Die Unmöglichkeit, bei Tag die Liebe zu finden - Ry Herman - E-Book

Die Unmöglichkeit, bei Tag die Liebe zu finden E-Book

Ry Herman

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Beschreibung

Zwei Jahre nach einer schrecklichen Trennung verkriecht sich die hübsche Lektorin Chloë immer noch jeden Abend zu Hause mit ihrer Katze auf dem Sofa. Bis sie von ihrer ebenso charmanten wie aufdringlichen Tante zum Ausgehen gezwungen wird. Als sich Chloë nun mutterseelenallein in einem Club wiederfindet, passiert das, woran sie selbst schon nicht mehr geglaubt hat: Sie begegnet Angela, einer wunderschönen, klugen jungen Frau. Angela verliebt sich in Chloë, und Chloë verliebt sich in Angela – es könnte also alles ganz einfach sein. Nur, dass Angela ein kleines Problem mit Tageslicht hat. Und mit Kruzifixen. Und mit Knoblauch ...

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Das Buch

Zwei Jahre nach einer schrecklichen Trennung verkriecht sich die hübsche Lektorin Chloë immer noch jeden Abend zu Hause mit ihrer Katze auf dem Sofa. Bis sie von ihrer ebenso charmanten wie aufdringlichen Tante Esther zum Ausgehen gezwungen wird. Als sich Chloë nun mutterseelenallein in einem Club wiederfindet, passiert das, woran sie selbst schon nicht mehr geglaubt hat: Sie begegnet Angela, einer wunderschönen, klugen jungen Frau, und Hals über Kopf verlieben sich die beiden ineinander. Allerdings hat Angela ein kleines Geheimnis: Sie ist ein Vampir. Und eine Beziehung mit einem blutsaugenden, unsterblichen Wesen will Chloë nun wirklich nicht! Doch dann merkt Chloë, dass es ihr völlig egal ist, wer oder was Angela ist. Mithilfe ihrer Tante Esther und ihres verrückten Mitbewohners Ari beginnt sie, um ihre Liebe zu kämpfen …

Der Autor

Ry Herman wurde in den USA geboren, lebt aber inzwischen in Schottland. Er arbeitete unter anderem als Lektor und als Bühnentechniker am Theater. Inzwischen führt er Regie und hat mehrere eigene Stücke verfasst. Die Unmöglichkeit, bei Tag die Liebe zu finden ist sein erster Roman.

Ry Herman

Die Unmöglichkeit,

bei Tag die Liebe

zu finden

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der englischen Originalausgabe: LOVEBITES

Deutsche Übersetzung von Yola Schmitz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 10/2021

Redaktion: Lisa Scheiber

Copyright © 2020 by Ry Herman

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-26544-1V001

www.heyne.de

Seit drei Tagen tot

Scottsdale, Arizona

26.–29. August 1998

In Angelas erster Nacht als Leiche regnet es. Ein monsunartiger Platzregen gemischt mit Hagel prasselt schnell und hart auf das Dach. Aber nur kurz. Als bei ihr die Leichenstarre einsetzt, ist der Himmel wieder klar. Das passiert gegen Mitternacht, als die kleinen Muskeln in ihren Augenlidern, ihrem Hals und ihrem Kiefer allmählich hart werden. Am Morgen verteilt sich die Starre über ihren ganzen Körper. Angela ist jetzt so steif wie ein alter Laib Brot.

Sie liegt auf der rechten Seite, und dort sammelt sich auch ihr Blut, verfärbt einen Arm und ein Bein sowie einen Teil ihres Gesichts und des Oberkörpers. Es sieht so aus, als hätte sie dort eine große Wunde, als ob sie jemand gegen eine Betonwand geschleudert hätte, aber nur einmal, nur auf der einen Seite. Der Rest ihres Körpers ist, bis auf ihre Finger und Zehen, die allmählich blau werden, wächsern und gräulich.

Als die Sonne aufgeht, nimmt die Stadt ihren üblichen Betrieb auf. Vor dem Haus, in dem Angelas Leiche liegt, singen die Vögel, bis es ihnen in der Mittagssonne zu heiß dafür werden wird. Autos stecken im Berufsverkehr fest, Fahrer trommeln ungeduldig auf Lenkrädern herum, die Radios laufen und die Klimaanlagen arbeiten auf Hochtouren. Die Morgennachrichten sind immer noch wie besessen von Monica Lewinskys Aussage. Wer keine Nachrichten hören will, kommt heute nicht an »The Boy is Mine« von Brandy und Monica vorbei, es läuft auf so gut wie jedem Sender. Angela hätte sich etwas anderes ausgesucht. Ihr aktuelles Lieblingslied ist »Venus« von Theatre of Tragedy. Norwegischer Goth Rock mit lateinischen Songtexten. Aber sie fragt ja niemand. Und hätte man sie gefragt, sie hätte auch nicht antworten können.

Die Temperaturen erreichen heute über vierzig Grad Celsius. In der Dunkelkammer, in der Angela liegt, ist es nicht ganz so heiß, aber es ist auch nicht gerade kühl. Am Ende des Tages fängt Angela an, nach Verwesung zu riechen.

In der zweiten Nacht, die Angela nicht mehr am Leben ist, kommt Tess ins Zimmer und bleibt zwei Stunden bei ihr. Dann dreht sie Angela auf den Rücken. Angelas Glieder fangen an sich zu entspannen, die Leichenstarre lässt nach, während ihr Körper weiter verwest.

Ein paar Stunden nach Sonnenuntergang führt eine Frau ihren Hund vor dem Haus spazieren. Sie ist keine direkte Nachbarin – sie wohnt um die Ecke –, aber sie hat Angela und Tess schon ein paarmal gesehen. Sie hat sich nie Gedanken über die beiden gemacht. Auch jetzt tut sie das nicht. Drei weitere Leute gehen in dieser Nacht vor dem Haus vorbei, aber keiner von ihnen bemerkt etwas.

Es wird Morgen, und ein weiterer Tag nimmt seinen gewohnten Lauf. Ein grünlicher Fleck zeichnet sich auf Angelas Bauch ab, wo sich ihre Darmbakterien durch die Eingeweide fressen. Am späten Nachmittag kriecht ein Palo-Verde-Käfer über Angelas Gesicht, auf ihrer Wange verweilt er kurz. Die Temperaturen steigen auf sengende 45 Grad.

Angelas dritte Nacht als Leiche fällt auf einen Freitag, und mehr als sechshunderttausend Menschen sehen Wesley Snipes dabei zu, wie er Vampire tötet. Eine Woche nach dem Kinostart ist Blade immer noch auf Platz eins, auch wenn sich inzwischen fünfhunderttausend Leute Verrückt nach Mary angesehen haben. Angela hat beide Filme nicht gesehen. Der letzte Film, den sie im Kino gesehen hat, war Wild Things im vergangenen Juni. Er hat ihr nicht wirklich gut gefallen, aber sie war dankbar für den klimatisierten Kinosaal gewesen.

Spät am Abend streift ein Rudel Coyoten jaulend und heulend durch die Hinterhöfe der Nachbarschaft. Eine Katze springt erschrocken über einen nahe gelegenen Graben und huscht davon. Von den Dächern aus macht ein Virginia-Uhu Jagd auf Kängururatten.

Tess bleibt dieses Mal die ganze Nacht, und wenn sie nicht gerade Fotos entwickelt, beobachtet sie Angelas Körper. Während Tess arbeitet, verschwindet der grünliche Fleck auf Angelas Bauch. Ihre Gesichtsfarbe wird ebenmäßiger und verwandelt sich in ein schneereines Weiß, aber, wenn man ehrlich ist, hat der Tod ihren Teint kaum verändert. Sie riecht nicht mehr nach verwesendem Fleisch, und sie fängt auch nicht an, sich aufzublähen.

Als sie ihre Bilder zum Trocknen aufhängt, bemerkt Tess diese Veränderungen. Sie nimmt ein Messer aus der Schublade und hält es an Angelas Hals.

Sie beobachtet ganz genau, wie die Haut unter der Klinge zurückweicht. Als sie das Messer wegnimmt, ist nichts zu sehen. Tess verzieht ihren linken Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen.

Am nächsten Morgen regnet es wieder, aber diesmal hagelt es nicht. Es kühlt ein wenig ab, und die Temperaturen erreichen nur gute 40 Grad Celsius. Der Betreuer von Angelas Doktorarbeit an der Universität schreibt ihr eine E-Mail, dann, als sie nicht antwortet, noch eine. Sonst versucht niemand, sie zu erreichen.

Es wird Nacht.

Zweiundsiebzig Stunden nach ihrem Tod wacht Angela wieder auf.

Als sie erwacht, ist sie durstig. Schrecklich, schrecklich durstig. Sie versucht, ihren Kopf zu bewegen. Aber es fühlt sich an, als ob er in einem Schraubstock sitzt.

Ihr Blick fällt auf ein paar Schuhe. Über ihr steht Tess und beobachtet sie aufmerksam.

»Was …« Angela bringt das Wort fast nicht heraus. Ihre Stimme ist nur ein ersticktes Krächzen. Sie versucht es noch einmal. »Was hast du mit mir gemacht?«

»Nun ja«, antwortet Tess, »ich schätze, jetzt wirst du mich wohl doch nicht verlassen.«

ERSTER TEIL

Das blutrünstige unmenschliche Flittchen

1

Brookline, Massachusetts

6. November 1999

Angela schminkt sich mit größter Sorgfalt. Das Make-up ist ein wichtiger Teil ihrer Vorbereitung und mit Abstand der komplizierteste.

Zuerst der Lipliner – nur nach Gefühl. Dafür braucht man eine ruhige Hand, daher bringt sie das gerne so schnell wie möglich hinter sich. Langsam hoch und rum, dann auf der anderen Seite runter und entlang der Unterlippe zurück. Mit präzisen Bewegungen zeichnet sie die Umrisse nach und hofft, einen perfekten Kussmund geformt zu haben. Wenn sie sich konzentriert, rutscht sie nicht ab, aber das fällt ihr schwer, wenn sie so hungrig ist. Nur, der Hunger ist eben auch der Grund, weshalb heute Nacht alles stimmen muss.

Jetzt der Lippenstift, fast genauso kompliziert. Sie benutzt am liebsten flüssigen Lippenstift und trägt ihn mit einem Pinsel ordentlich auf. Man sollte meinen, mit einem normalen Lippenstift wäre es in Anbetracht der Ermangelung des eigenen Angesichts leichter, aber damit ist sie nie zurechtgekommen.

Alles wäre so viel einfacher, hätte sie ein Spiegelbild.

Natürlich kann sie Shelly fragen, ob alles passt. Aber es ist besser, wenn sie es auf Anhieb hinbekommt. Falls sie einen groben Patzer gemacht hat, würde sie den halben Abend damit verbringen, das Make-up abzunehmen, wieder aufzutragen, Shelly erneut zu fragen und sich wieder abzuschminken. Das ist ihr nur einmal kurz nach ihrem Einzug passiert, und sie hat nicht vor, das zu wiederholen. Shelly hat sie am Ende des Abends äußerst irritiert angesehen.

Die ersten paar Tage mit ihren Mitbewohnern waren die schwersten, ihr fehlte noch die Routine. Am allerschlimmsten jedoch war die erste Minute, als sie vor der offenen Haustüre gestanden und darauf gewartet hatte, hineingebeten zu werden. Sie hatte sich gefragt, wie lange sie wohl dort stehen müsste, unfähig, die Schwelle zu überschreiten. Was für ein Albtraum.

Als Nächstes der Lidschatten. Solange sie methodisch vorgeht, ist das etwas einfacher. Angela trägt nur wenig auf und verteilt ihn dann nach außen. Erst etwas Weiß als Basis, dann eine Schicht Dunkelblau über das Lid. Schwarz in die Lidfalte, und dann alles verteilen. Eyeliner kann heikel sein, aber das hatte sie schon immer drauf. Sie darf sich nur nicht hetzen. Muss die Abläufe schön präzise hinbekommen. Hochschauen, dann eine Linie unterm Auge ziehen. Augen zu, eine weitere Linie über den Wimpern. Falls doch etwas verwischt, fällt das bei so dunklem Lidschatten nicht auf. Noch einen Tupfer Highlighter in die Augenwinkel. Und Wimperntusche geht beinahe von allein.

Immerhin muss sie sich nicht mit einer Grundierung herumschlagen. Ohne jemanden um Hilfe zu bitten, besteht keine Chance, dass Angela es schafft, sie gleichmäßig aufzutragen. Und die Geduld ihrer Mitbewohner hat sicher auch Grenzen.

Zum Glück ist blasse Haut, dort wo sie hingeht, in Mode. Das ist einer der Hauptgründe, weshalb sie den Laden ausgesucht hat; sie fällt dort nicht auf, so wie sie eben ist. Oder besser gesagt, so wie sie ist, plus Lippenstift, Lidschatten, Eyeliner und einem haargenau gewählten Outfit, sowie dem richtigen Verhalten, nicht zu aufdringlich und nicht zu schüchtern. Aber keine Grundierung.

Rouge ist trotzdem eine gute Idee. Nach den Wangenknochen fühlen und ein wenig davon auf beide tupfen. Im Idealfall sieht sie nun anziehend alabasterhaft aus und nicht ganz so sehr wie eine aufrecht stehende Leiche.

Angela räumt ihre Sachen zurück in ihre Schminktasche und macht sie zu. Als Nächstes sind die Klamotten dran. Sie verlässt das Bad und geht rüber in ihr Schlafzimmer. Warum macht sie sich überhaupt die Mühe, ihre Schminktasche im Bad zu lassen, wo sie doch den Spiegel gar nicht benutzen kann? Angewohnheit vermutlich. Aber das ist eine gute Angewohnheit. Alles, was sie normal erscheinen lässt, ist gut.

Sie öffnet den Schrank, um ihre Auswahl zu begutachten, und wird von einer Flut aus Lack, Spitze, Federn und Leder begrüßt. Sie weiß nicht, ob sie überhaupt noch ein normales T-Shirt und ein Paar Jeans hat. Das hier hat zumindest kaum etwas mit ihrem Kinderzimmer zu tun, wo ihre Schuluniformen in einer ordentlichen Reihe im Schrank hingen und ein Kruzifix auffällig an der Wand angebracht war. Seitdem hat sich so viel geändert.

Kruzifixe lösen bei ihr jetzt Unbehagen aus.

Die weit größeren Veränderungen waren jedoch im letzten Jahr geschehen. Genauer gesagt, in dem einen Jahr, zwei Monaten und zehn Tagen seit ihrem Tod. Der Moment, als sie aufgehört hatte, das zu sein, was sie zuvor gewesen war. Sie ist sich ziemlich sicher, dass sie seither keinen normalen BH oder Turnschuhe getragen hat.

Sie fragt sich, ob sie das überhaupt noch kann. Ist es ein Zwang, sich wie ein Goth zu kleiden? Könnte das der Ursprung des Klischees sein, der Funken Wahrheit in all den Geschichten und Mythen?

Nein, das ist lächerlich. Sie weigert sich, das zu glauben. Sie trägt die Klamotten, um eine bestimmte Art der Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und weil sie ihr nun einmal gefallen. Warum sollte es einen solchen mysteriösen Instinkt geben? Zwänge er sie dann auch, in die passenden Nachtclubs zu gehen? Was wäre dafür die evolutionäre Grundlage – Überlebensstrategien in den Clubs der Savanne, damals zu prähistorischen Zeiten? Schwachsinn. So etwas wie einen Lackleder-Instinkt gibt es nicht.

Vielleicht sollte sie trotzdem einen Versuch wagen. Lauter unterschiedliche Klamotten kaufen: spießig, alternativ, punkig. Und dann sehen, ob sie damit rausgehen kann. Sie beschließt, das auf die Liste zu setzen. Aber heute Abend hat sie nicht vor, an ihrem Outfit herumzuexperimentieren.

Angela entscheidet sich für ein Korsett in Schwarz und Rot, und einen seidenen Rock mit Schwalbenschwanz. Dunkelrote Handschuhe, hohe Absätze. Verführerisch mit einem Hauch von Eleganz. So hofft sie. Wenn sie das doch nur überprüfen könnte.

Als sie fertig angezogen ist, macht sie ihr Haar auf und es fällt ihr in glatten blonden Strähnen über die Schultern. Sie würde noch weniger auffallen, wenn sie es sich schwarz oder vielleicht dunkelrot gefärbt hätte, das hat sie aber noch nie. Immerhin trotzt sie in diesem Punkt dem Klischee. Wie es mit individualistischen Akten nun einmal so ist, zählt das am Ende natürlich kaum, aber es ist wenigstens etwas. Sie mag ein schreckliches Monster sein, aber wenigstens ein schreckliches blondes Monster.

Sie kontrolliert, ob Ausweis, Telefon, Geld und ihr Antiallergikum in ihrer Tasche sind. Sie hat nicht mehr viele Tabletten, bald muss sie sich ein neues Rezept geben lassen. Ein letzter Blick durchs Zimmer, falls sie etwas vergessen hat. Hat sie aber nicht. Viel gibt es sowieso nicht zu vergessen.

Ist die Schranktür zu und verbirgt ihre extravagante Auswahl an Klamotten, scheint der Raum karg und spartanisch. Ihre Matratze, die direkt auf dem nackten Boden liegt, nimmt eine ganze Seite des Raums ein. Laken und Decken sind achtlos daraufgeworfen. Gegenüber, unter den schweren Vorhängen vor dem einzigen kleinen Fenster, ist gerade genug Platz für ihren Schreibtisch. Gelegentlich wirft der Code, den sie laufen lässt, eine Nummer auf den Bildschirm, jede einzelne eine Erinnerung daran, wie viel Arbeit noch vor ihr liegt; Arbeit, der sie heute nicht nachgehen kann. Ein schmales Bücherregal ist an den letzten freien Platz an der Wand gequetscht. Fast ausschließlich Nachschlagewerke und ein paar zerfledderte Lieblingsbücher von früher. Der König von Narnia. Eine alte Ausgabe von Annie On My Mind, die ihre Eltern zum Glück nie gefunden haben.

Die einzige Dekoration klebt an der Decke. Lauter Sterne, die schwach leuchten, wenn sie das Licht der Schreibtischlampe löscht. Es sind alles bekannte Konstellationen – Draco, Andromeda und Orion, der ihr zuwinkt wie ein alter Freund. Die Sternenkarte ist absolut korrekt, das Ergebnis stundenlanger Maßarbeit mit einem Lineal und einem Sternenatlas. Angela lächelt ihnen zu, als sie den Raum verlässt und die Türe hinter sich schließt.

Aus dem Untergeschoss steigt sie die Treppe hinauf. Shelly sitzt im Wohnzimmer auf dem Sofa und ist tief in ein Manuskript versunken. Ihr Haar hat sie zu einem losen Pferdeschwanz gebunden.

Gut. Angela weiß, sie kann jederzeit an Shellys Zimmertüre klopfen, wenn es sein muss, aber so ist es einfacher. Aus der Küche hört sie das Geklapper von Töpfen – Mike kocht wohl noch ein spätes Abendessen. Sie kann das brutzelnde Steak riechen. Zum Glück haben sie aufgehört, Angela zu fragen, ob sie mitessen möchte. Sie hat zu oft abgelehnt und ihre Arbeit vorgeschoben. Aber meistens war das nicht einmal gelogen.

Das Wohnzimmer hat keinerlei Ähnlichkeit mit ihrem Schlafzimmer. Alles hier spiegelt den Geschmack von Shelly und Mike wider. Schlicht und modern, ein Sofa aus schwarzem Leder und Chrom, der Beistelltisch aus Metall und Glas. All das wirkt unter einer Zimmerdecke mit Wasserschaden in einem Raum mit schäbigen graugelben Wänden und uralten Kleberesten früherer Tapeten jedoch reichlich fehl am Platz. Ein renovierungsbedürftiges Haus war alles, was sie sich in Brookline hatten leisten können, und eineinhalb Jahre später stecken sie nun immer noch mitten in den Umbauten. Das Mobiliar dient sozusagen als Ansporn, genauso wie der riesige Hundekorb in einer Zimmerecke, für den riesigen Hund, den die beiden noch nicht besitzen.

Shelly hat nicht gemerkt, dass Angela ins Zimmer gekommen ist, deshalb steigt sie mit Absicht auf eine knarzende Diele. Shelly schaut auf und runzelt die Augenbrauen.

»Hey Angela. Gehst du aus?«

»Ja«, antwortet sie. »Wie sehe ich aus?«

Shelly grinst. Dabei kommt eine Reihe breiter weißer Zähne zum Vorschein, die in krassem Kontrast zu ihrem dunkelbraunen Teint steht. Sie sieht sich Angelas Outfit ganz genau an, von Kopf bis Fuß.

»Ich würde sagen hinreißend. Klingt das gut?«

»Schmeichlerin.«

»Du solltest aber eine Jacke mitnehmen.«

Angela zuckt mit den Schultern. »Ich nehme die Straßenbahn bis zum Kenmore Square, da bin ich nicht lange draußen.«

»Sicher, wie du meinst. Aber das ist keine Straßenbahn, sondern die Tram, und du nimmst die T. Wenn du weiter Straßenbahn sagst, wissen alle sofort, dass du nicht aus Boston kommst.«

»Entschuldige. Alte Gewohnheit, schwer abzulegen.« Angela lächelt schuldbewusst. »Immerhin habe ich nicht Metro oder SEPTA gesagt. Passt mein Make-up so?« Sie dreht den Kopf, sodass Shelly sie von allen Seiten begutachten kann. »Nichts verschmiert?«

»Du siehst großartig aus«, bestätigt ihr Shelly. »Im Ernst. Geh und hab Spaß.«

»Danke.«

Angela rechnet damit, dass Shelly sich wieder in ihr Manuskript vertieft, das macht sie aber nicht. Stattdessen betrachtet sie Angela weiter und schürzt nachdenklich die Lippen.

»Hey, ich habe mich gefragt, ob wir nicht vielleicht mal mitkommen sollten.«

Oh nein. Nein, nein, nein. Nein. Angela bemüht sich, ihre Gesichtszüge nicht entgleisen zu lassen.

»Das müsst ihr wirklich nicht«, sie versucht, gelassen zu klingen. »Ich weiß, dass das nicht so euer Ding ist.«

»Ach, man könnte es ja mal ausprobieren.«

»Laute Musik, rücksichtslose Besoffene?« Angela deutet auf sich, ihr Outfit. »Prätentiöse Dramaqueens? Das ist doch nichts für dich.«

Shelly legt den Kopf schräg und sieht sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Möchtest du etwa nicht, dass wir mitkommen?«

»Natürlich möchte ich das«, sagt Angela. Sie lügt. »Ich will nur nicht, dass ihr euch verpflichtet fühlt, etwas zu machen, worauf ihr keine Lust habt. Nicht mir zuliebe.«

Shelly blickt kurz auf ihr Manuskript, um sich zu merken, wo sie ist, dann legt sie es auf den Sofatisch. Angela wird mulmig, als sich Shelly aufsetzt, um sich ihr ganz zuzuwenden.

Offensichtlich will sie reden.

»Ich versuche nur … Du wohnst seit fast einem Jahr hier, und es kommt mir so vor, als ob wir dich nie zu Gesicht bekommen. In der Uni haben wir viel mehr Zeit miteinander verbracht. Wir würden nur gerne mal wieder was mit dir zusammen unternehmen, verstehst du?«

»Ich kann nicht – ich muss meine Arbeit fertig schreiben. Es tut mir leid, aber das nimmt viel Zeit in Anspruch.« Angela merkt selbst, wie abweisend sich das anhört. Und da sie gerade dabei ist auszugehen, klingt es wie eine besonders fadenscheinige Ausrede.

»Das weiß ich.« Shelly hebt die Hand in einer Geste, die Angela beruhigen soll. »Ich möchte dich nicht zwingen, Zeit mit uns zu verbringen. Ich will dir auch nicht vorschreiben, was du machst, wenn du dir mal einen Abend freinimmst – es kommt ja weiß Gott nicht besonders häufig vor. Ich dachte nur, wenn du das nächste Mal ausgehst, könnten wir dich doch begleiten.«

Shellys Erklärung klingt logisch. Besorgniserregend logisch. Angela versucht verzweifelt, einen höflichen Grund zu finden, um abzulehnen.

»Du könntest mich einkleiden«, schlägt Shelly vor. »Das wäre doch lustig.«

»Meine Klamotten passen dir nicht«, sagt Angela schnell. »Ich bin ein Hungerhaken, du hast richtig Busen. Du müsstest dir neue Klamotten kaufen, um in den Club zu kommen; das ist doch Irrsinn, wenn du nicht mal wirklich hingehen möchtest. Ich sag dir was – den nächsten freien Abend verbringe ich hier mit euch.«

»Das musst du nicht …«

»Das möchte ich aber. Wirklich, das ergibt doch viel mehr Sinn. Und hattet ihr nicht vor, die Treppe bald mal zu streichen?«

Shelly nickt langsam. »Ja, wenn wir es irgendwann mal hinbekommen, die Farbe zu besorgen.«

»Das ist doch perfekt. Gebt mir Bescheid, wenn ihr wisst, wann, dann helfe ich mit. Wir veranstalten eine kleine Hausparty und machen es uns lustig.«

»Wenn du das wirklich so meinst … Na gut, das klingt auf jeden Fall nach Spaß«, sagt Shelly und scheint sich langsam mit der Idee anzufreunden. »Wir können Oldies hören. Snacks besorgen.«

»Snacks«, echot Angela. »Großartig.«

Erleichtert zwingt sie sich zu einem Lächeln. Das bedeutet, sie muss sich einen weiteren Abend freinehmen, aber es hätte schlimmer kommen können.

Dann merkt sie, dass Shelly immer noch neugierig ihr Gesicht studiert.

»Was? Ist es der Lippenstift?«

»Geht’s dir gut?«, fragt Shelly. »Ich meine, ist alles in Ordnung?«

Angela hört auf zu lächeln. »Es geht mir gut.«

»Du hast in letzter Zeit nicht so fit ausgesehen …«

»Hast du nicht gerade gesagt, ich sehe fantastisch aus?«

»Hör zu, Angela, ich will mich nicht einmischen, aber …« Shelly sucht nach den richtigen Worten. »Ich weiß, was auch immer zwischen dir und Tess gelaufen ist, war nicht einfach.«

»Es geht mir gut.«

»Du bist ans andere Ende des Landes gezogen. Mitten in deiner Promotion.«

»Das ist wirklich kein Ding. Ich habe das alles mit meinem Betreuer geklärt. Ich muss keine Kurse mehr besuchen, ich muss nicht vor Ort sein. Ich muss nur meine Arbeit fertig schreiben.«

»Das habe ich nicht gemeint«, sagt Shelly und klingt langsam etwas frustriert. »Ich will nur sagen, falls du mal mit jemandem reden möchtest, bin ich für dich da.«

»Ich weiß«, antwortet Angela ruhig. »Und danke dir, ich weiß das zu schätzen, wirklich. Aber das ist nicht notwendig.« Sie deutet auf den Stapel Papier auf dem Sofatisch. »Was liest du da? Ist es gut?«

Shelly ist vom Themenwechsel nicht begeistert. Angela fragt sich, ob sie wohl weiter nachhakt.

Aber schließlich sagt Shelly nur: »Ja, ist nicht schlecht. Meistens lohnt es sich schon, sie zu lesen, wenn sie bei mir ankommen. Ich habe ja einen Handlanger, der durch den Stapel unverlangt eingesandter Manuskripte geht und das wirklich fürchterliche Zeug vorher aussortiert.«

»Das hört sich praktisch an.«

»Oh, glaub mir, das ist es auch.«

Aus der Küche kündigt Mike an, dass das Essen fertig ist. Shelly schaut zur Küchentür und hievt sich vom Sofa. »Ich hoffe, du hast heute einen schönen Abend.«

»Ich gebe mein Bestes.«

»Gut. Weißt du, ich glaube das Buch könnte dir gefallen«, sagt Shelly auf dem Weg in die Küche. »Es ist ein bisschen wie Buffy – Im Bann der Dämonen. Lauter Monsterzeug. Werwölfe, Vampire, Hexen und so. Sehr Goth. Vielleicht interessiert es dich ja.«

»Sicher, klingt super«, antwortet Angela ohne echte Begeisterung. »Genau mein Ding.« Aber Shelly ist schon in der Küche verschwunden.

Und Angela verdrückt sich schnell.

2

Somerville, Massachusetts

6. November 1999

In all den Jahren, in denen es nun schon Chloës Aufgabe ist, den Stapel unverlangt eingesandter Manuskripte zu lesen, ist sie schon so ziemlich jeder Art von Engel begegnet.

Frömmelnde Engel mag sie am wenigsten. Sie haben die lästige Tendenz, sie selbst und alle, die Chloë kennt, in die Hölle zu verdammen. Tugendhafte Engel liegen allerdings direkt auf Platz zwei, weil sie einfach nervig sind. Zornigen Engeln kann man erstaunlich viel abgewinnen, wenn man kein Problem damit hat, dass ein paar Dämonen mit flammenden Schwertern durchbohrt werden. Bei rebellischen Engeln ist beides möglich, sie können sowohl ergreifend, aber auch abstoßend sein, je nachdem, wie viel sie jammern. Weise Engel sind mit Abstand die besten, aber die kommen leider allzu selten vor.

Falls sie nie wieder einem sexy Engel begegnen sollte, wäre auch das noch zu früh. Diese arroganten Arschlöcher.

Seit der Verlag, für den sie arbeitet, »inspirative Literatur« publiziert, tauchen in mindestens einem Viertel der Texte, die auf ihrem Schreibtisch landen, Engel auf. Manchmal kommt es ihr vor, als gäbe es einen Engel für quasi jede Gelegenheit. Abhängig vom Geschmack und der Gemütsverfassung des Autors können ihre Charaktere völlig unterschiedlich ausfallen. So ruhmreich und wunderlich ist es eben, unverlangt eingesandte Manuskripte anzunehmen. Ein paar Engelsromane hat sie an Shelly, für die Chloë die Manuskripte begutachtet, weitergeleitet, aber die meisten werden in braunen vorfrankierten und voradressierten Umschlägen zurückgeschickt oder wandern in den Papiermüll.

Trotz ihrer Erfahrung mit dieser Spezies hat sie allerdings jetzt Schwierigkeiten, den Engel in dem Buch, das sie gerade liest, einzuordnen. Er scheint nicht viel zu tun, außer im Himmel rumzuhängen und gelegentlich mit einem toten Heiligen zu quatschen. Vielleicht ist er ein ganz neuer Typus. Ein nutzloser Engel? Ein sinnloser Engel? Vielleicht soll das avantgardistisch sein. Wie dem auch sei, Chloë ist nicht sonderlich beeindruckt.

Es gab eine Zeit, da hatte sie diese Arbeit wenigstens dazu ermutigt, an ihren eigenen Texten zu arbeiten. Im Moment scheint allerding schon der Gedanke daran zu anstrengend. Das überrascht sie nicht sonderlich, weil sie in letzter Zeit eigentlich alles zu anstrengend findet. Schreiben, Lesen, das Haus verlassen. Morgens aufzustehen ist ein kleiner lächerlicher Sieg.

Ihr neuer Mitbewohner reißt sie aus ihren Gedanken, als er an den Türrahmen zwischen Wohnzimmer und Küche klopft. Sie zuckt bei dem Geräusch zusammen, was wiederum den Kater, der friedlich auf ihrem Schoß geschlafen hat, aufschreckt. Und ein aufgeschreckter Entropie ist eine zerstörerische Naturgewalt.

Noch bevor Ari es schafft, die Frage »Hast du kurz Zeit?« auszusprechen, nutzt Entropie Chloës Schoß schon schmerzhaft als Sprungbrett und ist so schnell unterwegs, dass man nur einen schwarzgrauen Streif erkennen kann. Dann prallt er noch an einer Wand ab, bevor er im Schlafzimmer verschwindet. Die vorsichtig aufgetürmten Stapel unterschiedlichster Dinge, die Chloë beim letzten Versuch aufzuräumen gebildet hat, stürzen daraufhin wie eine langsame, aber unaufhaltsame Lawine in sich zusammen.

Ari und Chloë betrachten den Schaden.

Um ganz ehrlich zu sein, macht es keinen großen Unterschied. Unmengen an Büchern, alten Rechnungen, schmutzigem Geschirr und ungewaschenen Socken sind so gut wie überall in der Wohnung verteilt. Und sogar noch Schlimmeres. Chloë hat einmal ein halb gegessenes Sandwich unter einer Zeitung gefunden. Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, eines gemacht zu haben, und sie hatte seit Wochen kein Brot mehr im Haus gehabt.

Die Möbel sind auch nicht besser. Es sind zusammengesammelte Teile, die Studenten der Tufts University nach ihrem Auszug auf dem Gehsteig zurückgelassen hatten – schiefe Bücherregale, Stühle, die nur dank Klebeband zusammenhalten, eine plattgesessene Couch, auf der Chloë jetzt sitzt. Das Gebäude selbst ist so heruntergekommen, wie der Eigentümer damit gerade noch ungestraft davonkommt. Innen blättert braune Tapete von den Wänden, außen braune Farbe.

»Das«, sagt Ari, als ein weiterer Stapel kollabiert, »ist eine ganz schön lebhafte Katze.«

Nachdem sie sich ein kleines Lächeln erlaubt hat, wendet sich Chloë an die Gestalt in der Küchentüre. »Hi. Ich arbeite gerade, aber ich kann kurz Pause machen.«

»Großartig.«

Als Ari zu ihr ins Wohnzimmer kommt, wirft sie das Buch auf den »nicht weiterleiten«-Bereich des Fußbodens. Tschüssi, nutzloser Engel. Die abgelehnten Manuskripte liegen in einem weiten Bogen ums Sofa herum auf dem Boden verteilt. Chloë kann anhand der Distanz zur Couch beurteilen, wie wenig sie ein Buch mochte; je schlimmer, desto weiter fliegt es.

»Was gibt’s?«, fragt sie.

»Nun ja«, antwortet Ari. »Ich hatte gehofft, wir könnten etwas besprechen. Was die Wohnung angeht.«

»Die Wohnung?«

»Ja.«

Chloë bekommt Beklemmungen. Schon seit er vor ein paar Tagen eingezogen ist, graut es ihr bei der Vorstellung, ein ernsthaftes Gespräch mit Ari führen zu müssen.

Sie kennt ihn kaum. Ihre verzweifelte finanzielle Lage ist der einzige Grund, weshalb sie überhaupt einen Mitbewohner gesucht hat. Seit der letzten Mieterhöhung kann Chloë sich die Wohnung nicht mehr alleine leisten. Daher hat sie die sargartige Kammer hinter der Küche untervermieten müssen. Das ist wahrscheinlich illegal, aber sie hat darauf spekuliert, dass andere Leute genauso verzweifelt sein mussten wie sie. Obwohl, nachdem ein paar mögliche Untermieter die Wohnung betreten, den Zustand des Wohnzimmers gesehen hatten und daraufhin fluchtartig wieder verschwunden waren, war sie sich da nicht mehr so sicher.

Dann ist Ari aufgetaucht, hat sich umgesehen, »Großartig!« gesagt und den Mietvertrag, den Chloë ihm überreichte, ohne ihn zu lesen, unterschrieben. Sie weiß immer noch nicht, was sie von ihm halten soll. Irgendetwas stimmt mit ihm nicht, aber sie hat noch nicht herausgefunden, was genau. Hinzu kommt, dass er Ariel heißt, was aber auch einfach darauf hindeuten kann, dass seine Eltern jüdisch sind. Oder möglicherweise Fans von Shakespeare. Oder eben von Arielle, die Meerjungfrau. Er sieht tatsächlich ein bisschen wie ein Engel auf einem Renaissancegemälde aus – er hat das typisch androgyne Aussehen, das lange, wallende Haar und große, gefühlvolle Augen.

Falls er einer Arbeit nachgeht, muss er jedenfalls nicht zu vorgegebenen Zeiten dort erscheinen. Trotzdem hat er zwei Monatsmieten bar im Voraus gezahlt, einen einzigen Koffer mitgebracht und sich dann hauptsächlich zurückgezogen. Chloë tippt auf Kiffer mit reichen Eltern, aber wenn er irgendwas rauchen sollte, tut er es nicht zu Hause. Er wirkt nett, aber sie wartet noch auf das dicke Ende.

Sie vermutet, dass er vielleicht einer Sekte angehört und sie missionieren will. Oder fragen, ob er in der Küche mit Drogen dealen kann. Oder sein Zimmer in den kleinsten Swinger Club der Welt verwandeln darf. Oder, im schlimmsten Fall, will er, dass sie aufräumt.

Also will sie es lieber schnell hinter sich bringen. »Worüber wolltest du reden?«

»Dein Kater«, erklärt Ari, »fällt mir immer wieder auf den Kopf.«

»Oh.« Chloë ist überrascht. »Ja, das tut mir leid. Das macht er gerne. Allerdings nur bei Leuten, die er wirklich mag.«

»Faszinierend! Aber nicht warum – nein, ich frage mich: wie? Wie macht er das?«

»Er hockt sich oben auf den Türrahmen und wartet, bis jemand durchgeht.«

»Beeindruckend«, sagt Ari und betrachtet den schmalen Vorsprung über der Küchentür. »Der ist ja höchsten ein paar Zentimeter breit.«

»Er ist wirklich sehr geschickt.«

»Katzen sind wirklich fantastische Wesen, findest du nicht?« Er starrt weiter den Türrahmen an, als hoffte er darauf, dass dieser seine Geheimnisse preisgibt.

»Hat er dich gekratzt?«, fragt Chloë.

»Was? Oh nein. Nein, er prallt irgendwie von einem ab und lässt sich dann fallen. Aber deshalb mache ich mir Sorgen. Ich will nicht, dass er sich wehtut.«

»Wirklich? Ich bin mir sicher, er verkraftet das.«

Ari sieht nicht überzeugt aus. »Meinst du, man kann ihn irgendwie davon abhalten?«

»Glaub mir, ich habe alles versucht. Aber ›Nein!‹ brüllen bringt überhaupt nichts, tja, weil er nun mal eine Katze ist. Ich habe darüber nachgedacht, die Türrahmen zu entfernen, aber ich wohne hier nur zur Miete und ich glaube, der Vermieter wäre nicht begeistert.«

»Nein«, stimmt Ari ihr zu. »Vermutlich nicht.«

»Ist das ein Problem für dich?«, fragt sie wieder nervös. Sie weiß aus eigener Erfahrung, wie befremdlich es ist, wenn Entropie einem plötzlich den Krieg erklärt. Wenn Ari auszieht, muss sie wieder von vorne mit der Suche anfangen.

Sie wartet, während er angestrengt nachdenkt.

»Ne, das passt schon«, sagt er schließlich. »Wenn du meinst, er kriegt die Landung immer hin, dann vertraue ich dir da. Katzen, einfach faszinierend.«

Chloë atmet erleichtert auf. »Danke, dass du bereit bist, das zu ertragen. Ich weiß, tieffliegende Haustiere sind kein typisches Haushaltsrisiko.«

»Keine Sorge deswegen.« Versonnen winkt er ab und will wieder zurück in die Küche. »Ich lass dich jetzt weiterarbeiten.«

Er ist schon fast weg, da sagt Chloë: »Hey, Ari?«

»Ja?«

»Ich bin neugierig, was machst du eigentlich? Ich meine beruflich.«

Er dreht sich wieder zu ihr um, und ein Grinsen macht sich auf seinem Gesicht breit. »Ich predige.«

»Du machst was?«

Ari tritt einen Schritt vor und zuckt zusammen, als er auf etwas Hartes oder Spitzes tritt, das unter dem ganzen Zeug auf dem Boden verborgen liegt. »Ich predige. Ich bin Prediger.« Er steigt jetzt vorsichtiger über den Müll auf dem Boden und kommt rüber zur Couch.

»Wo predigst du?«, fragt sie ihn.

»Auf der Straße.«

»Oh.«

»Ich habe einen netten Platz im Public Garden gefunden. Wenn sie mich da nicht bald vertreiben. Ich werde auch heute Abend wieder dort sein.« Er setzt sich neben sie und klatscht sich auf die Knie.

»Heute noch? Aber es ist schon dunkel.«

»Ich habe festgestellt«, erwidert er ernst, »dass ich seltener verjagt werde, wenn ich nachts predige. Solange ich nicht zu laut werde. Ein bisschen Aufmerksamkeit erregen ist wichtig, aber die, sagen wir mal, falsche Aufmerksamkeit ist ein Problem.«

Chloë weiß nicht so recht, was sie sagen soll. »Verdient man da gut?«

»Keine Ahnung. Ich bin noch nicht lange dabei.«

»Und was predigst du?«, fragt sie weiter, obwohl ihr langsam mulmig wird. »Ich meine, welche Religion?«

»Eine, die ich selbst erfunden habe. Ich habe mich mit vielen religiösen Lehren beschäftigt, aber das hier ist meine eigene Interpretation des Ganzen.«

Da haben wir es, denkt sich Chloë und sieht das metaphorische dicke Ende jetzt klar vor sich.

Eine Sekte also.

»Möchtest du gerne mehr hören?«, fragt Ari aufgeregt. Seine Augen leuchten vor Eifer.

»Ich glaube, jetzt ist nicht der richtige …«

»Es ist eine sehr freundliche Religion. Es werden ganz sicher keine Tiere geopfert.«

»Das ist … gut?« Sie zögert.

»Ich dachte, das interessiert dich, weil du offensichtlich Tierliebhaberin bist. Es gibt bei mir keinen Anlass, irgendetwas umzubringen, keine Kühe, keine Ziegen, nichts. Auf gar keinen Fall Katzen. Ich habe ein ganzes Gleichnis dazu, falls du es hören möchtest.«

»Ich muss wirklich weiterarbeiten«, sagt Chloë und tätschelt den Stapel Manuskripte neben sich vielleicht ein bisschen zu enthusiastisch. »Also sicher, das klingt super, aber du verstehst ja, oder?«

Aris Lächeln fällt ein wenig zusammen. »Oh. Das verstehe ich natürlich.«

»Wird nicht weniger. Die Arbeit.«

»Vielleicht ein andermal, ja?«

Er sieht so niedergeschlagen aus, dass Chloë sich schlecht fühlt. »Vielleicht. Mal sehen.«

»Okay«, sagt er. »Dann lass ich dich mal allein. Bis du nicht mehr so viel zu tun hast.«

»Klar.«

Ari steht vom Sofa auf und bahnt sich wieder langsam einen Weg durchs Wohnzimmer. Obwohl er so vorsichtig ist, steigt er trotzdem auf etwas, das unter seinem Fuß knirscht. Er wirft ihr einen entschuldigenden Blick zu und verzieht sich in die Küche. Kurz darauf hört sie seine Zimmertür ins Schloss fallen.

Chloë reibt sich die Schläfen, versucht, die sich anbahnenden Kopfschmerzen zurückzudrängen, dann fährt sie sich mit den Händen durch die wirren Locken. Weil es nichts bringt, die Augen zu schließen und ruhig zu sitzen, sucht sie unter den Sofakissen nach der Packung Antidepressiva. Die sind natürlich eigentlich nicht gegen Kopfschmerzen, aber vielleicht helfen sie ihr, sich zu entspannen.

Auch wenn ihr Mitbewohner ein angehender Sektenführer ist, sagt sich Chloë, scheint er harmlos. Zumindest hofft sie das inständig. Illegale Vermieter haben keine große Auswahl.

Nachdem sie die Tabletten ohne Wasser heruntergeschluckt hat, schnappt sie sich ein neues Exemplar vom Stapel ungelesener Einsendungen und schlägt es auf. Es handelt sich um einen weiteren religiösen Text. Das Thema verfolgt sie wohl heute. Diesmal kommt ein frömmelnder Engel vor, und schon wird ihr versichert, dass sie zu endloser Folter verurteilt sei und eine Ewigkeit in Pech und Schwefel brennen werde.

Von da an wird es nicht besser.

3

Das Gleichnis vom Monster und dem Mädchen

Public Garden, Boston

6. November 1999

Ja, genau, versammelt euch. Es gibt keinen Grund, schüchtern zu sein, kommt ruhig näher. Willkommen im Public Garden. Die Predigt beginnt in zwei Minuten, gleich hier unter der Statue des barmherzigen Samariters. Sie soll im Übrigen an den ersten medizinischen Gebrauch von Äther erinnern, wusstet ihr das? Richtig, deshalb betäubt der barmherzige Samariter den anderen Typen da auch. Man lernt nie aus, stimmt’s?

Na gut, danke euch allen, also euch beiden – halt, ich habe den Hund nicht gesehen. Euch dreien. Vielen Dank euch dreien, dass ihr mir an diesem kalten Novemberabend, nun ja, euer Gehör schenkt. Was für eine Freude, persönlich mit euch zu sprechen; man läuft sonst Gefahr, dass einem die Moral auf halber Strecke flöten geht. Entschuldigt die späte Stunde, aber die Polizei hier hat eine eher engstirnige Vorstellung davon, was »Erregung öffentlichen Ärgernisses« bedeutet. Deshalb versuche ich unter dem Radar zu fliegen, bis sich die Sache wieder beruhigt hat.

Nun, wie wäre es mit einem Gleichnis? Alle lieben Gleichnisse, nicht?

Cool, das höre ich gerne, das ist super. Das heutige Gleichnis heißt »Das Monster und das Mädchen«.

Es war einmal ein Monster.

Das Monster war ziemlich unglücklich. Eines Tages hat es sich daher mit Pfefferminzschnaps volllaufen lassen und sich Disneys Die Schöne und das Biest siebzehnmal hintereinander angeschaut. Am nächsten Tag wacht es mit heftigen Kopfschmerzen und der Überzeugung auf, dass es nur glücklich werden kann, wenn es die wahre Liebe zu einem schönen Mädchen findet.

Dem Monster war jedoch klar, dass sich kein schönes Mädchen in ein Monster verlieben würde, also verkleidete es sich als Mensch, wahrscheinlich, indem es einen Hut aufsetzte oder so. Mit dieser Verkleidung ging es dann zum Tanzen in einen Nachtclub. Und in diesem Nachtclub – Verzeihung, was meintest du? Ja, vollkommen richtig! Da hat sich wohl einer den Titel gemerkt. In diesem Nachtclub sah das Monster ein schönes Mädchen.

Das Mädchen ließ sich von der Verkleidung des Monsters täuschen, und die beiden tanzten miteinander. Später gingen sie nach Hause und hatten eher mittelmäßigen Sex, denn das Monster war ein wenig egoistisch. Aber das schöne Mädchen hatte lange mit niemandem mehr geschlafen und freute sich, überhaupt etwas zu erleben.

Als sie am nächsten Morgen aufwachten, stellten sie fest, dass sie nun eine Beziehung miteinander führten.

Die ersten Wochen oder Monate lief alles ganz gut, aber dann merkte das Monster wieder, dass es unglücklich war. Also beschloss es, dass mit dem Mädchen etwas nicht stimmen konnte, und fing an, ihm das immer wieder zu sagen. Das Mädchen gab sein Bestes, aber das Monster war nie zufrieden.

Eines Tages biss es das Mädchen schließlich. Aber da hatte das Monster das Mädchen schon davon überzeugt, es nicht besser verdient zu haben, und so verließ es das Monster nicht. Es ist nicht leicht, den Überblick zu behalten, wenn man manipuliert wird, und das Monster warf dem Mädchen jeden Tag vor, dass alles seine Schuld war. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Und das Monster hörte nicht auf, es zu beißen.

Aber obwohl die Psychospielchen das Mädchen lange Zeit unter die Kontrolle des Monsters gebracht hatten, erkannte es eines Tages doch, dass es ein Monster vor sich hatte. Vielleicht ist dem Monster der Hut runtergefallen oder so. Tja, und da das Mädchen sowohl Dracula mit Bela Lugosi als auch das fürchterliche Remake mit Winona Ryder gesehen hatte, befürchtete es, auch zum Monster zu werden.

Es trennte sich kurze Zeit darauf von dem Monster, aber es wusste immer noch nicht, ob es sein Schicksal war, auch ein Monster zu werden. Das Monster rastete aus, denn es wusste, dass es nun für immer unglücklich bleiben würde. Ende.

Abgesehen davon, dass beide vollkommen unrecht hatten. Das Monster war einfach nur ein Arschloch, und nichts würde das jemals ändern. Und das Mädchen brauchte eigentlich nur eine volle Mütze Schlaf und einen guten Therapeuten.

Aber so läuft das nun mal, schätze ich.

Das ist jetzt wirklich das Ende. Alles gesagt.

Danke euch, das ist sehr freundlich, ich weiß das zu schätzen, danke. Habt eine gute Nacht, ihr beiden. Und der Hund auch. Darf ich ihn streicheln? Nein? Kein Ding.

Macht’s gut!

4

Ascension, Boston

6. November 1999

Der Club liegt am Kenmore Square, nicht weit vom leuchtenden Neonschild der Citgo, das die Silhouette der ganzen Umgebung prägt. Auf der anderen Seite der Autobahn befinden sich die bekannteren Läden, auf der Lansdowne Street direkt am Fenway Park. Dieser hier ist gerade nahe genug am Ausgehviertel dran, aber weit genug davon entfernt, um sein eigenes kleines Reich zu bilden.

Das Gebäude hat drei Stockwerke, durch die sie langsam schlendert. Auf zwei Etagen geht es nur um die Musik, die Tanzflächen nehmen den ganzen Raum ein. Auf der mittleren dröhnt Industrial Rock. Gerade verklingt »Butterfly Wing« und wird von »Bad Blood« von Ministry abgelöst. Trance und Shoegaze laufen im Stock drüber.

Alles ist schwarz gestrichen: die Wände und Decken, die Rohre der Heizung und Lüftungsanlagen. Die Beleuchtung ist düster bis auf ein paar farbige Lichteffekte, die über den Boden huschen. Wäre der Raum leer, man hätte das Gefühl, in einen Schlund hinabzusteigen. Aber es ist Samstagnacht, daher ist die Hölle los, und die Musik ist voll aufgedreht.

Angela tanzt ein wenig, gerade genug, um nicht aufzufallen, aber auch nicht zu viel, um abgelenkt zu werden. Eigentlich hat sie nämlich vor, etwa alle zwanzig Minuten im unteren Stockwerk an der Bar vorbeizuschauen. Sie würde gerne mehr tanzen. Früher hat sie mehr getanzt. Sie hat es geliebt. Aber in letzter Zeit hat sie andere Sorgen.

Ein paar Stammgäste sind da, der ein oder andere begrüßt sie. Sie grüßt zurück, aber sie kennt sie alle eigentlich nur vom Sehen. Das macht sie mit Absicht. Sie wechselt zwischen so vielen Clubs hin und her wie möglich und geht nur aus, wenn es unbedingt sein muss. Nach ungefähr zwei Wochen wird der Hunger unangenehm. Aber wenn sie sich zusammenreißt, muss sie nur alle zwei Monate in den gleichen Club.

Und sie hat sich sehr zusammengerissen. Das bedeutet aber auch, dass sie nun sehr, sehr hungrig ist.

Sie muss sich konzentrieren, während sie sich durch die Menge schiebt. Die Lichteffekte leuchten und blinken und werfen seltsame Schatten auf die Körper und Gesichter der anderen. Um sie herum sind alle damit beschäftigt zu tanzen, zu trinken, sich über die laute Musik hinweg anzubrüllen. Angela bleibt am Rand. Dank der bunten Mischung aus Strapsen und Korsagen, Lackstiefeln und Lederjacken, Gewändern und Handschuhen ist sie getarnt wie ein Leopard im hohen Gras.

Manche Clubgänger stechen mehr hervor als andere. Immer wieder einmal gibt es einen Farbklecks zwischen all dem Schwarz – ein Pink oder Blau oder Gold. Manchmal trägt jemand einen Hut oder außergewöhnlichen Schmuck. Ein mutiges junges Ding trägt nichts außer streifenweise Klebeband. Nicht die Person, nach der Angela Ausschau hält. Sie sucht nach jemandem, der nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Die Stammgäste sind auch keine Option. Zu gefährlich, die Chance wiedererkannt zu werden ist zu groß. Das Gleiche gilt für Gruppen oder Paare. Und sie hält sich von denjenigen fern, die den ganzen Abend auf der Tanzfläche verbringen. Schon ganz am Anfang hat sie festgestellt, dass es viel zu umständlich ist, einen hingebungsvollen Tänzer vom Parkett zu bekommen.

Auf ihrer dritten Runde durch die Bar entdeckt sie eine mögliche Kandidatin, sie nippt an ihrem Drink und unterhält sich mit niemandem. Nach zwei weiteren Runden hat sich ihre potentielle Beute nicht vom Fleck bewegt. Perfekt. Angela geht zum Angriff über, und während sie sich der Frau nähert, begutachtet sie sie ein wenig genauer.

Sie ist etwa Anfang zwanzig und hat dunkles lockiges Haar, olivfarbene Haut und kleine dunkle Augen. Sie hat ihren Whiskey Cola schon fast ausgetrunken, und es war ganz offensichtlich nicht ihr erster. Sie bewegt sich ein wenig zu langsam, bemüht sich, mit wackeliger werdenden Händen nichts zu verschütten.

Sie hat ein Piercing an der Unterlippe und trägt Lederbänder mit Nieten am Hals und an den Handgelenken. Aber ihre Hose und ihr Top sind schlicht, einfach schwarz. Klamotten, wie sie vermutlich die meisten zu Hause haben. Angela schätzt, dass sie sich Halsband und Armbänder ausgeliehen hat und wohl zum ersten Mal hier ist. Und Angela ist gut im Schätzen.

Es dauert eine Weile, bis der Barhocker neben der Frau frei wird. Aber dann setzt Angela sich schnell neben sie und bestellt sich einen Gin Tonic. Sie wartet nur ein paar Sekunden ab, bevor sie sich zu der dunkelhaarigen Frau umdreht und sie mit lauter Stimme über den Lärm an der Bar hinweg anspricht.

»Hi.«

Ein verwirrter Blick, etwas abwesend. Der Gesichtsausdruck von jemandem, der nicht weiß, warum er angesprochen wird. »Hi.«

»Bist du auch alleine hier?« Angela klingt freundlich. Einladend. »Ich hasse es, alleine auszugehen.«

Eine Pause. Ein leichtes Nicken. »Ja.«

»Menschen beobachten wird schnell langweilig, stimmt’s?«

»Mir gefallen die Outfits.«

Angela hört genau zu. Ihre Sitznachbarin ist nicht so betrunken, dass sie lallt, aber betrunken genug, um Wörter besonders deutlich zu artikulieren, um keines zu verschlucken. Angela lächelt, fröhlich und aufgeschlossen.

»Ich weiß, was du meinst«, sagt sie. »Hast du die junge Frau gesehen, die irgendwie nur drei Streifen Paketband trägt?«

Sie macht große Augen. »Ja.« Sie sieht beinahe bedächtig aus. »Nichts, was ich draußen tragen würde, aber holla.«

»Absolut.«

Angelas Drink kommt. Sie schiebt dem Barkeeper einen Fünfer über den Tresen und gibt vor, einen Schluck zu nehmen. Alkohol ist ein Vergnügen, an dem sie nicht mehr teilhaben kann. Obwohl sie es gerne täte, besonders jetzt gerade. Tanzen geht sie zwar nur noch selten, aber Alkohol kann sie überhaupt nicht mehr zu sich nehmen. Schon ein Schluck verursacht bei ihr Brechreiz.

Während sie das Glas wieder auf die Theke stellt, fragt sie: »Und, wie heißt du?«

»Hazel.«

»Freut mich, dich kennenzulernen, Hazel. Ich bin Angela.« Sie sieht zu Hazels fast leerem Glas. »Was trinkst du?«

»Whiskey Cola. Und du?«

»Gin Tonic. Mir gefällt, wie er leuchtet.«

»Wie, leuchtet?« Hazel kommt neugierig näher. Angela schiebt ihr Glas näher an den Lichtkegel einer der Schwarzlichtlampen über der Bar. Die beiden Frauen beobachten, wie die Flüssigkeit auf einmal hellblau aufleuchtet. »Cool.«

»Das liegt am Chinin. Es ist stark fluoreszierend.« Jetzt neigt sich Angela aufgeregt zu Hazel vor. »Weißt du, wie es das macht? Es absorbiert Ultraviolettstrahlung bei dreihundertfünfzig Nanometern und strahlt dann blaues Licht bei vierhundertfünfzig aus. Es muss am Ende weniger Energie haben, daher ist die Wellenlänge länger.«

»Äh, ich bleibe bei ›hübsche Farbe‹, wenn das okay ist?«

»Entschuldige.« Angela möchte sich am liebsten auf die Zunge beißen. Warum lässt sie sich heute Abend so leicht ablenken? Sie bemüht sich, ihre Aufmerksamkeit wieder auf die aktuelle Situation zu lenken. »Möchtest du einen? Ich lade dich ein.« Hazel zögert. »Du kannst die nächste Runde übernehmen«, versichert ihr Angela.

Hazel gibt achselzuckend nach, und Angela bestellt zwei Gin Tonic beim Barkeeper.

»Und, Hazel, was machst du so?«, fragt Angela. »Wenn du nicht gerade hier bist, meine ich.«

»Ich bin Buchhalterin.« Hazel verzieht das Gesicht, ihre Worte klingen kurz und abgehackt. »Arbeite an meiner Wirtschaftsprüferlizenz.«

»Du siehst aus, als rechnest du damit, dass ich gleich schreiend weglaufe.«

»Nein, ich rechne damit, dass du mich gleich fragst, ob es so langweilig ist, wie es klingt.«

»Machen das andere wirklich?«

»Üblicherweise sind sie zu höflich, um es auszusprechen. Aber ich weiß, das würden sie gern«, sagt Hazel missmutig. »Und ich habe sogar einen Job in einem ganz interessanten Unternehmen.«

»Tatsächlich?« Angela hebt herausfordernd die Augenbrauen. »Darfst du das Piercing auch in der Arbeit tragen?«

»Tja, nein. Aber abgesehen davon ist es echt spannend.«

»Na gut«, sagt Angela. »Dann frage ich nicht, ob es langweilig ist. Warum erzählst du mir nicht stattdessen, was daran spannend ist?«

Bald hat Angela Hazel dazu gebracht, angeregt von ihrer Arbeit zu erzählen. Als die Getränke kommen, bemerkt Hazel daher auch nicht, dass Angela die Pillen in die Hand nimmt und sie mit einer kräftigen Bewegung zerbröselt. Oder dass sie das Pulver in Hazels Glas rieseln lässt, bevor sie es zu ihr rüberschiebt.

Sie hört aufmerksam zu, während Hazel ihren Job in einer Softwarefirma beschreibt. Ihr Team ist auf internationales Steuerrecht spezialisiert, was anscheinend gemein kompliziert ist. Angela wirft die richtigen Worte ein, um das Gespräch am Laufen zu halten, macht den richtigen Gesichtsausdruck, um Interesse zu zeigen, und navigiert vorsichtig an der schmalen Grenze zwischen unterhalten und flirten. Mittlerweile hat sie das sehr gut drauf. Eine Tatsache, die sie verabscheut.

Sie würde gerne mit jemandem flirten, aufrichtig und nicht so wie dieser groteske Betrug. Aber das würde die ganze Sache nur noch schlimmer machen. Viel, viel schlimmer. Sie kennt die andere Seite der Medaille und weiß, wohin das führt.

Angela kann mit niemandem zusammen sein, egal, wie sehr sie sich das wünscht. Es ist zu gefährlich. Das hier, diese entsetzliche Parodie einer Clubbekanntschaft, das ist alles, was sie sich erlauben darf.

Für immer.

Als der Gin Tonic halb getrunken ist, vergisst Hazel mitten in einer lustigen Geschichte über einen Kollegen, was sie eigentlich gerade erzählen wollte.

Als das Glas leer ist, versucht sie zum mindestens fünften Mal, irgendetwas über deutsches Importrecht zu erklären. Angela ist sich nicht ganz sicher, worum es bei dem Gesetz geht oder warum es so wichtig ist, denn Hazel lässt, ohne es zu bemerken, die Hälfte der Erklärung weg.

Angela atmet einmal tief durch, um sich für das, was jetzt kommt, zu wappnen. Und vielleicht auch, um sich an eine Zeit zu erinnern, als sie noch atmen musste.

Es ist so weit.

»Alles in Ordnung, Hazel?«, fragt sie sanft, nichts außer Fürsorge in ihrem Ton. »Du siehst nicht so gut aus.«

»Ich glaube …« Hazel runzelt verwirrt die Stirn. Schwach deutet sie auf ihr leeres Glas. »Ich weiß nicht … ich habe vielleicht, vielleicht zu viel gehabt …« Sie schwankt auf ihrem Barhocker.

»Musst du dich übergeben?« Hazel wird bei dem Vorschlag leicht grünlich. »Alles klar, dann bringen wir dich doch besser auf die Toilette.«

»Na ja …«, murmelt Hazel. »Das klingt … ja.«

Angela steht auf, greift Hazel unter die Arme und hilft ihr vom Barhocker. Hazel erlaubt ihr, sie durch die Menge zur Damentoilette zu bugsieren, sie stolpert vor sich hin und stützt sich auf Angela.

Niemandem fällt irgendetwas auf. Niemand interessiert sich für die beiden.

Angela kann Hazels Puls spüren, das Blut, das unter ihrer Haut fließt. Und als unvermeidbare Antwort darauf verschiebt sich etwas hinter Angelas Oberlippe. Ihr Mund ist voller Speichel. Sie schluckt ihn hinunter. Wenn Angelas Herz immer noch selbstständig schlagen könnte, jetzt würde es rasen. Aber es bleibt still und leblos.

Sie hat viel zu lange gewartet, und sie muss sich konzentrieren, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Verflucht. Aber sie verabscheut das hier sosehr.

Sie schiebt die Tür auf und Hazel und sich in die Toilette, an ein paar anderen Frauen vorbei, die vor dem Spiegel ihr Make-up checken. Sie versucht, Hazel nach Möglichkeit zwischen sich und den Spiegeln zu positionieren. Es könnte ein bisschen komisch rüberkommen, falls jemandem auffällt, dass nur eine von ihnen ein Spiegelbild hat.

Angela wuchtet Hazel in eine leere Kabine, macht die Tür zu und schließt ab. Sie setzt Hazel auf den Rand der Kloschüssel, greift ihr in den Nacken und öffnet das Lederband. Angela hat schon eine Ausrede parat, falls sie eine braucht – alles, damit Hazel besser Luft bekommt –, aber die ist schon nicht mehr nötig. Hazel schielt, ihre Lider sind halb geschlossen, und sie gibt nur noch unzusammenhängendes Gemurmel von sich. Sie bekommt nicht genug mit, um sich zu wehren.

Angela nimmt sich einen Moment Zeit, um sich das volle Ausmaß ihrer Handlung bewusst zu machen.

»Es tut mir so leid«, flüstert sie.

Dann beißt sie Hazel in den Hals.

5

Somerville

6. November 1999

Draußen regnet es so heftig, dass das Wasser an den Fensterscheiben entlangläuft und die Sicht trübt, als wäre es Vaseline. Eigentlich liebt Chloë Regen, das beruhigende Hintergrundgeräusch der fallenden Tropfen. Aber heute Nacht hellt es ihre Stimmung nicht auf. Nichts könnte das. Die Nachbarn über ihr veranstalten irgendetwas, das immer wiederkehrende dumpfe Schläge produziert. Chloë fragt sich, was das sein könnte. Basketball? Stepptanz? Viehtreiben?

Die weiße Seite auf ihrem Computerbildschirm fängt an, sie zu verhöhnen. Sie tippt einen Buchstaben und löscht ihn sofort wieder. Eine Weile später versucht sie es mit einem ganzen Wort, in der Hoffnung, es möge sie zu einem ganzen Satz motivieren. »Das« steht da jetzt, einsam und alleine, bis sie es nach einer gefühlten Ewigkeit wieder löscht.

Der Himmel ist schon von Grau zu Schwarz übergegangen, der frühe Sonnenuntergang Bostons im Winter verkürzt die Tage, und dieses eine Wort ist das einzige, das sie zustande bringt. Um genau zu sein, ist es das einzige, was sie überhaupt zustande bringt.

Chloë kann es nicht auf die Nachbarn schieben, es lag nicht am Krach. Sie kann nicht einmal dem Kater die Schuld geben, jetzt wo sie ihn von der Tastatur verscheucht hat. Außerdem wäre es unfair, böse auf Entropie zu sein, schließlich ist er der Einzige, der ihr den ganzen Tag Gesellschaft geleistet hat. Ari ist seit Stunden unterwegs, und seit dem Gespräch über Tieropfer hat sie sowieso keine große Lust mehr, mit ihm zu reden. Sie hofft aber, dass er nicht zu nass wird, wo auch immer er sich rumtreibt.

Sie dreht sich um und krault Entropie hinterm Ohr, bis dieser im Halbschlaf zufrieden schnurrt. Wenigstens einer hat einen guten Tag.

Mit einer Pistole, der Gedanke drängt sich ihr ungefragt auf. Du könntest dir in den Kopf schießen. Wäre doch schnell und einfach.

Zur Hölle.

»Wo sollte ich überhaupt eine Pistole herbekommen?«, fragt sie laut, als ob sie einer vollkommen logischen Konversation folgen würde. »Dafür braucht man einen Waffenschein. Und Pistolen sind unzuverlässig. Mit einer Pistole kann man danebenschießen und am Ende hirngeschädigt im Krankenhaus aufwachen, an lauter Maschinen angeschlossen. Möchtest du das etwa?«

Sie weiß, in der Psychologie nennt man dieses Phänomen »Intrusionen«, aber es hilft ihr nichts, zu wissen, wie man das nennt. Manchmal hilft es ihr, sich vorzustellen, diese Gedanken wären Einbrecher, fremde Invasoren, die in ihren Kopf eindringen und ihr Hirn besetzen. Sie hat gehofft, sie würden mit dem Ende ihrer Ehe auch verschwinden – entfernt man die offensichtliche Ursache, sollte die Wirkung nachlassen, oder nicht? Aber sie hat sich schon vor über zwei Jahren getrennt, die Scheidung längst abgeschlossen, und nichts hat sich verändert.

Um fair zu sein – es ist schon einige Wochen her, dass es ihr zuletzt so gegangen ist. Die Antidepressiva helfen. Aber sie hat immer noch ab und zu schlechte Tage.

Sie hätte nicht so lange in ihrem Schlafzimmer bleiben sollen. Es kann nicht gesund sein, sich einzusperren und die ganze Zeit auf einen zugemüllten Schreibtisch und ein ungemachtes Bett zu glotzen. Ihre Wände sind kahl und hässlich, nur die regenverschmierten Fenster bilden einen Kontrast. Es hängen keine Bilder mehr an ihren Wänden. Die hat Alec alle mitgenommen, als er ausgezogen ist. Nur ein paar hellere Rechtecke sind geblieben, wo die Rahmen einst hingen. Sie ist sich nicht einmal sicher, ob ihm die Bilder überhaupt gefielen.

Um ehrlich zu sein, es hat ihm am Ende gar nichts mehr gefallen. Seine Abneigung gegenüber der Welt und ihr hatte täglich zugenommen. Eine Masse kalter Aggression, getarnt als Rationalität, so war Alec. Sie hatte Gefühle, während er Fakten hatte. Moderne Kunst ist Betrug – Fakt. Fernbedienungen verursachen Krebs – Fakt. Wenn Chloë anderer Meinung ist, liegt das an ihrer Dummheit – Fakt. Ihre Eltern hatten, als sie noch ein Kind war, dasselbe Spiel mit ihr gespielt, und ihre Tante Esther war die Einzige gewesen, die ihnen das je auf den Kopf zugesagt hatte. Sie hat sich schon überlegt, ob sie vielleicht deshalb auf den genau gleichen Bullshit von Alec so leicht reingefallen war.

Wie gerne würde sie einfach umziehen, die schlechten Erinnerungen, die sich hier wie totes Laub angehäuft haben, zurücklassen. Aber das ist zu teuer. Möglicherweise würde es ihr helfen, ein bisschen rauszugehen, doch heute ist es zu spät und zu nass.

Vielleicht sollte sie Abendessen kochen, falls sie irgendetwas findet, das man zubereiten kann. Der Kühlschrank ist so gut wie leer, und vor den Schachteln und Dosen im Regal graut es ihr. Manche stehen da schon seit Jahren. Kochen ist sowieso zu anstrengend. Sie ist einfach zu nichts zu gebrauchen.

Verdammt. Es geht ihr wirklich schlecht. Sie weiß nicht mehr, wann sie sich zuletzt so elend gefühlt hat. Es kann doch wohl nicht schlimmer werden, oder? Vielleicht ist es wieder einmal Zeit, die Dosis ihrer Medikamente zu erhöhen.

Entropie gähnt und streckt sich, dann fängt er an, sich hingebungsvoll zu putzen. Chloë beobachtet ihn bei der Körperhygiene. Es ist schon ein paar Tage her, dass sie geduscht hat, und sie fühlt sich langsam etwas eklig. Sie sollte duschen, bevor sie morgen zur Arbeit geht.

Sie könnte sich in der Badewanne die Pulsadern aufschlitzen, wenn sie eine Badewanne hätte, was nicht der Fall ist. Es gibt nur eine Duschkabine. Vom schäbigen Zustand der Wohnung gerettet. Sie kann sich nicht in der Garage mit Abgasen vergiften, weil sie keine Garage hat. Abgesehen davon hat sie auch kein Auto. Sie kann ihren Kopf nicht in den Herd stecken – besser gesagt, das könnte sie schon, aber der Herd ist ein altes Elektromonster aus den Siebzigern und wahrscheinlich würden ihr dann nur die Haare ein bisschen zu Berge stehen.

Chloë lacht laut auf, worauf Entropie seinen Waschvorgang unterbricht und sie irritiert ansieht.

Ihr Hirn versucht, sie in den Selbstmord zu treiben, und sie macht sich Sorgen um brüchiges Haar.

Sie braucht eine Ablenkung. Irgendwas, egal was, um sich zu beschäftigen. Sie könnte natürlich arbeiten. Sie müsste heute eigentlich dringend noch ein paar Manuskripte lesen. Wenn sie noch weiter in Verzug gerät, wird Shelly sie fragen, ob alles in Ordnung ist. Falls sie es gar nicht mehr schafft, weiterzulesen … Chloë will gar nicht daran denken. Sie muss schließlich Geld verdienen.

Sie quält sich vom Stuhl hoch, watet durch die Wäscheberge auf ihrem Schlafzimmerboden und kämpft sich durch bis ins Wohnzimmer. Dort wartet ein gigantischer Stapel ungelesener Arbeit auf sie. Ganz oben liegt ein Roman, der den nicht sonderlich vielversprechenden Titel Dem Geschöpf der Nacht verfallen trägt. Immerhin vermutlich kein religiöses Thema. Gut. Und wie viel kann man schon allein vom Titel sagen? Es könnte ja eine Komödie sein. Dummer Titel, lustige Charaktere, alberner Plot. Sie schlägt es auf, und ihr Blick fällt auf das Vorwort des Autors.

Dieses Buch, steht da, entstand während einer der dunkelsten Phasen meines Lebens. Ich war überzeugt davon, dass mich niemand liebte und dass ich es nicht verdient hatte, geliebt zu werden. Ich habe alles Gute zerstört, um mir das Trauma zu ersparen, es später zu verlieren. Ich widme dieses Buch allen, die so gelitten haben wie ich.

Okay. Keine Komödie. Sie blättert um. Dann bleibt sie auf einer Seite hängen.

Einige Formulierungen springen sie förmlich an. Darunter besonders, »das nackte, verschwitzte Sexspielzeug«, »das blutrünstige, unmenschliche Flittchen« und ein Absatz, der mit den unheilvollen Worten »bis die Ananas ganz eingeführt worden war« endet.

In was eingeführt?,