Die Träume sind kaputt - skye gänseblum - E-Book

Die Träume sind kaputt E-Book

skye gänseblum

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Beschreibung

Tuniriam lebt auf IZ211, einem großen Weltraumhabitat, wie es im Sonnensystem Tausende gibt. Seit einigen Jahren leidet sier an einer mysteriösen Erkrankung, für die sich weder eine Ursache noch eine Behandlung finden lässt. Otogo stammt aus dem Nachbarhabitat IZ133. Seit sie im Schlaf die Träume anderer Menschen besuchen kann, hat sie sich kör-perlich nie wieder richtig erholt. Als sie in einer psychiatrischen Klinik einen Reporter trifft, der mit Tuniriam befreundet ist, er-kennt dieser die Symptome der Krankheit wieder und bringt die beiden in Kontakt. Für Otogo und Tuniriam beginnt ein verstörendes Abenteuer in einer Dimension, die sie nur im Schlaf besuchen können. Ein regelbrechendes Experiment mit Umgangssprache. Ein Liebesbrief an behinderte und queere Gemeinschaft. Eine Geschichte für Menschen, die nie wieder gesund werden.

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Hinweis zum Buch

Dieses Werk ist ein linguistisches Experiment. Die verschiedenen angewendeten Schreibstile orientieren sich nur teilweise am amtlichen Regelwerk zur deutschen Rechtschreibung und beinhalten auch Umgangssprache sowie Schreibvarianten, die zwar in der schriftlichen Gebrauchssprache geläufig sind, jedoch formal als „falsch“ gelten.

Der Autor ist der Auffassung, dass Sprache so, wie sie benutzt wird, nicht „richtig“ oder „falsch“ sein kann, und hatte sehr viel Spaß am Austesten all der neuen Möglichkeiten, die sich durch das Loslösen von strengen Regelwerken eröffnen.

Triggerwarnungen finden sich ganz am Ende des Buches.

Der Autor

skye ist nichtbinär und chronisch krank. Meistens geht es em nicht gut genug, um sinnvolle oder spaßige Dinge zu tun, aber an guten Tagen geht el gerne auf Entdeckungsreisen durch den Quellcode von freier Software, macht irgendwas Kreatives oder fährt mit Rollstuhl oder Ebike durch die Gegend. Manchmal schreibt el auch Bücher, so wie dieses hier!

skye mag Sprache und benutzt sie, um Kunst zu machen, seit el einen Stift halten kann. Geschichten sind für skye eine Möglichkeit, der Realität zu entkommen, aber auch reale Missstände aufzuzeigen und alternative, vielleicht sogar bessere Ideen und Sichtweisen zu kommunizieren.

Für alle, die nie wieder gesund werden.

Inhaltsverzeichnis

Liebes Sonnensystem

Wo wir herkommen

Die Krankheit

Wie es anfing

Die bunte Stadt

Die Anderen

Schlechte Geschäfte

Alpträume

Der Sand

Der König der Nacht

Wer uns geholfen hat

Wie der König der Nacht gestorben ist

Hinterher

Danksagung

Triggerwarnungen

Liebes Sonnensystem

Wir schlafen nicht mehr. Die Träume sind kaputt. Wir machen die Augen zu und wir träumen, aber ohne zu schlafen.

Der nachfolgende Text ist eine Zusammenstellung der Erfahrungsberichte von Otogo und Tuniriam. Unsere Texte sind nicht immer chronologisch sortiert, sondern manchmal auch so, dass die logischen Zusammenhänge klarer werden.

Wir sind beide keine Profis im Schreiben, und der Profi, der das hier Korrektur lesen soll, weigert sich felsenfest, irgend etwas zu ändern, das unsere „individuelle Stimme verfälschen“ würde… Also müsst ihr leider damit leben, dass nicht alles perfekt geschrieben ist.

Namen und manche Identifikationsmerkmale haben wir geändert, aber ansonsten orientiert diese Geschichte sich möglichst wahrheitsgetreu an unseren Erlebnissen, auch, wenn es in der Natur der Sache liegt, dass eine Erzählung keine exakte Wiedergabe sein kann.

Die Meisten von euch werden es für Fiktion halten. Das ist in Ordnung. Es ist auch eine spannende Geschichte. Aber zugänglich machen wir es für die Anderen unter euch, für die, die sofort wissen, wie es ist, im Schlaf ein geheimes, zweites Leben zu führen.

Wo wir herkommen

Tuniriam

Ich stand einer jungen Frau gegenüber, die mit geschlossenen Augen und kopfüber von einer Gardine hing wie von einer Schaukel, und mich offensichtlich noch nicht bemerkt hatte. Fedriger blauer Stoff wehte durch das hohe Treppenhaus. Ich versuchte, nachzusehen, woran die Gardinen befestigt waren, aber der Bereich verschwamm vor meinen Augen, als wäre es ein billiges VR-Spiel. Als ich den Blick wieder nach vorne richtete, stand die junge Frau zwischen den blauen Vorhängen, die um ihre zierliche Gestalt flossen wie ein Wasserfall. Sie wirkte beschämt, als hätte ich sie bei etwas Unanständigem erwischt. „Bist du neu hier eingezogen?“ fragte sie.

Es musste also wohl ein Wohnhaus sein, in das ich hier geraten war, aber es sah nicht aus wie eines, das man auf IZ211 finden würde: Dafür waren die Decken zu hoch, außerdem bestanden der Boden und die Treppe aus polierten weißen Steinen, wie ich sie in meinem Heimathabitat niemals gesehen hatte.

Ich nickte mit distanzierter Freundlichkeit. Um diese sympathische junge Frau nicht zu beunruhigen, spielte ich gerne den freundlichen Nachbar – Nachbarin? Ich schaute an mir herunter und entdeckte ein figurbetonendes rotes Maxi-Kleid. Dieses Mal sollte ich also scheinbar eine Frau darstellen.

„Ganz schön kalt heute“, versuchte ich etwas Smalltalk, ohne genau zu wissen, wie ich darauf kam. IZ211 war Vieles, aber nicht kalt. Seit das Habitat zusammen mit der restlichen IZ-Flotte seinen Orbit um die Sonne angepasst hatte, um Personen und Waren zwischen den Orbits von Erde und Venus transportieren zu können, brauchte wirklich nieman mehr eine Jacke. Selbst die zwei Monate Winter, die wir uns der Vegetation zuliebe jedes Jahr gönnten, waren eher lauwarm als kühl.

Die junge Frau nickte. Ihr langes Haar war unter einer braunen Kappe versteckt. „Vor Allem bei uns da oben“, stimmte sie mir zu. Sie schickte sich an, die Treppe hoch zu gehen. Mit einer schlanken Hand am Geländer, wandte sie sich wieder an mich: „In welchem Stock wohnst du?“

„Einen über euch, glaube ich“, fabulierte ich wahllos und folgte ihr. Schnaufend erklommen wir die glänzenden Stufen, einen eisigen Luftzug um die Nase. Nach vier oder fünf Treppen blieb meine Begleiterin stehen. Sie schaute die Stufen an, welche noch weiter nach oben führten, und sinnierte: „Bei dir ist es wahrscheinlich nicht so kalt wie bei uns unter dem Dach.“

„Ihr seid unter dem Dach?“ hakte ich verunsichert nach. Wenn ich über ihr wohnen sollte, konnte das hier wohl kaum das Dachgeschoss sein. Sie öffnete mit einem mechanischen Schlüssel ihre Wohnungstür, bevor sie unsicher an die Decke zeigte: „Zumindest sind da Dachziegel.“

Ich hatte noch nie in meinem Leben ein Wohnhaus mit Dachziegeln gesehen, aber sie überging mein Erstaunen und beschwerte sich: „Isolierung gibt es auch nicht. Nachts friere ich mir immer den Arsch ab.“ Ich lachte über die deftige Wortwahl.

Die Wohnung war eine kleine Atelierwohnung – ein einziges, relativ großes Zimmer mit zwei offen stehenden Türen, welche den Blick freigaben auf eine großzügige Küche und ein winziges Badezimmer. Fenster konnte ich keine entdecken.

„Hast du schon einmal überlegt, eine Decke über dein Bett zu hängen?“ schlug ich vor, als ich ihr ungefragt, aber nicht ungebeten, in die Wohnung folgte. „Wie eine Höhle, um die Wärme einzufangen?“

„Oh, das ist eine gute Idee“, fand sie.

Ich war gerade dabei, eine Decke aus einem dünnen Vliesstoff über einen Deckenbalken zu ziehen, der praktischerweise direkt über dem Doppelbett verlief, als die Wohnungstür erneut geöffnet wurde, woraufhin ein junger Mann eintrat. Sein blonder Bart war fast so lang und glatt wie sein Kopfhaar. Das Gesicht war scharf zu erkennen, aber sein Körper war nur ungenau gezeichnet und seine Arme und Beine endeten in verwaschenen Zipfeln. Ungeachtet seiner offenbaren Mangelhaftigkeit, schwebte er in die Wohnung. „Sie haben Arbeit uns heim. Einen Fall“, erklärte er.

Ich kannte es schon: verschwommene, unvollständige Figuren und fragmentierte Sätze. Aber ich war jedes Mal die einzige Person, die zu bemerken schien, dass etwas nicht stimmte.

Meine Gastgeberin starrte das korrumpierte Abbild ihres Partners entsetzt an. Ich konnte den Verrat und die Enttäuschung geradezu spüren. Eine glückliche Beziehung war das hier nicht. „Und hast du vor, mich irgendwie davor zu schützen?“ forderte sie ihn heraus, trotzig, obwohl unverkennbare Angst in ihrer Stimme lag.

Mich beschlich das bestimmte Gefühl, dass diese Szene unschön werden würde. So gerne ich ihr auch geholfen hätte, ich wusste, dass ich es nicht konnte. Suchend tastete ich mit meinen Augen durch den Raum, bis ich den Nebel entdeckte. Er war nicht immer leicht zu finden, aber manchmal hatte ich Glück und entdeckte ihn auf Anhieb in meiner Nähe. Dieses Mal drang er durch die Ritzen der Toilettenkabine, dichte Schleier wie aus einer Nebelmaschine. Als ich das zweigeteilte Badezimmer betrat und der Kabine näher kam, spürte ich bereits, wie der Traum mir entglitt. Unbeirrt öffnete ich die Türe und trat in die Wand aus Nebel, die sich in vollkommener Stille für mich öffnete.

Schwerelos hing ich darin, umgeben von Schwaden aus Nichts, die jedes Geräusch verschluckten und mich umfingen wie eine Fessel. Jeder meiner Muskeln war gelähmt, nur mein Herz schlug und ich atmete, atmete immer wieder ein und aus, so quälend langsam, dass ich das Gefühl hatte, zu ersticken. Ich konnte mich nicht bewegen, und doch wusste ich aus Erfahrung, dass ich auf einem Weg war, der mich ungefragt und unsteuerbar transportierte. Wohin, das wusste ich nicht. Ich erfuhr es, als mich ein schmerzhafter Blitz an meinem Hinterkopf traf, genau dort, wo der Schädel auf der Wirbelsäule aufliegt: Ich kam endlich zurück in die Realität.

Otogo

Ich hab keine Ahnung, seit wann meine Träume nicht mehr meine waren. Vielleicht war es schon immer so und ich hab es erst später gemerkt, aber ehrlich gesagt kommt es mir nicht so vor.

Als ich so fünfzehn war, wurde ich krank. Na ja. Ich sag krank, weil es kein besseres Wort gibt. Wie nennt man es denn sonst, wenn man nichts mehr machen kann und dauernd nur im Bett liegen muss? Da ist es doch egal, ob man wirklich was hat oder nicht.

Da hatte ich grade mit meinem ersten Nebenjob angefangen, das war in einem Fußpflegesalon. Ich wollte ein bisschen Geld verdienen und sparen, damit ich mich mit sechzehn gleich emanzipieren und ausziehen kann, weil ich zuhause nicht glücklich war.

Das mit dem Krankwerden passierte nicht von einem Tag auf den anderen, aber es ging schnell. Auf einmal war es so, dass ich nach dem Schlafen immer kaputt war, als wär ich stundenlang gerannt.

Wenn ich die Nacht durchmachte, ging es mir nicht halb so dreckig wie wenn ich schlief, dabei ist schlafen eigentlich normal. Also blieb ich oft so lange wach, wie ich konnte und dann war ich am Ende so übermüdet, dass ich einfach umkippte.

Nach dem Schlafen ging es mir dann wieder kacke. Irgendwie war das plötzlich schlecht für mich. Ich musste trotzdem zur Schule und zur Arbeit gehen. Alle sagten mir: „Wenn du dich ein bisschen bewegst, wirst du gleich wieder fit!“

Das war aber gelogen. Wenn ich mich in dem Zustand bewege, geht es mir noch dreckiger und alles fängt an wehzutun und ich werd so müde, dass ich nach ein paar Stunden wieder einschlafe, ob ich will oder nicht.

Es ist viel besser, wenn ich mich einfach ausruhe und warte, bis ich wieder ein bisschen Kraft hab. Dann kann ich den restlichen Tag fast normal wachbleiben. Das hat mir aber niemand geglaubt, deswegen schlief ich in der Schule und im Fußpflegesalon dauernd ein und bekam dafür Ärger. Die Ohrfeigen und das Nachsitzen machten es aber auch nicht besser.

Also schleiften meine Pflegeeltern mich am Ende zu einer Ärztin. Die machte ein paar Tests, fand nichts raus, fragte die KI, die auch keinen Plan hatte und schickte mich dann zum Psychiater.

Der Psychiater guckte einmal kurz in meine Historie, sagte, dass ich PTBS hab und überzeugte sofort im selben Gespräch meine Pflegeeltern, das Sorgerecht aufzugeben (die konnten mich sowieso nicht leiden) und mich in ein Wohnheim für kaputte Jugendliche zu schicken.

Auf IZ133 gibt es sowas nicht. IZ133 ist ein ranziger Dreckhaufen. Aber ich sah meine Chance und überredete meine Pflegeeltern, mein Gehalt aus dem Fußpflegesalon in ein Ticket nach IZ211 zu stecken. Da gab es ein Heim, was mich aufnehmen wollte. Von dem übriggebliebenen Geld kaufte ich mir neue Klamotten.

Ich muss grad voll lachen, weil die von euch, die IZ nicht kennen, denken jetzt bestimmt, dass die IZ-Gruppe aus hunderten von Habitaten besteht.

In Wirklichkeit sind die aber so alt, dass die meisten längst kannibalisiert wurden. Und nicht dass ihr euch wundert: Ja, die haben alle auch normale Namen, aber keiner benutzt die. Die Leute hier wissen nämlich genau, dass wir nicht reich genug sind, um für das restliche Sonnensystem was anderes zu sein als Kennzeichen. Außerdem sind die Namen echt peinlich. 133 heißt „Reise ins Himmelreich“ und 211 „Paradiesische Vorstadt“.

Im Moment leben ungefähr 54 Millionen Menschen in IZ. Von den 79 Megazylindern sind 68 Habitate, der Rest sind Landwirtschaft und Parks und sowas. 133 ist definitiv eins der schlimmsten: viel zu viele Leute, viel zu heiß, immer ein Problem mit dem Sauerstoff und der Luftfeuchtigkeit und viel zu viel Polizei, die mehr Verbrechen selber macht als verhindert. Ich hoffe, irgendwer ändert da mal was. Aber ich geh nicht davon aus.

Ich bin fein raus, weil mit 15 kam ich zum Glück nach 211. Der Psychiater war zwar mega unfreundlich, aber er besorgte mir den Platz und das ist scheinbar garnicht so leicht.

Das Wohnheim war das erste Mal in meinem Leben, dass ich nicht regelmäßig angebrüllt wurde oder andere Sachen. Aber es war trotzdem die schlimmste Zeit in meinem Leben. Ich weiß, dass das wahrscheinlich erstmal unlogisch klingt, aber der Grund ist ganz einfach: Ich war zu nah an den anderen dran. Also an dem ganzen Haufen von traumatisierten Jugendlichen und ihren Alpträumen.

Tuniriam

Als ich aufwachte, war mein erster Gedanke, dass ich jetzt gerne schlafen gehen würde, um mich zu erholen.

Das Haus war laut. Ich liebte die Geräuschkulisse von Leben und Aktivität. Wenn ich im Bett lag und zu erschöpft war, um mich zu bewegen, hörte ich oft einfach nur zu und tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich trotz meiner Erkrankung, inmitten einer Gemeinschaft war.

In der Küche war meine Cousine am Singen. Sie kochte gerne, während sie probte, und wenn sie genug gekocht und gebacken hatte für ein halbes Habitat, blieb sie auf dem Küchenteppich stehen und machte Stimmübungen, bis sie entweder Pause machen musste oder jemand – meistens meine Mutter – sie anmaulte.

Heute hatte sie jedoch guten Grund, viel zu kochen. Durch die Wände konnte ich hören, dass mein kleiner Bruder einmal wieder mindestens seine gesamte Lerngruppe zu Besuch hatte. Nicht, dass ich es ihnen verübeln konnte, schließlich war unser Haus erheblich geräumiger als die üblichen Wohnungen in Mehrfamilienhäusern. In unserem Garten standen mehrere große Bäume, auf die sie klettern konnten – das perfekte Abenteuer für Kinder in diesem Alter.

Ich seufzte und wünschte mir, ich könnte wieder dabei mitmachen, aber mein Leben war nur noch dieses: unnatürlich lebhafte Träume, bleierne Erschöpfung und mein zuverlässiger elektrischer Rollstuhl, der mich von A nach B brachte, wenn ich selbst nicht mehr konnte, und das war inzwischen fast immer. Wahrscheinlich hätte ich mich sogar für eine Senior_innenwohnung an einer der Spitzen des Habitats qualifiziert, wo der Abstand zur Drehachse und folglich auch die empfundene Schwerkraft geringer waren, aber mit meiner Krankheit konnte ich es mir nicht vorstellen, alleine zu wohnen, denn ich schaffte es nicht mehr, regelmäßig nach draußen zu gehen. Ich brauchte eine stabile Bezugsgruppe, und seitdem klar geworden war, dass ich weder arbeiten noch mein Studium fortsetzen können würde, war meine einzige verbleibende stabile soziale Verbindung meine Familie.

Meine Eltern waren heute offenbar ebenfalls zu Hause, denn mein Vater war gerade dabei, sich lautstark mit irgendeinem Bildschirm zu streiten, und vom Keller aus hörte man das rhythmische Hämmern, welches die Arbeit meiner Mutter an ihren Blechskulpturen häufig begleitete.

„Wie spät ist es?“ fragte ich in den Raum.

Mein Heimsystem war so eingestellt, dass es alles, was ich sagte, als Aufforderung interpretierte, so lange ich alleine war. Seine simulierte Stimme antwortete sofort: „Es ist dreizehn Uhr neun.“

Ich hatte also einmal wieder den Livestream der Vorlesung verpasst und würde mir die Aufzeichnung ansehen müssen. Ja – nur, weil ich nicht mehr geregelt studieren konnte, bedeutete das noch lange nicht, dass ich es gar nicht tat. Eine Veranstaltung pro Semester nahm ich jedes Mal doch noch mit. Insgeheim hoffte ich, dass es mir eines Tages wieder gut genug gehen würde, um meine Kenntnisse anzuwenden zu können, aber rückblickend hätte ich mich vielleicht eher für Veranstaltungen aus dem Bereich Geschichte oder Philosophie entscheiden sollen als für Vorlesungen über Robotik oder Orbitalphysik.

„Textnachricht an Chloë. Das riecht lecker. Kannst du mir etwas bringen?“

Es dauerte nur Sekunden, bis mein System leise piepte – so leise, dass es mich im Zweifelsfall nicht aufwecken würde – und auf meine Aufforderung hin die Antwort vorlas: „Fünfzehn Minuten. Willst du Gesellschaft?“

Das war genug Zeit, um ins Bad zu rollen und zumindest die Zähne zu putzen, auch, wenn mich diese Handlung so sehr erschöpfte, dass ich es nur mühsam zurück ins Bett schaffte, bevor meine Cousine mir auf einem glänzenden Tablett eine Mahlzeit brachte, wie man sie in einem Nobelrestaurant noch beneiden würde.

Sie selbst setzte sich mit ihrem eigenen Teller an meinen seit Monaten leer gefegten Schreibtisch. Auf rationaler Ebene wusste ich, dass meine Versorgung für sie mehr eine Pflicht als ein Hobby darstellte, doch sie ließ mich das nie spüren. „Konntest du ein Bisschen schlafen?“ erkundigte sie sich fürsorglich, als ich mir gierig den köstlichen Salat einverleibte.

„Ich glaube, ich habe von unserer neuen Nachbarin geträumt,“ antwortete ich zwischen zwei Bissen, „aber im Traum war sie noch jünger.“

„Relena?“ Chloë wirkte überrascht. „Wann hast du sie denn getroffen? Sie arbeitet doch Nachtschicht, tagsüber bin ich ihr noch nie über den Weg gelaufen.“

Ich zuckte die Schultern. Vor meinem eigenartigen Traum, hatte ich die Ingenieurin nur einige Male durch das Fenster gesehen.

„Ich träume in letzter Zeit immer von einem Strand“, erzählte Chloë. Sogar beim Sprechen war ihre Stimme melodisch und klang rund wie eine Glocke. „Vielleicht ist es auch kein Strand, sondern… Wie nennt man es, wenn überall nur Sand ist? Wenn es keine Bauwerke und keine Pflanzen gibt?“

Das wusste ich auch nicht. „Sandland?“ bot ich an.

Chloë fand es passend. „In meinem Traum bin ich in so einem Sandland. Es ist heiß und es ist nur ein Licht am Himmel. Ich kann sehen, wie der Boden sich in die falsche Richtung krümmt, also glaube ich, ich muss dabei auf einem Planeten sein. Ich bin eine Sklavin für einen König und muss immer Felsen tragen.“

„Das klingt interessant“, antwortete ich, die nächste Fuhre Salat bereits auf die Gabel gespießt. „Vielleicht ist das so ein Symbol wie Toiletten oder Züge oder – kennst du diese Träume, wo du deine Reifeprüfung noch einmal machen musst?“

Chloë legte ihr Besteck auf dem Teller ab und lachte. „Das mit der Reifeprüfung ja, aber Toiletten?“

„Ja,“ lachte ich mit ihr, „manche Leute haben wiederkehrende Träume von Toiletten. Kaputte Toiletten, Toiletten ohne Tür, Toiletten an öffentlichen Orten, so etwas. Die Themen sind Bedürfnisse, Erleichterung und Scham.“

„Mit dir kann man gut reden, weißt du das? Vielleicht solltest du so etwas beruflich machen.“

Da war er wieder, dieser gut gemeinte Vorschlag von einer Person, die einfach nicht verstand, dass ich wirklich so ziemlich jeden Job machen würde, wenn es bedeuten würde, dass ich körperlich dazu in der Lage wäre. Die meisten Menschen konnten sich einfach ganz und gar nicht vorstellen, wie es war, so erschöpft zu sein, dass sie stundenlang reglos liegen bleiben mussten – und dass es vom Schlafen nicht besser wurde.

„Wenn es mir irgendwann besser geht“, erwiderte ich mit einem müden Lächeln.

An Chloës Gesichtsausdruck erkannte ich, dass sie begriff, in was für eine Wunde sie gerade ihren Finger gesteckt hatte, aber mein System piepte erneut. Dankbar für die Ablenkung, zog ich meinen Zwickel unter dem Kopfkissen hervor. Es war ein billiges Gerät, das nicht ganz gut auf meine Augen passte, sodass ich immer zu viel Rand sah. Ich klemmte ihn mir auf die Nase und schaute nach, was für eine Nachricht ich bekommen hatte.

> Willst du vorbeikommen? Bei mir wohnt jemand, den du unbedingt kennenlernen musst.

Otogo

Das Wohnheim schickte mich zu zig Ärzt_innen hin. Ich war ja fast 16 Jahre auf 133 gewesen und danach hätte ich nie gedacht, dass sich mal wer so gut um mich kümmern würde. Die Ärzt_innen machten echt jeden Test, der ihnen einfiel. Ich hab in die Unterlagen geschaut: Schlafanalyse, Gehirnmessung, Bewusstseinsanalyse, Mitochondrienfunktion, Immunprofil und Reaktivität, komplettes genetisches und epigenetisches Profil. Jeder Scan und jede Analyse, die irgendwas mit meinen Problemen zu tun haben könnte. Ein paar Medikamente kriegte ich auch, aber die machten entweder garnichts oder machten es schlimmer. Am Ende bekam ich die Diagnose: Depression.

Danach ging es dann rapide bergab mit mir und nachdem ich ein bisschen was angestellt hatte, landete ich in der Psychiatrie. Da sollte ich drinbleiben, bis ich volljährig war.

Die Psychiatrien in IZ sind alle ziemlich schlecht.

Es gibt ja in der Menschheit zigtausend verschiedene Meinungen darüber, ob Psychiatrie als Wissenschaft Sinn macht und ob man psychisch kranke Menschen überhaupt behandeln soll und wie das am besten gemacht wird. In manchen Ländern kriegen Leute einfach Unterstützung und so. In anderen können sie sich selbst aussuchen, was sie wollen.

Aber hier in IZ spielen sie Psychopolizei. Wenn du da erstmal reingerätst, dann ist denen egal, wie sehr sie dir wehtun müssen, bis du wieder funktionierst. Und wenn du trotzdem nicht funktionieren kannst, dann tun sie dir einfach nur noch weh, auch wenn es garnichts bringt.

Robb war seit langem der erste Mensch, der mich normal behandelte. Er war in der Klapse, um einen Bericht über die Zustände zu schreiben. Das verriet er mir aber erst hinterher. Offiziell war er da, weil er angeblich über den Verlust seiner Beine immer noch nicht weggekommen war, dabei war das schon über zehn Jahre her. Als Behandlung musste er den ganzen Tag Prothesen tragen und durfte nicht seinen Rollstuhl benutzen. Er fiel dauernd hin und wir durften ihm nicht helfen.

Die Psychiatrie war das Ostklinikum. Eigentlich gibt es in einem Rotationshabitat keine Himmelsrichtungen, aber weil die beiden Hauptlichter an der Achse immer von Heck nach Bug wandern, hat irgendwer mal angefangen, das Heck als Osten zu bezeichnen. Das hatten wir auf 133 nicht.

Das Ostklinikum ist sehr weit am Heck. Nur ein paar Kilometer weiter hinten kommt schon die Endwölbung.

Robb sagte mir, dass er da wohnt. Weiter oben auf der Wölbung ist die Schwerkraft weniger und da gibt es spezielle Wohnungen für alte Leute. Behinderte dürfen auch manchmal da wohnen. Ich wunderte mich, dass er dort eingezogen ist, obwohl er seine Behinderung garnicht wahrhaben wollte.

An einem Tag gingen wir auf die Terrasse, wo so ein Zaun drum war. Leute wie Robb, die freiwillig da waren, durften auch raus in den Garten, aber ich nicht.

Es war kurz vor Nacht. Das heckseitige Licht war schon nah am Zentrum und wurde langsam rot. Wenn es auf Dämmerung schaltete, musste ich drinnen sein, deswegen war ich nervös.

„Du willst hier immer noch raus, oder?“ fragte Robb.

„Ja“, antwortete ich, weil ich ihm das schonmal verraten hatte. Wir hatten uns ein vorher schon ein paarmal gut unterhalten.

In dem Moment verhielt Robb sich ganz komisch. Er grinste die ganze Zeit und hatte eine Tasche mit seinem ganzen Zeug dabei. Ich dachte, vielleicht wird er entlassen, aber abends gab es garkeine Entlassungen.

Als wir alleine waren, sagte er mir sein Geheimnis: „Lass mich kurz ehrlich sein. Meine Beine sind mir scheißegal. Ich bin für die Arbeit hier. Vielleicht bin ich ein bisschen mehr als ein einfacher Lokaljournalist und ich kann dich hier rausbringen. Willst du das?“

Hoffnungsvoll guckte ich ihn an. Ich war kurz vorm weinen und ich glaubte nicht, dass er es schaffen kann. Ich hatte auch Angst, was passiert, wenn er es doch hinkriegt. Aber ich nickte trotzdem.

„Du machst dir Sorgen, oder?“ fragte er lieb nach. „Keine Angst. Das hier ist ein Kinderspiel. Im Garten gibt es eine Luke.“

Ich spähte sehnsüchtig durch das Tor, aber das war nicht nur abgeschlossen, sondern auch vergittert. Man konnte nicht einfach in den Garten gehen, wenn man keinen Schlüssel hatte. Ich sagte: „Ich darf nicht in den Garten.“

„Wir müssen uns eben beeilen.“

„Das Tor ist abgeschlossen und die Luke bestimmt auch.“ Aber mein Herz schlug schon sehr schnell.

Und Robb hatte einen Schlüssel auf seinem Handi.

Die Luken gibt es auf der ganzen Station. Es sind Luftschleusen. Der Keller ist nur mit 50 Kilopascal Druck gefüllt, damit Leckagen in die Lagerschale geringer ausfallen. Im Normalbetrieb außerhalb von Notfällen darf der Keller nur von Befugten betreten werden, damit Reparaturen und Wartungsarbeiten vorgenommen werden können. Die wichtigste Funktion der Kellerschächte ist das Ausgleichen von Unwuchten. Dafür gibt es große Gewichte, die durch die Gänge rollen können.

Außerdem fahren die Längszüge durch spezielle Bahnschächte im Keller. Die sind so eingestellt, dass sie sich gegenseitig ausgleichen. Im Notfall können sie aber auch als positionierbare Gewichte benutzt werden. Das geht mit den Straßenbahnen auch. Für die Leute da drin ist das nicht gefährlich oder so, nur nervig, weil die Bahn dann halt an eine bestimmte Stelle fährt und niemand aussteigen kann. Mir ist das auch schonmal passiert, das war aber auf 133.

Eigentlich darf man in den Keller nur rein, wenn man zum Personal gehört, weil das da unten schon ziemlich gefährlich sein kann. Manchmal sterben Leute, weil sie vom Gewicht überrollt werden. Die Gewichte halten für nichts und niemand an, weil sie so wichtig sind. Wenn der Ausgleich nicht funktioniert, kann das ganze Habitat kaputtgehen und dann sterben viel mehr Leute. Deswegen hatte ich ein bisschen Angst. Ich war davor noch nie im Keller.

Die Luke im Garten von der Klinik war ein total normaler Wartungsschacht. Robb hielt sein Handi an den Scanner und die Schleuse ging auf. Wir kletterten runter und Robb wär fast von der Leiter gefallen. In der Schleuse nahmen wir uns dann zwei Sauerstoffgeräte aus dem Schrank. Ich war so aufgeregt, dass ich mich nicht mehr erinnerte, wie man die Maske richtig aufsetzt.

„Die Luft hier darf man einfach so nehmen,“ sagte Robb, solange die Schleuse pumpte und er mir mit der Maske am helfen war, „die werden automatisch nachgefüllt.“ Das wusste ich aber. Sauerstoffflaschen sind in IZ immer umsonst und für alle erlaubt. Sie dürfen auch nicht verkauft werden und wenn sie leer sind, muss man sie zurückgeben. Es ist verboten, mit Luft Geld zu machen.

Dann war die Schleuse fertig und wir gingen runter.

Der Keller besteht aus langen Tunneln mit einem kreisförmigen Durchschnitt. So wird die Belastung optimal verteilt. Die Tunnel haben ziemlich hohe Decken, weil die Gewichte reinpassen müssen und die sind relativ groß.

Durch den Keller liefen wir sehr lang. Die Tunnel sehen alle gleich aus, aber Robb hatte eine Karte auf dem Handterm. Die zeigte ihm auch an, wo die Gewichte sind, deswegen konnten wir ihnen aus dem Weg gehen. Nur manchmal hörten wir sie rollen.

Robb war ziemlich langsam mit seinen Prothesen und ich war langsam, weil ich so müde war. Aber irgendwann gingen wir wieder nach oben. Niemand hatte uns erwischt.

Oben hatte ich kurz Angst, weil da eine Frau auf uns wartete und sie nahm Robb seine Tasche ab, damit er leichter rausklettern kann. Er merkte, dass ich mir Sorgen mache und sagte: „Das ist Willi, die hilft mir manchmal.“

Willi brachte uns zu ihm nach Hause. Sie fragte mich ein paar Sachen und ich fand sie nett, aber ich war zu aufgeregt, um richtig mit ihr zu reden.

„Robb ist ein ganz Lieber,“ sagte sie an einer Stelle. „Ist zwar nicht unbedingt typisch, dass er sich irgendwelche Streuner mit nach Hause nimmt,“ da lachte Robb ein bisschen und Willi grinste, „aber ich kann mir schon denken warum.“

„Ja“, sagte Robb und ich wusste nicht, was er meinte. Aber zu mir sagte er: „Das hat nix mit dir zu tun. Es ist so ein Ding zwischen uns.“

Das beruhigte mich ein bisschen, weil ich wusste ja nicht, ob er nicht irgendwas Komisches mit mir vorhatte. Ich dachte, dass er bestimmt mit ihr zusammen sein muss oder so und ich fand es gut, dass er schon eine Freundin hatte.

Aber nachdem wir bei ihm zuhause angekommen waren, ging sie wieder und ich sah sie Ewigkeiten lang garnicht mehr. Es war nämlich garnicht seine Freundin.

Tuniriam

Obwohl mir beim Lesen der Nachricht sofort Tausend Fragen durch den Kopf schossen – Bist du wieder zu Hause? Wo warst du die letzten Wochen? Wohnst du nicht alleine? Seit wann lädst du dir Gäste in die Wohnung ein? Woran arbeitest du, dass du ausgerechnet mich dafür brauchst? –, musste ich meinen guten Freund auf den nächsten Tag vertrösten. Um mich bis dahin einigermaßen erholen zu können, steckte ich mir nach der Mahlzeit umgehend ein Paar Stöpsel in die Ohren und machte meine Augen zu.

Es dauerte mehrere Stunden, bis der Schlaf kam. Die Wartezeit war eine gewohnte Tortur, denn trotz der speziellen Matratze schmerzte mein Rücken, weil ich seit Beginn meiner Krankheit fast den ganzen Tag lang liegen musste. Selbst das Sitzen war mir regelmäßig zu anstrengend, egal, in wie viele Stützkissen ich mich bettete.

Nach vier Jahren in diesem Zustand, hatte ich mich einigermaßen damit abgefunden. Ich hatte gelernt, Trost und manchmal sogar Genuss in den wenigen angenehmen Eindrücken zu finden, die mein erkrankter Körper mir gewährte.

Mit einer Meditationstechnik, welche ich selbst erfunden hatte, entspannte ich mich, bis ich mich fühlte wie eine warme, lebendige Pfütze in einer dünnen Gummihaut. Beim Einschlafen verlor ich nicht das Bewusstsein. Ich spürte, wie mein Körper die Grenze zum Schlaf überschritt, wie Herzschlag und Atmung langsamer wurden, und wie ich nach und nach die Verbindung zu meiner Muskulatur verlor. Erst dann kam der vertraute Nebel des Schlafes.

Es war eine bewusste Entscheidung, jedes Mal. Entweder konnte ich liegen bleiben in meiner Paralyse, die keinen erholsamen Schlaf darstellte, oder ich konnte diesen Schritt machen, hinein in den Nebel und die Traumwelt. Ich ging.

Wieder schwebte ich in jenem substanzlosen Dampf. Die ersten Sekunden waren meist lähmend, aber sobald ich mich akklimatisiert hatte, verflog dieser Eindruck der Bewegungsunfähigkeit. Um mich sah ich nur schwimmendes Weiß, aber es war keine Leere. Da war so Vieles, das ich nicht sehen oder hören konnte, aber ich spürte es: Tausende von Gedanken, Tausende von Toren, und irgendeines davon würde sich bald für mich öffnen. Ich betrat einen der unsichtbaren Eingänge und spürte, wie sich das Traumtor hinter mir schloss.

Vor mir fiel nun helles Licht auf strenge graue Türen und abgenutzten Kunststoffboden. In der Luft hing ein Geruch, der mir augenblicklich offenbarte, an was für einem Ort ich mich befand: Schweiß, Putzmittel, Filzstifte und Essen. Es war eine Schule. Am Ende eines unwahrscheinlich langen Flures erblickte ich eine nach oben führende Treppe, welche auf unmögliche Weise breiter war als der Gang selbst. Nebel floss die Stufen herab.

Meine erste Handlung war, wie immer, mich selbst zu begutachten. Jeder Traum verlieh mir ein anderes Aussehen und jedes Mal versuchte ich, daraus abzulesen, was er mir sagen wollte. Heute war ich… ein Kind. Winzig war ich. Meine blaue Latzhose war schmutzig, als hätte ich im Dreck gespielt, und ich hatte langes, blondes Haar. Blond! Ich musste lachen. Auf dem Rücken trug ich einen Rucksack, der zwar leer, aber trotzdem unheimlich schwer war.

„Hast du Klaus schon gesehen?“

Durch einen Türspalt sah ich ein kleines, helles Gesichtchen. Große, besorgte Augen schauten mich berechnend an.

„Wer ist Klaus?“ fragte ich zurück, während ich meinen Rucksack zurecht rückte. Meine Stimme war hoch und dünn. Es war mir beinahe unangenehm.

Jetzt öffnete das Kind die Tür weiter. Es trug ähnliche Kleidung wie ich, aber seine Latzhose war nicht blau, sondern schwarz, und seine Haare waren kurz geschnitten. Ein Junge, dachte ich, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, und noch etwas kleiner als ich in diesem Traum. Mit einem Wink forderte er mich auf, ihm in den Raum zu folgen, der sich beim Durchschreiten der Tür als ein Klassenzimmer entpuppte, wie sie eigentlich nur für ältere Kinder gedacht waren. Unter dreizehn Jahren gingen die meisten Kinder nicht zur Schule, sondern lernten in kleineren, freier gestalteten Lerngruppen.

Der kleine Junge schien sich hier zu Hause zu fühlen. Mit einem schüchternen Lächeln vergewisserte er sich, dass ich ihm folgte, und setzte sich an eines der Tischterminals. „Das ist Klaus.“ Er tippte auf den Bildschirm und zeigte mir ein Foto: Es war ein schwarz-weißes Kätzchen. „Aber das ist nicht der Klaus, der ich meine. Die Kinder haben der Katze nur den Namen gegeben, weil Klaus gestorben ist.“ Wieder sah er mich an, im Gesicht eine zerbrechliche Mischung aus Hoffnung und Resignation. „Alle lachen mich immer aus, weil ich trotzdem mit ihm rede.“

Ich hatte keine Idee, was ich ihm darauf antworten sollte. „Wie gemein“, sagte ich schließlich, obwohl ich ahnte, dass es nicht war, was der Junge von mir hören wollte.

Mit einem theatralischen Seufzen, beugte er sich wieder über das Terminal und wischte sich durch die Menüs. Als Nächstes holte er ein Stufenfoto auf den Bildschirm. Eine ordentlich aufgestellte Gruppe verschwommener Gestalten in Kirchenanzügen starrte mich an. Der Darstellung nach, musste es eine konformistische Schule sein, wo getrennt nach binären Geschlechtern unterrichtet wurde, vielleicht sogar eine Klosterschule, welche den Schwerpunkt auf christliche Inhalte legte und von den üblichen Lehrplanbestimmungen befreit war. Warum ich von so einer Schule träumen sollte, konnte ich mir nicht erklären, schließlich war ich weder besonders religiös, noch hatte ich jemals eine solche Institution betreten.

Ein kleiner Finger wanderte über den Bildschirm. Unter der Berührung verwischten sich die schemenhaften Gesichter, als wäre es Fingerfarbe. „Das ist der richtige Klaus.“ Der Finger zeigte auf einen Jungen nicht ganz in der Bildmitte. Meine einfühlsame Antwort blieb mir im Halse stecken.

Verwundert blickte ich das neben mir stehende Kind an, das für mich scharf zu sehen war – ganz klar die Hauptperson des Traumes. Dann schaute ich wieder auf das Foto, auf all die Gestalten, die ich nur so ungefähr erkennen konnte, gerade gut genug, um zu wissen, dass es Teenager waren, deren Gesichter den ernsten Ausdruck von Kirchenschülern trugen – und auf das eine Gesicht, welches ich genau erkennen konnte. Klaus hatte braune Haare, blaue Augen, und obwohl er für das Foto nicht lächeln sollte, hatte irgend etwas ihn so sehr amüsiert, dass er sich das Grinsen angestrengt verkneifen musste. Zwischen seinen ersten Barthaaren hatte er sich einige Pickel aufgekratzt. Sie mussten sehr gejuckt haben, denn die Spuren der Fingernägel sah man immer noch.

Es war ein Foto, eine Momentaufnahme, statisch und unbewegt, aber ich hätte schwören können, dass Klaus kurz davor war, den Mund aufzumachen und mich anzusprechen. Ein Schauer fuhr mir über den Nacken. Beunruhigt nahm ich Abstand von dem Bildschirm, aber ich konnte meinen Blick nicht vom Foto lösen.

„Du siehst ihn auch, oder?“

Plötzlich war der Atem in meiner Lunge eiskalt. Mein einziger Gedanke war glasklar: Ich musste hier weg.

Der kleine Junge jedoch schaute mich mit freudiger Aufregung an und rief: „Ich wusste es!“

Ich drehte mich um und rannte, so schnell meine kurzen Beine es zuließen, raus in den Gang und die große Treppe hinauf, direkt in den Nebel, aber das Gefühl von Gefahr und Grauen folgte mir sogar durch die unsichtbare Pforte. Es klebte in meinen Adern wie Jahre alter Kaugummi unter einer Tischplatte.

Die Krankheit

Otogo

Wenn man von IZ133 kommt, merkt man auf 211 als erstes: Das ganze Habitat ist grün. Auf 211 wird der Großteil der Sauerstoffproduktion von dekorativer Begrünung geleistet. Für die Förderung der Pflanzenpopulation stehen den Bewohnern verschiedene Angebote zur Verfügung.

Das heißt, dass echt absolut alles mit Pflanzen überwachsen ist. Hauswände, Dächer, Zäune, Spielplätze, alles ist komplett grün und hat Blätter. Verschnitt und Laub wird von der Habitatsverwaltung gesammelt und verwertet. Die Leute kriegen sogar Geld dafür. Das war auf 133 alles nicht so.

Als ich von zuhause losgegangen bin, hatten meine Pflegeeltern mir gesagt, dass ich auf 211 bestimmt nicht klarkomme, weil die Leute dort ganz anders sind.

Es ist ja eigentlich alles dasselbe Land, aber trotzdem ist es auf jedem Habitat ein bisschen unterschiedlich. Die Gesetze sind überall die gleichen, aber manche Sachen können die Habitate selbst bestimmen, zum Beispiel Unterrichtspläne und Sozialangebote. Jedes Habitat hat eine eigene Regierung und die Regierungen zusammen wählen die IZ-Regierung.

Ich fand den Unterschied nicht so krass. Manche Wörter sind ein bisschen anders, zum Beispiel hat Robb gelacht, als ich zum ersten Mal „fatzen“ sagte, weil er das Wort garnicht kannte, dabei ist er ein Reporter. Er wusste nicht, dass das einfach nur was essen heißt. Dafür wusste ich nicht, dass eine „Kolter“ einfach nur ein komisches Wort für eine Flauschdecke ist und ich hatte mich im Wohnheim erstmal blamiert, weil ich so einen Musiker nicht kannte, der auf 211 ganz berühmt war, weil auf 133 war der allen egal. Aber sonst ist es nicht sehr anders.

Die Leute auf 211 sind ein bisschen entspannter als auf 133 und man kriegt nicht ganz so schnell Stress mit irgendwelchen Fremden auf der Straße. Außerdem sind die Häuser viel schöner als auf 133. Es gibt mehr kleine Häuser und weniger riesen Wohnkomplexe. Überall sind lauter Parks und Gärten. Alles ist sauber und keiner schläft zwischen den Gebäuden in der Gasse.

Die Form vom Habitat ist trotzdem gleich wie 133. Die meisten Habitate in der IZ-Flotte sind genauso aufgebaut: Die Trommel ist ungefähr hundert Kilometer lang und hat zehn Kilometer Durchmesser. Weil sie so lang ist, sieht sie von außen mehr so aus wie ein Stäbchen als wie ein Zylinder und die Enden sind rund. Wenn man die hochgeht, wird die Schwerkraft immer weniger.

Und da oben, ungefähr bei 50 Prozent, hatte Robb seine Wohnung. Das ist so zwei Kilometer oberhalb von der Seitenwand. Es dauert über zehn Minuten, bis man mit dem Aufzug da hochkommt.

Robb hatte sogar einen Balkon. Von dem aus könnte man theoretisch das gesamte Habitat sehen, aber die Luft ist nie so klar, dass das geht und die beiden Hauptlichter sind eh zu hell.

Nur nachts sieht man die ganzen Lichter hinter den Fenstern und die Straßenlaternen, die extra für Fußgänger und Radfahrer angehen. Das sieht dann so aus, als würden kleine leuchtende Raupen die Trommel langkriechen.

Ich find es immer cool, eine Trommel so zu sehen. Da wirkt es weniger wie eine Decke über dem Kopf und mehr wie eine lange Röhre. Was es ja eigentlich auch ist.

Da oben war alles irgendwie weniger: weniger Licht, weniger Schwerkraft, weniger Luft, weniger Pflanzen, weniger Geschäfte, weniger Verkehr und weniger Leute.

Für die ersten Tage durfte ich einfach nur schlafen. Robb brachte mir sogar was zu essen und neue Klamotten. Ich kriegte das Sofa. Wenn man die Rückenkissen runterwarf, war es groß genug. Am Anfang vertraute ich ihm noch nicht, deswegen wollte ich ihm nicht erzählen, was mir passiert war, aber er war mir nicht böse deswegen. Als ich mich ein bisschen besser fühlte, weil ich mich erholt hatte, wollte ich abhauen, damit mich niemand finden kann. Ich wusste nicht, dass er mir wirklich helfen wollte.

Aber er erwischte mich zum Glück, als ich dabei war, mein Zeug in eine Einkaufstasche zu packen.

„Du brauchst keine Angst zu haben, dass sie dich holen,“ sagte er, „solang du bei mir bist, zählst du als Informantin. Wir haben Schutzgesetze für Whistleblower und ich kann ganz gut begründen, wieso du bei mir am besten aufgehoben bist.“ Bestimmt war es offensichtlich, wovor ich Angst hatte, weil er sagte danach noch so: „Du darfst hier kommen und gehen, wie du willst. Du bist hier keine Gefangene, sondern mein Gast, aber diese Wohnung ist im Moment wahrscheinlich der sicherste Ort für dich.“

Wir redeten noch ein bisschen und am Ende legte ich mich wieder schlafen, weil ich war super müde. Am Tag danach schenkte er mir einen großen Rucksack mit verschiedenen Sachen drin. Sogar ein Pass für zwei IZ-Stationshopser war dabei, auch wenn er mir das erst erklären musste. Ich wusste nämlich nicht, dass es die auch auf Chips gibt, damit man anonym reisen kann. Das geht aber nur innerhalb von IZ. Aus der Flotte raus kommt man damit nicht.

„Falls du es hier doch nicht mehr aushältst, bist du so zumindest gut ausgestattet“, erklärte Robb. Mich hatte noch nie vorher jemand so gut verstanden.

Tuniriam

Es hatte gerade neun Uhr morgens geschlagen, als ich mich auf den Weg zu Robb machte. Das Haus meiner Familie war im Kreuzviertel gelegen, einer ruhigeren Zone in der Osthälfte der Trommel zwischen dem heckseitigen Ideallichtgürtel und der Endkappe.

Das heckseitige Hauptlicht befand sich um diese Uhrzeit beinahe senkrecht über mir. Abends, wenn die gigantische Lampe am Zentrum angekommen war und sich zur Dämmerung abdunkelte, konnte ich gelegentlich, sofern der Dunst und die Wolken es zuließen, direkt bis Rubstadt schauen – zwölf Kilometer weiter Richtung Heck und außerdem ungefähr sieben Kilometer über meinem Kopf.

Ich wusste schon seit Langem, dass Robb in Rubstadt wohnte, lediglich seine genaue Adresse hatte er mir nie gegeben. Er sagte, er würde generell niemandem diese Information verraten. Ich hielt ihn für übervorsichtig, aber ich sah auch keinen Grund, ihm seine Eigenarten übel zu nehmen.

Ich kannte Robb als Journalisten bei einer lokalen Nachrichtenagentur. Mit einer guten Million fester Einwohner_innen war IZ211 gerade noch klein genug, dass man hin und wieder mit den örtlichen Reporter_innen zu tun haben konnte, wenn man zufällig an irgend etwas Interessantem beteiligt war, und mit seinem Rollstuhl und der tätowierten Glatze war Robb so prägnant, dass ich ihn bereits kannte, bevor wir jemals miteinander sprachen. Durch sein Aussehen sowie durch seine kontroversen politischen Positionen, machte er sich zu einem Außenseiter, der den Presseausweis wie einen Schutzschild vor der Brust trug.

Näher kennengelernt hatten wir uns im Rahmen meiner eher kurzlebigen Beteiligung im Arbeitskreis Unheilbar, wo diejenigen Behinderten, denen mit den verfügbaren medizinischen Mitteln nicht zu helfen war, sich zusammentaten, um für Akzeptanz und Rechte zu kämpfen, obwohl wir uns nicht in die Gesellschaft unserer Nation einfügen konnten. Ich war für selbst diesen Aktivismus schnell zu krank geworden, aber Robb hatte mich, anders als alle anderen Menschen aus meinem früheren Leben, nicht irgendwann einfach vergessen, sondern hatte sich unregelmäßig, aber beharrlich immer wieder bei mir gemeldet, und so war eine lockere, aber verlässliche Freundschaft daraus geworden.

Darüber dachte ich nach, als ich über große, graue Steinplatten, zwischen den Häusern entlang, zur zwei Kilometer entfernten Haltestelle rollte. So früh morgens war viel los: Die Fahrradspur rauschte nur so vor Verkehr und auf dem breiten Fußweg musste ich immer wieder anhalten und warten, bis die Fußgänger_innen mit ihren langsamen Beinen mir den Weg frei gemacht hatten. Links und rechts der Straße waren die Wohnhäuser allesamt mit grünem Blättergeflecht bedeckt. Hecken oder mit Kletterpflanzen überwachsene Zäune säumten großzügige Gärten, in denen üppig gepflegte Vegetation die täglich kürzer werdende Beleuchtungszeit dankbar auskostete. Bald müsste es Zeit für den Winter sein, doch nach vier Jahren im Bett, hatten Jahreszeiten genauso wenig Bedeutung mehr für mich wie Kalendertage.

Mein Rollstuhl brachte mich leise surrend in die voll besetzte Straßenbahn, in welcher die anderen Fahrgäste mir widerwillig murrend Platz machten und mir beim Vorbeigehen ihre Taschen ins Gesicht stießen.

Dennoch war ich dankbar, dass ich zumindest diesen Teil der Strecke mit der Bahn fahren konnte, denn für die zweite Etappe war das nicht der Fall. Die einzige Verbindung nach Rubstadt involvierte die Längsbahn, in die ich nicht einsteigen konnte. Da die Längsbahn im Niederdruckbereich fuhr, wurde sie durch eine Luftschleuse mit dem Bahnsteig verbunden – und diese hatte auf beiden Seiten eine Stufe und auf keiner eine Rampe. Einmal hatte ich eine eigene Rampe mitgenommen und dafür eine Verwarnung und ein Bußgeld kassiert, da die unbefugte Manipulation öffentlicher Verkehrsmittel verboten war. Dass ein Stück Aluminium auf dem Fußboden keinen Schaden verursachte, hatte die Verkehrspolizei nicht interessiert.

Die stufenfrei erreichbaren oberirdischen Bahnen fuhren lediglich tangential über die Trommel, und somit gab es kein Verkehrsmittel, welches mich in meinem Rollstuhl näher ans Heck oder den Bug des Habitats bringen konnte. Das war besonders ironisch, wenn man sich vor Augen führte, dass der Umfang der Trommel nur gute dreißig Kilometer bemaß, die Länge jedoch volle einhundert. So blieb mir für längere Strecken nur die Wahl, auf meinen klapperigen Transportrollstuhl umzusteigen, der sich im Gegensatz zu meinem Hundert Kilo schweren Gefährt einfach über die Kante heben ließ, und mich schieben zu lassen. Wenn ich eigenständig nach Rubstadt wollte, bedeutete es zwölf Kilometer Fußweg.

Im Fahrradmodus schaffte mein Rollstuhl das in etwa einer Stunde. Der Schalter löste eine Reihe von Veränderungen aus: Die Hinterachse wurde noch weiter nach hinten verschoben und die Räder wurden leicht angewinkelt, um bei fünfzehn Stundenkilometern ausreichende Fahrstabilität zu erzielen. Mein Sitz fuhr ganz nach unten und die Rückenlehne klappte sich zurück. Das Display zeigte eine Warnung an: Da ich keinen Helm trug, würde jegliche Kopfverletzung im Falle eines Unfalls als meine eigene Schuld betrachtet werden und ich würde mich nicht für einen Arbeitsausfallsausgleich qualifizieren. Ohne geschlossenen Anschnallgurt, durfte ich in diesem Modus gar nicht losfahren, aber dagegen hatte ich nichts. Ich war unvorsichtig, aber nicht unbedingt lebensmüde.

Am Display auf der Armlehne programmierte ich die Route ein, manövrierte mich durch das Fußvolk auf die Fahrradschnellspur und lehnte mich zurück.

Für die Schnellspur war ich unendlich dankbar, denn hier konnte ich die Automatik tatsächlich benutzen. Auf Fußwegen musste ich notgedrungen immer selbst lenken, weil schlichtweg zu viel los war und es zu viele Hindernisse und Unterbrechungen gab, auf die ich schnell reagieren musste, und zwar anders, als die Automatik es tun würde. Wenn Radfahrer_innen von der Seite kamen, waren diese eigentlich verpflichtet, für Fußgänger_innen anzuhalten – aber der Rolli war für sie entweder unsichtbar oder eine Zielscheibe, ganz sicher war ich mir da teilweise nicht. Daher setzte ich auf Fußwegen die Automatik nur im äußersten Notfall ein.

Ich hatte auch zu viele schlechte Erfahrungen gemacht: unzählige sinnlose Auseinandersetzungen, viele brenzlige Situationen, die beinahe zu einem Unfall geworden wären, weil die Steuerung nicht begreifen wollte, dass die Radfahrer_innen wirklich nicht vorhatten, abzubremsen, sowie ein vollendeter Unfall bei ungefähr null Komma acht Stundenkilometern. Laut hupend, war der Rollstuhl nach einem verwirrenden Tanz in einer Kreuzung mit dem Vorderreifen eines zum Stillstand gekommenen Fahrrades kollidiert. Ich war so müde gewesen, dass ich mich nicht getraut hatte, einzugreifen. Die Radfahrerin war sofort auf mich losgegangen und hatte voller Wut versucht, mir die Armlehne abzureißen.

Seitdem benutzte ich die Automatik nur noch auf der Schnellspur, denn diese war absolut simpel: Es ging ausschließlich geradeaus, es gab keinen Querverkehr – dieser wurde mittels Brücken über die Spur hinüber geführt – und die anderen Verkehrsteilnehmer_innen hielten alleine schon aus Selbstschutz Abstand von meinem Gefährt. Dennoch war es anstrengender und langsamer, als die Bahn gewesen wäre, und ich nutzte die Funktion nur, wenn mir keine andere Wahl blieb.

Otogo

IZ ist eigentlich ein bisschen scheiße. Manche Habitate sind weniger schlimm, aber so richtig toll ist es nirgends in dem Land. Ich bin echt froh, dass ich da nicht mehr bin.

Robb sagt, es gibt auch viel schlimmere Länder, aber es gibt bestimmt auch bessere.

Auf IZ sind viele Sachen verboten, die woanders total normal sind. Man darf zum Beispiel keine Kinder haben, wenn man mit niemand verheiratet ist. Und damit zwei Männer oder zwei Frauen sich heiraten dürfen, müssen sie sich einen Zettel holen, dass sie wirklich komplett lesbisch oder schwul sind und dass das nicht heilbar ist.

Aber manche Sachen sind auch ganz gut. Zum Beispiel gibt es sehr strenge Regeln für so Sachen wie Pressefreiheit und Redefreiheit. Leute dürfen auch nicht ohne Grund überwacht werden und Anonymität muss in vielen Lebensbereichen möglich sein. Das ist an vielen Orten ganz anders. Deswegen ist es auch nur ein bisschen scheiße und nicht so richtig scheiße.

Ich finde den ganzen Religionskram mega ätzend. Also mit Christentum hab ich eigentlich kein Problem, aber IZ ist konformistisch. Das heißt: Alle Menschen sollen möglichst gleich sein.

Die ganze Idee dahinter ist, dass die Unterschiede zwischen den Leuten weggelöscht werden sollen, damit alle perfekt sind. Es gibt so einen Bereich, der als normal angesehen wird, und wer da nicht reinpasst, wird halt trotzdem reingequetscht und es gibt nur wenige Ausnahmen wie mit den Lesben und den Schwulen.

Also eigentlich soll das alles freiwillig und ohne Gewalt passieren. Man darf Leuten nicht wehtun, nur weil sie zu anders sind. Aber da halten sich nicht alle dran und machen es trotzdem. Außerdem ist so Psychoterror immer noch erlaubt. Und das war das, was in der Klinik gemacht wurde. Psychoterror.

Ich ärgerte mich ziemlich, dass ich nicht in dem Heim geblieben war. Am Anfang kapierte ich noch nicht richtig, dass ich eigentlich nichts dafür konnte. Ich dachte: Irgendwas muss mit mir falsch sein, weil ich aus dem Heim weggelaufen bin. Und auch nicht nur einmal, sondern ein paarmal und jedes Mal hab ich Ärger gekriegt.

Im Heim waren sie nämlich total nett gewesen. Da gab es keinen Psychoterror. Niemand wurde angebrüllt oder fertiggemacht oder sonstwas, die Leute waren einfach nur superlieb und haben sich um uns alle gekümmert.

Aber die Alpträume waren der absolute Horror und ich konnte da einfach nicht bleiben. Tja, und dann bin ich mal nachtsüber in ein Haus in einem Park eingebrochen, weil ich dadrin schlafen wollte und deswegen kam der ganze Psychiatriekram.

Jedenfalls ist IZ nicht so toll. Aber halt auch nicht krass schlecht. Vielleicht ist es insgesamt irgendwie so mittel. Ein paar Sachen sind gut und ein paar Sachen sind schlecht und wenn man normaler ist, ist es besser. Aber ich bin halt absolut nicht normal.

Deswegen war ich auch froh, dass ich bei Robb wohnen durfte. Der war nämlich auch absolut nicht normal und ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben so ein Gefühl, wo ich dachte: Vielleicht ist das okay so. Normal sein ist überbewertet.

Tuniriam

„Moin“, grüßte Robb mich salopp, aber das freche Grinsen in seinem stoppelbärtigen Gesicht machte klar, dass er genau wusste, wie dringend ich ihm all meine Fragen stellen wollte. „Ich habe Kaffee für dich. Ich gehe davon aus, dass du dein Terminal privat geschaltet hast?“

Begierig folgte ich ihm in das Wohnzimmer mit der Küchenzeile und ließ dabei die Atmosphäre der Wohnung auf mich einwirken. In dieses Domizil eingeladen worden zu sein, fühlte sich an wie eine ganz besondere Ehre, die nur wenigen Menschen jemals zuteil wurde. Als Robb mich erwartungsvoll anschaute, nickte ich knapp. Ich kannte seine speziellen Anforderungen an Privatsphäre gut genug, dass es für mich schon selbstverständlich war, vor einem Treffen mit ihm die Kameras und Mikrofone meiner Geräte zu deaktivieren.

Wie üblich in kostengünstigen Wohnungen, waren die dünnen Leichtkeramikplatten der Wände mit einer zweckmäßig glatten Tapete überzogen, die fast genauso glänzte wie die schwarzen Fliesen auf dem Boden. In offenen Glasregalen stapelte sich Elektronik aller Art, die ich mir unbedingt später noch genauer ansehen wollte.

Im Vorbeirollen erspähte ich Teile von Drohnen, eine fragwürdige Anzahl von Handterminals, Zwickeln, Brillen und Armbändern in variablem Zustand zwischen aktiv und vollkommen zerlegt und, weniger überraschend, auch zahlreiche Kameras in allen möglichen Bauformen und -größen.

Auf dem Sofa war ein Bett gerichtet. Davor stand ein Rucksack, aus dem zerknitterte Kleider quollen. Jemand hatte definitiv hier geschlafen, aber der Gast war nicht zu sehen. Ein Ventilator blies lauwarme Morgenluft durch die geöffnete Balkontür herein.

„Du trinkst ihn mit Zucker, richtig?“

Bevor ich meinen Rundumblick gänzlich abgeschlossen hatte, wurde mir ein großer Becher in die Hand gedrückt. Ich legte meine Hand um das heiße Blech und hoffte, die Hitze würde meine Finger nach der langen Fahrt ein wenig entspannen.

„Was ist mit deiner Hand?“ wollte Robb sogleich wissen. Er war in seinem Rollstuhl nach vorne gerutscht und beschäftigte sich damit, die kurzen Prothesen an den Implantaten am Ende der Stümpfe zu installieren.

Robb war einmal ein großer Kerl gewesen. Nicht so groß, wie er geworden wäre, wenn er schon früher mit Testo angefangen hätte, denn er hatte lange kämpfen müssen, bis es ihm erlaubt wurde. Trotzdem war er relativ groß geworden – vor Allem aber breit. Mit Ende zwanzig hatte er das Pech gehabt, zu den ersten Personen in IZ zu gehören, die mit der Karnisoparensis infiziert wurden. Bis die Ärzt_innen verstanden hatten, was los war, war es zu spät für seine Beine gewesen, und sie mussten ihm beide oberhalb der Knie amputiert werden. Es war nicht der einzige permanente Schaden, den die Krankheit hinterlassen hatte, aber es war derjenige, der seinen Alltag ebenso drastisch beeinträchtigte wie seinen Status in der konformistisch geprägten Gesellschaft in IZ, welche Abweichungen von der idealisierten Norm aus Prinzip nicht tolerierte.

Robb blieb keine Wahl, als für seine Rechte zu kämpfen. Kompromisslos wählte er seine Hilfsmittel so, wie es für ihn am Besten war. Seine Prothesen benutzte er nicht gerne, um längere Strecken damit zurückzulegen, denn es waren kurze Stangen ohne Kniegelenk, die nur einen kleinen runden Fuß am unteren Ende besaßen. Ohne sie hatte ich ihn noch nie gesehen und ich vermutete, dass er sie immer trug, damit er aus seinem Rollstuhl jederzeit aufstehen konnte. Der Rollstuhl selbst war ein sportliches, manuell angetriebenes Gerät – viel bequemer als Prothesen bei seinem Gewicht, sagte Robb immer, wenn jemand fragte. Ob er mit den Tattoos vor seiner Krankheit oder erst danach angefangen hatte, wusste ich nicht. Sie markierten ihn unverkennbar als Teil einer unbeliebten Gegenkultur.

Erwartungsvoll sah er mich aus dunklen Augen an, während er mit den Händen über das blanke Metall der Prothesen fuhr, als würde er sich vergewissern, dass alles beim Rechten war.

„Äh.“ Schläfrig blinzelte ich, bis ich seine Frage verarbeitet hatte. „Ich kriege nur immer einen Krampf von dem Joystick.“

„Warum benutzt du nicht die PEC-Steuerung?“

Die Implantate hatte ich: kleine Elektroden im Schädel, mit denen man alle möglichen Geräte durch Gedanken steuern konnte – und mehr. Ich hatte sie damals für meine Ausbildung bekommen, um unsere Wartungsdrohnen aus der Ferne lenken zu können, als wären sie mein eigener Körper. „Nicht besonders gut, wenn man nicht wach bleiben kann“, erklärte ich knapp. „Ich mag nicht im Traum ein paar Fahrräder umnieten.“

Robb lachte laut, verriegelte seine Bremsen und stand auf. „Wenn du willst, kann ich dir ein Sicherheitssystem programmieren, das im Schlaf die Steuerung ausschaltet.“

„Das wäre theoretisch eine gute Idee,“ erwiderte ich, wobei ich in den Dampf blickte, der wie Nebel über meiner Tasse hing, „aber ich träume manchmal auch, wenn ich wach bin.“ Das Thema war mir unangenehm, darum sah ich ihn herausfordernd an und fragte ihn direkt: „Ich bin aber bestimmt nicht hier, um über meine Krankheit zu reden.“

„Eigentlich schon“, antwortete Robb nachdenklich, ohne meinen Blick zu erwidern. Gedankenverloren schüttete er den Rest aus der Kaffeekanne in seine eigene Tasse. Der letzte Tropfen brachte sie beinahe zum Überlaufen. Erst, nachdem er etwas davon abgeschlürft hatte, wandte er sich wieder mir zu und grinste dabei frech bis über beide Ohren. „Ich weiß,“ lachte er, „ich spanne dich unnötig lange auf die Folter. Mein Gast ist gerade in der Dusche. Ich habe ihr gesagt, wann du kommst, aber sie braucht immer zu lange.“

„Wer ist denn dein Gast? Bist du nicht…“

„Ja, immer noch schwul. Nein, ich habe sie in der Psychiatrie aufgelesen. Bevor du fragst: Ich war dort für eine Story. Für einen Skandal, eher gesagt. Den habe ich auch gefunden. Der Report wird heute Abend veröffentlicht.“

Auf seinen kurzen Beinen tänzelte er in der niedrigen Rotationsschwerkraft in den Wohnbereich, um von der anderen Seite an die unterfahrbare Küchenarbeitsplatte zu treten, die gleichzeitig als Esstisch diente. Er verschob den Stuhl, damit ich mit meinem Rolli den freien Platz nehmen konnte, und setzte sich selbst vor sein Tischterminal. Zu meinem Entsetzen, stellte er die Tasse einfach darauf, als sei ihm völlig egal, ob er es zerkratzen oder übergießen würde.

Wir plauderten gerade über unsere üblichen Themen – Sozialpolitik, Religionskritik und so weiter –, als er unvermittelt aufstand. Erst, als ich mich überrascht nach ihm umdrehte, sah ich durch die Balkontür, dass das Licht blau geworden war. „War etwas angekündigt?“ fragte ich verwirrt. Ich hatte keine Ahnung.

Dann war ein sanfter Ruck zu spüren, weniger durch den Boden, als dass sich plötzlich die Schwerkraft für einen Augenblick zu verändern schien, was ein tiefgehendes Unwohlsein auslöste. Ich wusste nicht sofort, wie ich relativ zur Trommel orientiert war, deswegen konnte ich nicht einschätzen, was passiert war.

„Winter!“ kam die Antwort mit beinahe kindlicher Aufregung und zerstreute meine instinktive Angst. Robb stand auf dem Balkon, um in die Trommel hinein zu blicken. Ich wusste, dass man dort vom eigentlichen Vorgang nichts sehen würde, und zog stattdessen den Zwickel aus meiner Hemdtasche. Ohne Kamera und Mikrofon, war er nur mit den Fingern zu bedienen wie ein besonders armseliges Handterminal, aber es reichte aus, um zumindest ein paar Zeilen Text zu lesen. Im Feed waren verschiedene Ansichten verlinkt, aber das versuchte ich gar nicht erst, sondern rief direkt die Technische Informationsstelle auf, von der aus meine ehemaligen Kolleg_innen uns alle mit Hilfe von Zahlen, Kurven und Grafiken über den Status des Habitats informierten.

Als Robb wieder hereinkam, hatte auch er ein Terminal in der Hand. „Wie lange soll das Manöver dauern?“ fragte er mich, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen.

„Einen Tag, bis das Habitat gedreht und die Außenhülle abgebremst ist“, erklärte ich hilfsbereit. Er war offenbar zu faul, selbst nachzuschauen. „Danach haben sie einen Tag eingeplant, um in den Schatten der Solaranlage zu kommen, aber das Triebwerk wird nur für ein paar Minuten am Anfang laufen. Zum Abbremsen hängen sie vorne einen Schlepper dran.“ Es war eine elegante Lösung, um zu verhindern, dass wir das gesamte Habitat umdrehen mussten. „Dazwischen ist das Licht normal, außer beim Justieren. Übermorgen früh geht es dann wieder ans Andrehen.“

„Warum machen sie sich überhaupt den Ärger? Das Habitat kann doch auch manövrieren, wenn die äußere Hülle sich mitdreht.“

„Das ganze An- und Ausschalten von den Steuerdüsen macht sie ineffizient. Außerdem ist es, so nah, wie die Stationen alle beieinander sind, sehr wichtig, möglichst wendig zu sein. Zumindest so wendig, wie ein Megahabitat es eben sein kann“, ergänzte ich murmelnd mehr zu mir selbst.

„Ich hätte dich gut gebrauchen können, als ich noch Alltagsmeldungen schrieb,“ lachte Robb mit frech blitzenden Augen, „du erklärst immer alles so schön kurz und korrekt.“

„Schreibst du nicht immer noch Alltagsmeldungen?“ erwiderte ich verwirrt. Suchend blickte ich in sein liebenswürdiges Gesicht, aber er zwinkerte mich nur auf seine besserwisserische Art an und feixte: „Oh, das kriegst du auch noch raus.“

Robb und seine Rätsel. Ich hätte ihn gerne mit Fragen durchbohrt, bis ich herausfand, worauf er hinaus wollte (und ich wäre gnadenlos gescheitert), aber in diesem Augenblick kam eine zarte Stimme aus der anderen Richtung: „Hallo?“

Otogo

Nachdem ich ein paar Tage bei Robb gewesen war, fragte er mich, warum ich in der Psychiatrie gelandet bin. Wir hatten da eigentlich schon drüber geredet und ich hatte ihm erzählt, dass es wegen meiner Krankheit war. Ich wollte ihm da noch nicht sagen, dass ich auch ein bisschen Scheiße gebaut hatte, aber letztlich war das ja auch nur wegen meiner Krankheit gewesen.

Dann erzählte er mir, dass er in so einem Arbeitskreis ist für unheilbare Krankheiten. Deswegen dachte ich: Der kennt sich bestimmt aus. Und dann zeigte ich ihm meine Diagnosen und so. Aber ich sagte ihm noch nicht, was genau los war und von meiner echten Familie erzählte ich ihm auch noch nichts.

Meine Mutter hatte sich von meinem Vater scheiden lassen und deswegen musste sie mich dann abgeben und dann war ich in eine Pflegefamilie gekommen. Als ich noch kleiner war, war ich ihr ziemlich böse deswegen. Ich dachte: So schlimm kann es doch nicht sein, mit jemand zusammenzuwohnen, den man nicht mehr besonders mag. Sie hätten ja auch einfach eigene Zimmer haben können. Ich verstand das Ganze erst viel später so richtig, nämlich als ich krank wurde. Weil als das passierte, war er auf einmal da.

Ich hatte ihm garnichts gesagt, aber er war ja ein Arzt und konnte meine medizinischen Unterlagen einfach angucken, obwohl er das eigentlich nicht durfte. Es war ihm halt egal. Und dann stand er irgendwann einfach vor unserer Wohnung und brüllte meine Pflegeeltern an und dann wartete er auf mich und brüllte mich auch an und dann musste die Polizei kommen. Einmal wartete er auch vor dem Krankenhaus, als ich da einen Termin hatte, und da gab er mir eine ziemlich fette Ohrfeige. Und danach schrieb er mir noch tausend Nachrichten mit Kommentaren zu meiner Krankheit.

Meine Pflegeeltern meinten, ich muss halt mit ihm reden und er meint es nur gut. Aber die verstanden mich sowieso nicht. Deswegen war ich ja auch so froh, als ich von 133 endlich wegkonnte.

Danach war ich jedenfalls ein bisschen paranoid mit meinen medizinischen Unterlagen, deswegen zeigte ich Robb am Anfang auch nur ganz wenig davon. So richtig erklärte ich es ihm alles viel später. Aber ich fand es gut, dass er mich da nicht drängelte und nichts. Er guckte sich einfach an, was ich ihm zeigte, und das wars.

„Ich versteh nicht, warum sie dich bei sowas mit Depression diagnostizieren“, sagte er.

Ich fragte: „Warum nicht? Ich bin doch schon ein bisschen depri.“

„Klar, aber Depressionen verursachen nicht solche Symptome. Das geht doch garnicht.“

Das verwirrte mich total. „Aber die haben gesagt, dass das von der Depression kommt.“

Da sah er ziemlich müde aus. Ich glaub, an der Stelle saßen wir auf seinem Sofa. Er guckte auf das Handterm, was er mir gegeben hatte. Ich wollte nicht, dass er es anfasst, wenn da meine Dokumente drauf offen sind.