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Roy Jacobsens neues Buch folgt einer Gruppe junger Menschen aus ärmlichen Verhältnissen im von den Deutschen besetzten Oslo im Zweiten Weltkrieg. Die Jungen und Mädchen haben nichts zu verlieren und müssen sich durchschlagen, zwischen Freund und Feind, Durchhalten und Widerstand. Ein großartig geschriebener, spannender Roman aus einer Welt, die nicht oft geschilder wird. In Roy Jacobsens neuem Roman «Die Unwürdigen» folgen wir einer Gruppe von Jungen und Mädchen aus einem Wohnhaus am östlichen Rand von Oslo während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Die Jugendlichen leben in Armut und schlagen sich durch, indem sie schwindeln, stehlen wie die Raben, Dokumente fälschen und umfangreiche Einbrüche begehen. Sie schrecken auch nicht davor zurück, die Besatzer zu beklauen und auszunutzen. Mit dieser Gruppe von Kindern zeichnet der preisgekrönte Autor ein schonungslos ehrliches und warmherziges Porträt einer Gesellschaftsschicht und eines harten Alltags, wie sie bisher kaum vorkamen. Dies ist ein Roman über das Überleben in Kriegszeiten, über eine Unterschicht, die ohnehin immer zu kämpfen hat und im Krieg nur ihr eigenes Leben, aber keine Besitztümer, keine Rechte, kein eigenes Land zu verteidigen hat. Über die verschiedenen Motive, aus denen Widerstand entsteht, und darüber, dass auch die Befreiung nicht alle befreit, über das Überleben unter Extrembedingungen und eine verschworene Gemeinschaft. Ein spannender, dichter, hoch aufgeladener Roman, aktuell, klug aufgebaut und mit faszinierenden Figuren.
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ROY JACOBSEN
DIE UNWÜRDIGEN
Roman
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann
C.H.Beck
In Roy Jacobsens neuem Roman «Die Unwürdigen» folgen wir einer Gruppe von Jungen und Mädchen aus einem Wohnhaus am östlichen Rand von Oslo während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Die Jugendlichen leben in Armut und schlagen sich durch, indem sie schwindeln, stehlen wie die Raben, Dokumente fälschen und umfangreiche Einbrüche begehen. Sie schrecken auch nicht davor zurück, die Besatzer zu beklauen und auszunutzen.
Mit dieser Gruppe von Kindern zeichnet der preisgekrönte Autor ein schonungslos ehrliches und warmherziges Porträt einer Gesellschaftsschicht und eines harten Alltags, wie sie bisher kaum vorkamen. Dies ist ein Roman über das Überleben in Kriegszeiten, über eine Unterschicht, die ohnehin immer zu kämpfen hat und im Krieg nur ihr eigenes Leben, aber keine Besitztümer, keine Rechte, kein eigenes Land zu verteidigen hat; über die verschiedenen Motive, aus denen Widerstand entsteht, darüber, dass auch die Befreiung nicht alle befreit, über das Überleben unter Extrembedingungen und eine verschworene Gemeinschaft.
Ein spannender, dichter, hoch aufgeladener Roman, aktuell, klug aufgebaut und mit faszinierenden Figuren.
Roy Jacobsen schreibt Romane, Erzählungen und Kinderbücher und gilt als einer der wichtigsten Autoren Norwegens. Bei C.H.Beck erschienen die ersten drei Romane seiner Barrøy-Saga unter dem Titel «Die Unsichtbaren» (2019), der vierte «Die Kinder von Barrøy» 2021. Mit dem ersten dieser Romane war Jacobsen auf der Shortlist des Man Booker International und des Dublin Awards. Der Autor lebt in Olso.
Gabriele Haefs, geboren 1953, Autorin, Herausgeberin und Übersetzerin, ist eine der produktivsten und profiliertesten Übersetzerinnen vor allem aus dem Norwegischen, erhielt u.a. als Übersetzerin den Deutschen Jugendliteraturpreis (zusammen mit Jostein Gaarder) und den Königlich Norwegischen Verdienstorden, Ritter 1. Klasse. Sie übersetzte u.a. Karin Fossum, Jostein Gaarder, Elin Brodin, Asa Larrsson, Lena Andersson und die Werke ihres Mannes Ingvar Ambjörnsen. Sie lebt in Hamburg.
Andreas Brunstermann, geboren 1960, übersetzt Belletristik und Sachbücher aus dem Norwegischen, Schwedischen und Englischen. Er lebt und arbeitet in Berlin.
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Epilog
Abermals eine Faust. Carl starrte durch seinen Pony hinunter auf einen gebratenen Hering mit schräg eingeschnittener Haut, auf verbrannten Schnittlauch und eine halbe Kartoffel, auf das, was der Tag zu bieten hatte. Er registrierte die feine Maserung des Steinzeugs, die ihm wie Spinnweben vorgekommen war, solange er zurückdenken konnte, und konzentrierte sich auf die Zeit, die vergehen musste, ehe er den Blick wieder auf den Vater richten konnte, seinen formidablen Gegenpart auf der anderen Seite des Tisches, der seine Faust neben zwei Heringen und zwei Kartoffeln abgelegt hatte, zwischen den Fingerknöcheln ragte die Gabel hervor wie ein gepflanzter Baum – die kläglichen Atemzüge der Mutter, die kaum hörbaren der älteren Schwester Mona und Klein Agnes, die ihr Bestes gab, um mit geschlossenem Mund zu kauen, der verdrehte Tanz, der nötig war, um diese fünfköpfige Familie um einen Tisch zu versammeln.
Carl sagte es noch einmal:
Du Scheißkerl.
Brüllte nicht, brachte nur unmissverständlich die Ansicht eines Sohns über einen Vater zum Ausdruck.
Die Gabel zuckte, blieb aber stehen. Der Herr des Hauses lehnte sich zurück, sodass das Holz knarrte und die anderen von ihren festen Posten um den Ort des Geschehens den pumpenden Adamsapfel und die behaarte Halsgrube bewundern konnten, wo ein neuer Sturm aufzuziehen drohte.
Doch nichts geschah.
Der Vater ließ den Kopf nach vorn fallen, Kinn zur Brust, stieß ein Schnaufen aus, dessen Bedeutung niemand begriff, und blickte auf die Mahlzeit, nahm auch das Messer und begann zu essen und fragte mit vollem Mund – ohne die geringste Gemütsregung –, ob Agnes den Unterscheid zwischen Schwarz und Weiß kenne. Das war ihr Spiel, das eines Vaters und seiner jüngeren Tochter.
Agnes lächelte zögernd auf ihre Essensreste hinunter und sagte wie erwartet Nein, damit der Vater mit schiefem Grinsen die Anekdote über die beiden Nonnen und die beiden Elstern zum Besten geben konnte, die Gott verlassen hatte, weil er keinen Unterschied zwischen ihnen sah, die älteste Revuenummer des Haushalts, die damit endet, dass ein Turm umstürzt und das Ganze zum Vorteil der Elstern entscheidet. Die Mutter – die sowohl von Kindern als von Ehemann Mammen genannt wurde – ließ ein erleichtertes Stöhnen hören, dankbar und resigniert, erhob sich und verdrückte die Reste der Mahlzeit stehend, den Rücken der Familie zugewandt und den Teller auf fünf Fingern balancierend, die Gabel in der rechten Hand, jedes Bröckchen und jeden Krümel, um ihn schließlich mit einem Knall in das Steinbecken zu stellen und sich ein Glas Wasser aus dem Hahn zu zapfen, es in enormen Zügen zu leeren und allzu laut zu verkünden, dass Carl aufessen solle, er bekäme schließlich nicht jeden Tag Hering, und endlich mit den Hausaufgaben anfangen.
Carl wandte den Blick von der verkehrt geknoteten Schürzenschleife auf ihrem Rücken ab und richtete ihn auf die frisch rasierten Wangen des Vaters, vermied seinen Blick und sah nun zu seiner älteren Schwester Mona hinüber, die im Laufe des letzten Jahres eine Veränderung von Körper und Gemütsart erfahren hatte und anfing, einer wütenden und wohlgeformten Birne zu ähneln. Mit soliden Hüften und Schenkeln, runden und leicht hängenden Schultern. Eine Verwandlung, die, wie Carl wusste, sie sowohl verwirrte als auch ärgerte, die jedoch überzeugte Anhänger bei den Jungen auf der Straße fand, wenngleich keiner gewagt hätte, es offen auszusprechen. Mit der Folge, dass Mona sich mit säuerlicher, mürrischer Miene durch die Pubertät mühte, anstatt mit spöttischem und selbstsicherem Lächeln und in dem Bewusstsein, dass sie sich mühelos im Laufe von etwas mehr als einem Jahr von einem dürren Besen – mit dem sie ebenso wenig zufrieden gewesen war – in eine beeindruckende Schönheit verwandelt hatte.
War sie nicht ein wenig kräftig?
Nein, Mona hätte gut und gern noch draller sein können, es waren ihre Launen und ihre Keiferei, an denen es etwas auszusetzen gab, nicht die Formen und die quicklebendigen Augen, der große Mund, der wache Verstand und ein Paar Ohrläppchen, die unmöglich zu beschreiben waren. Carl betrachtete das alles mit dem Blick der Straße, seine eigene Schwester, es war sowohl beeindruckend als auch ekelhaft.
Jetzt starrte sie mit einer Mischung aus Verwunderung den Bruder an, ein gutes Zeichen, entschied Carl – nun gut, sie verstand ihn nicht, hatte jedoch immerhin nicht die Hoffnung aufgegeben, dass eines Tages auch aus ihm etwas werden könnte, das nie verstummende Urteil der Straße, auch das der Kinder: Aus dir wird nie was. Lehrer zu Schülern, Eltern zu Töchtern und Söhnen, halbwüchsige Kinder zu jüngeren Kindern, kleine Jungen und Mädchen zu noch kleineren Jungen und Mädchen.
Aus dir wird nie was.
Gab es eine Nachbarschaft, in der nicht einmal aus einer einzigen Seele etwas werden würde, dann war es diese.
Carl hatte seine schmutzigen Hände mit den Handflächen nach oben auf den Tisch gelegt und starrte auf das weiße Gitter in der Haut, verglich es mit den Spinnweben im Steinzeug, blickte erneut auf Monas zweideutiges Lächeln, dann hinüber zum Vater und sagte:
Aus dir wird nie was.
Mammen jaulte auf, Mona schlug die Hände vor den Mund, und Agnes schnappte hustend nach Luft.
Doch der Vater verharrte wie festgeschraubt, krumm gebückt und den letzten Rest eines Mittagessens mampfend, das er erst vor einer halben Stunde in höchsten Tönen gelobt hatte, nicht, weil er es persönlich herangeschafft hatte oder weil es Hering war, sondern weil endlich einmal genug für alle da war, während er langsam im Takt zu den missbilligenden Worten seines Sohnes nickte, wie um sie zu bestätigen oder immerhin darüber nachzudenken, dass sein vorlauter Sohn eine derart deprimierende Meinung über seinen eigenen Vater hatte, ja, doch, darüber galt es nachzudenken.
Carl stand auf und lief mit all seinem dickköpfigen Hunger zur Tür hinaus und sprang die Treppe hinunter, zwei und drei Stufen auf einmal, die letzten fünf in einem einzigen Satz, und spürte es unter den Fußsohlen brennen, während er die Haustür aufstieß und sich vom Alltag verschlingen ließ, und setzte sich auf die unterste Steinstufe vor der Knud Graahs gate sieben in einer besetzten Hauptstadt in Europa, verschränkte die Hände vor den Knien und stieß mit der Stirn gegen die Fingerknochen.
Auf dem Gehsteig zwischen Straße und Haus hatten Olav und Roar das Wrack eines Damenfahrrads auf den Kopf gestellt. Olav mit Schraubenschlüssel in der rechten Hand, der linkshändige Roar mit Gabelschlüssel in der linken, Olav damit beschäftigt, eine Unwucht im Hinterrad zu richten, Roar mit dem Vorderrad. Ein Wrack, das sie angeblich draußen vor der Walzenmühle gefunden hatten, vermutlich von einem Getreidelaster malträtiert, und das sie den ganzen Tag über schon versucht hatten instand zu setzen, sie waren nicht einmal in der Schule gewesen.
Es sah nicht rosig aus, aber ein Fahrrad ist ein Fahrrad, auch wenn ihm Bremsen und Reifen fehlten, die sie von einem Fahrzeug gestohlen hatten, das unverschlossen vor Dagny Salangens Fleisch- und Fisch- und Kolonialwaren stand und anscheinend niemandem gehörte. Nun richteten sie sich auf und starrten Carl an, wechselten einen Blick, Olav rief, ob was sei?
Carl gab keine Antwort. Olav zuckte mit den Schultern und justierte den Schraubenschlüssel. Auf einem Fetzen Ölzeug vor ihm lag das Werkzeug hübsch aufgereiht wie Pinsel in einem Malerkasten, eine Ausrüstung, die sie im Großen und Ganzen aus Martinsens mildtätiger Werkstatt entliehen hatten. Die Strahlen der Nachmittagssonne schnitten gleißend hinunter in den Innenhof. Das Gurren der Tauben, das Tschirpen der Spatzen in Büschen und Dachrinnen, nicht ein Windhauch. Carl überlegte, ob er sich das Hemd herunterreißen sollte. Drei Etagen über ihm ging das Küchenfenster auf, und Monas schneidende Stimme ließ ihm die Haare zu Berge stehen, er sollte wieder hochkommen und seine Mahlzeit aufessen, verdammt.
Kallemann, Kallemann.
Dieses trillernde und infame Lachen. Carl registrierte, dass Olav und Roar aufblickten und sich eine Hand über die Augen hielten, um sie in Augenschein zu nehmen, Mona, die sich mit Sicherheit so weit wie möglich aus dem Fenster gelehnt hatte, das breite und tastende Grinsen der Jungen, aufmunternde Sarkasmen die Hauswand rauf und runter, ehe das Fenster wieder zuknallte und sie sich abermals auf das Fahrrad konzentrieren konnten, mit anhaltendem Grinsen und Worten, die niemand hören konnte.
Hinter Carl ging die Haustür auf. Der Vater kam heraus und ließ im Vorbeigehen etwas fallen, es klatschte auf die Steinstufe, ein Pausenbrot, er trat auf den Stichweg und nickte den Fahrradreparateuren kurz zu und schlenderte die Straße hinunter, setzte sich den Hut auf und verschwand zwischen den Säulen in Richtung Hans Nielsen Hauges gate, um wieder einmal die Welt zu verlassen.
Carl fiel etwas Ungewöhnliches an dem Pausenbrot auf, der Vater musste es selbst eingepackt haben und nicht Mammen, so, wie Mammen ein Pausenbrot packte, konnte ihr niemand etwas vormachen. Er entfernte das Papier und entdeckte zwei Kneippbrotscheiben, die den kalten Hering umwickelten, den er in der Hitze des Gefechts zurückgelassen hatte, es ähnelte einem amerikanischen Hamburger, Soldatenessen, er hielt ihn zwischen beiden Händen und aß Haut und Gräten und Hering und Brot und Margarine mit geschlossenen Augen und musste zwei Pausen einlegen, um wieder zu Atem zu kommen.
Olav kam und stellte sich vor ihn, wischte sich die Hände an einem Lappen ab und fragte, ob es schmeckte.
Mhm.
Hering?
Mhm.
Was soll ich sagen, wir haben zu wenige Ventile und Bremszüge.
Ja …?
Olav zögerte, erstaunt darüber, dass Carl nicht begriff, worauf er hinauswollte, er sagte:
Wir dachten, du könntest zum Nicht-Juden hochgehen und fragen, ob er welche hat?
Ich?
Ja, du.
Wieso denn, er ist doch dein Vater.
Ja, und wie gut stehen die Chancen, dass ich welche kriege? Und Roar kann er auch nicht leiden.
Aber mich kann er leiden?
Sagt er jedenfalls. Kalle ist der einzige Junge auf der Straße, der was taugt.
Sagt er das?
Das sagt er.
Olav war Carls bester Freund, ein gutes Jahr älter, zwölf Zentimeter größer und ein schwieriger, unerschütterlicher und anspruchsvoller Freund. Gebeugt, dabei hoch aufgeschossen, grobe Gesichtszüge und kurz geschorenes Haar, vermutlich, weil er eine so wilde Mähne hatte, dass er wie ein Heuhaufen aussah, was seine Mutter vergeblich im Zaum zu halten versuchte. Seltsamerweise setzte sie große Hoffnungen in ihren Sohn, Olav, der eigenhändig erklärt hatte, dass er zur Realschule und zum Gymnasium wolle, um etwas zu werden, wie es hieß, woran sein Vater zweifelte, nicht, weil der Nicht-Jude den Fähigkeiten seines Sohnes misstraute, sondern weil niemand zum Gymnasium ging und er außerdem seinen eigenen Abkömmling nicht mehr verstand und noch dazu begonnen hatte, sich vor ihm zu fürchten.
Olav machte niemals Hausaufgaben und sagte zu Hause kein Wort über die Schule, über Lehrer, Mitschüler, Fächer, nichts. Als seine Eltern ein halbes Jahr vor der letzten Prüfung einen Brief des Klassenlehrers bekamen, dass ihr Sohn sich nicht zurechtfand und nicht in den Schulrahmen passte, sah der Nicht-Jude eine kleine Hoffnung, den Jungen in die Lehre zu bekommen. Doch Olav lehnte gelassen alles ab, was nach einem guten Rat aussah, er würde seine Schulausbildung selbst finanzieren, und behauptete, er käme gut zurecht, es seien die Lehrer, die nichts kapierten. Olav bekam bessere Noten als die meisten anderen.
Er schielte ein klein wenig auf dem linken Auge, ein zweideutiger Blick, der ihm ohne Weiteres die Oberhand verschaffte. Die Leute fragten sich, ob Olav sie überhaupt ansah oder ob er an ihnen vorbeiblickte, weil sie nicht verdienten gesehen zu werden, oder ob er durch sie hindurchsah, kombiniert mit einem schweren und furchtlosen Ernst. Olav lachte nur äußerst widerwillig. Er hatte zwei zwölf Jahre jüngere Geschwister, die Zwillinge Lasse und Minna, und wie alle anderen bewohnte die Familie ein Zimmer mit Küche, nicht allein finanziert vom Vater, sondern nach und nach auch von Olav, wo der Junge nur das Geld hernahm, das er dann und wann der Mutter zusteckte.
Was sagste?, sagte er zu seinem Freund Carl.
Ich weiß nicht, sagte Carl, wie ein Eigentümer auf der höchst persönlichen Treppe sitzend.
Dann bleibt es, wie es immer ist.
Und das wäre?
Dass du eins aufs Maul bekommst, bevor du hochgehst, oder du gehst hoch, ohne eins aufs Maul zu kriegen.
Carl grinste, knüllte das Papier zusammen und warf es auf seinen Freund, der sich behände duckte.
Das macht’s ja einfach.
Nicht wahr.
Olav wollte ihm den Rücken zuwenden, entdeckte aber plötzlich die geschwollene Wange, beugte sich vor und schob Carls linke Haarlocke beiseite.
Du hast schon eine reinbekommen?
Carl sagte nichts.
Olav: Bisschen zu viel, vielleicht?
Carl zuckte mit den Schultern.
Ich brauche Schlüssel.
Natürlich, sagte Olav und drehte seinen langen Körper halb herum, schob die linke Hand in die rechte Hosentasche und zog ein Bund hervor, so groß wie das des Hausmeisters, löste zwei Schlüssel ab und reichte sie ihm.
Und halt dich da oben nicht so lange auf, wir haben wenig Zeit.
Carl überquerte die Straße und betrat Brettevilles gate neunundzwanzig, eine spiegelverkehrte Kopie des Treppenhauses, in dem er selbst wohnte, doch mit anderen Gerüchen und Lebensgewohnheiten, anderen Schuhen, Türmatten und gelberen Wänden, anderen Namen auf Keramik und Messing, sogar einem anderen Echo, was wirklich bemerkenswert war, wo doch alles seinem eigenen Treppenhaus ähnelte. Er sprang drei Stockwerke hinauf, gebratene Zwiebeln, braune Sauce, gekochte Milch, zum Dachboden hoch und schloss die Tür zu einem dunklen Gang auf, der den ganzen Gebäudekomplex verband – acht Mietshäuser, in einem gediegenen Kreis unter dem Himmel oder in einer Rhombe um einen Innenhof, ein düsteres und verlockendes Reich, zu dem kein Kind Zutritt hatte.
Eine sonnenwarme Decke aus Staub legte sich über ihn, das murmelnde Gurren der Tauben und das fledermausähnliche Hin und Her der Rauchschwalben. Er schaltete das Licht ein und bewegte sich zwischen den Dachkammern auf die nächste Tür zu, schloss auf und betätigte noch einen Schalter, lief zurück und knipste den ersten aus, orientierte sich am Licht an der neuen Tür, verschloss auch diese und lief auf eine weitere Tür zu, wiederholte die Prozedur mit schwach zitternden Fingern – es lag nicht mehr als drei Jahre zurück, dass er sich zum ersten Mal hier hineingewagt hatte, mit flackerndem Kerzenlicht, welches erlosch und sein Mannbarkeitsritual so in die Länge zog, dass er beschloss – nachdem er schwitzend die ganze Runde absolviert hatte und die Treppe am hintersten Ende hinuntergerannt war und mit heiler Haut in der sonnenbeschienenen Hans Nielsen Hauges gate stand –, so etwas solle nie wieder vorkommen.
Es war die Angst, die nie wieder vorkommen sollte.
Schon am nächsten Tag war er zurück, nachdem er wach gelegen und sich gefragt hatte, was mit ihm nicht stimmte. Carl, ein Angsthase? Er hätte Olav mit auf die Runde nehmen können, Vidar, Jan, Roar, wen auch immer … Doch er begriff, dass die Furcht auf eigene Faust niedergerungen werden musste. Und ohne Kerze. Er schloss die erste Tür auf und ließ die Augen sich an die winzigen Lichtreste gewöhnen, die es in jeder Dunkelheit gibt. Geduld. Nicht rennen. Ruhig, entschieden, einsamer als je zuvor, ein Junge allein auf der Erde, nicht schneller werden, nicht herumfantasieren, Pulsschlag, eine Schwalbe im Gesicht, nichts, und am wichtigsten: ohne jemandem davon zu erzählen.
Genieße den Triumph allein.
Unter Mühen hatte er den Mund gehalten. Bis Olav eines Tages beiläufig erwähnte, dass er gestern die Dachbodenrunde gelaufen sei, allein. Und Carl hatte lässig erwidert, das habe er auch getan, mehrmals, vor langer Zeit. Olav hatte ihn durchdringend angesehen und ein paar relevante Fragen über Türen und Lichtschalter und Schlüssel und verborgene Schornsteine gestellt, die Carl ebenso relevant beantwortet hatte, er wollte schließlich kein Gewese daraus machen.
Jetzt stand er vor der Dachkammer des Nicht-Juden, Olavs Vater, der vier Stunden in der Buchhaltung der Walzenmühle arbeitete und den Rest des Tages hinter dieser ungestrichenen Brettertür auf einem Dachboden im Norden der Stadt saß und dieses und jenes für die Nachbarn reparierte, ein Mönch in seiner Einsiedelei, zu dem alle gehen konnten, wenn ein Wasserhahn undicht war oder ein Schuh besohlt werden musste, wenn ein Messinggriff gerichtet werden musste oder ein Topf einen neuen Henkel brauchte. Der Nicht-Jude arbeitete mit Eisen, Holz, Leder, Farben, Leim und Lack, er arbeitete mit allem, ein Ehrenmann des Alltags, der sich nicht damit beschäftigte, die Nation von dem deutschen Joch zu befreien, sondern sein Äußerstes dafür tat, dass sie es aushalten würde.
Der Nicht-Jude hieß eigentlich Arne, aber in einem verwirrten Augenblick in seiner Kindheit war ihm der Spitzname Aron verpasst worden, und er hatte sofort gedacht, der sei doch viel schöner als sein Taufname, deshalb hatte er angefangen, ihn freiwillig zu benutzen, sogar mit einem gewissen Stolz, als Hausmarke, bis es im Laufe der Dreißigerjahre weniger attraktiv wurde, mit Juden in Verbindung gebracht zu werden: ein Problem, über das Arne alias Aron bis dahin niemals nachgedacht hatte, deshalb begann er sicherheitshalber zu sagen, er heiße nicht Aron, sondern Arne, was ja auch zutraf, aber dafür war es vielleicht zu spät, wie er nun ebenfalls zu spät einsah. Er hieß Arne und kam vom Guttormsgaard in Hadeland, der zweitjüngste von sieben Brüdern, die einer nach dem anderen Bauern, Waldarbeiter und Flößer geworden waren, wie der Vater und der Großvater und alles, was Aron an Onkeln und Vettern hatte, etwas anderes gab es nicht.
Aron zog sich im ersten Winter im Wald eine Verletzung zu und wurde nach längerem Krankenlager mit fünf Kronen in der Tasche in die Stadt geschickt, wo er sich im Hafengelände herumtrieb, bis er eine Heuer auf einem Stückgutfrachter zu den Philippinen fand. Es folgten Miami, Port Moresby, einige Touren zu den Großen Seen, ohne dass Aron, wie seine Schiffskameraden ihn weiterhin nannten, sich an Bord zurechtgefunden hätte, er war sechzehn Jahre alt und hinkte seit dem Unglück im Wald auf dem linken Bein, er wurde siebzehn, er wurde achtzehn, neunzehn … Und ging an einem nebligen Herbstabend in Antwerpen mit der Hälfte seiner Heuer aus vier Jahren von Bord, eigentlich, um seine Schiffskameraden zu begleiten und sich in einem Puff die Feuertaufe zu holen. Stattdessen geschah in Arons hadeländischem Holzschädel ein Wunder, als er als Letzter vor dem legendären Café Tromsø Schlange stand, als die Tür hinter Bootsmann Salvik zugeknallt wurde und der Türsteher seinen Blick auf Aron richtete und fragte, ob er money habe, Geld, monnaie? Der Hüter des Heiligtums wollte Bargeld sehen.
Doch, Aron hatte Geld, aber ihn überkam ein kaltes Schaudern, und er starrte verwirrt auf sein schiefes linkes Bein, betrachtete seine frisch geputzten Schuhspitzen, schaute wieder hoch zu der vierschrötigen Gestalt mit den Tätowierungen an den muskelprotzigen Unterarmen und dem Goldring im linken Ohr. Aron öffnete den Mund und antwortete einfach nein, er habe kein Geld, er rief es, no money!
Machte auf dem Absatz kehrt und marschierte durch die menschenleere Hafengasse und bog nach links ab, wo, wie er wusste, die norwegische Seemannskirche lag, ging hinein und sagte, er wolle nach Hause, nach Norwegen. Eine blonde junge Frau erhob sich von einem Stuhl hinter einem schmalen Rezeptionstresen, schaute ihn unsicher aus zusammengekniffenen Augen an und stellte mit klangvollem Südküstenakzent einige einfache Fragen, die Aron mit kurzem Nicken und vagen Andeutungen beantwortete, er hörte selbst, dass er am Ende seiner Kräfte war, und gab mit seinem ganzen Äußeren zu verstehen, dass es eile, dass dieser Besuch eine Zeitfrist habe, die nicht überschritten werden dürfe, ansonsten werde er zugrunde gehen.
Die junge Frau sah offenbar nicht zum ersten Mal Verzweiflung, sie sagte, warte hier, und holte einen jungen Mann, den Pastor, wie Aron begriff, auch wenn dieser Pullover und Nietenhosen trug. Er hieß Georg Harvila und stellte sich mit solidem Händedruck vor, er hatte finnische Eltern, war jedoch in Sagene in Oslo geboren und aufgewachsen, also ganz ruhig bleiben, sagte er mit einem vertraulichen Lächeln, und er führte Aron in eine Bibliothek und saß dort eine Stunde lang mit ihm zusammen und hörte sich an, was der junge Seemann über die vier düsteren Jahre seines Lebens auf den Weltmeeren zu berichten hatte, Sätze, die Aron sich sehr genau überlegt hatte, Tag und Nacht, von denen er nun jedoch nur Bruchstücke wiederfand. Dazu entdeckte er, dass er eigentlich noch niemals mit irgendjemandem gesprochen hatte. Jedenfalls nicht mit jemandem, der zuhörte. Als er endlich mit seinem Bericht zu Ende war, schüttelte Harvila seine blonden Locken über einer Stirn mit auffällig vielen Furchen und sagte umstandslos, so dürfe die norwegische Handelsflotte ihre Männer nicht behandeln. Aron müsse nach Hause. Harvila werde sich persönlich um die Reederei kümmern, dafür sorgen, dass Aron seine volle Heuer ausgezahlt bekäme und ihm kein unbefugter Abbruch seiner Heuerzeit nachgesagt werden könne.
Aron sagte, die Heuer sei ihm scheißegal.
Ach was, sagte Harvila.
Aron hatte das Gefühl, dass Georg Harvila ein Mensch war. Und drei Tage später war er wieder in Oslo, mit voller Heuer und drei Adressen auf einem Zettel mit dem Emblem der Seemannskirche, offenbar persönliche Freunde von Harvila.
Er fand zuerst eine Stellung als Hilfsarbeiter in einer Lederfabrik, aus Barmherzigkeit, sein linkes Bein war noch immer kein Anlass zum Hurraschreien. Dann wurde er als Laufbursche bei dem Juden Samuel Starman im Sandakervei angestellt, Nummer 2 auf Harvilas Zettel. Und kurz darauf wurde er Buchhalter des Mannes, als sie beide – jeder zu seinem Erstaunen – entdeckt hatten, dass Aron einen klaren Kopf besaß oder jedenfalls eine innere Ordnung, einen gesunden Sinn für Zahlen.
Aber schon drei Jahre später wurde er wieder vor die Tür gesetzt, als der älteste Sohn des Hauses herangewachsen war und seinen Platz einnahm.
Aron musste bei der dritten Adresse auf seinem Zettel Zuflucht suchen und endete in der Walzenmühle Bjølsen, auch hier bei der Buchführung, mithilfe des Zeugnisses, das Samuel ihm ausgestellt hatte, in einer relativ gut bezahlten Ganztagsstellung, die er nach einiger Zeit – freiwillig – auf eine halbe reduzieren konnte.
Aron legte im Laufe der nächsten Jahre ein nettes Sümmchen auf die hohe Kante, in seinen Augen jedenfalls, und hauste in schlichten und kalten Mansardenzimmern, wusch und flickte seine Kleider selbst und aß pro Woche nur eine warme Mahlzeit, zu Hause bei seinem alten Freund und ehemaligen Arbeitgeber Samuel, der ein schlechtes Gewissen hatte, weil er seinem Freund die Tür gewiesen hatte. Samuel spielte gern Schach. Jedes Jahr zu Weihnachten bekam Aron außerdem einen großen Kasten mit Lebensmitteln und etwas Geld, das er nicht verdient hatte. Und auf den Tag genau acht Jahre, nachdem er an Land gegangen war, lernte er in einem Biergarten seine liebe Lilian kennen.
An einem warmen und fliederduftenden Maiabend auf einer Halbinsel im Oslofjord.
Aron hatte vor, irgendetwas zu feiern, gut zu essen und zwei Glas Bier zu trinken. Sie saßen an getrennten Tischen im Grünen, mit bunten Lampions in den Bäumen. Sie kamen ins Gespräch. Sie stellten fest, dass sie gleichaltrig waren und dieselben kleinen Dinge mochten, sie bestellten noch ein Bier, das Aron ausgab. Ein Teelöffel fiel klirrend in den Kies, auch zum Geräusch von Lilians Kichern, Aron hob ihn auf und dann saßen sie am selben Tisch. Das alles geschah so nahtlos und selbstverständlich an dem ruhigen Sommerabend, dass Aron mit ihr nach Hause in ein Zimmer im Maridalsvei ging und nie wieder auszog. Er dürfe nicht wieder ausziehen, sagte Lilian mit tiefernster Miene schon, als sie an diesem ersten Sonntagmorgen im selben Bett aufwachten. Lilian hatte es satt, allein zu sein, sie hasste Einsamkeit, hier ist Kaffee.
Aron setzte sich in dem schmalen Bett in einer Kammer auf, die bedrohliche Ähnlichkeit mit seiner eigenen hatte, er hatte die einzige Decke des Hauses bis unter die Arme hochgezogen, und er betrachtete das nüchterne und schminkefreie Gesicht der geschäftigen Lilian, den schiefen Vorderzahn, wilde, ungekämmte Locken, dunkle Augen und hohe Wangenknochen, robust und sanft und umgänglich, und registrierte, dass sie bei jedem Wort, das aus ihrem vollkommenen Mund perlte, schöner wurde.
Es kam heraus, dass Lilian neunzehn war.
Ja, ich habe dich angelogen, Aron.
Du hast dich neun Jahre älter gelogen?, fragte Aron.
Ja, ich weiß. Du bist doch achtundzwanzig. Gefällt es dir nicht, dass ich neunzehn bin?
Nein, das ist kein Problem.
Aron fand es auch nicht zu bescheiden und anspruchslos, dass sie Hausgehilfin war und in einem reichen Haus ungezogene Kinder hütete.
Er konnte sich keine strahlendere Karriere vorstellen.
Lilian wollte eigentlich noch zur Schule gehen.
Das sei doch nicht nötig.
Meinst du wirklich?
Natürlich.
Gott sei Dank, sagte Lilian.
Aber da war ja Hadeland. Arons Kindheit.
Kurz nach seiner Heimkehr aus Antwerpen hatte er seiner Mutter einen Brief geschrieben. Und da keine Antwort kam, richtete er den nächsten an den Vater, mit ungefähr demselben Wortlaut, ich bin wieder zu Hause. Aron ist wieder in Norwegen.
Auch jetzt kam keine Antwort. Noch einige Monate vergingen, und er schickte eine Weihnachtskarte, unterschrieben mit Arne, euer Sohn, das schrieb er wortwörtlich, euer Sohn.
Noch immer keine Reaktion. Er brachte es dennoch nicht über sich, in den Zug zu steigen und unangemeldet die Familie aufzusuchen, lebend vor ihnen zu stehen wie ein heimgekehrter Sohn auf der Türschwelle seiner Kindheit, aus Angst, ihnen könnte etwas zugestoßen sein, den Eltern oder den Brüdern.
Seltsamerweise verspürte er kein Heimweh, nur ein bisschen sporadische Neugier, und eine Woche nach der anderen verging, es wurde Frühling, Sommer und Herbst. Die Jahre vergingen. Bis er eines Frühlingstages mit Lilian durch Grünerløkka spazierte und an einer verräucherten Kneipe vorbeikam, wo hinter verstaubten Fenstern energisch gezecht wurde und wo plötzlich einer seiner älteren Brüder auf der Vortreppe stand und mit langen Armen fuchtelte, Alf. Alf erzählte ohne Einleitung, er habe einen Flößerauftrag im Maridalsvann hinter sich und sei dabei, zusammen mit seinen Arbeitskameraden den Lohn zu vertrinken. Er hatte seinen kleinen Bruder sofort erkannt, wirkte aber weder überrascht noch interessiert, als ob sie einander erst gestern gesehen hätten oder als ob Aron ein gleichgültiger Nachbar sei, stellte nicht eine einzige Frage nach Arons Seemannsleben und zeigte kein Interesse daran, was der Bruder in diesen vielen Jahren getrieben haben könnte, sondern starrte nur umso gieriger Lilian an, die fein angezogen und dick geschminkt war und die angesichts dieses vulgären und groben Waldheinis die Augen verdrehte.
Aron riss sich zusammen und erkundigte sich nach Mutter und Vater.
Doch, denen geht’s gut, die bauen einen Schweinestall.
Ach was, sagte Aron, und ihn überkam eine Stimmung, die er nur allzu gut kannte, die er aber vergessen hatte, das Gefühl, nicht vorhanden zu sein, unsichtbar zu sein, und er sagte kurz, nett, dich zu sehen, Alf, machte kehrt und ging mit Lilian weiter, um seine Familie niemals wiederzusehen, niemanden von ihnen.
Aron ging nicht zu den Beerdigungen seiner Eltern, von denen er zufällig in der Zeitung las, eine Todesanzeige, in der der achtundsiebzig Jahre alte und jüngst verstorbene Peder Johan Guttormsgaard als Witwer bezeichnet wurde. Also hatten Mutter und Vater beide diese Welt verlassen. Der Liste der Angehörigen konnte Aron entnehmen, dass alle sechs Brüder am Leben waren, einige mit Frauen und Kindern mit fremden Namen, was es Aron nur noch deutlicher machte, dass er nirgendwohin gehört hatte, ehe er bei Lilian im Maridalsvei eingezogen war.
Kurz danach machte er ihr einen Heiratsantrag, dramatisch auf den Knien, wie Lilian das wollte, mit einer Blume im Knopfloch, er war gekämmt und hatte frisch geputzte Schuhe, Bügelfalte in der Hose. Sie mit Hochfrisur nach dem Diktat der Zeit, rot lackierten Fingernägeln und Nylonstrümpfen. Sie behauptete, aus Bærum zu stammen, aber Aron hörte niemals etwas von Freunden oder Verwandten, und die Anzahl der Hochzeitsgäste beschränkte sich auf zehn, von denen sechs aus dem Haushalt seines alten Freundes und Arbeitgebers Samuel stammten, Samuel und seine Frau Sara, beider ältester Sohn Gabriel, zwei Töchter und ein neugeborener David sowie drei Mann aus der Walzenmühle. Die Begegnung mit Arons großem Bruder Alf schien auch in Lilian eine Schleuse geöffnet zu haben. Sie schloss sich jetzt noch näher an ihren Ehemann an und gestand, dass auch sie es seinerzeit für nötig gehalten hatte, mit ihrer Familie zu brechen, mit einer ebenso unbegreiflichen Begründung wie Aron.
Ach was, sagte Aron und fand, dass sie nun noch besser zusammenpassten, und er vergaß das ganze Thema, als sehr bald darauf ihr erster Sohn geboren wurde, Olav, ein hübsches und umgängliches Geschöpf, welches das Leben noch vollkommener machte. Im folgenden Jahr konnten sie mithilfe von Arons Erspartem in eine Einzimmerwohnung in Ảsen ziehen, mit fließend Wasser und Klo inbegriffen, und fünf Jahre darauf konnte Aron dann seine Stunden in der Walzenmühle reduzieren und endlich mit dem beginnen, wovon er immer geträumt hatte, nämlich, allein zu arbeiten, Dinge zu reparieren, für andere, auf einem anonymen Dachboden in einer prachtvollen Mietskaserne.
Aber mit etwa drei Jahren begann der Sohn Olav, sich zu verändern, er wurde trotzig, verquer und träge, wollte nicht mit Windeln aufhören, nässte noch das Bett ein, als er schon zur Schule ging, und raubte den beiden nächsten Kindern alle Aufmerksamkeit, den Zwillingen Lasse und Minna, die sich einstellten, als Olav zwölf war, und die sich, soweit Aron das begriff, selbst großziehen mussten. Die Eltern hofften nun dennoch, dass Olav vielleicht keine Macke habe, da von der Schule nie auch nur eine kritische Anmerkung kam. Möglicherweise litt er an einer Begabung, von der geheimnisvollen Sorte, ein Künstler vielleicht, in spe?
Dann wurde in der Wohnung eine neue Gewohnheit etabliert. Lilian fing an, auszugehen, zu seltsamen Tageszeiten, angeblich, um Freundinnen zu treffen, von denen Aron noch immer nichts zu sehen bekam und über die er nur in vagen Andeutungen hörte, die er dann sofort wieder vergaß. Auch eine Kusine wurde erwähnt, aber auch die ließ sich nicht blicken. Oft kam Lilian spät nach Hause, und wenn Aron (sie nannte ihn niemals anders, auch wenn er schon längst angefangen hatte, zu protestieren, ich bin kein Jude, ich bin Arne!) fragte, was sie da eigentlich machte, antwortete sie, irgendwer hier im Haus müsse doch Geld verdienen.
Wie meinste’n das?, fragte Aron, und wieder überkam ihn das eisige Gefühl, das ihn über die Weltmeere gehetzt hatte, nicht eine einzige Nacht ohne das schwere Dröhnen der Kolben durch Mark und Bein. Er versuchte, seine Angst zu verstecken, auch vor sich selbst, aber ohne großen Erfolg. Jedoch auch, ohne dass Lilian diese offenkundige Charakterschwäche ausgenutzt hätte, sie bezeichnete ihn niemals als Dummkopf, behauptete nie, er sei nicht gut genug, klagte nie darüber, dass sie drei Kinder hatten und dass er da oben in seinem Dachbodendasein nicht genug verdiente. Also stellte Arne niemals Fragen zu ihren unerklärlichen Abwesenheiten. Und als die Besatzung zur Tatsache geworden war und die Menschen anfingen, sich an Geschrei in den Zeitungsspalten, an Stiefelgetrampel in den Straßen und an Warenmangel in den Läden zu gewöhnen, hörte Lilian mit Ausgehen auf, von einer Woche zur anderen. Auch diese Veränderung kam Arne unbegreiflich vor, da sie ebenfalls von keiner Erklärung begleitet wurde, aber auch diese historische Tatsache konnte er nur zur Kenntnis nehmen, so sah er das.
Arne war froh darüber, dass Lilian zu Hause blieb.
Nachmittags konnte er auf der Küchenbank sitzen und zusehen, wie ihre flinken Hände Besteck und Hausgerät in Abwaschwanne, Schubladen und Schränken ordneten, konnte der routinierten Resignation und dem vertrauten Seufzen lauschen, in der Regel über die Zwillinge, an denen nie auch nur das Geringste auszusetzen war, und er konnte das unsichere Lächeln genießen, das sie ab und zu in Arnes Richtung sandte, ob das Essen heute nicht gut genug gewesen sei?
Doch, wenn man die heutigen Zeiten bedenkt.
Dafür kannst du dich bei Olav bedanken, flüsterte sie ihrem Mann eines Tages ins Ohr.
Olav?
Ja, vertraute sie ihm in einer Stimmlage an, die andeutete, dass er das, was sie ihm nun doch verriet, nicht unbedingt weitererzählen solle, dass Olav oft mit Lebensmitteln nach Hause kam, von deren Herkunft sie keine Ahnung hatte, nach der sie aber auch nicht fragte, und Aron sollte das auch lieber lassen, kapiert?
Die Angst hielt Arne nun nur noch fester gepackt: Fuhren Olav und seine Kumpel mit dem Fahrrad keine Botentouren mehr für Samuel?
Doch, doch, aber da streiten sich viele um jeden Knochen.
Ein bisschen verdienen sie doch wohl?
Ja, ja, wir vergessen das jetzt.
Es klopfte an die Dachkammertür hinter ihm, und Arne wusste sofort, dass es Carl war, der rätselhafte beste Freund seines Sohnes, da Olav ihn hier oben nie besuchen kam, auch sonst niemand, was das anbelangt. Wer etwas von ihm repariert haben wollte, brachte es zu Lilian unten in die Wohnung, wo er später die Gegenstände auch wieder abholte und dafür bezahlte. Arne hatte ein gewisses Vertrauen zu Carl und hegte die vage Hoffnung, dass er seinem Sohn eine Stütze und ein Hafen sein könnte, warum, war etwas unklar, also wand er sich auf seinem Stuhl herum, löste den Haken und sagte Herein.
Komm rein, Kalle, und setz dich.
Carl kam herein, drehte eine Bierkiste um, setzte sich und starrte auf den überladenen Arbeitstisch, selbst gezimmerte Schubladen und Fächer mit Tablettendosen und Tabaksbüchsen und Teebehältern mit Nägeln und Zapfen und Schrauben und Muttern und Schachteln in allen Größen und Formen, ein Regenwald aus Senkeln und Ledern und Schnüren, die von Haken an der Decke hingen, Leim, Schuhleisten, Farb- und Lackeimer so klein wie Fingerhüte in fein gearbeiteten Regalen und das exotische Werkzeug, davon einiges von Carl und seinen Kameraden herbeigeschafft, eine Rohrzange, die ihm bekannt vorkam, eine Anreißschablone und acht Schraubenzieher, die sie bei einer Brandstätte gefunden hatten, versehen mit neuen, geölten Holzgriffen, die wie glänzende Schachfiguren aus passenden Löchern im Gestell über dem Tisch herausragten, das Ganze umsichtig beleuchtet von einer Scherenlampe, so dick mit Staub und Ruß bedeckt, dass alles Licht nach unten fiel und die Atmosphäre undurchdringlicher machte und den Raum größer, als er war, es roch nach erwachsenem eingesperrten Mann.
Carl sagte, er brauche einen Zug für eine Fahrradbremse und zwei Ventile. Arne fragte, welche Größe. Carl sagte, ich weiß nicht, und Arne öffnete eine Kaffeebüchse, kippte den Inhalt auf den Tisch und kramte fünf Ventile heraus, zwei davon in gleicher Größe, und blickte fragend auf.
Wir versuchen’s, sagte Carl. Und der Bremszug, den könnten sie selbst zuschneiden und die Klemmen besorgen.
Und Flickzeug?
Ja, das hab ich vergessen.
Arne warf den Kopf herum und öffnete eine Schublade mit Kleingeld, Kautabakdosen und etwas, das einem Stapel Ansichtskarten glich, die von einer seltsamen Schleife zusammengehalten wurden, knallte die Schublade jäh wieder zu, als ob er sich verbrannt hätte, und öffnete eine neue Schublade und kramte in dem Inhalt herum, während er mit abgewandtem Rücken fragte, woher sie das Fahrrad hätten, ob das gestohlen sei?
Nein.
Gut. Hier, das Einzige, das ich habe. Und wo wollt ihr’s verkaufen?
Draußen vor Halléns, wo die reichen Weiber rumlaufen, Jan und Vidar kümmern sich darum.
Die Kleinsten?
Ja.
Ja, ziemlich schlau, widersetzte Arne mit resigniertem Lächeln.
Wir wollen’s auch neu lackieren.
Habt ihr denn Lack?
Martinsen hat welchen.
Arne fragte ohne Übergang, ob Carl mit seinem Vater Ärger habe.
Wieso?
Arne deutete mit dem Kopf auf einen Stapel Hefte in der Mitte des Arbeitstischs und einen halb blinden Spiegel, der schräg daraus hervorragte und in dem Carl eine flimmernde Ausgabe seiner selbst entdeckte, mit roter und geschwollener Wange. Er sagte ja und dass es nicht schlimm sei.
Scheißkerl bleibt Scheißkerl, sagte Carl.
Als er sich anschickte aufzustehen, drehte Arne sich zu ihm um und sagte, warte mal, Arne wollte ihm etwas sagen, auch wenn ihn das nichts anging, wie er betonte.
Und was?, fragte Carl abwartend.
Arne sagte, Carl sollte wissen, dass sein Vater ein knallharter Mann sei.
Wie meinste das?
Arne wirkte, als ob er erst jetzt begriff, dass er etwas angesprochen hatte, was besser nicht erwähnt werden sollte, wandte den Blick ab und fuchtelte mit einer öligen linken Hand auf der Jagd nach einem Ausweg, fand aber keinen. Es nützte auch nichts, dass Carl ihn direkt anstarrte. Arne war mit einem Mal verschlossen. Er wiederholte:
Erling ist ein harter Mann.
Und ließ es dabei bewenden.
Carl stand auf und überlegte, ob er sich für den Bremszug, den er sich um den linken Arm gewickelt hatte, bedanken sollte, steckte Ventile und Flickzeug in die Tasche, um dem Mann noch eine Chance zu geben, aber Arne blieb diffus und in sich gekehrt, also bedankte Carl sich und ging denselben Weg zurück, durch drei Türen, ohne Licht, lief die Treppen hinunter und hinaus auf die Knud Graahs gate, als ob er nicht das Geringste ausgerichtet hätte.
In der Zwischenzeit waren auch Jan und Vidar dazugekommen, vier Kameraden, kniend und sitzend um ein Fahrradwrack, das sie nun auf die Wiese bugsiert hatten. Carl reichte Olav Bremszug und Ventile, und Olav wollte nicht ein einziges Wort von der Begegnung seines Freundes mit dem Vater auf dem Dachboden hören.
Carl setzte sich wieder auf die Steintreppe vor Nummer sieben, seine Treppe, stützte das Kinn in den Händen ab und nahm den gleichen Eindruck in sich auf, der sich ihm schon geboten hatte, als er als Zweijähriger aus der Tür gestapft war, Kinder in jedem Alter, Spierlingsträucher und Flieder mit und ohne Schnee, scheißende und gurrende Tauben, Scharen von unsichtbaren Spatzen in Büschen und Gestrüpp, Väter und Mütter, die hierhin und dorthin eilten unter einem stabilen Viereck von Himmel, der weiß, grau, blau war, und registrierte inmitten des Bildes, dass Olav den Bremszug in die Länge zog, um Maß zu nehmen, Roar, der ihn mit einer Kneifzange abschnitt, während Jan und Vidar mit Ölkannen und mehr oder weniger gut erhaltenem Werkzeug aus Konrad Martinsens wundersamer Werkstatt umherschwirrten, das war Carls Welt, das Reich der Jungen.
Und der Mädchen.
Die Tür hinter ihm ging auf, und heraus kam Mona mit ihrem Hofstaat im Schlepptau, lachend und mehr oder weniger in das wild wuchernde Fliedergebüsch hineintänzelnd, wo eine Straßenbahnsitzbank stand, die Carl und Olav eines Nachts in Birkelunden auseinandergeschraubt und in Einzelteile zerlegt hierhergebracht hatten. Noch mehr Mädchengeräusche aus den Büschen. Abwartende Stille, ehe das Gestrüpp zur Seite gebogen wurde und Mona wieder herauskam und zögernden Schrittes auf die Fahrradreparateure zutrat und sich mit einer Hand auf der Hüfte und herausforderndem Lächeln auf den Lippen vor Olav aufbaute und fragte, ob er allen Ernstes glaubte, dieses Wrack verkaufen zu können.
Olav drückte den Rücken durch und sah sie mit seinem zweideutigen Blick an, verzog ausnahmsweise den Mund zu einem resignierten Lächeln und streckte ruhig eine ölige Hand aus und umfasste ihre linke Brust, wie um sie abzuwiegen. Mona schrie auf und schlug seine Hand beiseite und rannte zurück ins Fliedergebüsch. Noch mehr lautes Lachen und Kichern. Und eine neue Stille, denn die kleine Tone kam heraus und ging halbwegs auf die Jungen zu, stellte sich hin wie eine Skulptur und schrie mit gellender Stimme, dass niemand Mona an die Brust fassen dürfe.
Aber ihr könnt meine Fotze angucken.
Riss ihr ausgeblichenes Kleid über den Kopf, sodass die heranwachsende Generation der Knud Graahs gate einen allzu kurzen Blick auf einen mageren und hohlrückigen Mädchenkörper erhaschte, von nackten, grünen Füßen bis hinauf zur weißen Rose eines Nabels, zog das Kleid jäh wieder herunter und wickelte sich darin ein wie eine schamhafte Nonne, ehe sie eine Fratze schnitt und den ungläubigen Augen der Welt den Rücken zukehrte.
Du has ja nich ma Haare dran, versuchte sich Vidar.
Hab ich wohl!
Dann lass sehen?
Nie im Leben, du Scheißkerl.
Tone wurde mit triumphierendem Jubel in den Büschen empfangen, während vier Jungen einander beeindruckt anblickten. Carl wollte ihnen von der Treppe aus zurufen, dass sie richtig gesehen hätten, doch seine Stimme trug nicht, sie brach, und er wurde rot. Olav sah zu ihm herüber, und Carl spürte es. Olavs Lächeln. Und sie scharten sich wieder um das Fahrrad.
Sie reparierten ein Fahrrad.
Bis Olav den Rücken streckte und den Schatten betrachtete, der die oberste Fensterreihe des Mietshauses erreicht hatte, die präzise Sonnenuhr der Graahs gate, er reichte Vidar den Schraubenschlüssel und ging hinüber zu dem Sandhaufen vor Dagny Salangens Kolonialwarengeschäft, das Gerechtigkeit genannt wurde, wo seine kleinen Geschwister, Minna und Lasse, mit fünf anderen spielten, und packte sie unter Protestgeschrei, schüttelte Sand von ihnen herunter und trug sie, eines unter jedem Arm, die Straße entlang und hinein in Nummer zwei und kam nicht wieder heraus.
Olav kam nicht eher wieder heraus, als bis das ganze Gebäude im Schatten lag und es in den Fliederbüschen still geworden war. Die Jungen hatten das Fahrrad in den Kohlenkeller in Nummer sieben hinuntergebracht, Carls Keller, und hatten es signalrot angemalt, soweit der Lack reichte. Sie hatten die Vordergabel gerichtet, die Schutzbleche justiert, den Gepäckträger schwarz gestrichen, ein defektes Katzenauge entfernt, an der Tretkurbel fehlte etwas, die Seele des Fahrrads vermutlich, und Olav war auf die Idee gekommen, ein eingestaubtes Herrenfahrrad auseinanderzuschrauben, vermutlich gehörte es einem Nachbarn, der nicht Rad fahren konnte, und eine Achse herauszulösen, die in einem Schraubstock befestigt und an beiden Enden gedreht werden konnte.
Carl fragte, wo er gewesen sei.
Olav sagte, seine Mutter sei nicht zu Hause, er habe den Kleinen zu essen gegeben und sie ins Bett gebracht.
Carl merkte sich das.
Sie kamen überein, dass die Arbeit beendet war, und gingen nach Hause.
Carl stand wie immer um halb vier auf, schlich in den Keller und lud sich den Rucksack seines Vaters auf, um die Zeitungsrunde anzutreten, in Bjølsen, ein Zeitungssack ist der einzige legale Sack in der Stadt. Er legte seine Runde wie üblich in anderthalb Stunden zurück, ging bei der letzten Adresse in den Keller und füllte Sack und Seitentaschen mit Koks und war rechtzeitig zu Hause, ehe die Arbeiterklasse die Straßen füllen konnte.
Zu Hause im eigenen Keller leerte er den Sack über dem Kokskasten aus, klopfte den Staub ab und hängte den Rucksack an einen Nagel, den er selbst dort in die Wand geschlagen hatte, weil sein Vater nicht begriffen hatte, dass er genau dort platziert sein musste. Er ging nach oben in die Wohnung, wo Mammen schon den Kaffeekessel schwenkte. Aber er redete nicht mit ihr und fragte nicht, wo der Vater war. Und sie fragte nicht, ob Carl heute Koks an Land gezogen habe oder ein Brot, wie er sich eins an manchen Morgen bei der Bäckerei am Nordpol schnappte. Darüber herrschte stillschweigendes Einvernehmen.