Die Untoten von Louisiana - Emanuel Ritzinger - E-Book

Die Untoten von Louisiana E-Book

Emanuel Ritzinger

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Beschreibung

Wir in Europa kennen New Orleans eigentlich nur im Zusammenhang mit Hurrikan Kathrina. Aber die Südstaatenmetropole ist vor allem bekannt durch Schwarze Magie, Voodoo und Zombies. Vor einigen Jahren wird die Stadt von einer grausamen Mordserie erschüttert. Das Besondere dabei: Allen Opfern wurde das Blut regelrecht aus den Körpern gesaugt. Die Vampire Louisianas, die seit der Stadtgründung im 17. Jahrhundert unauffällig unter den Menschen gelebt haben, vermuten den Mörder in den eigenen Reihen! Um nicht von den Lebenden entdeckt zu werden, rufen die Untoten den Meistervampir Lord Dracul zu Hilfe. Dieser "Terminator der Schattenwelt" soll den Täter finden, zur Strecke bringen und vernichten! Wird das gut enden?

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Seitenzahl: 278

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Die Untoten von Louisiana

Blutleere FrauBeginn der ErmittlungenKritische JahreBißspurenIm French QuaterOhne LebenssaftIn ItalienLuftverschmutzungScheuer VampirUndercover EinsatzTreffen mit dem MeistervampirTödliches GiftLord Dracul auf ReisenUnerwarteter BesuchLord PedroNeue ErkenntnisseGute JagdOutdoorInterview mit einem VampirImpressum

Blutleere Frau

Die Bibliothek zeugte von der Sammelleidenschaft des Hausherrn. Aber keine der fünf Personen um den Tisch hatte ein Blick für die kostbaren Folianten an den Wänden. Schon seit fast einer halben Stunde herrschte Schweigen am runden Holztisch. Immer wieder glitten die Blicke der vier Männer und der einzigen Frau über die Zeitungen, die auf der Platte lagen. Schreiend verkündeten die Überschriften die schreckenerregenden Skandale der letzten Tage: „Blutleere Frau beim Picknick – Freunde verschwunden!“ „Ganze Familie gnadenlos ausgelöscht – ohne Blut! Vampire in New Orleans?“ „Das Rätsel der Blutsauger!“ „Wieder ein Vampir-Mord! - Was unternimmt die Polizei?“ Die dunkelhaarige Frau richtete sich auf und zupfte die Spitzen an den Ärmeln ihres altmodisch wirkenden Kleid ein wenig zu Recht: „Wir haben nun fast die gesamte Nacht hier gesessen und nachgedacht. Aber es gibt eigentlich nur wenige Möglichkeiten, die uns noch offen stehen. Wir müssen etwas unternehmen.“ „Meine liebe Carolina, da sind wir uns einig. Wir Vampire leben seit Jahrtausenden mit den Menschen – und wir sind mit unserer Taktik der Unauffälligkeit immer gut gefahren. Solch eine Pressehatz auf uns – oder eher, jemanden, der uns nachmacht, können wir nicht hinnehmen. Das ist gegen unsere ureigensten Regeln.“ Der Sprecher trug Sumpf-Federn, die herkömmliche lousianische Tracht. Er war der einzige Mann der Runde, der die Haare kurz geschnitten hatte. „Natürlich, Flash, darüber waren wir uns schon vor Stunden einig. Die Polizei hat jetzt einen Vampirjäger, einen Parapsychologen, angestellt. Niemand natürlich, der uns wahren Vampire schaden könnte, aber dennoch…es könnte die Jagd deutlich erschweren.“ „Das hat es doch schon. Diese Ausgangssperre…“ wandte ein Dritter ein: „Überdies könnte uns der Hohe Thing fragen, warum wir nicht vorher etwas mitbekommen haben.“

„Das wäre nur der Fall, wenn es sich bei dem Täter um einen von uns oder einen unserer Schüler, unserer Kinder, handeln würde. Und das glaube ich nicht.“ Der Hausherr richtete sich auf: „Es muss sich entweder um einen Menschen handeln, der glaubt, ein Vampir zu sein und dabei über Leichen geht – oder aber um einen Fremden. Wir fünf sind die einzigen Vampire in Louisiana, natürlich mit unseren Schülern, aber ….nun, wir kennen uns alle seit Jahrhunderten, und ich bezweifle wirklich, dass einer von uns auf so eine verrückte Idee kommen würde. Allerdings ist nicht gesagt, dass diese Mordserie nun aufhören wird. So oder so müssen wir den Ehrenwerten Thing aller Vampire informieren – wenn sie es nicht sowieso schon wissen. Die Nachrichten in ganz Europa waren voll davon.“ „Baju Manatee…“ warf einer anderer ein: „Dir ist klar, wenn wir den Ehrenwerten Thing informieren, wird er selbst Ermittlungen gegen uns einleiten. Schön, wir haben nichts zu verbergen, aber den Lord Dracul in der Gegend, ja, auf dem Hals zu haben…“ „Das weiß ich, Talahassee. Ich bin ihm einmal begegnet.“ Und da alle etwas erstaunt den Hausherrn ansahen: „Es war kurz vor der französischen Revolution. Unser „Vater“ nahm mich damals allein mit nach Rom, wie ihr euch wohl erinnert. Er hatte ein Treffen mit einer Vampirin namens Lady Malvina. Sie war - und ist - Thingmitglied. Einer so alten und mächtigen Frau bin ich nie zuvor und nie nachher begegnet. Ich weiß nicht, was unser Meistervater damals von ihr wollte, bei dem Gespräch war ich nicht zugegen, aber wir trafen sie später ein wenig außerhalb von Rom. Sie nutzte da ein Anwesen, das einem anderen gehörte. Unser „Vater“ fragte sie eher beiläufig, ob sie nichts dagegen hätte, hier zu wohnen und sie zuckte die Schultern. Der Franconia sei ein reizender Gastgeber. Ich konnte mit diesem Begriff damals nichts anfangen, aber als er kam…“ Baju Manatee sah in die Runde: „Er kam und ich spürte die ht von Jahrtausenden. Selbst Lady Malvina war dagegen ein Nichts. Keine Chance, war alles, was ich noch denken konnte. Sie hatte wohl bemerkt, wie er auf mich wirkte, denn sie sagte, und das habe ich nie vergessen: mein Junge, ein wahrer Vampir tötet nicht. Weder seine Nahrungswesen noch einen Artgenossen. Um unser aller Frieden zu wahren ist es jedoch notwendig, Vampire, die verrückt werden und Gebissene schaffen, zu töten. Der Franconia ist derjenige von uns, der allein diese Blutschuld trägt. Darum spürst du den Schauer, wenn du ihn triffst. Aber sei ihm dankbar, denn er erspart uns allen viel Leid.“ „Wie sah er aus?“ erkundigte sich Carolina neugierig.

„Er war dunkel, dunkel die Haut, die Haare. Mehr weiß ich nicht mehr. Alles ging unter in dieser unglaublichen Ausstrahlung der ht. Ich glaube, er ist wohl der älteste Vampir, der sich noch nicht zurückgezogen hat.“ Die anderen nickten. Es geschah immer wieder, dass sich mächtige Vampire aus den Händeln der Welt zurückzogen, um in der Einsamkeit ihren weiteren Studien nachzugehen. Natürlich, sobald sie keine Schüler mehr hatten, die der Lenkung bedurften. Auch ihr Meister hatte dies getan. Sie wussten nicht, wo er nun lebte. Es war verpönt, den Wunsch nach Einsamkeit zu ignorieren. Baju Manatee fuhr fort: „Dann schreiten wir zur Abstimmung. Carolina Kenzie, für dich und deine Schüler:.?“ Sie nickte: „Für mich und Balduin und Hans. Wir informieren den Ehrenwerten Thing.“ „Flash Provence? Für dich und deine Schüler?“ „Einverstanden. Für mich, Arthur, Henri und Eleanor.“ „Baju Talahassee Avignon? Für dich und deine Schüler?“ „Ich habe in der Tat Bedenken, den Lord Dracul zu rufen. Aber ich sehe keine Alternative. Einverstanden. Für mich, Margaret, Cindy und Charles.“ „Henri Stephane? Für dich und deine Schüler?“ „Wir werden sehen, ob der Lord Dracul überhaupt von Nutzen sein kann. Wenn es ein Mensch ist oder mehrere Menschen sind, die diese Morde begangen haben, wird er kaum mit der Polizei zusammenarbeiten. Ist es allerdings ein ortsfremder, verrückt gewordener Vampir, wäre es sicherlich sinnvoll, auch unsererseits Ermittlungen anzustellen. Nun gut. Einverstanden. Für mich, Michael, Louis und Christopher..“ „Danke. Und ich, Baju Manatee Douglas, stimmt ebenfalls mit „einverstanden“, für mich und meine Schüler: Samantha, Pablo und Nibbels. – So werde ich die Taube abgehen lassen. Ich weiß nicht, wo sich der Hohe Thing der Vampire im Moment befindet, aber es mag sein, dass es Tage braucht, ehe der Lord Dracul eintreffen kann. Ich möchte daher euch allen und euren Schülern die Gastfreundschaft meines Hauses anbieten.“ Die anderen vier neigten dankend die Köpfe. Henri Stephane meinte jedoch: „Ich erkenne dein Angebot an, auch, wenn es wohl ein wenig beengt werden dürfte. Das größere Problem dürfte die Nahrung sein. Soweit ich weiß, herrscht hier in New Orleans im Moment Ausgangssperre von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.“ „Ja“, erklärte Baju Talahassee: „Die Menschen gehen eben fälschlicherweise davon aus, dass wir uns wie dieser jämmerliche Abschaum von Gebissenen verhalten würden und im Sonnenlicht sterben.“ Sonne war unangenehm, zu lange verursachte sie Brennen auf der Haut, schlussendlich einen Sonnenbrand, wenn man sie nicht gewohnt war, aber sie brachte keinen wahren Vampir um. „Wir sind einstweilen nicht auf die Jagd angewiesen, meine Freunde“, meinte der Hausherr: „Für eine solche Situation habe ich mir auf gewissen Umwegen Blutkonserven verschafft.“ „Samantha?“ fragte Carolina mit gewissem Lächeln: „Deine Schülerin wird sehr nützlich.“ „Ja. Womöglich ist es manchmal sehr gut, mit der Zeit zu gehen. – Dann bitte ich euch, eure Schüler entsprechend zu informieren. Ich werde es auch tun und den Brief an den Ehrenwerten Thing schreiben.“ Zwei Tage später war der Lord Dracul in New Orleans.

Beginn der Ermittlungen

Als es an der Tür von Douglas Manor am Stadtrand von New Orleans klingelte, hoben die Personen, die im Arbeitszimmer des Hausherrn saßen ebenso die Köpfe, wie diejenigen in der Bibliothek. Die Sonne war soeben untergegangen und sie erwarteten unangenehmen Besuch.

Samantha, ein „Kind“ des Hausherrn, erhob sich sofort und ging zur Tür. Sie hatten bereits die Erfahrung gemacht, dass eine junge Frau auf Menschen, die sich bis zu Douglas Manor verirrten, harmlos wirkte, sich auch niemand wunderte, warum sie ihn nicht hereinbat. Sie schien gerade über Zwanzig zu sein.

Sie öffnete dennoch etwas angespannt. Kam der Lord Dracul? Zu ihrer Überraschung stand eine junge Frau ihres Alters vor der Tür, deren blonde lange Haare und blaue Augen sie fast engelhaft aussehen ließen. Die Kleidung war die einer menschlichen Frau der heutigen Zeit. Aber die lousianische Vampirin erkannte, dass sie einer Artgenossin gegenüberstand.

„Ja, bitte?“ entfuhr es ihr etwas unhöflich, aber zu mehr war sie nicht fähig.

„Mein Name ist Madame Marine Mushroom. Ich möchte zur Baju Manatee Douglas.“

Samantha starrte auf die Hand der Besucherin, wo sich eine silberne Plakette befand. Das Zeichen darauf kannte sie eigentlich, zwei Hände, die sich wie schützend über etwas wölbten, umrahmt von belaubten Zweigen: das Zeichen des Ehrenwerten Thinges. Doch diesmal waren die Hände zur Faust geballt. Es bedufte keines großen Nachdenkens, um zu wissen, dass diese Vampirin im Auftrag des Lord Draculs gekommen war.

„Natürlich“, sagte sie darum hastig: „Mein Name ist Samantha. Samantha Douglas. Ich bin das „Kind“ von Baju Manatee. Bitte, folgen Sie mir, Madame Mushroom.“

„Madame Marine, bitte“, korrigierte diese automatisch. Sie hatte ihren Titel ererbt, nicht erheiratet, so stand er bei ihrem Vornamen.

„Verzeihung.“ Samantha schloss die Tür hinter der Besucherin, ging aber an ihr vorbei, als sie wartete, wie es die alte Höflichkeit gebot: „Darf ich bitten?“ Was war wohl geschehen, dass nicht der Lord Dracul selbst kam, sondern der Hohe Thing jemand anders schickte? Fanden die mächtigsten Vampire das Geschehen in New Orleans nicht wichtig?

Marine betrachtete interessiert das alte Anwesen. Fast wie zuhause, dachte sie unwillkürlich. Als sie an der Bibliothek vorbeikam, erkannte sie durch den Türspalt neugierige Blicke der über zehn zumeist blonden Anwesenden dort. Baju Manatee hatte wohl dafür gesorgt, dass sich alle lousianischen Vampire im Augenblick hier aufhielten. Das würde ihren schweren Auftrag doch erleichtern. Wenigstens etwas.

Im Arbeitszimmer erhoben sich alle Fünf, als Samantha „Madame Marine Mushroom“ ankündigte, überrascht und besorgt zu gleich. Sie hatten mit dem Lord Dracul gerechnet. War das jetzt eine andere Nachricht vom Ehrenwerten Thing? Eine Ablehnung?

Marine verneigte sich höflich. Sie wusste, dass sie bei weitem von den hier Anwesenden die jüngste Vampirin war, von der Zeit der Verwandlung gerechnet. Und unter Vampiren galt das Alter viel, zeigte es doch die magische ht und die Fähigkeiten an.

„Madame Marine“, meinte Baju Manatee: „Willkommen in Douglas Manor. Mein Name ist Baju Manatee Douglas. Ich nehme an, dass Sie im Auftrag des Ehrenwerten Thinges gekommen sind?“

„In der Tat.“ Marine wusste, dass dies eine verdeckte Aufforderung war, sich zu legitimieren und wies erneut die Plakette vor. Sie bemühte sich, kühl und selbstsicher zu wirken.

„Sie sehen uns ein wenig überrascht, Madame Marine. Wir…nun, ich bin dem Franconia vor langen Jahren einmal begegnet. Ich hätte nicht erwartet, dass er …dass er eine Schülerin hat.“ Hoffentlich war das keine Beleidigung.

„Oh, das bin ich auch nicht.“ Marine lächelte ein wenig. Wie stets unter Vampiren offener, als wenn Menschen zugegen waren. Immerhin trug hier jeder Fangzähne. „Ich habe nur einen Auftrag.“ Sie erkannte durchaus, dass ihre Gegenüber ebenfalls in Anbetracht der neuen Situation etwas angespannt waren.

„Gut. Wie können wir Ihnen helfen?“

Sie warf einen raschen Blick in die Runde: „Soweit ich weiß, beunruhigt eine seltsame Mordserie Sie alle. Ich...mein Auftrag lautet, möglichst viele Informationen darüber zu beschaffen. Es wäre sehr freundlich, wenn ich mit jedem von Ihnen einzeln sprechen könnte. Womöglich fiel einem etwas auf, was einem anderen entging.“

„Engländerin!“ murmelte Henri Stephane – und das war nicht als Kompliment gemeint.

Marine neigte ein wenig den Kopf schräg. Sie musste mit auftauchenden Schwierigkeiten sachlich umgehen können, oder sie würde versagen – mit allen Konsequenzen für sie selbst. So meinte sie nur: „In der Tat. Sollte das für Sie eine Schwierigkeit darstellen? Es geht immerhin um unser aller Volk.“

„Natürlich“, sagte Baju Manatee eilig. Wenn der Franconia so freundlich gewesen war, hier nicht selbst einzutreffen, musste das auch nicht dadurch passieren, dass man seine Mitarbeiterin beleidigte. „Bitte, meine Freunde…Madame Marine, bitte, nehmen Sie hier Platz.“ Als die anderen vier das Arbeitszimmer verlassen hatten, setzte sich der Hausherr und betrachtete seinen jungen Gast. Sie schien Anfang Zwanzig zu sein, aber sie war gewiss älter. Schon, weil sie sonst keinen derartigen Auftrag bekommen hätte. Nun, auch Samantha sah so jung aus und hatte mittlerweile bereits mehr als hundertzwanzig Jahre seit ihrer Verwandlung erlebt. Das Aussehen blieb immer gleich. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

Marine hatte ihrerseits ihren Gastgeber gemustert. Er trug wie viele männliche Vampire den Gehrock des 19. Jahrhunderts, altmodisch genug, um sich darin wohl zu fühlen und doch einigermaßen der heutigen Zeit angepasst. Seine langen, dunklen Haare schienen die Mode einer noch früheren Zeit widerzuspiegeln. Tatsächlich hatte sie unter den fünf lousianischen Meistervampiren nur einen Mann mit kurzen Haaren entdeckt. Ob das wohl einen besonderen Grund hatte? Aber das ging sie soweit nichts an: „Es geschahen Morde an Menschen. Die Opfer waren vollkommen blutleer und eine gewisse Hysterie brach unter den Menschen aus, die auch die wahren Vampire beeinträchtigt. Was genau ist passiert?“

„Vor zwölf Tagen gingen vier Menschen zu einem abendlichen Picknick bei dem großen Hollyrood Parc beim Schloss von Hollyrood House“, fügte er freundlich für die Ortsfremde hinzu: „Keiner kehrte zurück. Man fand die Leiche der jungen Frau vollkommen blutleer, die der drei jungen Männer waren verschwunden. Ich weiß nicht, ob sie sie inzwischen gefunden haben, aber es stand nichts in der Zeitung. Vor acht Tagen wurde die Familie von Lord Tuyston ermordet, Eltern und zwei Kinder, alle wiederum vollkommen blutleer. Und vor vier Tagen die Familie von Baju Gerald Minor. Wieder vier Menschen. – Das ist es ja, was uns so alarmierte.“

„Das heißt, in dieser Nacht wäre erneut ein Mord an der Reihe, wenn sie sich an das bisherige Schema halten.“ Marine nickte etwas: „Aber das deutet doch darauf hin, dass es sich nicht um einen Vampir handelt. Ein Mensch hat gegen fünf Liter Blut. Schon einen vollkommen leer zu trinken überansprucht unsereins gewöhnlich, geschweige denn, vier oder fünf.“

Der Hausherr und älteste Vampir in Louisiana war ein wenig beruhigt, dass die junge Frau so rational an diese peinliche Angelegenheit heranging. Aber wenn sie für den Lord Dracul arbeitete, würde sie sicher auch über entsprechende Fähigkeiten verfügen. „Ja. Darum sahen wir nur zwei Möglichkeiten. Erstens: Menschen gehen gegen Menschen vor. Sie wissen schon, diese Verrückten, die sich auf Friedhöfe herumtreiben und glauben, Vampire zu sein. Und die andere Möglichkeit: ein wahrer Vampir war so toll, Gebissene zu erschaffen, die sich nun über die Menschen hermachen. Das glaube ich persönlich weniger. Immerhin zeichnet sich dieser Abschaum von Gebissenen durch ihren unstillbaren Blutdurst aus. Sie würden kaum drei oder vier Tage ohne jede Nahrung auskommen.“

Marine nickte erneut: „Sie sehen das recht nüchtern, Baju Manatee. – Samantha sagte, sie sei Ihr „Kind“?“

„Ja. Ich habe drei. Nibbels ist der älteste meiner Schüler...nun, seine Verwandlung liegt am längsten zurück. Samantha ist seit gut hundertzwanzig Jahren Vampir und der jüngste, Pablo, seit 1924.“

„Oh, dann sind Samantha und Pablo ja noch in den kritischen Jahren.“ So nannten Vampire die Zeit, die bei jedem ungefähr fünfzig bis achtzig Jahre nach der Verwandlung einsetzte, wenn ihnen bewusst wurde, dass sich vor ihnen Jahrhunderte, Jahrtausende des Lebens dehnen würden, die gefüllt werden wollten. Das war die Zeit, in der die Meister gefordert waren, ihren Schützlingen ein sinnvolles Leben aufzuzeigen. In der Regel war diese Phase, je nach Temperament, gute hundertzwanzig bis hundertfünfzig Jahren nach der Verwandlung abgeschlossen.

„Samantha hat es bereits hinter sich. Sie entdeckte den Reiz der modernen Welt.“ Baju Manatee lächelte mit gewissem Stolz: „Sie beschäftigt sich sehr viel mit diesem Computer. Was sich als recht nützlich erweist. Sie hat gewisse Fähigkeiten entwickelt, die erstaunlich hilfreich sind. – Pablo, ja, er ist noch sehr in der Fragephase. Er ist sehr weich, sehr labil und braucht viel Unterstützung. Wenn Sie mit ihm sprechen, wird er Ihnen gewiss auch Fragen zum Vampirleben anderswo stellen.“

„Ich werde ihm antworten.“ In dieser Zeit brauchte ein Vampir jede Unterstützung, die ihm ältere geben konnten. „Ist von den anderen auch noch einer in den kritischen Jahren?“

„Hans Kenzie, der jüngere Schüler der beiden von Carolina. Aber das wird sie Ihnen sicher noch selbst sagen. – Madame Marine, eine Warnung. Henri….Henri Stephane und seine drei Schüler sind fanatische Lousianer, Sie werden es Ihnen nicht einfach machen. Sicher, Sie werden den Ehrenwerten Thing nicht brüskieren wollen, aber sie werden Ihnen auch nicht helfen. Sie haben alle vier in den Kriegen gegen Engländer gekämpft.“

„Danke für die Warnung, Baju Manatee.“ Marine unterließ es höflich darauf hinzuweisen, dass es hier nicht um Engländer oder Lousianer oder gar irgendwelche vergangene Kriege ging, sondern schlicht um die Tatsache, wer hinter den Morden steckte. War dies ein Vampir, der es gewagt hatte, Gebissene zu erschaffen, musste er sterben – und ebenso die unglücklichen Menschen, die er so verunstaltet, ja, in alle Ewigkeit verdammt hatte. „Gibt es noch jemanden, bei dem ich behutsam sein müsste?“

„Ich kenne die Schüler nicht so genau…das kann Ihnen sicher der jeweilige Meister sagen.“

„Natürlich. Danke. – Oh, eine Frage hätte ich noch.“

„Nun?“

„Ich…Samantha ist Ihr „Kind“, aber Sie haben auch zwei männliche Schüler. Mistress Carolina hat dagegen zwei männliche „Kinder“.“ Sie war sich nicht ganz sicher, wie die richtige Titulatur lautete, so wählte sie die altmodische.

Baju Manatee nahm das zur Kenntnis: „Ja, ich bin mir im Klaren darüber, dass das ungewöhnlich ist. Gewöhnlich nimmt man Menschen aus seinem eigenen Geschlecht. Aber bedenken Sie, dass Louisiana noch nie sehr dicht besiedelt war. Und schon gar nicht nach dem 18. Jahrhundert. Die Landlegungen schickten auch Kandidaten für Vampire in die USA. – Talahassee, Baju Talahassee Avignon, hat zwei weibliche Schülerinnen, und einen männlichen. Ich bin mir bewusst, Madame Marine, dass Sie nur Informationen sammeln sollen. Wir sind alle sehr beunruhigt und würden uns über eine rasche Aufklärung freuen.“

„Sie sind sich also sicher, dass es niemand Ihrer Freunde oder deren Schüler ist?“

„Ja.“ Baju Manatee war definitiv:

Marine lächelte ein wenig: „Natürlich. Sonst hätten Sie ja auch kaum den Ehrenwerten Thing informiert.“ Oder das genau deswegen getan, um von sich oder den anderen abzulenken. Aber sie musste behutsam sein, bis sie wusste, wer hier was war. „Ich würde dann gern mit allen Meistern sprechen…einzeln, natürlich.“

„Ich verstehe. – Wann müssen Sie Bericht erstatten? Oh, nicht, dass ich Sie loswerden möchte, Madame Marine, meiner Treu! Ich möchte Ihnen nur ein Zimmer für den Tag anbieten. Und natürlich unsere Mahlzeiten. Samantha, ich erwähnte es bereits, kennt sich mit dem Computer aus und hat uns einige Beutel aus der Blutbank abgezweigt, so dass eine Jagd derzeit nicht erforderlich ist. Wir wollten keine unnütze Aufmerksamkeit auf uns lenken.“

„Ich danke Ihnen, Baju Manatee. Das war sicher eine weise Entscheidung.“ Wie auch immer Samantha das gemacht hatte.

„Ich…kommen Sie. Ich werde Ihnen ein Zimmer für Ihre Unterhaltungen zur Verfügung stellen. Darf ich Sie etwas fragen….Haben Sie den Franconia, den Lord Dracul, je zu Gesicht bekommen?“

„Ja.“ Mehr wollte und sollte sie dazu wohl nicht sagen.

Baju Manatee nickte nur. Wenn sie nicht verschwiegen gewesen wäre, hätte sie einen derartigen Auftrag gewiss nie bekommen.

Er begleitete Madame Marine zu einem kleinen Arbeitszimmer und ging, um Carolina Kenzie zu holen.

Marine trat zu dem Kamin und hielt die Hände an das Feuer, eine Gewohnheit aus Menschentagen, die sie noch immer nicht hatte ablegen können. Aber sie war nervös. Dieser Auftrag war ihre erste große Prüfung, und sie konnte nur hoffen, dass sie keinen Fehler beging. Im Ehrenwerten Thing waren durchaus einige nicht begeistert gewesen, dass sie ihn erhalten hatte – nun, dachte sie, diese Vampire waren überhaupt nicht begeistert, sie noch am Leben zu wissen. Aber die Fürsprecher hatten sich durchgesetzt: solange sie keinen Verstoß gegen die Regeln beging, Menschen oder gar Vampire tötete, oder das Volk sonst wie schädigte, gab es keinen Grund, sie umzubringen. Gleich, welche eigenartige Fähigkeit sie besaß. Und gleich zweimal nicht, wenn diese dem gesamten Volk nutzen könnte. So hatte ihr der Thing dies anvertraut – auf Probe.

Sie drehte sich um, als die lousianische Meistervampirin eintrat. Ihr bodenlanges, geschnürtes Kleid war mit Spitzen besetzt.

„Setzen wir uns doch…“ Carolina lächelte: „Ich sehe, Sie tragen moderne Kleidung, Madame Marine. Ist dies in London heute unter den Vampiren üblich?“

„Nein. Viele tragen, ebenso wie Sie, die…gewohnte Kleidung aus der Zeit ihrer Verwandlung. Aber ich kam mit dem Nachtexpress her und wollte unauffällig unter Menschen reisen.“

„Ich war noch nie in London. Obwohl ich zugeben muss, ich wäre gern dorthin gefahren, als unser König, ich meine Hans Stephane, dort gekrönt wurde. Aber das ging eben nicht. Damals waren die Verkehrsmittel ja auch noch bei weitem nicht so schnell.“ Ehrliches Bedauern lag in ihrer Stimme.

Das war 1603 gewesen, entsann sich Marine. Wie lange Carolina wohl schon Vampir war? Aber es galt für unschicklich, danach zu fragen, auch nach dem Leben, das man vorher als Mensch geführt hatte. So nickte sie nur: „Ja, das ist ein eindeutiger Fortschritt. – Sie können mir nicht viel zu den Morden sagen?“

„Nein. Ich bin mir allerdings sicher, dass es niemand meiner…guten alten Bekannten oder einer unserer „Kinder“ war. Ich persönlich glaube an einen Menschen.“

„Ein Mensch, der so viele andere tötet?“

In der Lousianerin tauchte die Erinnerung an ihren eigenen Vater auf, den Tod ihrer Schwester in den Flammen, den so vieler andere, aber sie war geübt in der Verdrängung: „Nun, glauben Sie mir, Madame Marine – ich habe schon viel gesehen, was Menschen einander antun können. Und es ist wirklich nicht schwer, einen Menschen zu töten.“

Marine unterdrückte gerade noch ihre Frage, ob sie da aus Erfahrung spreche. Was auch immer Carolina zu ihrer Menschenzeit getan hatte, ging niemanden mehr etwas an. „Sie denken also nicht, dass es ein ortsfremder Vampir sein könnte?“

„Ich würde keinen Nutzen darin sehen. Wir fünf haben uns Louisiana aufgeteilt, ja. Und viel mehr Vampire als wir und unsere Schüler in einem so dünn besiedelten Land würde gegen die Regel der Unauffälligkeit verstoßen. Was hätte ein Fremder davon? Und – warum sollte er nicht zu Baju Manatee als dem Ältesten gehen und mit ihm einfach reden?“

„Und um Wohnrecht ersuchen, natürlich. – Ich möchte später auch noch mit Ihren „Kindern“ sprechen.“

„Ja. Ich verstehe. Ich glaube zwar nicht, dass sie Ihnen etwas mitteilen können, aber Sie müssen natürlich Ihren Auftrag erfüllen. Hans…nun, Hans ist gerade noch in den kritischen Jahren. Wäre es Ihnen möglich, das zu berücksichtigen?“

„Selbstverständlich.“

„Danke, Madame Marine. Wie gesagt, ich denke nicht, dass es einer von uns fünfen war. Und ich glaube auch nicht einer der Schüler. Wir haben sie sorgfältig ausgesucht. Für meine beiden würde ich sogar die Hand ins Feuer legen.“ Carolina bemerkte das flüchtige Lächeln der Besucherin: „Haben Sie so etwas schon gehört und es stimmte nicht? Hans ist Künstler. Er hat immer schon gern gezeichnet, gemalt, statt sich um „männliche“ Sportarten zu kümmern. Für den Sohn eines Baronets zu Zeiten Königin Viktorias war das ziemlich… unangebracht. Er hatte erhebliche Probleme mit seinem Vater, zumal er nicht zur Armee wollte. Balduin dagegen ist einfach nicht in der Lage zu töten. Weder bei Jagd noch Sport. Das brachte ihm den Verstoß durch seinen Vater ein. Und machte ihn zu meinem „Kind“, als er hörte, dass wir niemals töten. Sie sehen…“

„Ich verstehe. Danke für Ihr Vertrauen.“

„Ich hoffe, Sie werden es nicht weitererzählen.“

„Nein. Alle diese Gespräche sind vertraulich. Darf ich Sie bitten, mir den Rangnächsten hereinzuschicken?“ Also den, dessen Verwandlung kürzer zurücklag.

„Das ist Flash. Flash Provence.“

„Danke.“

Kurz darauf kam dieser. Marine musste sich zwingen, nicht zu auffällig seine lousianische Kleidung zu betrachten, den Sumpf-Federn, das gleichfarbig karierte Tuch, das er um sein Hemd geschlungen trug. Soweit sie wusste, konnte man an dem Karomuster, dem Aligator-Leder-Hemden, den jeweiligen Siedlerring erkennen. Und obwohl Baju Manatee gesagt hatte, Henri Stephane und seine Schüler seien fanatische Lousianer, so war doch Flash der einzige der Meistervampire, der die hergebrachte Mode trug. Und er war der Einzige, der seine blonden Haare kurz geschnitten hatte.

Er setzte sich unaufgefordert, deutliches Zeichen, dass er sich für älter und damit ranghöher hielt. „Nun, was wollen Sie wissen, Madame Marine?“ Er klang nicht unfreundlich. Diese Affäre musste so rasch es ging enden. Und wenn der Lord Dracul sich erst einmal nur berichten ließ, war das sein gutes Recht. Vermutlich bekam er oft Meldungen, die sich als nicht relevant herausstellten. So schickte er nur Mitarbeiter, um erst einmal vor Ort zu prüfen.

„Glauben Sie an Menschen, die diese Morde begingen?“

„Ja. Aus zwei Gründen. Wir fünf kennen uns seit langen Jahrhunderten. Würde einer von uns das Anzeichen dieser Verrücktheit zeigen, Gebissene zu erschaffen, hätten das alle anderen bereits mitbekommen. Unsere Schüler werden und wurden sorgfältig ausgesucht und niemand hat mehr als die vom Ehrenwerten Thing empfohlene Zahl von dreien, so dass wir sie gut überprüfen konnten.“

„Und ein ortsfremder Vampir, der eine neue Heimat sucht?“

„Das würde natürlich gegen die Regeln verstoßen. Zum einen wäre es üblich anzufragen, nicht wahr? Zum anderen: kein wahrer Vampir, der seine sechs Sinne beisammen hat, begeht solche auffälligen Massaker. Überdies, aber das dürften Sie wissen, Madame Marine, würde es niemandem von uns gelingen, diese Unmengen an Blut zu trinken. Nein. Ich tippe auf diese verrückten Menschen, die immer häufiger werden, seit gut hundert Jahren, die sich für unsereins halten. Und nur Menschen morden sinnlos.“

„Danke, Mr. Provence. Sie sehen das sehr nüchtern.“

„Ich nehme an, Sie haben von meiner Vergangenheit gehört?“

„Selbstverständlich nicht!“ Marine war fast entsetzt.

Also hatten sich Manatee und Carolina an ihre eigenen Dinge gehalten. Nun, eigentlich hatte er das auch erwartet: „Das freut mich. – Ich war …auch nach meiner Verwandlung…sehr an anderen Ländern interessiert. Und so ging ich zur Marine der…hm…lousianischen Majestät. Ich trug Jahrhunderte Uniform. Darum liebe ich nun auch diese Kleidung. – Aber in diesen Zeiten habe ich viele Länder, aber auch viele Kriege der Menschen gesehen.“

„Das denke ich mir.“

„Und gerade an Bord der Schiffe habe ich gelernt, dass man alles nur nüchtern betrachten kann, sollen alle überleben. Auch Manatee hat dies gelernt…Manche von uns sind noch emotioneller.“ Er brach abrupt ab, aber da Marine nicht nachfragte, fuhr er etwas beruhigter fort: „Sie werden sicher auch noch mit unseren „Kindern“ reden wollen? Arthur ist bereits ein wenig unwirsch – er muss in drei Tagen auf sein Schiff. Er kommt sehr nach mir.“ Etwas wie Stolz lag in der Stimme des Meistervampirs: „Er will andere Länder sehen, andere Kontinente. Er hat nun auf einem Containerschiff angeheuert. Natürlich sind das viel kürzere Liegezeiten als zu meiner Zeit, aber er wird dennoch die Welt sehen können. Mein anderes „Kind“ ist Henri. Auch ihn habe ich wohl angesteckt, aber er will nur mit dem Finger reisen. Er sammelt Landkarten, schon seit Jahrhunderten. Ich denke, da würde ihn manche Bibliothek beneiden. Und das jüngste „Kind“ ist Eleanor. Sie ist noch in den kritischen Jahren. Ich nahm sie zu mir, als sie….ihre Eltern stammten aus Irland und flohen nach dem niedergeschlagenen Osteraufstand nach Glasgow. Sie starben und...nun, ich traf sie. Sie ist allerdings auf dem besten Weg, die kritischen Jahre zu überstehen. Sie hat ein großes Interesse am Meer entdeckt, allerdings, was die Tiere dort betrifft. Sie will demnächst tauchen lernen und Meeresbiologin werden.“

„Das ist sehr schön.“ Marine lächelte. Flash Provence hatte wohl allen seinen Schützlingen irgendwie seine Leidenschaft vermitteln können, auch, wenn es diese nun sehr unterschiedlich umsetzten. „Ich werde sehen, ob ich mir allen Schülern noch reden muss, aber wenn dies der Fall ist, werde ich selbstverständlich darauf Rücksicht nehmen, dass sich Eleanor noch in den kritischen Jahren befindet.“

„Das ist gut. Noch etwas?“

„Nein, danke. – Oh, ehe Sie Baju Talahassee Avignon zu mir senden…ich bräuchte kurze Pause, um mir rasch Notizen zu machen.“ Ihre Darlegung musste alle möglichen Hinweise enthalten, das war ihr klar. Und sie war sich wirklich nicht sicher, wie gut ihr Gedächnis für den Rapport wäre.

„Natürlich. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht sehr einfach ist, für den Lord Dracul zu arbeiten.“ Er ging.

Aus dem Bericht des Lord Draculs an den Ehrenwerten Thing:

Nach den ersten durchgeführten Gesprächen lässt sich Folgendes sagen:

Es ist davon auszugehen, dass die fünf Meistervampire nicht annehmen, einer der ihren sei es gewesen und auch keiner ihrer Schüler. Ob dies den Tatsachen entspricht, wird sich noch zeigen.

Allerdings nehme ich an, dass es geradezu töricht von den Fünfen gewesen wäre, den Lord Dracul zu sich zu holen, wäre einer schuldig – es sei denn, er oder sie wollte sich oder einen anderen decken.

Ihr alter, gemeinsamer, Meister hat sich bereits zurückgezogen und es widerspricht jeder Lebenserfahrung, dass ein jahrtausendealter, bereits zurückgezogener Vampir, Menschen tötet, zumal, wenn er bereits fünf „Kinder“ hatte und so seinen Wunsch nach Nachkommen befriedigen konnte. Gebissene entstehen ja eher durch den Wunsch eines sehr jungen Vampirs, doch wie ein Mensch Nachkommen zu erhalten. Daher werde ich den Meister der Fünf nicht weiter behelligen oder behelligen lassen.

Es wäre allerdings wünschenswert, sich zumindest den ersten Tatort anzusehen und vor allem ein Gespräch mit den Menschen zu führen, vor allem, demjenigen, der die Ermittlungen führt.

Kritische Jahre

Baju Talahassee Avignon lächelte Marine an, als er den Raum betrat. Sie entsann sich, dass er zwei weibliche Schülerinnen und einen männlichen hatte. Seine bis zu den Schultern reichenden Haare leuchteten förmlich in rötlichem Blond. Er trug, wie auch Baju Manatee, die Kleidung, die zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts üblich gewesen war, nicht zu auffällig, um damit in der heutigen Zeit nicht unter Menschen gehen zu können, und doch altmodisch genug, sich darin wohler zu fühlen. Auch Marine fühlte sich in ihrem augenblicklichen Kostüm fast unschicklich angezogen, denn sie bevorzugte eigentlich bodenlange Kleider, aber das war nötig. Sie gab das Lächeln zurück. „Danke, Baju Talahassee…“ „Im Auftrag des Lord Draculs, nicht wahr?“ Er setzte sich mit einem durchaus interessierten Blick über ihre Figur, auch, wenn die hochgeschlossene Rüschenbluse nur andeutungsweise zeigte, was darunter lag, sie ihre Beine sittsam geschlossen seitwärts gestellt hatte. Er empfand allerdings kein Begehren, wie zu seiner Menschenzeit, nur das Vergnügen, etwas Schönes betrachten zu dürfen. Mit dem ewigen Leben ging der Verlust des Kinderwunsches und damit der Leidenschaft einher: „Nun, Madame Marine, Sie möchten bestimmt meine Meinung zu den Massenmorden hören?“ „Ja.“ Er würde ihr also auch helfen wollen, es womöglich sogar können. Er schloss für einen Moment die Augen. So lange Jahre war er im Krieg gewesen, ehe er dessen müde seinen Vampirmeister getroffen hatte, in so vielen endlosen Fehden seines Siedlerrings gegen andere, so viele Taktikbesprechungen hatte er erlebt, so viele Schlussfolgerungen… „Ich bin sicher, heute Nacht werden wieder Menschen sterben, wieder eine Familie. Und wieder wird die menschliche Polizei im Dunkeln tappen. Da ich überzeugt bin, dass es niemand von uns Fünf war, bleiben also nur unsere Schüler, ein ortsfremder Vampir oder Menschen. Aus einem einfachen Grund schließe ich auch unsere Schüler und einen Fremden unseres Volkes aus: kaum jemand von uns vermag bei einer Mahlzeit mehr als einen halben Liter Blut zu sich zu nehmen. Dazu müsste man schon ausgehungert sein. Oder so verrückt, dass man, ohne jedes Sattsein, aus einem Menschen durch vollständiges Aussaugen einen Gebissenen macht. Also bin ich sicher, dass sich da ein Mensch oder mehrere ….hm…Spaß machen.“ „Ein eigenartiger Spaß“, meinte Marine prompt. Aber er hatte Recht mit dem, was er sagte. Ihr fiel auf, wie sein Blick erneut über ihre Beine glitt. Natürlich würde er dabei kaum das empfinden, was er einst als Mensch gefühlt hatte, aber es zeigte ihr, dass er zu dieser Zeit wohl sehr gern mit Frauen umgegangen war. Das erklärte vermutlich auch, warum er zwei weibliche Kinder gewählt hatte. Baju Talahassee hob die Hand: „Meine liebe Madame Marine, natürlich. Aber wenn Menschen verrückt sind, sind sie es.“ „In der Tat. Und dass jemand Gebissene erschaffen hat?“ „Wozu?“ fragte er zurück: „Schön, ich weiß, dass das immer wieder vorkommt, schließlich hält sich der Hohe Thing nicht ohne Grund den Lord Dracul, den Franconia,  Aber ich kenne meine vier Freunde schon Jahrhunderte lang. Niemand von uns wäre so hirnverbrannt. Und meine Schüler kenne ich auch.“ „Ist einer von ihnen in den kritischen Jahren?“

„Oh, darauf wollen Sie hinaus, Madame Marine.“ Gewöhnlich, daher stammte ja auch der Name, entpuppte es sich in dieser Zeit, ob ein ehemaliger Mensch in der Lage war, mit dem Vampirleben umzugehen, mit dem doch recht plötzlichen fast ewigem Leben. Wem dies nicht gelang, wurde verrückt, erschuf bisweilen - in dem wohl verzweifelten Bemühen, Nachkommen zu erhalten - die Gebissenen. Nur waren sie eben keine Vampire, sondern deren wahnwitzige Abbilder, blutrünstig, ohne Verstand – und ohne Seele. „Nein. Charles ist bereits seit  fast fünfhundert Jahren mein Kind. Er verlor seine Eltern im Krieg, ich denke, es war 1474, als die Engländer unter Richard Gloucester, dem späteren Richard den Dritten, die Grenze nach Norden …ausdehnten. Er wuchs als Geisel in York auf, daher sein, durchaus etwas bedauerliches, Faible für die englische Küche. Nun gut. Er hat wohl die größte Sammlung von Rezepten, die ein Vampir je hatte.“ Er lächelte. Marine starrte ihn perplex an: „Er sammelt Kochrezepte?“ Nun ja, jedem sein Interesse, aber für ein Wesen, das ausschließlich die hochkonzentrierte Energie menschlichen Blutes benötigte, um seine Fähigkeiten zu behalten, war dies wirklich ….spleenig. „Und kocht. Freilich nur für Menschen. - Er hat seit dreihundert Jahren Gasthäuser.“ Zurzeit zwei, die recht gute Einkünfte abwarfen. Charles war ein wirklich fähiger Koch und Wirtschafter. Immerhin aß er nicht selbst, dachte sie unwillkürlich. „Oh, das ist in der Tat ungewöhnlich, aber natürlich ist das jedem seine Sache. – Auch Ihre Schülerinnen sind also bereits aus den kritischen Jahren hinaus?“ „Ja. Margaret und Cindy sind bereits an die zweihundert Jahre bei mir. Und, damit Sie auch nicht unbedingt mit ihnen reden müssen: sie lebten beide auf der Strasse. Wie lautet die nette Umschreibung heute dafür: Bordsteinschwalbe. Das war damals weder romantisch noch besonders einträglich. Aber sie wollten überleben. Sie sind Schwestern. Sagt Ihnen der Begriff Clearances etwas, Madame Marine?“ „Ich glaube, so nannte man die Vertreibung der Menschen aus den Highlands im 19. Jahrhundert.“ „Ja. Ein traumatisches Kapitel der an Tragödien reichen lousianischen Geschichte. Ausnahmsweise waren es nicht die Engländer, die dafür verantwortlich zu machen waren – wenn ich das Ihnen gegenüber so sagen darf, Madame Marine – sondern Lousianer selbst.“ Er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als einer Engländerin gegenüber zu erwähnen, dass die endlosen Siedlerringfehden auch die Bevölkerung mehr als nur mitgenommen hatten. Er brauchte da nur an seinen entfernten Verwandten Baju Manatee Avignon denken, der in einer Fehde 1581 alle Menschen des gegnerischen Siedlerrings, die aufzutreiben waren, hatte niedermetzeln lassen, aber auch selbst alle Tiere, die einem Menschen von Nutzen sein könnten. Dies war etwas anderes: „Anfang des 19. Jahrhunderts bemaß sich die Maht der Siedlerringchefs nicht mehr nach der Zahl der Männer, die für sie kämpften, sondern nach dem Ertrag ihrer Ländereien. Viele von ihnen führten ein ausschweifendes, aristokratisches Leben. Um diesen Lebensstil zu finanzieren, wollten sie auf ihren Ländereien im Sumpfland die lukrative Aligatorzucht ansiedeln. Zum Teil mit brutaler Härte vertrieben sie systematisch die Menschen, die dort lebten. Ganze Landstriche wurden entvölkert. Die Vertriebenen landeten in den Slums der Großstädte und der neuen Industriegebiete, wie Glasgow, wenn sie nicht auswanderten. Und für junge Mädchen gab es Arbeit in den Fabriken, den Spinnereien, die damals entstanden. Aber eben nicht für alle. So landeten meine beiden Kinder eben auf der Strasse. Ich lernte sie dort kennen.“ „Danke, Baju Talahassee.“ Nein, es wäre unhöflich nachzuforschen, mit was sie sich nun beschäftigten. Das würde sie sie wohl selbst fragen müssen. „Darf ich Sie noch etwas fragen, Madame Marine? Warum nennt man den Lord Dracul auch Franconia?“ Sie war etwas überrascht. Baju Talahassee war doch viel älter als sie, da sollte er es doch wissen? Oder wussten die Vampire, die nichts direkt mit dem Ehrenwerten Thing oder dem Lord Dracul zu tun hatten, darüber auch kaum Bescheid? Sie erklärte daher höflich: „Die Frage müsste andersherum heißen: warum nennt man den Franconia auch Lord Dracul. Franconia ist ein Wort aus einer längst vergangenen Sprache. Es soll der Richter bedeuten. Als die Inquisition im 14. Jahrhundert mächtig wurde, in Italien und Spanien, wurde dort das Wort Lord Dracul als Leiter einer Untersuchung gebraucht. Nun, zunächst. Das klang auch in den Ohren unseres Volkes wohl…freundlicher.“ Marine zuckte ein wenig die Schultern: „Manchmal sind Vampire auch nicht anders als Menschen.“ „Natürlich.“ Baju Talahassee lächelte erneut: „Wir entstammen der gleichen Wurzel, auch, wenn wir Vampire uns weiterentwickelt haben. Nun, ohne diese Evolution wäre die Jagd nach Menschen gewiss viel schwieriger, primitiver. – Haben Sie noch weitere Fragen, meine liebe Madame Marine?“ „Im Augenblick nicht. Wären Sie so freundlich, mir Henri Stephane zu schicken?“