Die Toten von Haywood Grove: Der erste Fall für Barry Monroe - Dominic Spinner - E-Book

Die Toten von Haywood Grove: Der erste Fall für Barry Monroe E-Book

Dominic Spinner

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Beschreibung

"Haywood Grove war eines dieser verschlafenen Städtchen, in denen eigentlich nie etwas passierte." Eigentlich. Denn als an einem ruhigen Herbsttag die Leiche einer Frau im Wald gefunden wird, befindet sich die ganze Stadt plötzlich im Aufruhr. Barry Monroe und seine Freunde werden sofort aufmerksam und stellen ihre eigenen Nachforschungen an. Als schließlich eine zweite Leiche gefunden wird, geht die Panik in Haywood Grove um. Wer wird der nächste sein? Und während die Polizei im Dunkeln tappt, kommen Barry und seine Freunde einem alten Vermisstenfall auf die Spur. Gibt es einen Zusammenhang zu den heutigen Morden? Sie tauchen tiefer in das Rätsel des alten Falles ein und stoßen dabei auf so manches Geheimnis, das sie schließlich selbst in größte Gefahr bringt... Du hast Lust auf einen Mordfall, die Highschool und eine sympathische Clique, die ermittelt? Auf die perfekte Mischung aus Spannung, Humor und Liebe? Dann herzlich willkommen in Haywood Grove, einem verschlafenen Städtchen im Nordwesten der USA! Lass uns gemeinsam den Fall lösen.

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Dominic Spinner

Die Toten von Haywood Grove

Ein Fall für Barry Monroe

Dominic Spinner

Die Toten von Haywood Grove

Ein Fall für Barry Monroe

Die Toten von Haywood Grove

© 2021 Dominic Spinner

Umschlag, Illustration: Dominic Spinner

Lektorat, Korrektorat: Susanne Spinner, Alisa Spinner, Nicolas Spinner, Martin Spinner

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback

978-3-347-37956-5

Hardcover

978-3-347-37957-2

e-Book

978-3-347-37958-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für Alisa.

Die jeden Fall löst, auch wenn er noch so knifflig ist.

1

Haywood Grove war eines dieser verschlafenen Städtchen, in denen eigentlich nie etwas passierte. Die Leute hielten sich mit Klatsch und Tratsch übereinander bei Laune und das genügte auch.

Niemand hier wartete auf Mord und Totschlag und dennoch habt ihr bereits beim Titel dieser Geschichte gelesen, dass es genau darum geht. Aber fangen wir lieber ganz von vorne an.

Wenn man so durch die Straßen unseres kleinen Städtchens flaniert, würde man meinen, die Zeit wäre irgendwann zwischen den Siebzigern und Neunzigern stehen geblieben. Zeiten, die ich nie selbst miterlebt habe. Und obwohl ich schlicht und ergreifend zu jung dafür bin, sehne ich mich manchmal danach, Dinge zu erleben, die meinen Eltern vergönnt waren. Auch wenn die niemals verstehen werden, warum. Aber als einer der Ersten Zurück in die Zukunft im Kino zu erleben oder auf ein Bruce Springsteen Konzert zu gehen, als der in der Blüte seines Schaffens war – das hätte ich gerne erlebt. Aber hey, die Zeit vergeht und ich darf nun mal mit Tik Tok, Netflix und Taylor Swift aufwachsen. What a time to be alive.

Okay, ich schweife schon in den ersten Zeilen ab und gelobe Besserung. Denn was in diesem Buch folgt, wird euch ebenso in den Bann ziehen, wie es bei mir der Fall war. Nach allem, was ihr bislang gelesen habt, denkt ihr vielleicht, da sitzt ein prüder Mittvierziger, der ewig im Gestern lebt. Falsch gedacht. Ein paar Worte zu mir. Ich bin siebzehn Jahre alt und gehe auf die Haywood High, wo ich unter anderem meine Leidenschaft zum Schreiben in der dortigen Schülerzeitung zum Ausdruck bringe. Als Chefredakteur der Haywood Post bin ich schon etwas stolz, dass wir es auch in die lokalen Läden unserer blühenden „Metropole“ geschafft haben. Naja, seien wir ehrlich: Haywood Grove ist ein Dorf und wenn etwas Gossip in der Schülerzeitung steht, dann wollen die Damen und Herren von nebenan es auch lesen.

Ich schreibe meine Zeilen eigentlich auf meiner alten Olympia Schreibmaschine, die mir mein Dad zum siebten Geburtstag geschenkt hat. Schon immer habe ich geschrieben, auch wenn ich vor lauter Scheu die Geschichten niemals jemandem gezeigt habe.

Bis heute.

Denn diese Geschichte kann nicht einfach so in meiner Schreibtischschublade verschwinden. Und deshalb habe ich meine geliebte Olympia auch erst mal zur Seite gestellt und mich an mein MacBook gesetzt, um diese Zeilen zu verfassen. Stellt euch einfach einen siebzehnjährigen Jungen vor, der in seinem Kinderzimmer bei schummrigem Licht in seinen Laptop blickt und auf die Tasten haut, als gäbe es kein Morgen mehr. Dann habt ihr ungefähr eine Vorstellung davon, wie ich gerade hier an einem Mittwochabend sitze und für euch schreibe, statt für meine morgige Geschichtsklausur zu lernen.

Ach ja, und der Vollständigkeit halber tönt durch meine Zimmerwand der wohlige Klang einer rasselnden E-Gitarre. Das ist meine Schwester Kelly. Sie ist knapp zwei Jahre älter als ich und gelinde gesagt das krasse Gegenteil von mir. Dennoch verstehen wir uns, wie es sich für Geschwister gehört: mal lieben wir uns, mal fliegen die Fetzen – aber wenn es hart auf hart kommt, halten wir zusammen. Ihr werdet sie im Verlauf der Geschichte noch kennen lernen, also habt einfach Geduld.

So, damit kommen wir zum eigentlichen Thema dieser Geschichte. Ich hatte ja eingangs erwähnt, dass Haywood Grove eines dieser verschlafenen Städtchen ist. Irgendwo im Nirgendwo im Norden der USA, nicht weit weg von Kanada – und mit anderthalb Stunden Fahrt, bis man dann endlich auch die nächste Großstadt erreicht. Und was weckt so ein verschlafenes Städtchen denn besser auf als ein klassischer Mordfall?

Wenn von einem Tag auf den anderen nichts mehr so ist, wie es war. Wenn jeder auf der Straße dem anderen misstraut und du dich bald selbst fühlst, als hättest du irgendetwas Unrechtes getan.

Genau dann beginnt diese Geschichte interessant zu werden. Und genau hier entschied ich mich, alles, was ich erlebt habe, auf Papier zu bringen. Ich hoffe, diese Zeilen fesseln euch genauso, wie mich. Denn ich kann mit Fug und Recht behaupten, einen großen Teil zur Lösung dieses Falles beigetragen zu haben. So, und bevor ich jetzt wieder abschweife, stürzen wir uns direkt in meine Heimatstadt.

Es ist Herbst, genauer gesagt: Mitte Oktober. Und auf einmal geht irgendjemand hin und weckt Haywood Grove mit einem saftigen Rumms aus dem vorzeitigen Winterschlaf auf.

Ich bin Barry und das ist die Geschichte der Toten von Haywood Grove.

2

Hier in Haywood Grove regnet es laut Statistik jeden zweiten Tag im Jahr. Umso erstaunlicher, dass unsere Geschichte an einem sonnigen Herbsttag beginnt. Und wie das an einem ganz normalen Tag eben so ist, erwartet man auch nichts Besonderes. Ich ging wie immer zur Schule und erwartete den gleichen Donnerstag wie sonst eben auch. Selbst als mein Kumpel Nick Prescott nicht pünktlich auftauchte, war das für uns nichts Unnatürliches. Nick fotografierte für sein Leben gern und so war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er zu einer festen Größe in meiner Schülerzeitung geworden war. Dementsprechend war Nick immer unterwegs, um Interviews und Reportagen auch bildhaft einzufangen – oder wie heute das Leben in Haywood Grove zu porträtieren.

Matt und ich – Matthew Moore ist der dritte Freund aus unserer Clique – wussten an diesem Tag, dass Nick morgens extra früh in den Oakhill Forest gehen wollte, um die morgendliche Herbststimmung einzufangen. Mit seinen Fotos über die Natur rund um Haywood Grove hatte sich Nick übrigens einen recht lukrativen Instagram-Account aufgebaut – ein Wunder, dass er überhaupt noch Fotos für die Haywood Post schoss.

Um ganz ehrlich zu sein: für Matt und mich war es undenkbar, morgens extra früh aufzustehen, um ein paar Pilze oder bunte Blätter im frühmorgendlichen Nebel zu fotografieren. Aber hey, jeder sucht sich sein Hobby aus und an jedem statistischen zweiten Tag in Haywood Grove – genau, dann wenn es regnet – bin ich froh darüber, dass mein Hobby daraus besteht, einzelne Tasten meiner Tastatur nacheinander zu malträtieren, um daraus irgendwie einen sinnvollen Text zu basteln.

Wir hatten an diesem Morgen in den ersten zwei Stunden Geografie bei Mr Davenport. Ich kann immer noch nicht verstehen, wie es einem Mann Mitte fünzig gelingen kann, ein solch interessantes Fach in eine solch triste und langweilige Veranstaltung zu verwandeln, dass selbst ich als eigentlich aufmerksamer Schüler öfter auf die Uhr schaue als Brianna, unser It-Girl in der Klasse, ihren Instagram-Account checkt.

„Monroe, Moore, Sie sind doch gut befreundet mit Mr Prescott.“ Mr Davenports näselnde Stimme riss mich aus meinen Gedanken und weckte mich an diesem Tag gefühlt ein zweites Mal auf. Ich weiß nicht, was schlimmer war: mein Wecker oder von Davenport direkt angesprochen zu werden.

„Ja“, bestätigte ich kurz.

„Er täte gut daran, sich etwas mehr auf seine schulischen Leistungen zu konzentrieren als irgendwo draußen in der Natur herum zu kriechen. Richten Sie ihm das aus, falls er nicht doch noch selbst hier auftaucht. Ich werde Mr Gulliver informieren.“

Matt blickte mich an und rollte mit den Augen. Den Rektor informieren? Das war Davenports Lieblingsdrohung. Ich nickte nur und Davenport setzte seinen Monolog über die Verschiebung der Erdkruste im Jura fort.

Ich fummelte mein Smartphone aus der Hosentasche, immer mit einem Auge nach vorne schielend, dass Davenport mich nicht dabei erwischte. Denn das konnte er auf den Tod nicht ausstehen. „Dieser neumodische Schnickschnack ist der Killer jeglicher Kreativität“, pflegte er immer zu sagen und ja, ich finde es extrem verstörend, das ausgerechnet aus seinem Mund zu hören.

Wo bleibst du?, tippte ich ohne hinzuschauen eine schnelle WhatsApp-Nachricht und verließ mich auf die Autokorrektur, die – wie ich nachher dann bemerkte – ihren Dienst tat. Es dauerte nicht lange und eine Vibration in meiner Hosentasche kündigte eine eingehende Nachricht an.

Da Davenport vorne auf und ab ging und sich ganz in einem Erguss über das Jura-Zeitalter verlor, holte ich das Smartphone aus der Hosentasche und linste angestrengt unter den Tisch.

Kann noch eine Weile dauern. Ihr werdet nicht glauben, was ich entdeckt habe. Macht euch gefasst, wenn ich nachher bei euch bin. Schöne Grüße an Davenport, er wird meine Abwesenheit sicher schon bemerkt haben ;-)

Ich fühlte mich, als könne jeder mein Stirnrunzeln aus hundert Metern Entfernung wahrnehmen. Was war denn mit Nick nur los? Was hatte er so Faszinierendes entdeckt, um schon jetzt eine geschlagene dreiviertel Stunde zu spät zum Unterricht zu erscheinen? Ein paar Minuten waren völlig normal bei ihm – aber das?

Möglichst unauffällig hielt ich das Smartphone Matt hin, nachdem ich ihn leicht angetippt hatte. Er las die Nachricht durch und sah mich fragend an.

„Was ist denn in Nick gefahren?“, flüsterte er.

Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Wir werden es erst erfahren, wenn…“

„Mr Monroe, wollen Sie uns nicht alle an ihrer Faszination für diesen Blechkasten unter dem Tisch teilhaben lassen?“ Davenport hatte uns entdeckt. Ich zuckte zusammen und schob mein Smartphone unversehens in die Hosentasche. Mein Gott, ich war echt nicht für diese Heimlichtuerei geschaffen. Offensichtlicher hätte ich mich nicht auf frischer Tat ertappen lassen können.

„Oh… es…ist nichts, Mr Davenport“, stammelte ich.

Hinter mir hörte ich Brianna und Cheyenne, ihre beste Freundin, kichern. War ja klar, dass ihnen das gefiel, wenn sie mal nicht auf Davenports Abschussliste standen.

Davenport zog seine Brille von der Nase und begann wie immer genüsslich darauf zu kauen. Das war seine Art, die Zeit zum Stillstand zu bringen und uns Schüler in aller Ruhe auflaufen zu lassen. „Dann hat Mr Moore wohl nur Ihre neue Hose bestaunt, gehe ich da recht in der Annahme?“

Brianna prustete los – ich kannte ihr Lachen nur zu gut. Davenport stellte uns bloß, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich glaube ja bis heute, dass Davenport sein Lachen irgendwo zwischen der Boston Tea Party und dem Zweiten Weltkrieg verloren hatte. Ich hätte ihm gerne mal vorgeschlagen, zum Pokern zu gehen, denn wenn er eines konnte, dann war es keine Gesichtsregung zu zeigen – egal in welcher Situation.

Matt war in solchen Dingen einfach entspannter als ich. „Wir hatten nur darüber diskutiert, welches Zeitalter auf den Jura folgte“, sagte er und drückte mir die Faust in den Oberschenkel. Sag jetzt bloß nichts Falsches, sollte das heißen und ich hielt meine Klappe, denn das war das Klügste in diesem Moment.

Davenport biss noch immer auf seiner Brille herum, als wäre es eine Zuckerstange. „So, zu welchem Ergebnis sind Sie denn gekommen, Mr Moore?“

„Es ist wohl die Kreidezeit, wie ich dank Mr Monroe erfahren habe.“ Matt hatte einfach alles im Griff.

Davenport ließ sich lange Zeit, schien nachzudenken – worüber auch immer. Wenn er auch nur eine tiefergehende Frage gestellt hätte, wären wir richtig im Arsch gewesen, aber er schien es darauf beruhen zu lassen. Er nickte nur und setzte dann seinen Gang von der einen Zimmerwand zur anderen fort. Wenige Sekunden später war er wieder vollkommen in seinen Monolog vertieft.

Ich drehte mich noch zu Brianna und Cheyenne um, um ihnen einen bösen Blick zuzuwerfen. Brianna war eines der Mädchen, die genau wussten, wie heiß sie waren. Sie blickte mich aus ihren blauen Katzenaugen an, während sie sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht schob. Cheyenne saß daneben und grinste. Sie war das Pendant zu Brianna mit schwarzer Hautfarbe. Im Doppelpack waren die beiden eigentlich unausstehlich, nur wenn man mit Cheyenne alleine redete, blitzte so etwas wie Sympathie heraus.

Was man von Brianna nicht behaupten konnte.

„Was ist, Barry?“, fragte sie scheinheilig. „Ach komm schon, jetzt weißt du, wie wir uns immer bei Davenport fühlen.“

Ich wollte irgendetwas erwidern, mir fiel aber nichts Sinnvolles ein. Also drehte ich mich wieder nach vorne und wartete auf Nicks Erscheinen.

Der ließ jedoch noch eine geschlagene halbe Stunde auf sich warten, ehe er ohne anzuklopfen einige Minuten vor Ende von Davenports Geografie-Stunde das Klassenzimmer betrat. Er nuschelte ein kurzes „Entschuldigung“ und setzte sich an seinen Platz direkt neben Matt. Davenport war so perplex, dass ihm nicht mehr als ein Kopfschütteln gelang. Er hatte sich wohl entschieden, lieber seinen Unterricht fertig durchzuziehen, als sich nun mit Nick herumzuschlagen.

„Alter, wo warst du?“ Ich beugte mich über Matt zu Nick und sah nun erst, dass seine Schuhe vollkommen von Dreck überzogen waren. Er hatte auf dem Weg zu seinem Sitzplatz übrigens auch einiges an Erde verloren, was ich im Nachhinein feststellte.

„Ihr glaubt nicht, was ich erlebt habe!“ Nick gab sich nicht einmal die Mühe, sein Schulzeug aus seinem Rucksack auszupacken. Er legte lediglich seine Spiegelreflexkamera auf den Tisch und drehte sich dann zu uns hin.

„Jetzt spuck’s schon aus, Mann“, flüsterte Matt. „Deine WhatsApp war ja schon ein einziges Rätselbuch.“

Nick lachte leise. Dann begann er an seiner Kamera zu hantieren. Er schaltete sie an, drückte auf ein paar Knöpfen herum und scrollte schließlich durch seine Fotos. Er drehte die Kamera zu uns und Matt und ich sahen uns das Foto an.

Schon bevor mein Gehirn registrierte, was ich da sah, schoss das erste Adrenalin durch meinen Körper. Was zur Hölle hatte Nick da heute morgen im Oakhill Forest gefunden? Aber lasst mich zuerst einmal das Foto beschreiben. Denn was mein Gehirn als erstes wahrnahm, waren die vielen gelben und roten Blätter, die den gesamten Boden säumten. Klassisches Herbstbild, nichts Ungewöhnliches, schon gar nicht für Nicks Verhältnisse. Dann nahm ich die Frau wahr, die mit geschlossenen Augen und einer etwas komischen Haltung auf dem Boden lag. Ihre schwarzen Haare lagen wie drapiert über den Blättern und hoben sich wie ein gewollter Kontrast davon ab. Ich hätte es als schlechte Pose abgetan und eventuell einen unnötigen Witz auf den Lippen gehabt, wenn die Sachlage nicht eindeutig gewesen wäre. Denn die kleine Nuance, die den Unterschied ausmachte, waren die Reifenspuren auf dem Bauch der Frau, die unverkennbar auf der dunkelblauen Jacke zum Vorschein kamen. Hinzu kam das getrocknete Blut, das noch in ihren Mundwinkeln hing.

Wir hatten also eine Leiche in Haywood Grove. Ich war überrascht, wie locker ich das hinnahm, nachdem der erste Adrenalinstrom abgeebbt war. Vielleicht lag es daran, dass ich die Frau vom Sehen nicht kannte – zumindest nicht in dem Zustand – oder dass es eben ein Foto war, dass ich da sah und dieses Foto überall hätte entstanden sein können.

„Du hast eine Leiche gefunden?“ Matt war da nicht ganz so locker wie ich. Zum Glück war es ohnehin gerade recht unruhig in der Klasse, so dass niemand seine Worte so richtig verstehen konnte.

„Pst“, machte Nick nur. „Und ja. Deshalb komme ich auch so spät. Ich habe gleich Travis angerufen und musste auf die Polizei warten. Ihr wisst ja, wie das so ist.“

Ehrlich gesagt wussten wir das nicht. Aus dem Fernsehen vielleicht, aber Nick tat ja gerade so, als würden wir alle paar Monate auf einen Toten stoßen. Was wir aber definitiv geschafft hatten, war Davenport wieder auf uns aufmerksam zu machen. Scheinbar hatte er beschlossen, sich Nick nun doch noch vorzuknöpfen. Wahrscheinlich war noch genügend Zeit übrig und er hatte seinen Stoff für heute bereits durch.

„Mr Prescott, schön, dass Sie es auch einrichten konnten. Wollen Sie uns alle an Ihrer Unterhaltung teilhaben lassen oder würden Sie das gerne gemeinsam mit Ihren werten Kollegen außerhalb des Klassenzimmers besprechen?“ Die Worte sollten eigentlich wie eine Drohung klingen, aber Davenports Stimme hatte solche Gefühlsregungen glaube ich gar nicht im Repertoire.

Nick schien noch etwas aufgeputscht von seiner morgendlichen Entdeckung gewesen zu sein, denn seine nächsten Worte ließen mich überraschter zurück als das Foto, das er uns eben gezeigt hatte. „Dann würde ich Variante zwei bevorzugen“, sagte er voller Selbstvertrauen.

Damit hatte er es sogar geschafft, Davenport aus der Fassung zu bringen. Er brauchte ein paar Sekunden, um sich zu sammeln. Er zeigte zur Tür. „Dann nehmen Sie die Herren Moore und Monroe gleich mit.“

Nick stand sofort auf und lief völlig entspannt voraus, während Matt und ich ihm folgten. Ich fühlte mich wie in Trance und spürte die Blicke unserer Mitschüler im Rücken.

Kaum war die Tür zum Klassenzimmer geschlossen, packte ich Nick an der Schulter. „Haben sie dir irgendetwas gegeben oder was ist in dich gefahren? Das wird der doch brühwarm Mr Gulliver unter die Nase reiben.“

„Die Stunde ist doch eh in fünf Minuten vorbei. Kommt mit, ich erzähle euch alles.“

Matt grinste nur und zuckte mit den Schultern, als ich ihn fragend ansah. „Interessanter wird’s heute nicht mehr“, sagte er nur, dann rannten wir aus dem Schulgebäude.

Auf dem Hof vor der Schule setzten wir uns auf einen alten Baumstamm, der den Schülern als Bank diente. Nick schaltete sofort wieder seine Kamera ein und scrollte nun durch seine Bilder durch, während wir von rechts und links auf den Bildschirm blickten. Er hatte Aufnahmen von allen Seiten gemacht. Die Leiche war bis auf das letzte Härchen auf seinen Bildern dokumentiert.

„Wer ist das? Und wie hast du sie gefunden?“, fragte Matt.

„Es war der Hammer, ehrlich! Ich stapfte nichts ahnend durch den Wald und wäre fast über sie gestolpert, weil ich gerade meine bisher gemachten Fotos begutachtete. Echt, wie aus heiterem Himmel lag sie auf einmal vor mir. Ich gebe zu, ich war erst etwas schockiert, dann habe ich aber gleich Travis angerufen.“ Travis war Nicks großer Bruder. Er war ein paar Jahre älter als wir und arbeitete seit etwa zwei Jahren bei der Polizei. Das war damals echt durch das Städtchen gegangen, als er dort angefangen hatte. Einen schwarzen Polizisten hatten wir in Haywood Grove tatsächlich noch nie vorher gehabt. Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert! „Naja und bis die kamen hatte ich ja genug Zeit, ein paar Aufnahmen von der guten Frau zu machen.“

„Das ist doch bestimmt illegal, dass du diese Bilder hast“, mahnte ich.

Nick zuckte nur mit den Schultern. „Der Datenschutz gilt bestimmt nicht mehr bei einer Toten. Und hey, niemand weiß davon.“

„Travis wird das doch bestimmt ahnen. Er kennt dich.“

„Und wenn schon. Ich ziehe die Bilder nachher gleich auf meinen Laptop und dann sind die sicher verwahrt.“

„Und dann? Sind die mit allem angerückt, wie in den Filmen?“ Matt war ganz aufgeregt.

Nick sonnte sich schon etwas im Rampenlicht, das spürte man förmlich. Naja, aber was passierte denn auch sonst Spannendes in Haywood Grove. Ich meine: er hat eine Leiche entdeckt – eine Once-in-a-lifetime-story in unserem verschnarchten Städtchen. Von dem her hatte er auch alles Recht dazu. „Es dauerte fast zwanzig Minuten, bis sie eintrafen. Aber macht euch keine großartigen Vorstellungen. Alles was kam, waren Travis und Holfield, sein Chef. Ich habe ihnen alles geschildert, dann hat Holfield mich weggeschickt. ‚Ich kann keine Zivilisten hier brauchen‘.“ Als er Holfield zitierte, senkte er die Stimme und machte ein paar komische Bewegungen mit dem Kopf. Seine Abneigung für den Chef seines Bruders war klar zu erkennen. „Aber verdammt, Leute! Wir haben eine Leiche in Haywood Grove! Lasst uns den Fall lösen!“

Nick war kaum zu bremsen. Er war voller Enthusiasmus und schien sich als Teil der Ermittlungsarbeiten zu fühlen, nur weil er zwischen dem ganzen Herbstlaub über einen toten Menschen gestolpert war. Ich versuchte, ihn etwas herunterzuholen. „Wir können nicht einfach herumschnüffeln, das ist die Arbeit der Polizei.“

Überraschenderweise schlug sich Matt auf Nicks Seite. „Naja, das hätte schon was, ein bisschen zu ermitteln. Hey Barry, du weißt genau, was für eine Pfeife Holfield wirklich ist. Der lässt Travis die ganze Arbeit machen, nur um nachher die Lorbeeren einzuheimsen.“

„Trotzdem. Das könnte gefährlich werden“, wandte ich ein.

„Na, hoffentlich!“, rief Nick aus. „Ich meine: Barry, irgendjemand hat diese Frau getötet. Da ist es doch unsere Pflicht, als rechtschaffene Bürger, ihren Mörder zu finden. Oder nicht?“

Meine Mauer bröckelte, das spürte ich schon. Natürlich war das das Spannendste, was ich in meinem bisherigen Leben hier erlebt hatte und vermutlich würde es Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte dauern, bis in Haywood Grove etwas ähnliches passieren würde. Und wenn wir alle drei etwas liebten, waren es Detektivgeschichten und Rätsel.

Die anderen beiden merkten, dass meine Gegenargumente nicht mehr so schnell kamen als noch zu Beginn. Also setzte Matt zu einem zielgerichteten Schuss an, von dem er genau wusste, dass er wirkte. „Und was du auch nicht vernachlässigen solltest… die Haywood Post hat ja als seriöse Schülerzeitung irgendwie schon eine Verpflichtung, über die Geschehnisse in unserem Städtchen zu berichten. Da solltest du als guter Journalist schon ein paar Nachforschungen anstellen. Und gute Freunde, wie wir sind, werden wir dir natürlich helfen.“

Treffer, versenkt.

Matt hatte recht. Mein Gott, das war meine Chance, in der Haywood Post über diesen Fall zu berichten. Vielleicht konnten wir die Post ja sogar überregional bekannt machen! Ich nickte zähneknirschend und verkniff mir dabei ein Grinsen, um den beiden nicht zu zeigen, wie einfach sie mich rumgekriegt hatten.

Nick und Matt lächelten und gaben sich ihre Fäuste.

Nun war es also soweit. Wir würden in einem Mordfall ermitteln. Incognito und hinter den Kulissen.

Das konnte ja was geben.

3

Als Kind habe ich den Herbst geliebt. Die Welt wurde auf einmal bunter und irgendwie war das für meine Familie immer eine Zeit gewesen, in der wir enger zusammengewachsen waren. Gemeinsame Touren durch den Wald, Kürbisse schnitzen oder Drachen steigen lassen sind nur einige der tollen Erinnerungen, die ich an den Herbst aus meiner Kindheit habe. Und so fühlte ich mich in alte Zeiten zurückversetzt, als ich mit Nick durch den Wald lief, um den Fundort der Leiche zu begutachten.

Die orange, weinrot und senfgelb gefärbten Blätter unter uns raschelten unentwegt. Das abendliche Sonnenlicht strahlte uns durch das dünner werdende Dickicht der Baumkronen ins Gesicht und die Kühle des herannahenden Abends drang langsam durch meinen Hoodie. Okay, an mir ist wirklich ein Lyriker verloren gegangen und ich will auch gar nicht weiter darauf eingehen, wie schön der Oakhill Forest uns nach der Schule empfing. Denn das wäre alles wirklich schön und idyllisch gewesen, wenn nicht die riesige Fläche platt gedrückter Blätter und abgerissener Äste uns wieder in die Realität zurückgeholt hätte. Denn hier war die Leiche gefunden worden.

Wir hatten den Rest des Schultages damit verbracht, halbwegs dem Unterricht zu lauschen und in der anderen Hälfte wildeste Theorien aufzustellen, die eine ganze Romanserie für die Drei ??? bedeuten würden. Nick hatte kurzerhand die Fotos, die er am Morgen von der Leiche gemacht hatte, über die WLAN-Funktion seiner Kamera auf sein Smartphone übertragen. Dann waren wir in den Computerraum gegangen, um einige der Fotos groß auf Papier auszudrucken.

Eines dieser Fotos hielt ich nun in meiner Hand und glich es mit der Stelle im Wald ab, die Nick mir gezeigt hatte. Wenn ich nicht gewusst hätte, was – beziehungsweise wer - sich da heute morgen noch befunden hatte, ich wäre ohne zu zucken daran vorbeigelaufen. Aber jetzt, da es mir klar wurde, sah ich die Spuren der morgendlichen Entdeckung noch ganz deutlich.

Die Leiche hatte wohl über Nacht dort gelegen, denn ihre Umrisse waren im Blättermeer noch recht deutlich erkennbar, wenn man wusste, worauf man zu achten hatte. Drum herum war alles platt getreten. Ich ging davon aus, dass Travis und Holfield nicht die einzigen Polizisten waren, die den Fundort der Leiche besucht hatten, konnte es aber mit Sicherheit auch nicht sagen.

Matt war übrigens nicht mitgekommen, weil er – Trommelwirbel – noch ein Date hatte. Er war eindeutig der Draufgänger in unserer kleinen Gruppe, anders konnte man das nicht beschreiben. Wobei er auch ernsthaft überlegt hatte, mit uns mitzukommen. Eine Leiche gab es in Haywood Grove – wie ich jetzt schon oft genug erwähnt habe – nun mal nicht alle Tage. Aber er tat gut daran, sein Date von heute Abend nicht warten zu lassen. Denn ich war mir sicher, dass aus ihm und Summer wirklich etwas werden konnte. Summer war eines der Mädchen aus unserer Klasse. Sie war klug, witzig und ganz und gar nicht arrogant – der feine Unterschied zu Brianna und Cheyenne. Das Gesamtpaket, wie man so schön sagt, stimmte einfach bei ihr und es wunderte mich doch etwas, dass sie nicht mit den älteren Jungs unterwegs war. Für Matt freute es mich wirklich. Nick und ich waren jedenfalls gespannt, ob er das heute Abend meistern würde – für meinen Geldbeutel wäre es gut, denn Nick hatte einen Zehner dagegen gesetzt.

Aber zurück zu unserer Leiche, beziehungsweise dem Ort, an dem sie gefunden worden war.

„Und hier lag sie also?“, fragte ich, denn ich sah, wie es Nick auf den Lippen brannte, dass er endlich erzählen konnte.

Und prompt legte er los. Er zeigte mir, wo er hergekommen war, machte sogar seinen kleinen Stolperer nach, als er fast über eines ihrer Beine gefallen war und redete wie ein Wasserfall über Dinge, die er heute schon mehrmals ausführlich geschildert hatte. Ich ließ ihn gewähren und blickte stattdessen noch einmal auf das ausgedruckte Foto in meiner Hand.

Obwohl ich mir das Foto schon einige Male angesehen hatte, war es doch nicht so, dass ich jedes Detail überblickt hätte. Ich nahm mir die kurze Zeit, während Nick weiterplauderte, ohne mir Beachtung zu schenken. Ich schätzte das Alter der Frau auf etwa um die fünfzig. Ihr schwarzes Haar schien gepflegt zu sein, ihr Körper war sportlich. Sie trug eine graue Jacke und eine Skinny Jeans, darunter weiße Sneaker – modisch gekleidet war sie also auch. Irgendwie erinnerte ich mich an ihr Gesicht, aber ich konnte nicht genau sagen, woher. Klar, Haywood Grove war ein kleines Städtchen, da bin ich im Lauf der Jahre sicherlich jedem der fünfzehntausend Einwohner schon einmal über den Weg gelaufen.

„…eins hat mich aber schon heute Morgen stutzig gemacht“, endete Nick seinen Monolog und ich bekam es zum Glück mit.

Ich sah auf. „Was denn?“

„Zeig mal das Bild her.“ Er kam zu mir und riss mir das Blatt Papier aus der Hand. Dann deutete er auf den Bauch der Leiche. „Die Reifenspuren. Es ist ja offensichtlich, dass sie überfahren wurde, oder?“

Ich nickte nur. „Und?“

„Sieh dich doch hier mal um. Die Straße ist fast hundert Meter entfernt von hier. Die Bäume stehen hier dicht an dicht. Da müsste man schon Slalom fahren, um hier her zu gelangen. Und hätte das Auto dann noch eine Geschwindigkeit, um eine Frau zu Tode zu fahren?“

Ich grübelte. Verdammt, Nick hatte recht. Da stimmte doch irgendetwas nicht. „Vielleicht sollte die Leiche hier vergraben werden. Vielleicht war es ja auch ein Unfall?!“

„Glaubst du, ich habe den Mörder heute Morgen erwischt und er ist geflohen?“ Nick sah etwas verängstigt aus und blickte sich in alle Richtungen um.

„Nein, das macht keinen Sinn. Sie muss schon länger hier gelegen haben, mindestens die halbe Nacht…“ Ich hatte eine Theorie, war mir aber auch nicht ganz sicher darüber: „Vielleicht sollte sie ja so gefunden werden.“

Nicks Gesichtsausdruck verriet mir seinen Unglauben. „Hier? Barry, ich weiß nicht… wenn ich nicht hier entlanggelaufen wäre, hätte die in drei Wochen noch niemand gefunden.“

„Okay, aber Fakt ist: sie wurde gefunden.“

„Ja, Barry, weil ich Idiot hier durch den Wald gelaufen bin, um Fotos zu machen.“ Nick zerrte leicht an meiner Schulter, um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen. „Interpretierst du nicht etwas zu viel da rein? Die Story wird gut, auch so. Eine Leiche in Haywood Grove, Alter!“

Hatte Nick recht? Wollte ich gleich die ganze Palette aus Verschwörung, Katz-und-Maus-Spiel und Serienkiller hier unterbringen? Reichte das, was da heute Morgen gelegen hatte, nicht schon aus für eine riesige Schlagzeile in der Haywood Post?

Ich kam nicht dazu, zu antworten, denn wir hörten ein Auto auf der Straße langsamer werden. Es war sehr still im Wald, von daher hörten wir jedes Geräusch auch aus den hundert Metern Entfernung, die wir zur Straße hatten. Ich blickte hinüber und sah ein Polizeiauto am Straßenrand anhalten.

„Sollten wir nicht verschwinden?“, fragte ich Nick. „Holfield wird nicht erfreut sein, dich schon wieder hier zu sehen?“

Nick schüttelte nur den Kopf. „Es ist Travis“, stellte er fest. Und tatsächlich stieg Nicks großer Bruder aus dem Polizeiauto und stapfte durch das Meer der bunten Blätter zu uns hinüber. Er hielt sein Smartphone ans linke Ohr und sah zu Boden, während er sprach. Ich konnte nur einige Fetzen verstehen, weil das Rascheln der Blätter so laut war.

„…gut, alles klar… ja, ich weiß… nein, das ist erledigt, ich war gerade in der Ole North Bank, um… was denken Sie denn, wie die reagiert haben? Ja, alles klar, bis morgen.“

Er legte mit einem genervten Gesichtsausdruck auf. Ein großes Fragezeichen erschien in seinem Gesicht, als er Nick und mich am Fundort der Leiche stehen sah. „Was macht ihr denn hier?“

„Ich wollte Barry zeigen, wo ich sie heute morgen gefunden habe“, erklärte Nick ganz unverfänglich. „Und du?“

„Ich wollte mir auf dem Heimweg nur noch einmal den Ort hier ansehen. Soll ich dich nachher mitnehmen?“

„Nein, wir sind mit den Fahrrädern da“, gab Nick zurück und deutete mit einer Kopfbewegung zu einem Baum, an dem wir unsere Räder abgestellt hatten.

Es wurde etwas stiller, während Travis in die Hocke ging und den Boden langsam absuchte. „Habt ihr schon etwas herausgefunden?“, fragte Nick.

„Polizeiarbeit, kleiner Bruder. Das darf ich dir nicht sagen.“

„Ach komm schon. Es sind doch nur Barry und ich.“

„Hey Nick, ich komme in Teufelsküche! Wenn Holfield mich hier mit euch sieht, ist schon die Hölle los!“

Nick setzte sich neben Travis in die Hocke und beobachtete, wie er mit den Fingern durch das Laub fuhr. „Wir wollen ja nicht viel wissen… aber das ist einfach unheimlich spannend.“

Travis seufzte. „Mein Gott, du kannst ja richtig nervig sein.“

„Du bist mit mir aufgewachsen, das solltest du kennen.“

„Das scheine ich verdrängt zu haben.“ Travis stand auf. „Also gut. Ihr werdet das eh morgen alles in der Zeitung lesen, von dem her… was ist schon dabei.“

Beim Wort Zeitung klingelten in meinem Kopf alle Alarmglocken. Verdammt, Travis hatte recht. Wenn ich wirklich einen guten Artikel in der Post veröffentlichen wollte, dann musste der morgen raus sein! Zum Glück musste ich heute Abend nicht im Kino arbeiten, sondern erst morgen. Das gab mir die Zeit, mich nachher noch an einen Artikel zu setzen. Ich linste auf die Uhr. Sechzehn Uhr dreiundvierzig zeigte sie aktuell an. Ich schreibe schnell, das ist nicht das Problem. Aber der Artikel brauchte Futter. Ich hoffte, etwas davon von Travis zu erhalten.

Da kam mir ein Gedanke. Ich zog schnell mein Smartphone aus der Hosentasche und tat so, als würde ich darauf herumtippen, stattdessen aktivierte ich die Sprachaufzeichnung und hoffte, dass man Travis‘ Worte gut genug verstehen würde, wenn das Smartphone wieder in meiner Hosentasche war. Vorsichtig steckte ich es zurück, dann begann Travis bereits zu erzählen.

„Um ehrlich zu sein: wir wissen, wer die Tote ist, wo sie wohnt und wo sie arbeitet. So weit sind wir schon mal. Aber Jungs, glaubt mir, ich darf euch nichts davon erzählen. Dafür ist mir mein Job zu wichtig.“

Das war nicht wirklich viel. Die Sprachaufnahme konnte ich nachher gleich löschen, wenn nicht noch mehr käme. Aber was hatte ich auch erwartet? Die Leiche war am Morgen gefunden worden, es war noch nicht einmal ein ganzer Tag seither vergangen. Da gab es doch bestimmt erst einmal Spuren zu sichern, die Leiche zu identifizieren, Angehörige zu informieren… Angehörige… bei dem Gedanken stockte ich kurz. Was hatte Travis vorhin am Telefon erwähnt? Ole North Bank… was, wenn die Frau dort gearbeitet hatte? Das könnte ein erstes Indiz sein, an das ich mich klammern konnte.

„Und weiter?“ Nick versuchte, noch etwas aus Travis herauszupressen, doch der gab mit einem Handzeichen zu verstehen, dass das alles war.

„Habt ihr nicht noch mehr herausgefunden?“, fragte ich.

Travis sah mich direkt an. „Ich wünschte, wir wären schon weiter. Aber Jungs, das ist unser erster Mordfall. Selbst Holfield mit seinen über dreißig Jahren bei der Polizei hatte noch keinen Mordfall. Wir müssen uns da auch erst einmal reinfinden.“

Das war für mich irgendwie das Stichwort, bei dem sich der Schalter in meinem Kopf umlegte. Die Polizei würde jedenfalls nicht schnell vorankommen. Es bestand also durchaus die Chance, dass Matt, Nick und ich alleine ermitteln konnten und so vielleicht zur Lösung des Falls beitragen konnten. Was so etwas wie das ultimative Real Life Erlebnis für uns als Fans von den Drei ??? oder Detective Conan war!

„Glaubst du, sie wurde wirklich überfahren?“ Nick ließ nicht locker.

Langsam schien Travis genervt zu sein. „Woher weißt du…ach, du hast sie ja gefunden. Das habe ich für einen Moment vergessen.“ Er machte eine kurze Pause und überlegte. „Okay, ihr zwei, aber das bleibt unter uns, hört ihr? Ich habe vor einigen Minuten einen Anruf von der Autopsie in Sainsville erhalten. Wie es aussieht, wurde sie zwar überfahren, jedoch führte das nicht zu ihrem Tod.“ Nick und ich schauten uns an. Treffer! Travis fuhr fort: „Die Jungs dort meinen, sie sei eindeutig stranguliert worden. Sie glauben sogar, dass die Male am Hals älter sind als die Reifenspuren auf ihrer Jacke.“

Puh, das war jetzt wirklich mal eine Erkenntnis. Eine Frage geklärt, fünfzehn neue Fragen dadurch kreiert. Krass! Das musste ich erst einmal sacken lassen und darüber nachdenken, was das nun für diesen Mordfall bedeutete. Ein Fakt war aber auf jeden Fall klar: wir hatten es also wirklich mit einem Mord zu tun. Das war kein Unfall mit Fahrerflucht oder ein dummer Zufall auf der nächtlichen Landstraße. Mord, eindeutig.

Nick wollte gerade ansetzen, Travis weiter zu löchern, doch Travis schnürte ihm sofort mit einer Handbewegung die Worte ab. „Keine weiteren Fragen, Nick. Ich habe euch eh schon zu viel gesagt. Hört zu, wenn Holfield davon mitbekommt…“ Er zog symbolisch einen Finger an seinem Hals entlang, um zu zeigen, dass sein Chef ihn einen Kopf kürzer machen würde.

„Ist schon gut, danke für all die Informationen“, sprach ich für uns beide. „Komm Nick, wir gehen.“

„Aber…“ Nick wollte protestieren, aber ich zog ihn an seiner Jacke hinter mir her, bis wir außer Hörweite von Travis waren. Dann ließ ich ihn los. „Was soll denn das?“, echauffierte er sich. „Ich hätte noch einiges mehr aus ihm herauskriegen können!“

„Verdammt, Nick, du bringst deinen Bruder wirklich in Teufelsküche! Sei froh über alles, was er uns verraten hat. Das ist mehr, als wir erwarten können.“

Nick brummelte irgendetwas Unverständliches vor sich hin. Wir liefen weiter zu unseren Fahrrädern, schlossen sie auf und fuhren schweigend los.

„Okay, du hast recht“, platzte es irgendwann aus Nick heraus. „Vielleicht war ich etwas unbedacht.“

„Na also. Außerdem sollten wir uns Travis noch warmhalten, wie man so schön sagt. Wer weiß, ob wir ihn noch brauchen können.“

In Gedanken war ich schon bei meinem Artikel. Ich hoffte, mehr über die Tote auf der Webseite der Ole North Bank herausfinden zu können – das war zwar nur ein kleiner Strohhalm, aber immerhin etwas, an das ich mich klammern konnte. Irgendwie sollte ich aber auch aufpassen, dass ich Travis nicht in Schwierigkeiten brachte – wenn er wegen mir seinen Job verlieren würde, würde uns das allen nicht wirklich weiterhelfen. Ich mochte Nicks Bruder, das hätte er nicht verdient. Aber darüber würde ich mir dann beim Schreiben später den Kopf zerbrechen.

Der kühle Herbstwind wehte uns um die Ohren, während wir auf der Landstraße langsam näher an Haywood Grove heranfuhren. Die Sonne war beinahe untergegangen, leichter Nebel bildete sich am Straßenrand zwischen den Bäumen. Ich überlegte, wie es hier draußen im Wald sein musste, wenn es jetzt im Herbst Nacht war. Kein Ort, an dem ich in der Dunkelheit alleine spazieren gehen würde. Das brachte mich auf einen Gedanken. Ich hielt unvermindert an und Nick machte vor Schreck eine Vollbremsung, so dass er beinahe auf dem glitschigen Laub unter uns ausrutschte. Er schaffte es gerade noch, sein Hinterrad vor dem Ausbrechen zu bewahren.

„Alter, was ist los?“, brüllte er. „Das war verdammt knapp!“

„Sorry, Nick.“ Ich lief zu ihm. „Alles ok?“

„Ja, alles gut. Warum hast du angehalten?“

„Ich hatte eine Idee. Vielleicht ist es aber auch nur Quatsch.“ Ich sah mich hier um. Die Landstraße war verwaist. Jetzt im Herbst fuhren nur wenige zu so später Stunde in den Oakhill Forest. Am Wochenende an einem sonnigen Tag zum Wandern – ja. Aber heute war Donnerstag. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass wir gestern Mittwoch hatten.

Ich begann Nick meine Theorie genau so zu schildern, sah aber lange Zeit nur ein fragendes Gesicht vor mir.

„Worauf willst du raus?“

„Okay, Nick, pass auf: stell dir vor, es ist eine Stunde später. Oder von mir aus auch zwei oder drei. Dann ist es stockfinster. Nebel zieht auf. Kein Mensch ist hier, nur das Rascheln der Blätter unter deinen Füßen und du siehst rechts und links von dir die Bäume in die Höhe ragen. Klingt schon ein bisschen nach American Horror Story, oder?“

„Ja, defintiv nichts, auf was ich heute Abend Lust habe. Deshalb sollten wir jetzt weiterfahren, dass wir vor der Dunkelheit in Haywood Grove zurück sind.“

„Oh Mann, du verstehst nicht, Nick!“ Ich musste unvermittelt lachen. Nick grinste zwar, das Fragezeichen in seinem Gesicht wurde aber noch größer.

„Jetzt spuck‘s schon aus!“ Er boxte mich in die Seite.

„Also, meine Theorie ist folgende: Gestern hat es geregnet. Es war schon um halb sechs stockdunkel. Glaubst du, der Oakhill Forest ist dann ein guter Ort für eine Frau, um spazieren zu gehen? Wieso war sie hier? Mal angenommen, sie war irgendwo hier, als sie ermordet wurde. Warum? Was trieb sie hier raus?“

„Vielleicht hat der Mörder sie ja in der Stadt entführt und hier rausgeschleppt?“

„Ja, das ist eine Möglichkeit. Es könnte auch sein, dass sie irgendwo in der Stadt getötet wurde und dann einfach hier draußen abgelegt worden war. Alles richtig. Mal abgesehen davon, dass sie noch post mortem überfahren wurde.“

„Du sprichst schon wie ein richtiger Cop.“ Nick grinste. „Okay, alles nette Theorien. Aber ich sehe dir an, dass du daran nicht glaubst. Was brennt dir auf den Lippen.“

„Naja, ich habe das Gefühl, dass sie tatsächlich hier draußen ermordet wurde. Mich macht nur der Weg hier raus in stockfinsterer Nacht stutzig.“

„Vielleicht wurde sie ja gestern untertags getötet“, wand Nick ein.

„Was hat sie dann hier draußen gemacht?“

„Spazieren gegangen“, schlug er vor.

Ich schüttelte den Kopf. „Bei dem Wetter und mit diesen Schuhen? Unwahrscheinlich.“

„Okay, Meisterdetektiv. Was glaubst du dann?“

„Es ist nur eine Ahnung, aber… naja… ich glaube, dass sie ihren Mörder gekannt hat.“

*

Es war stockdunkel, als ich zuhause ankam. Nick, Matt und ich wohnten nicht weit auseinander. Uns trennten jeweils fünf Minuten Fußweg. Schon allein deshalb war es kein Wunder, dass wir schon als Kinder Freunde geworden waren.

Es war kurz nach achtzehn Uhr, als ich die Tür aufschloss. Meine Mutter wartete quasi schon im Flur auf mich. Typisch. „Wo warst du? Die Schule ist doch schon lange aus.“ Vorwurfsvoll stemmte sie die Hände in ihre Hüften.

„Ich war noch ein bisschen mit Nick im Wald, nichts Wildes.“ Ich warf meinen Rucksack in die Ecke und rannte an ihr vorbei.

„Hey Dad“, sagte ich nur, als ich in die Küche kam, schnappte mir ein Sandwich vom gedeckten Tisch und biss unverzüglich ein großes Stück davon ab.

„Willst du dich nicht zu uns setzen?“, fragte er.

„Keine Zeit, Paps. Ich muss noch dringend einen Artikel für die Post schreiben.“

„Du solltest es nicht übertreiben mit der Schülerzeitung, Barry.“ Mum setzte sich wieder zu Dad an den Tisch. „Die Schule geht vor, das weißt du.“

„Ja ja Mum, alles gut! Wo ist eigentlich Kelly?“

„Arbeiten. Lou hat vorhin angerufen“, erklärte mein Vater. Ich sah im Augenwinkel, wie Mutter die Augen verdrehte. Sie konnte Lou nicht leiden und mir ging es ebenso. Ihm gehörte das Diner im Süden der Stadt, in dem Kelly als Aushilfe arbeitete. Dass Kelly sich nebenbei etwas Geld verdiente, fanden meine Eltern ja grundsätzlich toll. Ich arbeitete ja auch ein paar Abende im Monat im Kino. Aber Lou war ein Ausbeuter und Leuteschinder vor dem Herrn. Kelly hatte regelmäßig schlechte Laune, wenn sie von ihrer Arbeit im Diner zurückkam – und das zurecht. Eigentlich hatte ich mir geschworen, dort nicht mehr essen zu gehen, um Lou zu boykottieren. Ein alberner Gedanke irgendwie – er würde es ja nicht einmal merken. Aber das Diner war leider für die Jugend der Treffpunkt schlechthin.

„Dass sie auch immer gleich rennen muss, wenn er anruft“, merkte ich nur ironisch an.

„Du weißt ja, dass sie das Geld braucht.“ Mutter seufzte.

„Tja, was soll‘s. War schön mit euch, ich gehe noch eine Runde spazieren, um die Kreativität anzuregen“, beendete ich schnell das Gespräch und kramte meine Kopfhörer aus dem Rucksack.

„Wo willst du denn jetzt noch hin? Es ist schon dunkel!“ Mutter sah mich überrascht an, dabei war es ganz normal, dass ich abends noch eine Runde spazieren ging. Musik in die Ohren, Welt ausschalten und die Füße vertreten – nichts regte meine Kreativität besser an. Danach lief das Schreiben fast von selbst. Das wussten eigentlich meine Eltern mittlerweile auch.

„Ich bin in einer halben Stunde zurück“, gab ich an und verabschiedete mich mit einem Winken aus der Küche, noch ehe meine Mutter etwas erwidern konnte. Nicht falsch verstehen: ich liebe meine Familie über alles, aber manchmal brauche ich einfach diese Zeit für mich. Und das war jetzt so ein Moment. Zum Glück hatte Mum noch nichts von der Toten mitbekommen, sonst hätte sie mich jetzt nicht mehr aus dem Haus gelassen.