las er, was in langen, blau unterlaufenen Schnitten über Brust und Bauch geritzt war. Der Wahlspruch von Ostfriesland, vor allem hier in Aurich allgegenwärtig. Auf Deutsch in etwa Steht auf, ihr freien Friesen. Eine Erinnerung an das Recht auf Freiheit. Knapp zehn Meter weiter unten war eine Steinplatte in den Weg eingelassen, auf der das Gleiche stand. »Spontane Assoziationen?«

»Puh.« Gudrun verdrehte die Augen. »Ich fürchte, dazu bin ich jetzt noch nicht fähig.«

Marten ließ die vor ihnen ausgebreitete Szenerie im Ganzen wirken. Es war mehr als ein Mord, das war eine Inszenierung. Es war ein Bild, ein blutiges Bild. In der Mitte war der Mensch, das Opfer abgelegt … ein Menschenopfer? »Ritualmord? Okkultismus? Irgendetwas Irres in der Art?«

»Schwer zu sagen«, wich sie den Fragen aus. Sie wechselte die Position, um die Leiche von der Seite zu fotografieren. »Was haben wir an Tatsachen?«

Okay, sie hatte recht. Langsam hockte er sich neben die Leiche. »Lässt sich kaum noch bewegen.« Wie war das noch mal gewesen? Nach ungefähr sechs Stunden war die Totenstarre voll ausgeprägt. Todeszeitpunkt also wahrscheinlich mindestens Mitternacht, wenn nicht früher. Er betrachtete den Hals. Dunkelviolette Totenflecken. Daraus konnte man doch auch was ablesen, mal sehen, was die Rechtsmedizin noch herausfand.

»Keine sichtbaren Abwehrverletzungen an den Händen.« Und weder an der linken noch an der rechten Hand war ein Ring am Finger oder auch nur Spuren davon. Also war der Tote wahrscheinlich ledig gewesen.

Marten tastete die Gesäßtasche des Toten ab, kleine Käfer krabbelten zwischen Kleidung und Körper. Rechts zog er ein Portemonnaie hervor. Einige große Geldscheine, insgesamt mehr als vierhundert Euro, überschlug er. Ein Unternehmensausweis von GreenVision, in etwa so groß wie eine Bankkarte. In Grün waren die drei stilisierten Flügel eines Windrades abgebildet. In einem hinteren Fach, etwas versteckt, fand er den Personalausweis.

»Jonathan Winkler«, las er laut vor. Er verglich das Foto mit seinem Gegenüber. Kein Zweifel, dieselbe Person. Als Wohnsitz war eine Adresse in Münster eingetragen. »Das ist doch mehr als zweihundert Kilometer entfernt.«

»Na ja, aber der Sitz von GreenVision ist direkt hier um die Ecke.«

In der linken Hosentasche des Toten befand sich ein Smartphone. Marten erkannte das Modell, erst letzte Woche hatte er erwogen, es selbst zu kaufen, Katharina hatte ihm davon vorgeschwärmt. Aber es kostete mehr als tausend Euro, das war es ihm dann doch nicht wert gewesen. Trotz der Größe war es überraschend leicht. Die Statusanzeige vom Akku leuchtete noch grün. Leider war das Display durch ein Passwort gesperrt.

Zuletzt fischte er aus der rechten Hosentasche zwei Schlüsselbunde, jeweils mit zwei größeren und einem kleineren Schlüssel. Das Metall glänzte silbern im Sonnenlicht. Die größeren waren Sicherheitsschlüssel, vielleicht zu einer Wohnung oder einer Haustür. Die anderen Taschen waren leer.

Nicht die Spuren zerstören, nichts falsch machen, bremste er sich. Mit Ruhe und Sorgfalt agieren, nicht mit Hektik. Fürs Erste hatten sie genug Hinweise. Das Weitere hier war Aufgabe für Obduktion und Erkennungsdienst. »Ich sag dem Staatsanwalt, dass wir hier oberste Priorität brauchen.«

»Nächste Schritte?« Noch während sie den Hügel verließen, fischte Gudrun eine Zigarettenpackung aus der Jackentasche. Ein Zeichen von Anspannung? So einen Fall bekam man in dieser Gegend nur einmal im Leben. Ja, wurde ihm klar, von nun an würden sie von oben unter Beobachtung stehen.

»Einer nach dem anderen. Immer schön an den Tatsachen entlang.«

3

Aurich. Montag, 28. Juli

09:30 Uhr

»Und?«

»Nicht viel.« Marten überflog die Antworten. Jonathan Winkler war polizeilich bisher nicht in Erscheinung getreten. Und die Melderegisterauskunft ergab, dass er ledig war, an seiner Adresse in Münster waren auch keine weiteren Personen gemeldet. Zusätzlich verfügte er seit einem Jahr über einen Zweitwohnsitz in Aurich, eine Viertelstunde vom Fundort der Leiche entfernt.

»Eine Zweitwohnung. Aber er ist nicht hierhergezogen«, überlegte Gudrun. Die Scheinwerfer blinkten, als sie ihren Sportwagen elektronisch entriegelte. »Über ein Jahr. Das geht schon ins Geld. Also hat ihn was oder wer zu Hause gehalten?«

»Jemand, die oder der nicht mitkommen wollte oder konnte?« Er schloss die Fahrertür seines Golfs auf und warf die gebrauchte Ausrüstung auf den Beifahrersitz.

»Mal sehen, was uns erwartet. Fahr du mal vor.« Sie stieg ein.

Ein wenig ungelenk rangierte er aus der Parklücke heraus, aus den Augenwinkeln konnte er erkennen, wie Gudrun sich ein Grinsen verkniff.

Er ließ seinen Gedanken während der Fahrt freien Lauf. Zweitwohnung, eine zweite Existenz, ein neues soziales Umfeld, Kollegen, Bekannte, Freunde. Nicht nur räumlich weit getrennt von der Heimat … Meistens waren Tötungsdelikte Beziehungstaten, auch wenn es am Anfang nicht danach aussah. Er war gespannt, was sie in der Wohnung erwarten würde. Irgendeine Verbindung zu Eala Frya Fresena, zum Beispiel, welcher Art auch immer.

Das Mehrfamilienhaus befand sich am Rand eines Gewerbegebietes, war strahlend weiß verputzt, aber mindestens fünfzig Jahre alt. Ruhige Gegend, weit und breit keine Passanten auf dem schmalen Bürgersteig zu sehen.

»Ganz okay, aber schön ist anders«, bemerkte Gudrun, als sie zu ihm trat.

»Hoffentlich ist wirklich einer von den Schlüsseln der richtige.«

Direkt der erste passte in das Sicherheitsschloss der Haustür. Ihre Schritte hallten über den gefliesten Flur, eine Batterie von acht Briefkästen hing an der rechten Wandseite. Einer der kleinen Schlüssel passte auf Winklers Briefkasten, nur ein einsamer Werbeprospekt eines Supermarktes lag darin. Seine Wohnung war in der obersten der vier Etagen. Es gab keinen Aufzug.

Endlich oben angekommen, öffnete Marten die Tür. An der Garderobe im Wohnungsflur hingen nur eine leichte Jacke und ein Regenmantel, darunter zwei Paar gute Lederschuhe und ein Paar weiße Sneaker. Links war eine riesige Wohnküche.

Mittendrin stand eine Staffelei, die auf einer breiten, mit Farbklecksen übersäten Bahn einer ehemals weißen Papiertapete stand. Oben rechts an der Leinwand hing das Foto, das er offensichtlich nachgemalt hatte. Ein See, ein Bohlenweg, langes wildes Gras, knorrige Birken. Die Szene kam ihm bekannt vor, er überlegte. Das müsste am sogenannten Ewigen Meer sein, einer Moorlandschaft nördlich von Aurich. Moorleichen … Germanische Stämme hatten früher in Mooren Tote begraben. Verbrecher, vielleicht Menschenopfer. Viele der Moorleichen, die geborgen wurden, wiesen Spuren brutaler Gewalt auf. Zertrümmerte Schädel, gebrochene Gliedmaßen. Stopp. Das war bei Winkler nicht der Fall, seine Fantasie ging mit ihm durch.

Er betrachtete die übrigen Bilder, die nebeneinander an die Wände gelehnt waren. Er erkannte den schiefen Kirchturm von Suurhusen und das Kurhaus auf Juist, das wie ein Palast über dem Strand der Insel thronte, beides bekannte Sehenswürdigkeiten in Ostfriesland. Zwei Bilder zeigten sich überschlagende Wellen, Nordsee im Sturm.

Der Rest der Wohnung war aufgeräumt, aber auch nicht gemütlich. Am Esstisch standen vier einfache Holzstühle, das graue Sofa war riesig, die Kissen ordentlich in einer Ecke drapiert. Weitestgehend kahle Wände, keine weiteren Bilder, nur zwei gerahmte Fotos standen auf einer Kommode. Marten nahm das erste in die Hand, es zeigte Winkler zusammen mit einer Frau, sie hatte sich bei ihm untergehakt. Offensichtlich auf einer Feier. Beide lächelten ein wenig übertrieben, Winkler trug einen Anzug, die Frau ein schulterfreies Kleid, ihre Haare waren tiefschwarz und glatt.

»Seine Partnerin?« Marten überlegte, so innig wirkten die beiden nicht, es könnte auch seine Schwester sein. Wenn er denn eine hatte.

»Möglich.« Gudrun machte ein Foto von dem Foto.

Auf dem anderen war ein Pärchen Anfang sechzig. Im Hintergrund konnte man einen See erkennen, vielleicht der Außenbereich eines Ausflugslokals. Sie wirkte verlegen, der Mann machte ein mürrisches Gesicht, als ob er die Aufnahme missbilligen würde. Auf seltsame Weise machte Marten das Bild schwermütig. Vielleicht seine Eltern?

Im Vorratsschrank lagerten knapp zwanzig Konservendosen, alles Portionen für eine Person. Keine Badewanne im Bad, in der Dusche nur eine Shampooflasche, ein Zahnputzbecher mit einer Zahnbürste. Ein einsamer Kamm lag auf der Ablage unter dem Spiegel, keine Haarbürste, die auf gelegentlichen Damenbesuch hingewiesen hätte. Im Schrank im Schlafzimmer war nichts Besonderes, drei Anzüge, in den Fächern Unterwäsche nebst einem Jogginganzug. Auf dem Bett lagen nur eine Bettdecke und ein Kopfkissen, auf dem rechten Nachttisch ein Kuscheltier zu einem Kissen geknüllt. Alf aus der Fernsehserie, erkannte er erst jetzt. Bestimmt war es schon ein paar Jahrzehnte alt. Nein, diese Wohnung wirkte nicht wie das geheime Liebesnest eines Ehemannes.

»Hast du irgendwas gesehen, was mit Eala Frya Fresena zu tun hat?« Gudrun setzte sich mit ratloser Mine auf einen der Esszimmerstühle.

»Nicht mal eine Postkarte mit dem Aufdruck.« Keine Besonderheiten. Schlicht, geradezu funktional, unauffällig, das Ganze. Wie hatte es sein Vater gesagt: Wenn das Unauffällige das ist, was auffällt, ist das auch eine Feststellung.

»Also keine Anhaltspunkte für irgendetwas«, fasste Gudrun seine Gedanken zusammen.

»Ja. Und nein.« Er deutete auf das Fenster. Hinter den Häuserdächern war eine große graue Werkshalle zu erkennen. In der oberen rechten Ecke leuchteten drei grüne Windradflügel. »Diese Wohnung erfüllt genau einen schlichten Zweck: nah bei der Arbeit zu sein.«

4

Aurich. Montag, 28. Juli

12:00 Uhr

Die Büros der Geschäftsführung der GreenVision GmbH waren in der obersten Etage eines Bürokomplexes direkt neben einer Produktionshalle.

»Gerade ist Frau Janssen noch im Gespräch, es wird nicht lange dauern.« Ein freundlicher junger Mann bot ihnen für die Wartezeit einen Espresso an. Er servierte ihn an einem weißen Stehtisch und zog sich dann wieder hinter seinen äußerst aufgeräumten Schreibtisch zurück.

»Als ob man auf eine Audienz wartet«, bemerkte Gudrun süffisant.

»Bei den neuen Grafen von Ostfriesland?« Der Espresso war vorzüglich. Bodentiefe Fenster boten beste Aussicht über die Stadt.

»Ach, es wären ganz gute Grafen, oder?«

GreenVision war das neue wirtschaftliche Aushängeschild der Stadt, vielleicht sogar der ganzen Region. Ein Windkraftanlagenhersteller von Weltgeltung, das hatte viele zukunftssichere Arbeitsplätze gebracht. Bevor das Unternehmen seinen Sitz hierherverlegt hatte, galt Aurich eher als eine reine Verwaltungs- und Beamtenstadt. Eala Frya Fresena. GreenVision. Eine Anspielung? Na ja, das wäre schon ziemlich konstruiert.

Die schlichte weiße Bürotür schwang auf, eine Dame in schwarzem Kleid und schwarzer Strumpfhose, blonde Haare, vielleicht Ende vierzig, verabschiedete per Handschlag zwei Männer mit Anzug und Krawatte. Irgendwie hatte Marten erwartet, dass die beiden noch eine Verbeugung machen würden, was natürlich nicht geschah. Die Geschäftsführerin wandte sich ihnen zu. »Kommen Sie doch rein.«

Das Büro war überraschend klein. Janssen bot ihnen einen Platz an dem runden Besprechungstisch. Der Assistent stellte von einem Tablett Gläser und eine mit Wasser gefüllte Glaskaraffe in die Mitte des Tisches und schloss leise die Tür hinter sich.

»Leider ist es im Moment ein wenig unorganisiert. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Wie gesagt, es geht um einen Todesfall, den wir untersuchen. Ein Mitarbeiter Ihres Unternehmens. Herr Jonathan Winkler, vielleicht …«

»Wie bitte? Haben Sie … sind Sie sich sicher?«

Marten zeigte ihr eine Vergrößerung des Personalausweisbildes von Winkler. »Ich nehme an, Sie kennen diesen Mann? Wir würden gerne Kollegen, die …«

»Jonathan!« Die Geschäftsführerin schlug erschrocken eine Hand vor das Gesicht. Unruhig wanderte ihr Blick zwischen ihm und dem Foto hin und her. Sie griff nach einem der Wassergläser, hielt es fest. Dann nickte sie. »Ja.« Sie nahm einen Schluck. »Jonathan Winkler ist, äh, einer unserer … er ist Assistent der Geschäftsführung. Entschuldigen Sie kurz.«

Frau Janssen stand auf, machte ein paar Schritte, wandte sich ab, als ob sie aus dem Fenster schauen würde, trank einen weiteren Schluck, dann kam sie zu ihnen zurück. »Wir haben sehr eng zusammengearbeitet. Das ist gerade ein Schock, bitte entschuldigen Sie. Ich habe heute Morgen schon gesehen, dass der Wagen nicht auf dem Parkplatz stand, da habe ich noch nicht …« Sie brach ab. »Was … was ist passiert?«

»Es tut uns sehr leid. Wir müssen davon ausgehen, dass Herr Winkler ermordet wurde.« Ruhig atmete Marten aus. In knappen Worten, ohne ins Detail zu gehen, skizzierte er, was ihnen bekannt war. Seine Frage, ob sie bereit für ein paar Fragen sei, bejahte sie zum Glück. »Frau Janssen, wie würden Sie Herrn Winkler beschreiben?«

»Jonathan, also er war – das mit dem war fällt mir schwer, er war ein Glücksfall für diese Firma. Ein toller Mensch, herzlich und freundlich zu jedem, aber auch überaus professionell und vorausschauend. Mitdenkend und mitfühlend, verstehen Sie?«

»Also war er nicht jemand, der polarisiert hat? Der, na ja, den Konflikt gesucht hat?«

»Auf gar keinen Fall.«

Marten nickte. »Wir sind noch ganz am Anfang. Ist Ihnen bekannt, ob Herr Winkler in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte? Hatte er sich vielleicht außerhalb der Firma Feinde gemacht? Oder gab es vielleicht mal Reibungspunkte mit Kolleginnen und Kollegen?«

Sie blickte kurz nach links oben. »Nein, nein, davon ist mir nichts bekannt. Er war zwar immer für ein Wort zu haben, aber er erzählte so gut wie nie etwas Privates. Da war er sehr drauf bedacht.«

»Eala Frya Fresena. Sagt Ihnen das was? Hat Winkler den Spruch mal irgendwie erwähnt?«

»Natürlich sagt mir das etwas, aber …« Sie sah ihn verständnislos an. »Worauf wollen Sie hinaus?«

Marten beschloss, das Thema nicht weiterzuverfolgen. »Wir suchen nach möglichen Motiven für seinen Tod. Die Position, die er hatte, Assistent der Geschäftsführung. Hatte er da auch Zugang zu Betriebsgeheimnissen? Themen, bei denen viel auf dem Spiel steht?«

Die Geschäftsführerin sah sie prüfend an. »Ja.« Sie wählte ihre Worte mit Bedacht. »Er hat ja Zugriff auf mein E-Mail-Postfach, wie alle aus dem Team der Assistenten, sie koordinieren unter anderem die Termine der Geschäftsführung, er bekommt da sicher einiges mit. Aber zurzeit gibt es keine kritischen Themen. Die Energiewende spielt uns in die Karten, vielleicht haben Sie von den beiden neuen Windparks westlich von Emden gehört, wir sind bei einem der beiden mit dabei, Projekt Rysum IX. Jonathan hat das Projekt intensiv begleitet. Sicherlich interessant, aber nicht außergewöhnlich. Ich würde sagen, es ist gut gehendes business as usual.«

»Trotzdem benötigen wir Zugang zu seiner beruflichen Kommunikation. E-Mails, Unterlagen …«

»Ja. Sie erhalten alles sofort. Ich will, dass dieser Tod schnellstmöglich aufgeklärt wird, was immer Sie brauchen, Sie werden es von uns bekommen.« Sie räusperte sich. »Bitte beachten Sie nur, dass wir Ihnen damit Zugriff auf Firmengeheimnisse geben, ich darf erwarten, dass Sie entsprechend damit umgehen.«

Marten ärgerte sich über die Belehrung, aber es brachte jetzt ja nichts, sich darüber aufzuregen. »Natürlich.«

»Was mir gerade einfällt«, schaltete sich Gudrun in das Gespräch ein. »Sie sagten, Ihnen sei aufgefallen, dass der Wagen von Herrn Winkler nicht an seinem Platz stand …«

»Ja, das war schon ungewöhnlich. Also, es ist nicht direkt sein Wagen, sondern ein Wagen aus unserem Fahrzeugpool, aus dem er sich aber auch privat bedienen darf, auch am Wochenende. Normalerweise fährt er damit am Freitagabend nach Münster, pendelt am Sonntagabend zurück nach Aurich und stellt den Wagen dann hier in der Tiefgarage ab. Unter der Woche wohnte er in einem Appartement, das wir ihm besorgt hatten, nicht weit weg von hier.«

»Jeden Sonntagabend parkte er den Wagen hier, sagten Sie?« Marten überlegte. »Ist diese Tiefgarage denn verschlossen? Ich meine, kommt man da einfach so rein?«

»Im Unternehmensausweis ist ein Chip, mit dem Mitarbeiter mit einer besonderen Zugangsberechtigung das Rolltor öffnen können. Alle anderen dürfen die Parkplätze dort auch benutzen, aber erst, wenn der Empfang besetzt ist und es zentral für sie öffnet, sofern noch Plätze frei sind.«

Ja, so hatte er sich das vorgestellt, das hatte er bei vielen Unternehmen gesehen. Über elektronische Zugangssysteme konnte man einzelne sensible Gebäudebereiche gegen unbefugten Zutritt schützen. Und vor allem auch nachverfolgen, wann wer wo gewesen war. »Werden die Ein- und Ausfahrten eigentlich gespeichert?«

»Ich denke mal schon. Es gibt eine Kamera, die alle einfahrenden Autos erfasst. So kann der Empfang auch sehen, wem er das Tor öffnet. Ich frage in der IT nach, wir lassen Ihnen gerne die Systemprotokolle und die Videos zukommen.«

Marten überlegte, wie er weiter vorgehen könnte. Es blieben noch immer grundsätzliche Fragen offen. Weiterhin hatte er kein Bild von Winkler vor Augen, was er für ein Mensch gewesen war, normalerweise war niemand einfach nur nett. Aber es sah so aus, als könnte es noch länger dauern, bis sie Verwandte oder Freunde ermittelt hätten, die sie befragen konnten.

»Kann ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein?«, fragte Frau Janssen in seine Denkpause hinein. Warum nicht direkt hier anfangen?

»Ja, das können Sie.« Im Zweifel kann alles von Interesse sein. »Wir würden gerne Herrn Winklers Arbeitsplatz in Augenschein nehmen und mit seinen Kollegen sprechen. Wäre das möglich?«

»Aber natürlich.« Sie schlug vor, dass sie ihnen für den Nachmittag einen Meetingraum zur Verfügung stellen und bei der Organisation der Termine mit den Mitarbeitern behilflich sein könnte. Marten nahm das Angebot dankend an.

Als sie das Büro verließen, wartete ein Mann Mitte vierzig im Vorzimmer. Sie verabschiedeten sich von Frau Janssen und gingen in Richtung Fahrstuhl.

»Wir brauchen Jonathan. Ist er inzwischen aufgetaucht?«, hörten sie den Mann aufgeregt fragen.

»Komm rein. Ich muss dir was erzählen«, antwortete ihm die Geschäftsführerin und zog die Tür hinter dem Mann und sich zu.

»Und, was meinst du?«, fragte Marten seine Kollegin, als sie im Fahrstuhl nach unten fuhren.

»Wir sind dem Motiv noch nicht nähergekommen. Warum Winkler?«

»Und warum diese Inszenierung?«

Er dachte an das blutige Bild, das sich ihnen am Morgen geboten hatte. Die Schnitte auf dem Körper des Toten sahen schrecklich aus, aber vermutlich war er mit einem einzelnen, gezielten Schuss getötet worden. Eine grausame und doch seltsam rationale Tat. Er konnte sich noch keinen Reim drauf machen. Sie brauchten mehr Anhaltspunkte. »Vielleicht ergibt sich etwas aus seiner Korrespondenz. Energiewende, es ist wirklich viel Geld im Spiel …«

»Wir sollten ein paar Kollegen miteinbeziehen, die etwas mehr von der Materie verstehen.«

»Ich frage mal im Wirtschaftsdezernat nach. Vielleicht kann ich Unterstützung freischaufeln.«

»Es sollte dir doch gelingen.« Sie zwinkerte ihm zu, als Zeichen, dass er das nicht negativ auffassen sollte. Trotzdem gingen ihm die Andeutungen auf die Nerven. Er nutzte doch nur die Möglichkeiten, die ihm dank Papa nun einmal offenstanden.

»Schauen wir erst mal, was die Kollegen so über Herrn Winkler zu erzählen haben.«

Der Fahrstuhl hielt nach einer Etage bereits wieder an. Ein Mann im Anzug, hellblaues Hemd, oberster Knopf offen, Bürstenschnitt, stieg zu. Gemeinsam fuhren sie nach unten, im Flur im Erdgeschoss wandte sich ihr Mitfahrer in die entgegengesetzte Richtung.

Als sie nach draußen traten, vibrierte Martens Smartphone, ein verpasster Anruf von Katharina. Und eine Textnachricht von ihr, es wäre ihr nur danach gewesen, kurz seine Stimme zu hören, und sie wünsche ihm viel Erfolg bei den Ermittlungen.

Während Marten eine kurze Antwort eintippte, wurde er vom Anruf des Staatsanwalts unterbrochen. Er habe die Leiche bereits in die Gerichtsmedizin bringen lassen, die Obduktion sei schon für den Abend angesetzt.

5

Aurich. Montag, 28. Juli

15:30 Uhr

Paul Laninga hatte sich bemüht, als einer der Ersten befragt zu werden. Noch tappten die Ermittler ziemlich im Dunkeln, würden keine Detailfragen stellen. Und irgendwann würden sie eh mit ihm sprechen wollen, dann besser früher als später.

Er bemerkte, dass seine Handinnenflächen feucht waren. Dieses blöde Schwitzen. Er suchte nach einem Papiertaschentuch, tat so, als putze er sich die Nase, und trocknete sich dabei seine Hände ab. Gut gehandelt, kontrolliert, beherrscht, so erwartete er das von sich.

Eine Polizistin in Zivil saß ihm gegenüber, ihr Kollege war noch kurz zur Toilette. Sie sortierte etwas in ihren handschriftlichen Notizen, offensichtlich von den vorherigen Terminen mit seinen Kollegen. Auf dem Tisch zwischen ihnen lag ein Smartphone, die Kommissarin hatte ihm bereits mitgeteilt, dass sie das Gespräch aufzeichnen werde.

Sein Plan war klar. Er musste bei allem, was er sagte, so nah wie möglich bei der Wahrheit bleiben. Nur wenn es doch zu eng wurde, ins Ungefähre abgleiten. Im äußersten Notfall besser Gedächtnisverlust vortäuschen als falsche Angaben machen.

»Guten Tag, Herr Laninga.« Ein Mann Anfang dreißig betrat das Büro. Es war wie erwartet der aus dem Aufzug, ihm war sofort klar gewesen, dass die beiden nicht aus der Wirtschaft kommen konnten. Ihr Kleidungsstil war okay, wenn auch sehr leger, an den Schuhen minimale, aber doch sichtbare Schlammspritzer. Dunkle Bartstoppeln, die verrieten, dass er heute Morgen nicht den Rasierer gefunden hatte, die kurzen braunen Haare nur nachlässig gerichtet. So fuhr man normalerweise nicht in die Chefetage. Außerdem hatte er gemeint, bei ihm eine Wölbung unter der Armbeuge erkannt zu haben, wahrscheinlich von einem Pistolenholster. »Vielen Dank, dass Sie es einrichten konnten. Entschuldigen Sie bitte die Verspätung. Jaspari.«

»Hallo.« Paul entschied sich, die dargebotene Hand nur flüchtig anzunehmen, so würde der Schweiß nicht auffallen. Kurze Antworten, Betroffenheit heucheln, aber nicht zu sehr. Augenkontakt, aber nicht übertreiben. Er wandte sich der Frau zu, in Erwartung, dass sie das Gespräch eröffnen würde, sie war älter als der Hinzugekommene.

»Wie war ihr Verhältnis zu Jonathan Winkler?«, fragte nun doch der junge Bursche.

»Gut«, antwortete er instinktiv. Die Frau notierte etwas auf einem Zettel. Lass dich nicht aus dem Konzept bringen, kalt durchziehen und raus hier. Die beiden sahen ihn erwartungsvoll an, etwas mehr musste er wohl doch noch sagen. »Es ist eine seltsame Situation für mich. Ich denke, ich habe das alles noch nicht so wirklich begriffen, verstehen Sie?«

»Aber natürlich.« Und wieder machte die Frau ihre Notizen. Ignorier das! »Sie und Herr Winkler, Sie haben also zusammengearbeitet?«

»Wir sind Büronachbarn. Jonathan hat ja für das Projekt den Geländeankauf verantwortet, und wir vom Controlling haben da etwas zugearbeitet, mal eine Finanzierung, mal ein paar Planzahlen durchgerechnet. Auch für heute, also in zwei Stunden, hätten wir einen Termin gehabt, ich weiß aber nicht, worum es ihm da ging.«

Wie erwartet sprangen sie darauf an. Die Fragen waren unverfänglich, aber systematisch. Er war versucht, ins Plaudern zu kommen, bremste sich aber selbst. Tu es nicht. Nach und nach gewöhnte er sich an die Situation, die Anspannung, die er bis in die Schultern hatte spüren können, löste sich.

»Eala Frya Fresena, sagt Ihnen das was?«, fragte dieser Jaspari unvermittelt.

»Äh …« Er tat so, als wäre er irritiert, so wie er es sich vorgenommen hatte, wenn die Frage kommen sollte. Er überlegte, welche Themen sie bisher behandelt hatten. Sie schienen noch nicht das richtige Motiv erkannt zu haben. Sehr schade. Vielleicht sollte er sie ein wenig in die richtige Richtung schubsen. »Es ist eine sehr alte Redewendung, soweit ich weiß. Wieso fragen Sie?«

»Nur so«, antwortete der Kommissar nach einer kurzen Pause.

Hm, war das mit der Gegenfrage jetzt klug gewesen? Egal, nicht drüber nachdenken. Körperkontrolle. Langsame Bewegungen, normaler Augenkontakt, ruhige Atmung. Es kamen nun allgemeine Fragen, die er ganz gut meisterte. Mit jedem Satz wurde er wieder ruhiger. Er hatte seine Gegenüber vielleicht überschätzt. Nein, sie würden ihm nicht gefährlich werden.

»Und bitte melden Sie sich, wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte.« Der Kommissar beendete das Gespräch und reichte ihm eine Visitenkarte.

Paul verkniff sich ein Grinsen, das war ja tatsächlich wie im Tatort. Allerdings kein taxierender Blick zum Schluss, wie er es erwartet hätte. Entweder sein Gegenüber konnte sich verdammt gut verstellen, oder er hatte wirklich keinen Verdacht geschöpft. Aber schon Hauptkommissar, wie er auf dem Kärtchen lesen konnte. Jaspari hieß er also, hatte er sich doch nicht verhört. Irgendwas klingelte bei ihm bei dem Namen. »Es tut mir wirklich leid, wenn ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte.«

»Doch, doch, das konnten Sie. Vielen Dank!«

Was meinte er damit? Egal. Früher hätte der Kommentar ihn verunsichert, jetzt nicht mehr. Er wusste, dass er die Situation gut gemeistert hatte. Sie hatten ihn nicht enttarnt, keinen Verdacht geschöpft. Er war ihnen überlegen. Sie konnten ihm nichts anhaben.

Paul Laninga verließ das Zimmer, grüßte aufmunternd die neue Kollegin vom Nachbarbüro, die bereits sichtlich betrübt vor der Tür auf ihre Befragung wartete, und nahm die Treppe zum Innenhof, der nur eine Etage weiter unten war. Draußen am Raucherpavillon steckte er sich eine Zigarette an, inhalierte kräftig und ließ dann den Rauch langsam zwischen den Zähnen entweichen.

Ich bin gut gewesen, stellte er fest. Gedanken kontrollieren den Körper, Gedanken kontrollieren Emotionen. Handeln war eine Willensentscheidung. Und er hatte den Willen, die nächsten Schritte zu tun.

Eine große Aufgabe wartete auf ihn, alles war sorgsam vorbereitet. Er dachte an das gewaltige Feuer, das er entfachen würde, im wahrsten Sinne des Wortes. Das Schicksal hatte ihn dazu auserkoren, und er hatte es angenommen. Stolz spürte er das alte Blut in sich pochen. Er war frei von falschem Skrupel. Das war es, was starke Menschen von schwachen Menschen unterschied.

Vögel zwitscherten in den Bäumen, die etwas verloren inmitten der Grünfläche des Innenhofes herumstanden. Die Tür zum Treppenhaus öffnete sich. Barbara, seine Lieblingskollegin aus der Buchhaltung, gesellte sich zu ihm. Sie war die einzige Frau in seinem Bekanntenkreis, die Selbstgedrehte rauchte. Wie es ihm denn gehe, fragte sie.

»Tut gut, jetzt ein paar Tage frei zu haben«, antwortete er, den Blick zum Himmel gerichtet. Ja, an Arbeit wäre jetzt nicht mehr zu denken, bestätigte sie, seinen Satz in der von ihm beabsichtigten Art falsch interpretierend.

Auch oben im Büro waren alle Kollegen ziemlich von der Rolle. Keiner wunderte sich, dass er sich früh in den Urlaub verabschiedete. Sehr gut.

Die Reise, die er vor sich hatte, die alles verändern würde, sie konnte beginnen.

6

Aurich. Montag, 28. Juli

20:07 Uhr

»Freundlich und nett. Aber nur bis zu einem gewissen Punkt.«

Winklers Kollegen hatten das Bild eines zwar herzlichen, aber auch distanzierten Mitarbeiters gezeichnet. Privat hatte keiner von ihnen Kontakt mit ihm gehabt. Keinerlei Bezüge zu Eala Frya Fresena oder anderer friesischer Kultur. Bei der letzten Weihnachtsfeier hatte er sich krankheitsbedingt entschuldigen lassen, beim Sommerfest sei er nur auf unverfängliche Themen eingegangen. Das Wetter, Fußball, die nächsten Projekte. Lediglich, dass er eine feste Partnerin hatte, die er an den Wochenenden besuchte, hatten einige Kollegen bestätigt. Gudrun erklärte sich bereit, mit den Kollegen die Protokolle der Befragungen noch einmal nach weiteren möglichen Anhaltspunkten durchzugehen. Sie mussten nicht beide bei der Obduktion dabei sein.