Die unglaubliche Flucht des Uriah Heep - H.G. Parry - E-Book

Die unglaubliche Flucht des Uriah Heep E-Book

H.G. Parry

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Beschreibung

Schon sein ganzes Leben lang hat der ebenso liebenswerte wie chaotische Literaturdozent Charley Sutherland versucht, seine einzigartige Begabung vor der Welt zu verbergen: Er kann Figuren aus Büchern zum Leben erwecken! Das ist toll, wenn es sich dabei um Pu den Bären handelt, und kompliziert, wenn plötzlich der Hund der Baskervilles in deinem Vorgarten sitzt. Nur Charleys Bruder Rob weiß von seiner Gabe. Deshalb läuten bei dem etwas biederen Anwalt auch sämtliche Alarmglocken, als er eines Nachts einen Anruf von Charley erhält und dieser ihm gesteht, er habe Uriah Heep, den Schurken aus Charles Dickens’ Meisterwerk »David Copperfield«, freigelassen. Und der hat nichts Geringeres im Sinn als das Ende der Welt. Gemeinsam versuchen Charley und Rob, Uriah zurück in den Roman zu verbannen, bevor er größeres Unheil anrichten kann. Doch dabei stoßen sie auf ein dunkles Geheimnis ...

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Seitenzahl: 838

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Das Buch

Als Rob Sutherland eines Nachts einen Anruf von seinem Bruder Charley erhält, der ihm mitteilt, er habe Uriah Heep freigelassen, läuten bei dem etwas biederen Anwalt sofort sämtliche Alarmglocken. Dass Charley, ein genialer Literaturprofessor und ausgewiesener Charles-Dickens-Experte, die magische Gabe besitzt, Figuren aus Büchern in die Realität zu beschwören, weiß Rob schon lange. Schließlich ist er mit Pu dem Bären im Kinderzimmer aufgewachsen und hatte in der Highschool einige unerfreuliche Begegnungen mit Sherlock Holmes. Doch Uriah Heep, der Bösewicht aus Charles Dickens‘ Roman David Copperfield, verfolgt einen finsteren Plan, und wenn es Charley und Rob nicht gelingt, ihn schleunigst wieder einzufangen und in seine Geschichte zurück zu verbannen, dann ist die ganze Stadt in Gefahr. Ihr Weg führt die beiden Brüder zu einer geheimen Straße mitten in Wellington, in der es vor literarischen Gestalten nur so wimmelt. Sie finden heraus, dass es außer Charley noch einen weiteren Beschwörer in der Stadt gibt. Einen Beschwörer, der eine Welt voll Dunkelheit und Kälte erschaffen will …

Die Autorin

H. G. Parry studierte Englische Literatur an der Victoria University in Wellington und unterrichtet heute Englisch sowie Film- und Medienwissenschaften. Sie hat bereits mehrere Kurzgeschichten veröffentlicht, bevor sie mit Die unglaubliche Flucht des Uriah Heep ihren ersten Roman schrieb. H. G. Parry lebt gemeinsam mit ihrer Schwester in Wellington, und natürlich ist ihre Wohnung vollgestopft mit Büchern.

H. G. Parry

Die unglaubliche Flucht des Uriah Heep

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Pfingstl

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

THE UNLIKELY ESCAPE OF URIAH HEEP

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 05/2020

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2019 by H. G. Parry

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-26016-3V001

www.heyne.de

Dieses Buch ist für meine Schwester:

Lehrerin, Autorin, Timelord, Jedi-Ritterin.

Danke für deine Weisheit, deinen Humor und deinen Mut.

Dr. Charles Sutherland, 26 Jahre

Notizen zum Artikel »Autobiografische Elemente in Große Erwartungen und David Copperfield«

Rolle von Erinnerung, Schuld, Ironie, selbstreflexiven Erzählstimmen.

Kind David als Opfer, direkt aus Dickens’ Erinnerungen entnommen; Kind Pip hingegen als Krimineller, teilweise ebenfalls auf autobiografischem Material basierend.

Vgl. Hodgins, insb. 267-289.

Ich weiß nicht recht. Manchmal ist es, als hätte sich mein Hirn, als ich ungefähr siebzehn war, so weit geöffnet, wie es eben ging, aber seitdem klemmen die Türen. Jetzt verknöchern sie und setzen Spinnweben an. Dinge fliegen herein, flattern eine Zeit lang umher und verschwinden dann wieder. Eines Tages, wenn die Türen sich langsam wieder schließen, sitze ich mit ein paar raschelnden Gedankenfragmenten, die wie Teeblätter mit jedem Aufguss immer dünner und schaler werden, allein im Dunkeln.

Und dann fühle ich mich wieder, als könnte nichts mich aufhalten.

Super, Charley. Das nennt man die

conditio humana

. Du solltest dich einfach wieder an die Arbeit machen.

Und was ist mit Uriah Heep? Wie passt er zu alldem?

1

Um vier Uhr morgens riss mich der Anruf meines jüngeren Bruders aus dem Schlaf. Er klang außer Atem, wie in Panik. Dieser ganz bestimmte Unterton, den ich nur allzu gut kannte, lag in seiner Stimme.

»Uriah Heep läuft im neunten Stock frei herum«, sagte er. »Und ich erwische ihn nicht.«

Ich war noch benebelt vom Schlaf, es dauerte ein paar Momente, bis die Bedeutung seiner Worte zu mir durchdrang. »Im Ernst, Charley?«, fragte ich, als es so weit war. »Schon wieder?«

»Ich habe Uriah Heep noch nie herbeigelesen.«

»Das stimmt, aber … du weißt schon, was ich meine.« Ich rieb mir die Augen und versuchte mich zu konzentrieren. Im Schlafzimmer war es stockdunkel und kalt, nur die Leuchtziffern des Digitalweckers spendeten etwas schummriges Licht. Ich hörte, wie Lydia sich neben mir mit einem Rascheln im Bett umdrehte, und hatte das Gefühl, zwischen zwei Welten zu schweben: der geistig gesunden, in der ich eingeschlafen war, und Charleys Welt, die durch den Telefonhörer nach mir griff. Es war ein vertrautes Gefühl. »Das ist Dickens, oder? Du weißt doch, dass du und Dickens nicht zusammenpassen … zumindest nicht besonders gut, oder wie auch immer man euer Verhältnis beschreiben soll. Ich dachte, du hättest dich in letzter Zeit auf Gedichte beschränkt. Auf diese postmodernen Satzgebilde, die sich lesen wie eine Mischung aus Lexikoneintrag und einem buddhistischen Mantra und denen kein Mensch auf der Welt einen Sinn abringen kann.«

»Es gibt kein Gedicht auf der Welt, in dem nicht irgendjemand einen Sinn erkennt.«

Ich war zwar immer noch nicht ganz wach, trotzdem bemerkte ich das Ablenkungsmanöver. »Du hast es versprochen. Du hast versprochen, dass es nie wieder passieren würde.«

»Ich weiß, und ich habe es auch so gemeint, und es tut mir leid.« Er flüsterte, wahrscheinlich, damit das Sicherheitspersonal nicht auf ihn aufmerksam wurde, das nachts über den Universitätscampus patrouillierte. Oder Uriah Heep. »Aber bitte, bitte, Rob, ich weiß, es ist spät, und du musst morgen zur Arbeit. Aber wenn man ihn morgens hier findet …«

»Schon gut, schon gut. Beruhige dich.« Ich verbarg meinen Ärger, so gut es ging. Es gab Zeiten, da musste ich Charley meinen Ärger spüren lassen, und es gab Momente, da würde ihn genau das zum Durchdrehen bringen. Jetzt war so ein Moment. »Bist du in deinem Büro? Bin schon unterwegs. Versuch inzwischen, ihn im Auge zu behalten. Sei in zehn Minuten unten an der Tür, und lass mich rein.«

Er seufzte. »Danke. Bei Gott, es tut mir wirklich leid, ich war nur eine Sekunde lang …«

»Zehn Minuten«, wiederholte ich und legte auf. Dann stieß auch ich einen Seufzer aus, lauschte, wie er in der Dunkelheit verhallte, und fuhr mir durchs Haar. Na ja. Es war ja nicht so, dass ich überrascht gewesen wäre.

Ich spürte, wie mich Lydia von der anderen Seite des Bettes besorgt-verschlafen musterte.

»Mein Bruder«, erläuterte ich. »Er hat gerade eine Krise.«

»Ist es schlimm?«

»Das kommt schon wieder in Ordnung.«

Lydia wusste nicht allzu genau, wie die Krisen meines Bruders beschaffen waren, aber es war nicht das erste Mal, dass er mich wegen einer anrief. Nicht einmal das erste Mal, dass er mich wegen einer mitten in der Nacht aus dem Bett klingelte. Ich habe keine Ahnung, wer ihm zur Seite gesprungen war, als er noch in England lebte, aber seit seinem Umzug nach Wellington schien ich so etwas wie seine Notfallhotline zu sein. »Er braucht mal wieder Hilfe bei einem Problem. Du kennst ihn ja.«

»Du hast morgen Früh eine Verhandlung«, rief Lydia mir ins Gedächtnis.

»Ich weiß«, erwiderte ich. »Und ich werde pünktlich sein. Leg dich wieder schlafen.«

»Du kannst nicht ständig seine Probleme für ihn lösen. Er ist sechsundzwanzig.«

»Ich weiß.« Lydia hatte recht. Charley musste lernen, allein mit diesen Dingen zurechtzukommen.

Aber Uriah Heep. Ich hatte nie etwas von Dickens gelesen, aber ich hatte so eine Art Instinkt für die Namen entwickelt, und dieser hier klang gar nicht gut.

Mein Bruder ist Dozent an der Prince-Albert-Universität in Wellington, die ich wie versprochen von zu Hause aus in ungefähr zehn Minuten mit dem Auto erreichen konnte, vorausgesetzt, ich zog mir nur Schuhe an und streifte mir einen Mantel über meinen Schlafanzug. Im Dunkeln ist die Strecke, die um die Innenstadt herum und dann hinauf in die Hügel von Kelburn führt, nicht ganz einfach zu finden. Ich verpasste eine Abzweigung und fand mich auf der falschen Seite des botanischen Gartens wieder. So ist Wellington mit dem Hafen auf der einen Seite und den Hügeln auf der anderen nun mal: Zu weit in die eine Richtung, und man landet im Wasser, zu weit in die andere, und man steht vor einem undurchdringlichen Dschungel, der bis hinauf in die Wolken reicht. Kein guter Ort für meinen Bruder, der schon sein ganzes Leben lang Probleme mit der genauen Bedeutung von »zu weit« hatte.

Der Universitäts-Campus liegt auf halber Höhe auf dem Kelburn-Hügel, die bunt zusammengewürfelten Gebäude zu beiden Seiten der Straße sind durch eine Brücke miteinander verbunden. Für neuseeländische Verhältnisse sind die Häuser hier schon sehr alt. Für Charley, der bis vor drei Jahren noch in Oxford war, wahrscheinlich nicht. Wenn man dort etwas als alt bezeichnete, bedeutete das, dass an dem Ort schon vor eintausend Jahren jemand studiert hatte. Als wir ihn einmal besuchten, konnte ich den tonnenschweren Staub jahrhundertealter Gemäuer und ­Gelehrsamkeit regelrecht spüren. Es gefiel mir nicht sonderlich dort. Es vermittelte zu sehr das Gefühl von alten Buchseiten. Die Prince-Albert-Universität ist knapp über hundert Jahre alt und wirkt immer noch, als wäre sie von Menschen erbaut. Die meisten Gebäude waren früher einfache Siedlerhäuser, und selbst den allergrößten sieht man noch an, wie die viktorianischen Kolonialherren versucht haben, die englische Heimat mit einfachen Mitteln nachzubilden. Wenn ich an Oxford denke, denke ich an einen ruhigen, friedlichen Sommerhimmel. Hier ist der Himmel nie ruhig und kaum jemals friedlich. In jener Nacht fiel leichter Regen, die Tropfen glänzten wie silbriger Nebel. Als ich aus dem Auto stieg, benetzte er sofort mein Gesicht, kalt und stechend wie Eis.

Charley musste die Tür zum Englisch-Department schon aufgerissen haben, bevor ich überhaupt ankam. Im Lichtschein des Korridors wirkten seine Augen übergroß, der Blick flehend. Die ungekämmten dunklen Locken und das ausgebeulte Sweatshirt ließen ihn kleiner und jünger erscheinen, als er tatsächlich war – darin ist er richtig gut. Was ihn aber auch nicht retten würde, denn diesmal würde ich ihn umbringen, ganz bestimmt. Nur nicht gerade jetzt, wenn er halb verrückt war vor Sorge.

»Er ist mir entwischt«, begann Charley sofort. Wie immer in solchen Momenten sprach er so schnell, dass ich ihn kaum verstand. »Ich habe versucht, bei ihm zu bleiben, aber ich musste dich anrufen, und … und das Handy war in meinem Büro, also bin ich hin, und als ich zurückkam und ihn wiederfinden wollte, war er …«

»Hey, nicht so schnell.« In meinem linken Schuh war ein Loch, das ich erst bemerkt hatte, als ich durch die Pfützen gelaufen war. Meine Zehen schmatzten unangenehm in der nassen Socke. »Hol erst mal Luft. Er wird ja wohl noch im Gebäude sein, oder? Er hat keine Schlüsselkarte, und die Ausgänge werden nachts verriegelt. Stimmt doch?«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Charley und atmete gehorsam einmal tief durch. Es half nichts. »Außer er schlägt ein Fenster ein, oder jemand hat eines offen gelassen …«

»Hast du irgendwas dergleichen gesehen?«

»Nein. Und ich habe in jedem Raum nachgesehen. Aber ich kann ihn nicht finden.«

»Wir finden ihn schon«, beruhigte ich ihn. »Mach dir keine Sorgen. Er ist nur ein garstiger Viktorianer ohne Augenbrauen.« Auf der Fahrt hierher hatte ich den Kerl gegoogelt, was wahrscheinlich mit ein Grund war, warum ich falsch abgebogen war. Anscheinend handelte es sich bei Heep um einen hässlichen, rothaarigen Schreiber, der nichts unversucht ließ, um die Hauptfiguren von David Copperfield ins Unglück zu stürzen. Und dann gab es da noch eine Hardrock-Band, die sich nach ihm benannt hatte und ziemlich cool klang. »Ist ja nicht wie damals, als du mit acht Graf Dracula aus seinem Buch gelesen hast.«

»Vampire haben Schwachpunkte«, entgegnete Charley düster. »Stoker hat sie eigens mit hineingeschrieben. Menschen sind weit weniger berechenbar.«

Da konnte ich leider nicht widersprechen. »Komm. Fangen wir in deinem Büro an.«

Ich hatte Charleys Büro noch nie betreten, aber es sah genauso aus, wie ich es mir vorgestellt hatte: ein einziges Chaos. Leere Tassen auf dem Schreibtisch und in den Regalen, Bücherstapel in allen Ecken und Winkeln und eine unter einem Berg handschriftlicher Notizen begrabene Computertastatur. Der durchgesessene Lehnstuhl neben dem Fenster war das einzige Möbelstück, das nicht komplett zugemüllt war. Wahrscheinlich weil Charley immer darauf saß, wenn er den Rest seines Büros zumüllte. Der Stuhl sah aus wie ein leerer Fleck mit Charleys Umrissen, wie ein mit Kreide aufgemaltes Männchen an einem Tatort.

Keine Spur von einem aufsässigen Dickens’schen Schurken. Aber unter dem Geruch nach Papier und kaltem Kaffee lag noch ein Hauch von dem Rauch und Nebel, den ich mit Dickens’ England zu assoziieren gelernt hatte.

»Was hattest du um vier Uhr morgens überhaupt hier zu suchen?«, fragte ich keuchend. Wir waren den ganzen Weg bis ins neunte Stockwerk zu Fuß gegangen, um Uriah Heep nicht auf uns aufmerksam zu machen. Außerdem quittierten die Aufzüge hier gern im ungünstigsten Moment den Dienst, wie ich noch aus meiner eigenen Studienzeit wusste, auch wenn die meisten meiner Vorlesungen am Jura-Institut im Stadtzentrum stattgefunden hatten.

Ich war noch nie im Englisch-Department gewesen. Es sah gruselig aus, so im Dunkeln, der Empfang war unbesetzt und die Korridore ein einziges Labyrinth aus Schatten.

»Ich habe einen Artikel fertiggeschrieben«, antwortete Charley. »Genau genommen habe ich ihn angefangen. Irgendjemand braucht ihn für eine Anthologie, er muss bis nächste Woche fertig sein, und ich … ich weiß auch nicht, eigentlich wollte ich etwas über die autobiografischen Elemente in David Copperfield und Große Erwartungen schreiben, aber dann fand ich es plötzlich hochspannend, wie Uriah Heep in David Copperfield als Sündenbock für bürgerliche Ängste verwendet wird und Dickens ihn als Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung konstruiert. Entsprechend genau habe ich gelesen und dabei intensiv über die Figur nachgedacht …«

»Und dann ist er aus dem Buch gesprungen«, beendete ich den Satz grimmig. Es war nicht das erste Mal, dass ich so eine Geschichte hörte. »Konntest du ihn nicht einfach wieder zurücklesen?«

»Er war zu schnell. Er wusste genau, was ich tun musste, und hat es einfach verhindert.«

Ich schüttelte den Kopf. »Du solltest nachts nicht mehr hier sein.«

»Ich bin total in dem Thema versunken.« Er klang entschuldigend. »Außerdem ist es besser, wenn ich allein hier bin, wenn so etwas passiert.«

»Vermutlich. Aber das Risiko, dass es passiert, ist umso größer, je müder du bist. Vor allem, wenn du in einem Thema versinkst.«

»Es war keine Absicht.«

»Schon gut.« Ich zog einen Zettel aus der oberen Hälfte des Notizstapels auf dem Schreibtisch. Er war mit der am wenigsten lesbaren Variante von Charleys Handschrift vollgekritzelt. BEACHTE S. 467, begann die erste Zeile. Lupenreines Klischee eines Schreibers … lupenreines Klischee eines Gefangenen … Heep ist eine wandelnde Parodie … wird genau zu dem, was die Menschen von ihm erwarten … Kommentar zur Heuchelei des 19. Jahrhunderts … Angst vor Kritzel-Kritzel … Gestalt-Kritzel … Kritzel Davids eigenem Kritzel … wie Orlick und Pip aus GE … Fitzwilliam schreibt darüber in Kritzel … »Du hast gesagt, du hast ihn dir als Bedrohung für die Gesellschaftsordnung vorgestellt?«

Charley nickte bedrückt.

Die Figuren, die er aus Büchern ins Leben rief, waren stets von seiner eigenen Interpretation gefärbt. Charley nennt das Postmodernismus in Aktion. Das Letzte, was wir jetzt brauchen konnten, war ein Uriah Heep, der eine Bedrohung für die Gesellschaft darstellte, und sei sie noch so theoretisch.

»Also dann.« Ich versuchte nachzudenken. Es war nicht einfach, immerhin hatte ich vor zwanzig Minuten noch tief und fest geschlafen. Im Gegensatz zu Charley war ich vor Sonnenaufgang kaum zu etwas zu gebrauchen. »Du kennst die Figur. Wohin könnte sie sich verdrückt haben?«

»Ich weiß es nicht. Im Buch kommt er nie auch nur in die Nähe eines Englisch-Departments. Ich fürchte, wir müssen ihn einfach suchen.«

»Charley …!« Ich konnte einen Wutausbruch gerade noch verhindern. Dabei war es diesmal mehr als bloße Wut. Ich hasste das. Ich hatte es schon immer gehasst, aber hier, in meiner Heimatstadt, hasste ich es noch mehr.

Ich sah aus dem Bürofenster. Jenseits des Campus fiel das Gelände steil ab, dahinter lag Wellington ausgebreitet wie eine Decke. In der Ferne sah ich die glänzenden Lichter der Innenstadt, dahinter den geschwungenen Hafen und das Dunkel des Ozeans. Alles außerhalb des Chaos, in dem mein Bruder arbeitete, sah so frisch, sauber und strahlend aus.

»Meinst du, wir sollten in der Bibliothek nachsehen?«, fragte Charley.

Ich zwang mich, mich zu konzentrieren. »Würde er dorthin wollen? Glaubst du, er würde in die Bibliothek gehen?«

»Möglicherweise. Ich habe keine Ahnung, wohin er möchte.«

Ich massierte mir die Stirn. »Charley, ich habe morgen einen wichtigen Fall. Um neun Uhr muss ich bei Gericht erscheinen. Das ist mein Job, von mir hängen Menschenschicksale ab. Ich kann nicht die ganze Nacht lang suchen!«

»Ich sagte doch, es tut mir leid! Ich weiß, ich hätte dich nicht anrufen sollen.«

»Du hättest gar keinen Grund haben sollen, mich anzurufen!« So viel dazu, meine Wut im Zaum zu halten. Das war noch nie meine Stärke gewesen. »Wie oft muss so etwas noch passieren? Halte deine Gedanken gefälligst unter Kontrolle, wenn du liest! Das kann doch nicht so schwer sein!«

»Vielleicht gehst du jetzt besser. Ich komme schon allein zurecht. Das hier ist nicht dein Problem.«

»Natürlich ist es mein Problem. Wie immer. Du machst es zu meinem Problem, indem du diese Wesen in meine Stadt und mein Leben holst.«

»Es war keine Absicht.«

»Es ist egal, ob es Absicht war oder nicht! Es passiert, und du tust es immer wieder.«

»Ich habe doch gesagt, ich komme allein zurecht«, wiederholte Charley. Sein Gesicht war hart geworden. »Ich hätte dich nicht herbitten sollen. Fahr nach Hause, Rob, im Ernst. Ich brauche deine Hilfe nicht.«

Ich hätte gehen können. Ich glaube nicht, dass ich es getan hätte, oder hoffe es zumindest. Doch ich war wütend und spürte, wie meine Wut mich langsam, aber sicher dazu brachte, genau die Dinge zu sagen und zu tun, die ich eigentlich vermeiden wollte. Um ein Haar hätte sie mich zur Tür hinausbefördert.

Dann warf ich Charley noch einen letzten Blick zu. Es war etwas in der Art, wie er seinen Kopf hielt, etwas in seinem Gesicht, das ich noch nie an ihm gesehen hatte. Etwas Hartes, Verschlagenes. Ein Blitzen in seinen Augen, das an Bosheit grenzte.

Ich dachte an Charleys Notizen. Mir wurde eiskalt.

Gestalt-Kritzel.

Hätte mein Bruder leserlicher geschrieben, wäre ich möglicherweise schon früher darauf gekommen.

Wie ich bereits sagte, sind die Schöpfungen meines Bruders immer durch seine Wahrnehmung gefärbt. Manchmal ist es nur eine Nuance und leicht zu beherrschen, ein leicht veränderter Charakter oder ein etwas unscharfes Äußeres. Aber manchmal gehen die Veränderungen tiefer, und je intensiver Charley sich mit Literaturtheorie beschäftigt, desto seltsamer werden die Veränderungen. Merkmale, die im Text nur metaphorisch zu verstehen sind, werden plötzlich konkret, und das manchmal auf gefährliche Weise. So kann eine schüchterne Figur plötzlich unsichtbar sein oder eine schlecht geschriebene gesichtslos. Das Phantom der Oper lief stets in eine Wolke aus Dunkelheit gehüllt umher, und alles, was Charley dazu zu sagen hatte, war, dass er gerade an einer halbgaren Theorie über schriftstellerisches Versagen gearbeitet und einen Moment lang die Konzentration verloren hatte.

Soweit ich weiß, gibt es in Dickens’ Geschichten keine Gestaltwandler. Doch Charleys Uriah Heep war eindeutig einer. Seit ich das Gebäude betreten hatte, stand er direkt vor mir.

»Wo ist mein Bruder?«, knurrte ich.

Der Kerl, der nicht Charley war, sah mich verwirrt an. Er machte seine Sache gut. Die kleinen Fältchen um die Nasenflügel sahen perfekt aus … aber das spielte keine Rolle. Ich wusste Bescheid.

»Wovon redest du, Rob?«

»Sie haben gar nicht unten an der Tür auf mich gewartet.« Ich merkte, wie sich die Puzzleteile allmählich zusammenfügten wie an einem guten Tag im Gericht, wenn ein Zeuge der Gegenseite im genau richtigen Moment genau das Falsche sagte. »Sie waren da unten und haben versucht, rechtzeitig vor meiner Ankunft wieder zu verschwinden. Kurz nach seinem Anruf haben sie Charley aus dem Verkehr gezogen und ihm seine Schlüsselkarte gestohlen. Aber ich war zu früh da, oder? Sie mussten mich reinlassen und den Bluff durchziehen. Deshalb haben Sie gesagt, ich sollte gehen. Deshalb haben Sie versucht, einen Streit zu provozieren. Sie wollten, dass ich von hier verschwinde und Sie allein lasse, damit Sie abhauen können.«

Er schüttelte den Kopf. »Rob, das kann unmöglich dein …«

»Sie sollten mich besser kennen«, unterbrach ich. »Oder Charley sollte mich besser kennen. Ich schätze, Sie kennen mich aus seinen Erinnerungen. Ich würde ihn nie im Stich lassen, nur weil er mir auf die Nerven geht.«

»Es wäre nicht das erste Mal«, warf Charley ein.

Mein Magen krampfte sich zusammen, weil ich genau wusste, was er meinte. »Nein, wäre es nicht«, räumte ich ein. »Was genau der Grund ist, warum ich es nie wieder tun werde. Wo ist er?«

Ich wartete nicht, bis der Hochstapler mich erneut anlog, und schob mich an ihm vorbei in den Korridor. »Charley!«

Das einzige Licht kam aus Charleys offen stehender Bürotür. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich glaubte, eine leise Antwort zu hören.

»Nun gut.« Die Stimme in meinem Rücken klang nicht mehr wie die meines Bruders. Ich wirbelte herum und sah, dass das Gesicht auch nicht mehr das meines Bruders war.

Nur fürs Protokoll: Uriah Heep war ein wirklich hässlicher Kerl. Er sah aus wie ein Totenschädel – wie eine Leiche, hieß es im Internet, glaube ich – und der Körper darunter war genauso knochig: hoch aufgeschossen, blass und dürr, das rote Haar weit kürzer geschoren, als es meiner Meinung nach bei den Viktorianern Mode gewesen sein konnte, dazu rötliche Augen ohne Wimpern oder Brauen. Seine Jeans und das Sweatshirt hatten sich in einen schwarzen Frack verwandelt, als wäre er auf dem Weg zu einer Beerdigung, und seine Glieder zuckten, als hätte er sie nicht ganz unter Kontrolle. Aus irgendeinem Grund erinnerte mich der Anblick an den Baum, der hinter dem Haus meiner Eltern stand. Weit mehr interessierte mich allerdings das Messer in Heeps Hand. Es war ein Teppichschneider, Heep reckte ihn mir entgegen wie einen Dolch.

»Ich hätte es besser wissen sollen, Master Robert«, erwiderte er. »Zu glauben, ein so geringer Mann wie ich könnte einen Gentleman von Ihrem gesellschaftlichen Rang und mit so hervorragender Bildung hinters Licht führen. Bitte vergeben Sie mir, Master Robert. Mein Verhalten war unwürdig.«

»Sparen Sie sich das Geschleime.« Ich unterdrückte meinen Schreck und ließ meine Stimme hart werden. »Ich mag Dickens nicht einmal. Wo ist mein Bruder?«

»Oh, Sie glauben doch nicht etwa, ich hätte Master Charles etwas zuleide getan?«, antwortete Heep mit einem Lachen, das klang wie eine Eisensäge. Seine Stimme war eine Mischung aus Honig und rostigen Nägeln. »Nein, ganz gewiss nicht. Eine so geringe Person wie ich …«

»Bei Gott, ein Literaturkritiker hätte seine helle Freude an Ihnen«, stöhnte ich.

Dann sah ich es: ein Aufblitzen von Hass in seinem Gesicht. Und plötzlich hatte ich das Teppichmesser an der Kehle. Eine knochige Hand drückte mich mit dem Rücken gegen die Wand. All das geschah so schnell, dass ich nicht einmal blinzeln konnte. Ich spürte die Klinge an meinem Hals – sie brannte, aber sie schnitt nicht. Mein Herz hämmerte so schnell und heftig, dass ich die Erschütterungen im ganzen Körper spürte.

»Ich habe um nichts hiervon gebeten«, zischte Heep. »Ich habe nie darum gebeten, arm und hässlich zu sein, der Schurke des Buchs. Ich wollte kein verlogener, hinterhältiger Speichellecker sein. Ich wollte mich nicht in die Frau verlieben, die von Anfang an für den Helden der Geschichte bestimmt war.«

»Natürlich nicht«, brachte ich heraus. Es war das Beste, was mir einfiel. Noch besser wäre es wahrscheinlich gewesen, den Mund zu halten. »Aber all das ist nicht unsere Schuld.«

»Master Charley hat mich in diese Welt geholt.« Heeps Gesicht zeichnete sich in der Dunkelheit ab, nur Zentimeter von meinem entfernt. »Und jetzt will er mich wieder zurückverbannen, an den mir angestammten Platz. So wie alle es getan haben – mein ganzes Leben lang. Nun, ich gehe nicht zurück, hören Sie? Niemals. Diese Welt hier … Sie wurde noch nicht geschrieben. Ich selbst werde sie schreiben. Ich muss nicht tun, was in dem Roman steht. Ich kann tun, was immer ich will.«

Ich lachte unwillkürlich. »Sie haben noch eine Menge über diese Welt zu lernen, wie mir scheint.«

Der Druck der Klinge wurde stärker. Ich spürte einen warmen Tropfen Blut auf meinem Hals, als hätte ich mich beim Rasieren geschnitten. Was auch immer Charley mit Uriah Heep angestellt hatte, er war jetzt mehr als der garstige Viktorianer ohne Wimpern.

»Gut, hören Sie zu.« Ich sprach möglichst ruhig, versuchte das Zittern in meiner Stimme zu verbergen. »Gehen Sie, wenn Sie wollen. Sagen Sie mir nur, wo mein Bruder ist.«

»Was kümmert Sie’s? Ich habe Sie gesehen, in Charleys Erinnerungen, meine ich. Sie mögen ihn nicht. Sie wünschten, er wäre nie hergekommen.«

»Das ist nicht wahr«, widersprach ich.

»Oh, ist es.« Heep schüttelte seinen hässlichen Kopf. »Ohne ihn sind Sie ohnehin besser dran, wenn man bedenkt, was noch kommen wird. Er steht im Zentrum des Ganzen. Halten Sie sich heraus, halten Sie sich bedeckt und verfolgen Sie die Ereignisse nicht allzu genau. Das ist mein untertäniger Rat an Sie, Master Robert.«

Einem Moment lang war meine Neugier stärker als meine Angst. Ich runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«

»Genau, wie ich es gesagt habe, Master Robert. Halten Sie sich heraus. Es geht Sie nichts an, und das würden Sie auch gar nicht wollen.«

»Was geht mich nichts an?«

»Die neue Welt«, antwortete er. »In der neuen Welt wird es keinen Platz für Sie geben.«

Eine der Türen im Korridor flog auf. Ich drehte mich instinktiv in die Richtung des Geräuschs, noch bevor ich es identifiziert hatte. Mein Bruder kam aus einer Abstellkammer gestolpert.

Diesmal war es ganz sicher er. Er trug genau das Gleiche wie zuvor Uriah Heep – wahrscheinlich waren diese Jeans und das Sweatshirt die einzigen modernen Kleidungsstücke, die Heep nachbilden konnte – und die wilden Locken auf seinem Kopf mussten dringend geschnitten werden, aber ich hatte recht: Der echte Charley sah anders aus. Sein Gesicht war weicher, weniger selbstsicher, und in seinen Augen stand nicht diese Verschlagenheit, wie ich sie in denen der Kopie gesehen hatte. Ich schätze, in einem Dickens-Roman ist das Böse so real, dass es nach außen durchscheint.

Charley blieb wie angewurzelt stehen, als er uns sah. Das Messer war immer noch an meiner Kehle, obwohl Heep sich im gleichen Moment zu ihm umgedreht hatte wie ich. Dann hob Charley den Kopf.

»Lass ihn los.« Ich erkannte den leichten britischen Akzent wieder, der mir seit seiner Rückkehr aus Oxford ab und zu aufgefallen war. »Ich bin hier. Es ist vorbei.«

»Bei allem gebührenden Respekt, Master Charley«, entgegnete Heep, »Sie waren die ganze Zeit über hier. Ich habe Sie gefesselt und in eine Abstellkammer gesperrt.«

»Ähm«, sagte er etwas schwächlich. »Dann bin ich eben wieder zurück.«

In diesem Moment riskierte ich es. Heep war abgelenkt, und selbst wenn er es nicht gewesen wäre, mein Herz hämmerte so wild, dass ich nicht eine Sekunde länger hätte stillhalten können. Ich packte sein Handgelenk und drückte das Messer von meiner Kehle weg.

Heep sprang fauchend vor, doch diesmal war ich auf die Kraft seiner drahtigen Muskeln vorbereitet, und das Adrenalin in meinen Adern verlieh auch mir neue Kräfte. Ich hielt sein Handgelenk immer noch umklammert und drückte es noch weiter von mir weg. Gleichzeitig packte ich seinen anderen Arm und hielt ihn nach Leibeskräften fest. Es war wie ein Ringkampf mit einem Skelett. Durch seine Kleidung spürte ich jeden von Heeps Knochen, und der Schrei, den er ausstieß, war wie das Heulen eines Gespensts. Der Teppichschneider fiel klappernd zu Boden.

»Jetzt!«, schrie ich. »Lies ihn zurück!«

»Nein!«, schrie Uriah Heep. Hass lag in seiner Stimme, überbordender Hass, aber auch tief empfundene Verzweiflung. Mir wurde beinahe schlecht bei der Erkenntnis. »Sie haben keine Vorstellung, wie es ist, in diesem Buch zu leben. Die anderen gewinnen immer. Sie hassen mich, und ich hasse sie, und sie gewinnen immer!«

»Ich weiß«, erwiderte Charley. Auch er klang traurig. »Es tut mir aufrichtig leid.«

Er legte Heep eine Hand auf die Schulter und versank in tiefer Konzentration. Und plötzlich hielt ich nur noch leere Luft umklammert. Es gab einen Lichtblitz, und von einem Augenblick auf den anderen war Uriah Heep nicht mehr da. Seine Schreie schwebten noch in der Luft, als sie längst verhallt waren, genau wie der Geruch nach Rauch und Nebel vorhin.

Lydia hatte recht: Ich musste Charley dringend dazu bringen, seine Probleme in Zukunft selbst zu lösen.

2

Ich war viereinhalb Jahre alt, als mein Bruder zur Welt kam. Er wäre beinahe gestorben, noch bevor er seinen ersten Atemzug tat. Lange Zeit glaubten alle, er sei tot – Komplikationen während der Geburt, sagte der Arzt. Sie hatten alle Versuche eingestellt, ihn wiederzubeleben, und ihn in eine Decke gewickelt, damit er weggebracht und eingeäschert werden konnte oder was auch immer mit solchen Babys geschieht. Meine Mutter hielt ihn auf dem Arm, als er plötzlich zu weinen anfing. Alle sagten, es sei ein Wunder, und die meisten waren felsenfest davon überzeugt, dass er bleibende Hirnschäden davontragen würde. Ziemlich lustig, so in der Rückschau.

Ich war nicht dabei, als das Wunder passierte. Dabei hätte ich es sein sollen. Charley wurde zu Hause geboren, in unserem großen alten Haus auf dem Land, und ich hätte ebenfalls dort sein sollen, um gemeinsam mit meinem Vater ruhelos im Wohnzimmer auf und ab zu laufen, während meine Mutter darum kämpfte, ihn zur Welt zu bringen. Aus irgendeinem Grund glaubten sie, das wäre gut für mich. Doch Charley kam zu früh – um einiges zu früh, was gleichzeitig ein Vorausblick auf seine zukünftige Entwicklung war, wenn auch nicht auf seine Pünktlichkeit –, während ich das Wochenende bei Oma Sutherland verbrachte. Ich erinnere mich noch, wie meine Eltern ihn mir am nächsten Tag zeigten, in eine Decke gewickelt in seiner Wiege in dem Zimmer, das wir gemeinsam für ihn gestrichen hatten. Anscheinend redete ich vor seiner Geburt von nichts anderem als davon, dass ich bald einen kleinen Bruder haben würde. Offenbar war ich ­richtig ­begeistert von dem Gedanken. Und doch hatte ich wohl nicht ganz begriffen, was es bedeutete. Denn ich erinnere mich ebenfalls, wie es mir vor Überraschung und Ehrfurcht die Stimme verschlug, als ich ihn sah: wie wirklich und lebendig er war, und dabei doch so klein und zerbrechlich. An seine großen, dunklen Augen, die mich magisch anzogen und mein Herz berührten. Ich hatte erwartet, dass er blaue Augen haben würde wie ich. Und ich erinnere mich, wie Mum und Dad aus irgendeinem Grund aus dem Zimmer gingen – vielleicht, um meine Sachen aus dem Auto zu holen – und Charley zu wimmern begann, weil er plötzlich allein war. In diesem Moment wusste ich, dass ich alles tun würde – den gesamten Planeten entvölkern, falls nötig, um Charley zu beschützen.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich. »Ich bin hier. Ich kümmere mich um dich.«

Ob Charley daraufhin aufhörte zu wimmern, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich nicht. Solche Momente hat er mir selten vergönnt. Aber ich weiß noch, dass ich der beste ältere Bruder aller Zeiten sein wollte. Ich würde bestimmt nicht einer von denen werden, die eifersüchtig auf ihr kleines Geschwister waren. Ich wollte ihm alles beibringen, was ich wusste.

Mit acht Monaten begann Charley zu sprechen. Richtig zu sprechen. Falls er je auf das gewöhnliche Eltern-Baby-Gebrabbel angewiesen gewesen sein sollte, merkten wir nichts davon. Er brachte sich alles selbst bei, in seinem Kopf, ohne jede Hilfe von uns. Als er seine ersten Worte sprach, bildete er bereits ganze Sätze, und sie wurden von Tag zu Tag besser. Er ärgerte sich jedes Mal halb zu Tode, wenn er das Wort für etwas nicht wusste oder den Satzbau vermurkste. Ungefähr zu dieser Zeit brachte ich ihm die Namen der Farben in seinem Zimmer bei, das hauptsächlich gelb war. Ich glaube, es war das letzte Mal, dass ich ihm etwas beibringen konnte.

Im Alter von zwei Jahren begann Charley, meine Bücher zu lesen. Mit drei las er die meiner Eltern. Die Leute fingen an, ihn ein Wunderkind zu nennen – manche waren etwas vorsichtiger und benutzten den Ausdruck »hochbegabt«.

Mit vier fing er an, Menschen und Gegenstände aus den Büchern zu zaubern. Es begann mit ganz kleinen Dingen. Gerüche, die in der Luft hingen, nachdem er gelesen hatte, nach einem frisch gebackenen Kuchen oder frisch gemähtem Gras, nach Meeresgischt. Eines Tages sah Mum ihn mit einem merkwürdig aussehenden Briefbeschwerer. Als sie Charley fragte, wo er ihn herhatte, antwortete er: »Aus 1984.« Bei einer anderen Gelegenheit ging sie in sein Zimmer, um ihn zum Abendessen zu holen, und sah, wie er mit dem Kater mit Hut spielte.

Die meisten Menschen würden mit gutem Recht austicken, wenn ihr vier Jahre alter Sohn aus der leeren Luft eine Figur aus einer Kindergeschichte von Dr. Seuss herbeizaubert, glaube ich. Mum beeindruckenderweise nicht. Sie wies ihn lediglich an, die Katze sofort wieder zurückzulesen. Charley dürfte kaum gewusst haben, dass er dazu in der Lage war, doch er gehorchte, und von da an wusste er es. Dann legte sie Charley die Hände auf die Schultern und erklärte ihm, dass er nie wieder etwas herbeizaubern durfte. Niemals. Der Gerechtigkeit halber muss ich hinzufügen, dass er es wirklich versucht hat und auch nach wie vor versucht. Doch anscheinend gibt es Dinge, die selbst für Charley unmöglich sind.

Den Kater mit Hut habe ich ebenfalls verpasst. Irgendwie scheine ich bei allen großen Familienereignissen nicht da zu sein. Diesmal war ich bei einem Freund in der Stadt. Mum erzählte mir die Geschichte, als ich zurückkam, und sagte mir, dass es ein Geheimnis bleiben müsse. Charley würde uns weggenommen, wenn ich es irgendjemandem erzählte, sagte sie. Wir müssten ihn beschützen.

Es gab viele Tage, an denen es mir nichts ausgemacht hätte, wenn Charley uns weggenommen worden wäre, solange er nur nicht an irgendeinen schlimmen Ort kam. Jung, wie ich war, verstand ich einfach nicht, warum ihm alles so leichtfiel, sogar Dinge, die physikalisch vollkommen unmöglich waren. Ich war verwirrt, dann verärgert und schließlich verbittert. Nach und nach schwand mein Herzenswunsch, Charley zu beschützen. Oder ich lernte, ihn zu ignorieren. Ich hatte ihm Dinge beibringen wollen, stattdessen war er es, der ständig versuchte, mir etwas beizubringen. Er war nicht das, was ich mir unter einem kleinen Bruder vorgestellt hatte.

Mit dreizehn ging Charley ans andere Ende der Welt, um in Oxford zu studieren. Im selben Jahr begann ich mein Jurastudium in Wellington, das eine Autostunde entfernt war. Mit wachsender Begeisterung versank ich in einer Welt aus Gerichtssälen, Cafés und Großstadtstraßen, während Charley sich in Büchern, Sprache und altehrwürdigen Sälen vergrub. Außer an Weihnachten und unseren Geburtstagen kommunizierten wir so gut wie gar nicht miteinander. Als er mich vor drei Jahren spät nachts aus England anrief, hätte ich seine Stimme beinahe nicht erkannt.

»Hi, Rob«, sagte er. »Ich bin’s. Ähm. Ich weiß nicht, ob Mum und Dad es dir erzählt haben, aber mir wurde eine Stelle in Wellington angeboten. Im kommenden Monat würde ich mit dem Flugzeug rüberkommen. Ist das okay für dich?«

»Warum sollte das nicht okay sein?«, erwiderte ich und wusste im selben Moment, dass das Leben, das ich mir aufgebaut hatte, vorbei war. Charley konnte nichts dafür. Selbst in meinen bittersten Momenten wusste ich das. Es war ja nicht so, dass er es mit Absicht machte. Charley war einfach, was er war. Die Träume, Geschichten und Unwahrscheinlichkeiten waren ihm in die Wiege gelegt worden, und ich wusste, sie würden ihm nach Wellington folgen.

3

Gleich nach unserem Telefonat hat er mich überwältigt«, erläuterte Charley, als wir kurz vor Sonnenaufgang die Straße entlangfuhren. Wellington schlief noch größtenteils. Ein paar Fenster waren erleuchtet, und der Himmel hatte diese orange-graue Farbe, die einen verregneten Vormittag versprach. »Er hatte ein Teppichmesser, ich schätze, er hat es in der Abstellkammer gefunden. Dann hat er mich mit diesen Plastikbändern, die sich nicht mehr öffnen lassen, an den Heizkörper gefesselt. Ich hasse diese Dinger. Sie erinnern mich immer daran, dass sich manche Dinge im Leben nicht mehr rückgängig machen lassen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Aber passt das zu der Figur? Leute mit Kabelbindern zu fesseln?«

»Ich fürchte, auch das ist meine Schuld«, erwiderte Charley wenig überraschend. Ich meine, wer sonst sollte daran schuld sein? »Ich habe gerade an einer These gearbeitet, dass Uriah Heep und Orlick aus Große Erwartungen lediglich Zerrbilder der Hauptfiguren sind. Dabei haben sich Orlick und Uriah wohl miteinander vermischt. Würde zu Orlick passen.«

Ich hatte keine Ahnung, wer Orlick ist, und es war mir auch egal. Mein Herz pochte immer noch. »Wenn es so spät in der Nacht ist … dann lass einfach die Finger von so dramatischen Geschichten. Wenn du schon an Romanen herumdoktern musst, dann halte dich an Jane Austen. Das Schlimmste, was dabei passieren kann, sind ein oder zwei gebrochene Herzen.«

»Das ist eine unzulässige Vereinfachung von Austens Werk«, entgegnete Charley geistesabwesend und rieb sich die Stellen, wo die Kabelbinder sich in seine Handgelenke geschnitten hatten.

»Dann lass von den Vereinfachungen ebenfalls die Finger! Im Ernst. Du hast Uriah Heep zu einem Gestaltwandler gemacht?«

»Ich wollte nur zeigen, wie er sich selbst zu dem gemacht hat, was die Gesellschaft von ihm erwartete. Aber auf eine Art, die genau diese Erwartungen parodiert und mit der er sich über die an ihn gerichteten Erwartungen erhebt. Es war metaphorisch gemeint.«

»Dann lass von Metaphern ebenfalls die Finger«, erklärte ich. »Zumindest außerhalb deiner Bürozeiten. Ehrlich, Charley, dieser Vorfall war nicht nur ärgerlich, er war gefährlich.«

»Es tut mir leid.« Charley hielt inne. »Und du bist sicher nicht verletzt?«

»Nein, bin ich nicht, du Idiot.« Zwischen seinen wiederholten Entschuldigungen hatte er mir diese Frage schon fünf- oder sechsmal gestellt. Im Reue zeigen ist Charley Weltmeister, was es schwierig macht, wütend auf ihn zu sein – und umso leichter, sich über ihn zu ärgern. »Er hat mich kaum angerührt. Du bist derjenige, der aussieht, als könnte er nicht mehr geradeaus sehen.«

»Es geht mir schon viel besser.« Charley ist immer ein wenig benommen, wenn er gerade jemanden zurückgelesen hat, und ein wenig müde. Ihn selbst scheint das allerdings weit weniger zu kümmern als die Menschen um ihn herum. »Du musst mich wirklich nicht nach Hause bringen. Ich hätte selbst fahren können.«

»Du hast mitbekommen, dass es letzte Woche Windböen mit bis zu einhundert Stundenkilometern gab, oder? Bei so einem Wetter willst du bergauf mitten in den Dschungel fahren?«

Er zuckte die Achseln. »Warum nicht? Ist ja schließlich ein Moped, kein Fahrrad.«

»Das Ding ist eine Todesfalle und hätte schon vor Jahren verschrottet gehört. Entweder funktionieren die Bremsen nicht, oder du kannst schlichtweg nicht mit ihnen umgehen. Außerdem hast du selbst gesagt, dass du schon die zweite Nacht hintereinander wach bist. Dich in diesem Zustand auf dein Moped zu lassen, würde den Tatbestand der Fahrlässigkeit erfüllen.«

»Ich habe dich um vier Uhr morgens aus dem Bett gescheucht, damit du auf dem Kelburn-Campus einen Dickens’schen Schurken jagst. Ich glaube, wenn du mich jetzt umbringen würdest, würde nicht ein Geschworener im Land dich für schuldig erklären.«

Ich schnaubte unwillkürlich. »Ich war versucht, das kannst du mir glauben. Du hast Glück, dass ich mich schon bei der Uriah-Heep-Version von dir dagegen entschieden habe und mich jetzt nicht noch einmal mit derselben Frage herumschlagen möchte. Wie hast du dich aus dem Abstellraum befreit?«

»Ach«, meinte Charley mit einem Gähnen. Jetzt, da die Aufregung vorbei war, verließen ihn schnell die Kräfte. »Es lag eine Ausgabe von Le Morte Darthur herum, aber mit meinen gefesselten Händen kam ich nicht dran. Am Ende musste ich das Regal mit einem Tritt umwerfen. Danach habe ich einfach Excalibur herbeigelesen und damit meine Fesseln durchgeschnitten.«

Ich blinzelte ihn an. »Du hast Excalibur herbeigezaubert?«

»Da vorne kommt eine Kurve«, sagte Charley, und ich konzentrierte mich eilig wieder auf die Straße. Sie führte in Serpentinen in den dichten Wald oberhalb von Wellington hinauf. Das Parlament lag am Fuß des Hügels, genauso wie das Gericht, wo ich in wenigen Stunden meine Aufwartung machen musste.

»Es war nicht schwer«, fügte Charley hinzu. »Es ist ein wichtiger Gegenstand; das macht es einfach, so viel Bedeutung in das Lesen zu legen, dass das Schwert real wird. Mich damit zu befreien, war schon schwieriger. Um ein Haar hätte ich mir die Pulsadern aufgeschnitten. Aber dann habe ich gehört, wie du nach mir gerufen hast. Da wusste ich, dass du dahintergekommen bist, mit wem du es zu tun hast, und das bedeutete, dass du in Gefahr bist. Es war meine Schuld. Ich musste etwas tun.«

Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte. Einerseits wollte ich mich bedanken, aber das hätte meine Wut auf ihn weniger glaubwürdig gemacht. Schließlich begnügte ich mich mit: »Bist du dann jetzt der rechtmäßige König von Britannien oder so was in der Art?«

»Dazu bräuchte ich ein anderes Schwert. Excalibur stammt aus dem Gedicht ›The Lady of the Lake‹. Ich fürchte, ich bin nur derjenige, der morgen das Chaos in der Abstellkammer wieder aufräumen muss. Oder besser gesagt heute.« Er gähnte noch einmal. »Um was geht es bei deinem Fall?«

Die Frage überraschte mich. »Wie bitte?«

»Du hast zu Uriah gesagt, du hättest morgens eine Verhandlung. Um was geht es?«

Ich konnte nicht anders, als mich zu fragen, was er sonst noch gehört hatte. Nichts, was ich ihm nicht auch wortwörtlich ins Gesicht sagen würde, vermute ich. Andererseits war ich wütend gewesen. »Das willst du nicht wissen.«

»Warum nicht? Vielleicht könnte ich dir helfen.«

»Es geht um die reale Welt. Um Zahlen und Fakten. Und du stehst seit deiner Geburt bestenfalls mit einem halben Bein in der Realität. Außerdem …« Ich verstummte.

»Was?«

»Nichts. Ich meine, du schläfst ja schon halb. Wenn ich dir jetzt von meiner Arbeit erzähle, nickst du in fünf Minuten ein.«

Das stimmte zwar, aber eigentlich hatte ich ihm erklären wollen, dass ich seine Hilfe nicht brauchte. Als grollender Teenager war das meine Standarderwiderung gewesen – und war es immer noch, tief in meinem Innern, wenn Charley mir etwas erklärte, das ich nicht wusste, oder sein flinker Geist mal wieder schneller als meiner auf die richtige Schlussfolgerung kam. Es war das, was ich beinahe in Charleys Büro gesagt hätte. Ich wollte ihn nicht. Er würde nur alles kaputt machen.

»Nein, werde ich nicht«, widersprach Charley. Ich glaube, er wusste nicht, was ich ungesagt gelassen hatte, aber bei ihm war ich mir da nie ganz sicher. »Stell mich auf die Probe.«

»Vergiss es.« Ich zögerte. »Charley?«

»Hm?«

Ich hätte mir die Frage beinahe verkniffen, aber sie beschäftigte mich einfach zu sehr. »Uriah Heep, kurz bevor du aufgetaucht bist, hat er gesagt, etwas würde kommen. Eine neue Welt, glaube ich, waren seine Worte. Und er hat gesagt, du würdest im Zentrum von allem stehen. Wie hat er das gemeint?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Charley. Er runzelte die Stirn. »Den Teil muss ich während meiner Versuche, mich aus der Kammer zu befreien, verpasst haben. Bist du sicher, dass er das gesagt hat?«

»Ziemlich sicher. Ich habe sehr genau zugehört, immerhin hat er mir in dem Moment ein Messer an die Kehle gehalten. Aber er weiß nichts, was du nicht auch weißt, oder? Kann er gar nicht.«

Die Schlauen scheinen über mehr von Charleys Erinnerungen zu verfügen als die anderen. Als Charley sieben war und wir Sherlock Holmes für ein paar Tage in unserem Gästezimmer unterbringen mussten, kannte er sich so gut mit der modernen Welt aus, dass wir ihn als einen Freund der Familie hätten ausgeben können und er unsere sämtlichen Pac-Man-Highscores überbot. Trotzdem waren es immer noch Charleys Erinnerungen. Die lebendig gewordenen Figuren konnten ihm nichts verraten, was er nicht schon wusste.

»Es gab tatsächlich ein paar seltsame Entwicklungen in letzter Zeit«, sprach Charley vorsichtig weiter. »Ist es dir auch aufgefallen? Seit einem Jahr ungefähr, aber während der letzten Wochen wird es stärker. Ich sehe immer wieder Dinge aus dem Augenwinkel, die eigentlich nicht sein können.«

»An der Universität?«

»Nein … Nun ja, ein- oder zweimal. Vor einer Weile war ich im Bibliotheksmagazin, und da ist etwas an mir vorbeigerannt, ziemlich schnell und ungefähr so hoch wie meine Knie.«

»Ein Kleinkind wahrscheinlich. Du weißt doch, was Kinder sind, oder?«

»Was sollte ein Kleinkind in die Unibibliothek treiben? Die ­Suche nach Band drei von Verfall undUntergang des Römischen Imperiums vielleicht? Und als ich mich an die Verfolgung gemacht habe, hat mir das Wesen die Tür vor der Nase zugeknallt. Diese Tür ist schwer, Robert. Ein Kind könnte sie niemals so schnell öffnen und wieder zuschlagen. Und es passieren noch anderswo eigenartige Dinge. Letzte Woche war ich in der Cuba Street und … Das hört sich jetzt bestimmt seltsam an, aber ich könnte schwören, den Artful Dodger – den gerissenen Schwindler – dort gesehen zu haben, wie er gerade Muffins kaufte.«

»Das hört sich in der Tat seltsam an. Und außerdem unmöglich. Wahrscheinlich ist es die Erklärung, wie Uriah Heep auf die Idee kam.«

»Nicht die Idee von dieser neuen Welt. Davon habe ich noch nie was gehört. Und …«

»Was?«, hakte ich nach, als sich die Pause mehr in die Länge zog als üblich.

»Nichts. Dir ist wirklich nichts aufgefallen?«

»Mir ist eine Menge aufgefallen. Aber die wirklich seltsamen Dinge waren immer die, die du in die Stadt gebracht hast.«

»Du hast gemeint, Uriah Heep hätte zu dir gesagt …«

»Ja, schon gut. Tut mir leid, dass ich es erwähnt habe. Wahrscheinlich hat er nur Sprüche gemacht. Bestimmt steckt nichts dahinter.«

»Nichts steckt hinter nichts.« Charley überlegte kurz. »Ich habe mich falsch ausgedrückt. Was ich meine, ist: Die Wortwahl ist wichtig. Genau das versuche ich im Moment meinen Lyrik-Studenten beizubringen. Wörter werden mit großer Sorgfalt ausgewählt. Geschichten basieren auf Wörtern.«

»Es geht hier um die Realität, nicht um Geschichten. Die Realität basiert auf Tatsachen.«

»Nichts täuscht leichter als eine ›unverkennbare Tatsache‹«, entgegnete Charley, was sich verdächtig nach einem Zitat anhörte. Er schüttelte den Kopf, bevor ich etwas Ungehaltenes erwidern konnte. »Tut mir leid. Du hast recht, ich schlafe schon halb. Vielleicht hat er nur mit dir gespielt. Immerhin ist er Uriah Heep. Das ist so seine Art.«

»Genau«, bestätigte ich. Da ich diese Antwort hatte hören wollen, verfolgte ich das Thema nicht weiter. Doch ebenso wusste ich, dass es sich ganz und gar nicht danach angehört hatte.

Lydia zog sich gerade an, als ich Charley abgesetzt hatte und nach Hause gekommen war. Sie ist Hotelmanagerin bei City Limits, Courtenay Place, ihre Arbeitstage fangen entweder sehr früh an oder ziehen sich sehr lange hin – manchmal beides. Den heutigen hatte ich für uns beide noch etwas früher begonnen.

»Alles in Ordnung mit deinem Bruder?«, erkundigte sie sich, während sie vor dem winzigen Badezimmerspiegel ihre Ohrringe anlegte. (Das Bad mussten wir erst noch renovieren.)

»In ein paar Stunden hüpft er wieder herum wie ein junges Reh.« Was bedeutete, dass ich ihn irgendwann im Laufe des Vormittags anrufen und daran erinnern sollte, nichts Dummes zu tun. Früher war Charley, nachdem er versehentlich eine Figur aus einem Buch gelesen hatte, allzu oft so fasziniert von dem Ergebnis gewesen, dass er, kaum dass die Benommenheit verflogen und er wieder bei Kräften war, versehentlich-absichtlich genau das Gleiche noch einmal machte.

»Willst du mir nicht erzählen, worum es überhaupt ging?«

»Ist das wichtig?«

»Natürlich ist es wichtig!« Lydia hatte ihre Ohrringe angelegt und wandte sich mir zu.

Ich begann sofort, meine Verteidigung vorzubereiten.

»Ich möchte wissen, was los ist. Dein Bruder liegt mir genauso am Herzen wie dir, weißt du. Ich mag ihn. Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, worin er verwickelt sein könnte, dass du ihm immer wieder zu jeder Tages- und Nachtstunde zu Hilfe eilen musst. Das passt nicht zu ihm.«

Lydia stellte mir diese Frage nicht zum ersten Mal, und ich wusste, es würde auch nicht das letzte Mal bleiben. Ich konnte sie nicht beantworten. Nicht nur, weil ich Charleys Geheimnis noch nie jemandem verraten hatte, oder weil ich verhindern wollte, dass auch noch Lydia dieses Geheimnis hüten musste. Auch wenn mir beide Gründe ständig im Kopf herumgingen, manchmal so eng miteinander verwoben, dass ich sie kaum voneinander unterscheiden konnte. Sondern weil ich wusste, dass es unser Leben unwiderruflich verändern würde, wenn ich es ihr erzählte. Dazu war ich nicht bereit. Ich hatte zu schwer für dieses Leben gekämpft.

»Du kennst ihn ja«, sagte ich so beiläufig wie möglich. »Er ist ein hoffnungsloser Fall.«

»Nein«, widersprach Lydia, »ist er nicht. Er mag die meiste Zeit nicht wissen, welchen Wochentag wir haben, aber ein hoffnungsloser Fall promoviert nicht mit neunzehn, noch dazu am anderen Ende der Welt. Letzte Nacht muss etwas gründlich schiefgegangen sein. Ansonsten würdest du mir einfach erzählen, was es war.«

»Es ist etwas schiefgegangen«, räumte ich ein. »Und jetzt ist es wieder in Ordnung gebracht.«

»Einfach so? Das Problem hat sich einfach in Luft aufgelöst?«

»Genau das«, antwortete ich.

»Und du hast das bewerkstelligt?«

»Genau genommen nein. Charley war das. Aber ich habe ihm dabei geholfen.«

»Bestimmt.« Sie meinte es tatsächlich so. Ihr Blick wurde wieder weicher, und ich fragte mich, ob ich vielleicht ein bisschen zu enttäuscht geklungen hatte. »Ich halte dir ja nicht vor, dass du dich um ihn kümmerst, verstehst du? Schließlich ist er dein Bruder. Ich habe selbst vier davon und weiß, wie das ist. Ich verstehe nur diese Geheimniskrämerei nicht. Und ich muss gestehen, ich frage mich, ob es nicht besser für euch beide wäre, wenn du ihn seine Probleme selber lösen lässt.«

Mir wurde bewusst, dass Lydia während meiner Abwesenheit die ganze Zeit wach gelegen und über die Angelegenheit nachgedacht hatte – um ihrer selbst willen genauso wie um meinetwillen. So ist sie nun mal. Wir sind jetzt seit vier Jahren zusammen, und ich bin immer wieder erstaunt, wie lange sie über ihre Gefühle nachdenken kann und geduldig sämtliche Knoten entwirrt, bis sie alles in klare Worte fassen kann. Ich hingegen, so Lydia, benutze Worte eher, um mich und andere mit voller Absicht zu verwirren. Und ich bin Jurist, also hat sie wahrscheinlich recht.

»Du hast wahrscheinlich recht«, erwiderte ich. »Aber ich kann ihn schlecht abwimmeln, wenn er mich mitten in der Nacht in heller Panik anruft.«

»Richtig«, bestätigte sie. »Das habe ich auch nicht gemeint. Aber du hättest mich mitnehmen sollen. Du hast letzten Monat ja auch beim Umzug meiner Eltern geholfen.«

»Da ging es nur darum, Kisten zu tragen und uns von deinem Vater bekochen zu lassen – was hervorragend geschmeckt hat. Aber das hier … ist so etwas wie eine alte Familienangelegenheit.«

In Familienangelegenheiten ist Lydia Expertin. Sie ist halb Maori und halb Griechin und hat somit keinen Mangel an turbulenten Ereignissen in ihrer Verwandtschaft. Normalerweise gibt sie sich mit dieser Erklärung zufrieden, zumindest wenn die Zeit knapp ist. Diesmal sah sie mich zwar fragend an, ließ aber Gnade vor Recht ergehen und bohrte nicht nach.

»Tja«, sagte sie stattdessen, »wenn wir in der Stadt frühstücken wollen, dann sollten wir jetzt besser los. Wenn nicht, muss einer von uns in den nächsten drei Minuten Kochen lernen, weil wir mehr brauchen werden als einen schnellen Toast und möglicherweise abgelaufenen Joghurt, um uns durch den heutigen Tag zu bringen. Du weißt, dass ich recht habe.«

Ich küsste sie – teils, weil ich es wollte, und teils, weil sie in einer Angelegenheit Verständnis zeigte, die schlichtweg nicht zu verstehen war.

Ich begann mein Jurastudium in Wellington, weil es das kulturelle und kreative Zentrum Neuseelands ist. Hier wurden die Gesetze gemacht und die Kunst. Hier zogen Regierungen in das »der ­Bienenstock« genannte Parlamentsgebäude und flogen wieder hin­aus, hier wurde in szenigen Cafés eifrig diskutiert, hier tanzten die Studenten im Licht der Stroboskope bis in die frühen Morgenstunden. Ich war nur ein- oder zweimal auf Schulausflügen dort gewesen. Ich wusste, dass sich die Einwohner ständig über das Wetter und die Hügel beklagten: Wellington ist bekannt für seine Winde, die mit bis zu 250 Stundenkilometern durch die Stadt fegen, für Regen, der unbarmherzig über die Strände peitscht, und für steile Anstiege im Schatten altehrwürdigen Regenwalds, dazwischen Holzhäuser im Kolonialstil, die aussehen wie dösende Ringeltauben. All das war mir egal. Ich war achtzehn und ehrgeizig, und ich wollte mir ein Leben in der Stadt aufbauen. Ich hatte nicht vor – erwartete nicht mal – mich in Wellington zu verlieben.

Trotzdem passierte es. Wegen all der Dinge, die mir egal waren, und noch ein paar anderen. Heute weiß ich, dass fast jeder, der in Wellington lebt, in diese Stadt verliebt ist, viele davon heftig, leidenschaftlich, eifersüchtig. Sich über das Wetter und die Hügel zu beklagen, ist lediglich die allgemein anerkannte Art, diese Liebe zum Ausdruck zu bringen.

An jenem Tag war ich froh um den Wind, der an meinem Mantel zerrte. Und ich war froh über das elegante Bürogebäude, in dem es nur so wimmelte von Menschen und Ideen und in dem ich arbeitete. Es half mir dabei, mich das letzte Stück Weg heraus aus Charleys Welt zu schleppen. Im Trubel des Arbeitsalltags verblassten Uriah Heeps Drohungen und Warnungen zur Lächerlichkeit. Wäre da nicht der kleine Schnitt gewesen, an dem mein Hemdkragen rieb, wäre mir die ganze Episode vorgekommen wie ein Traum. Ich holte meine Akten, klärte noch ein paar Einzelheiten mit den Anwaltsgehilfen und ging dann über die Straße hinüber zum Gericht. Endlich wurde der Fall verhandelt, auf den ich mich seit Monaten vorbereitete. Die letzten Reste der Müdigkeit, die die allzu kurze Nacht hinterlassen hatte, verdampften in dem ganz speziellen Cocktail aus Adrenalin und Überzeugung, der meine Adern jedes Mal circa fünf Minuten nach Beginn der Verhandlung durchflutet. Ich verfüge zwar weder über das Sprachgefühl noch den Intellekt meines Bruders. Aber wenn es darauf ankommt, bin ich eloquent, und ich bin schlau genug, um meine Ziele mit viel Anstrengung zu erreichen. Und ich liebe es, wenn es vor Gericht ernst wird. In dem Moment wird alles real. Dann habe ich das berauschende Gefühl, unmittelbar am Puls der Stadt zu sein.

Als ich das Gerichtsgebäude zur Mittagszeit wieder verließ, immer noch getragen von meinem Hochgefühl, sah ich ein Kind am Straßenrand stehen. Ein Junge, ziemlich klein und schmal, vielleicht elf Jahre alt. Normalerweise wäre ich davon ausgegangen, dass er auf jemanden wartete, doch niemand in der vorbeieilenden Menschenmenge schien von ihm Notiz zu nehmen. Ich hätte es möglicherweise auch nicht getan, wäre ich nicht so sicher gewesen, dass er mich direkt ansah. Er trug eine alte Baseballkappe und eine übergroße Sonnenbrille, weshalb ich seine Augen nicht sehen konnte. Aber ich spürte sie.

Aus einem Impuls heraus ging ich auf ihn zu. Ich konnte ihn nicht einfach so da stehen lassen. Heute war Schule, und der Unterricht war noch längst nicht vorbei, außerdem war der Kleine ganz allein hier mitten in der Innenstadt. Es schien mir nicht richtig. Er schien mir nicht richtig. Wir befanden uns am Lambton Quay, dem Zentrum von Wellingtons Zentrum. Auf der anderen Straßenseite lag das Parlament, gegenüber der Bahnhof in all seiner roten Ziegelpracht. Alles hier war sauber und fest. Der Junge schwebte im Herzen des Ganzen wie ein Geist.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte ich ihn. »Suchst du jemand?«

Der Junge war fort, noch bevor ich auf drei Schritte heran war. Er rannte nicht, er zog nur den Kopf ein und verschwand in der Menge, als wäre er bei etwas erwischt worden, das ihm ausdrücklich verboten war. Ein Schauder, den ich nicht recht einordnen konnte, lief mir über den Rücken. Irgendwas an dem Kleinen war mir sehr vertraut vorgekommen.

Vorsichtig betrat ich das Bürogebäude meiner Firma. Es hatte nichts mit dem Jungen zu tun – auf dem Weg über die Straße hatte ich den Vorfall im beruhigenden Getümmel aus Wind und Menschenmassen einfach abgeschüttelt. Ich war vorsichtig, weil ich Eva Rusch, einer der Chefinnen der Kanzlei, aus dem Weg gehen wollte. Ich wusste, dass wir neue Praktikanten hatten und es meine Aufgabe war, einen davon eine Woche lang unter meine Fittiche zu nehmen und ihn auf den Sommer vorzubereiten. Das war nötig, wie ich ebenfalls wusste, und ich hätte diese Aufgabe mit Freuden übernehmen sollen. Genau das hatte Lydia vor Kurzem zu mir gesagt, und sie hatte recht. Normalerweise hätte ich das auch getan – junge Praktikanten, egal, ob klug oder verpeilt, waren weit einfacher zu handhaben als mein junger Bruder. Aber es war ein langer, harter Vormittag gewesen, und ich war nicht in der Stimmung.

Ich hatte beinahe die Sicherheit meines Büros erreicht, hatte sogar die Tür schon geöffnet, als in meinem Rücken das charakteristische Klappern von hohen Absätzen ertönte.

»Ah, Rob«, begann Eva und legte mir eine Hand auf den Arm. Ihr Lächeln sagte mir, dass sie genau wusste, was ich vorgehabt hatte, und sie mir den Hals umdrehen würde, wenn ich nicht sofort stehen blieb. »Da sind Sie ja. Lassen Sie mich Ihnen die neuen Praktikanten vorstellen. Leute, das ist Rob Sutherland, einer unserer besten Anwälte. Rob, das sind Carmen, Frances und Eric.«

Mit einem inneren Seufzer drehte ich mich um, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Und fand mich Angesicht zu Angesicht mit zwei hübschen jungen Frauen sowie Uriah Heep wieder.

Dr. Charles Sutherland, neunzehn Jahre

Auszug aus Tagebuch (grüner Ledereinband)

Ich weiß, es ist ein Geheimnis. Aber eines Tages vielleicht nicht mehr. Eines Tages wollen die Menschen vielleicht wissen, was es ist und wie es funktioniert, und dann weiß niemand Bescheid. Ich würde es ihnen ja verraten, aber vielleicht besser erst nach meinem Tod. Deshalb schreibe ich zur Sicherheit auf, was ich darüber weiß – oder zu wissen glaube –, wie es funktioniert.

Es funktioniert so. Glaube ich.

Ich lese. Natürlich lese ich. Aber wenn ich den Text gut genug kenne – ein Gedicht oder eine bestimmte Passage in einem Buch, irgendetwas Kurzes –, denke ich manchmal nur nach. Normalerweise muss ich die Worte auf dem Papier sehen. Das liegt an mir, glaube ich, nicht an der Magie oder Fähigkeit oder was auch immer die richtige Bezeichnung dafür ist. Worte auf einem Bildschirm sind für mich nicht das Gleiche. Ich sehe sie, aber ich kann keine Verbindung zu ihnen herstellen. Sie sind zu hart und hell, ich schwebe über ihnen wie ein Blatt auf einem Teich. Worte auf Papier sind stumm und durchlässig. In der richtigen Stimmung versinke ich in den Räumen zwischen den Buchstaben, die sich dann über meinem Kopf schließen.

Worte und Papier. Das war der einfache Teil.

Ich schwimme also in den Wörtern, sauge sie in mich auf, und dann strömen die Wörter durch meine Adern. Jedes Neuron sprüht Funken, jede Nervenleitung fängt Feuer, mein Herz schlägt immer schneller und beschleunigt den Strom noch weiter, und meine Augen rasen voraus, um immer noch mehr aufzunehmen.

Das ist noch keine Magie oder wie immer man es nennen will. (Ich ärgere mich seit jeher, dass ich das richtige Wort nicht finde.) Das ist nur Lesen.

Und während ich lese, verbinden sich die neuen Wörter mit denen, die ich schon aufgenommen habe. Das ist das dritte Mal, dass in diesem Kapitel die Farbe Blau erwähnt wird, und zwar immer im Zusammenhang mit Reichtum. Dieser Ausdruck kam in dem Gedicht ein Stück weiter oben schon mal vor. Tiefer. Das da ist eine Anspielung auf den Orpheus-Mythos. Dieses Wortpaar kommt so normalerweise nicht vor. Breiter. Dieses Symbol verwendet Dickens häufig. Das ist typisch für Saids Schriften über Orientalismus. Leuchtpunkte. Zusammen ergeben sie eine Landkarte, ein Muster, eine Konstellation. Gestaltlos, verschlungen, unendlich komplex – und schön.

Und dann verbinden sie sich plötzlich. Sie berühren sich und explodieren. Natürlich tun sie das. Genau darum geht es ja. So funktioniert eine Geschichte, so verstärken die Sätze, Metaphern und Anspielungen sich gegenseitig, um auf etwas Wichtiges hinzuweisen. Die Explosion ist der Moment der Entdeckung, des Verstehens. Es ist der beste Moment von allen. Emotional, intellektuell, ästhetisch. Und diesen einen perfekten Moment lang ergibt ein kleines Stückchen der Welt perfekten Sinn. Das ist wunderschön. Es ist ein Moment purer Verzückung, wie Freude und Schmerz zugleich.

Auch das ist noch keine Magie. (Oder was auch immer das richtige Wort sein mag.) Nur Lesen. Oder Literaturanalyse? Gibt es da überhaupt einen Unterschied? Es ist nur intensiveres Lesen.

Manchmal – oft – tritt im Moment der Explosion jemand oder etwas in die Welt. Es ist, als würde ich denjenigen so klar und unverfälscht vor mir sehen, dass er sich manifestiert. Das erste Mal passierte es, als ich vier war, noch vor der Episode mit dem Kater mit Hut. Ich las 1984