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John ist ein bekannter Romanautor und dabei, sein neuestes Buch zu schreiben. Wäre da nicht diese Schreibblockade. Egal, was er tut, die Worte wollen einfach nicht auf's Papier. John muss raus, etwas Neues sehen und den Sommer mit der Familie genießen, dann wird sich die Blockade schon lösen. Also mietet er für sich und seine Familie ein Haus am Oslofjord, wo sie den Sommer verbringen wollen. Doch leider warten da nur noch mehr Aufregung und Überraschungen.
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Seitenzahl: 278
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Roman
Aus dem Norwegischenvon Gabriele Haefs
Saga
Wir mieteten dieses Sommerhaus in Drøbak, weil ich Ruhe brauchte, um meinen Roman fertig zu schreiben, und weil die Kinder baden wollten. Und wir mieteten es unbesehen.
»Dort ist ein Mord begangen worden«, sagte der Makler, als ich kurz vor unserem Aufbruch gen Süden mit ihm telefonierte.
»Ach ja, was soll das bedeuten?«
»Bedeuten? Na ... nur das, was ich gesagt habe.«
»Und warum erzählen Sie mir das?«
»Na ja, es gibt ja so viele Verrückte, manchen gefällt es sogar, daß im Haus, das sie mieten wollen, ein Mord begangen worden ist, und ... na ja, wo Sie doch Schriftsteller sind, und überhaupt.«
Ich fand ja, das sagte mehr über den Makler aus als über mich. – »Schriftsteller, und überhaupt« – vor allem, wo es mir weder gefällt noch mißfällt, daß in dem Haus, das ich für drei Sommermonate mieten will, ein Mord begangen worden ist. Das ist mir wirklich reichlich schnurz. Ich bin ein nüchterner Mann und glaube nicht an den langen Schatten der Geschichte.
Aber dann stellte sich natürlich heraus, als wir das Haus in Augenschein nahmen, daß ich mir immer wieder sagte, in einer zum Teil anspruchsvollen und gebieterischen Form innerer Rhetorik, daß diese blöde Mordgeschichte mit mir doch nun wirklich nichts zu tun hätte. Ich betrachtete das Badezimmer und dachte dasselbe – der Mord habe keine Bedeutung – das große Wohnzimmer mit dem Kamin; ich inspizierte die Kinderzimmer, hübsche, gemütliche kleine Kinderzimmer mit Blümchentapeten und Schiebebetten, den Söller im ersten Stock mit den Winkelbögen und den kleinen Schnitzereien; ich entnahm dem Mietvertrag, daß das Haus um die Jahrhundertwende erbaut worden war, und dachte die ganze Zeit, daß das doch wirklich nichts mit einer Mordgeschichte zu tun hätte. Und ich hätte gut auf diesen Gedanken verzichten können, so wie Katrine gut darauf verzichten konnte, da ich ihr nichts erzählt hatte, und auch das war eine seltsame Geheimniskrämerei von einem, der nicht an Gespenster glaubt. Also erzählte ich es ihr doch:
»Hier ist ein Mord begangen worden«, sagte ich, so ganz lässig, als wir uns unser eigenes Schlafzimmer ansahen, ein wunderhübsches ländliches Carl-Larsson-Interieur im ersten Stock, mit Blick auf den üppigen, aber etwas verwahrlosten Garten und das Meer im Hintergrund, blau und blank und über den alten Apfelbäumen gerade noch zu sehen.
»Was ist los?« fragte Katrine.
»Ja, das sieht so aus.«
»Aber warum hast du mir das nicht gesagt?«
»Müssen wir das denn so aufbauschen?«
»Das machst du doch gerade, wenn du es mir verheimlichst. «
Doch ja, da hatte sie vielleicht recht.
Und dieses Gespräch, auch wenn es an diese Stelle paßt und sich vielleicht aus dem Zusammenhang heraus erklären läßt, ist eigentlich ein gutes Bild für unser Leben, Katrines und meins, für unser Leben seit fünfzehn Jahren. Wir gehören nämlich zu der im Laufe der Zeit immer mehr gescholtenen 68er Generation, die so munter damit anfing, die Welt ändern zu wollen, die aber im Laufe der Zeit nachdrücklicher als die meisten anderen Norweger in den sauren Apfel der Wirklichkeit beißen mußte und die nun überall auf bodenlose Verständnislosigkeit stößt, egal, wie wir unsere Ansichten auch mäßigen. Ein weiterer und noch irritierenderer Aspekt der Tatsache, daß ich mich mit Menschen angelegt habe, gegen die ich überhaupt nichts habe, ist, daß ich selber immer, trotz meines von außen gesehen wohl ziemlich schrillen Engagements, im Grunde ein Zweifler gewesen bin. Und deshalb habe ich das Gefühl, für Dinge, die ich weder gemeint noch gesagt habe, zur Verantwortung gezogen zu werden. Im Gegensatz zu Katrine, die noch immer dasselbe meint und sagt – fast. Unsere Meinungsverschiedenheiten entwikkeln sich dann auch gern in denselben alten fünf Schritten: Ich sage etwas, Katrine kritisiert das von mir Gesagte, ich verteidige mich durch die Behauptung, so habe ich das nicht gemeint, Katrine meint, ich habe das doch so gemeint, und – und das ist nicht das Unwichtigste – krönt ihr Werk damit, daß sie mir klarmacht, daß sie da gar nicht so falsch liegt, da alle meine Äußerungen als zweideutig gelten können. Ich bin, mit anderen Worten, dauernd anderer Meinung als mein eigentliches Ich. Katrine ist auch anderer Meinung als mein »eigentliches Ich«, »die verborgenen Kräfte des Mannes«, wie sie das nennt, diese traurige Erbschaft nach zweitausend Jahren ununterbrochener Pöbelherrschaft. Und so geht’s dann weiter. Ich:
»Ja, meinst du, du hättest das Haus nicht gemietet, wenn du von diesem blöden Mord gewußt hättest?«
»Das habe ich doch nicht gesagt, John. Ich rede vom Prinzip.«
»Na gut. Ich gebe zu, ich hätte es dir erzählen sollen. Aber wirst du dich denn trotzdem hier wohlfühlen?«
Katrine zuckt mit den Schultern und antwortet nicht, verbal, sollte ich wohl sagen, denn ihr Schulterzucken ist von tiefer Bedeutung. Es deutet an, daß ich verantwortlich bin, wenn jetzt etwas schief geht, egal was. Ein Ausspruch wie »Natürlich habe ich nichts dagegen, diesen Sommer über hier zu wohnen« wäre nämlich genauso wichtig wie meine Unterschrift unter dem Vertrag, das heißt: geteilte Verantwortung. Und Katrine mag solche Teilungen nicht. Sie mag geteilten Aufwasch, geteiltes Geld (unsere beiden Einkommen, meines um die Hälfte größer als ihres, zusammengezählt und durch zwei geteilt), geteilte Zeit für die Kinder; nicht ganz geteilte Autorität, denn eine Mutter steht den Kindern natürlich näher als ein Vater, und wenn er noch so emsig sein Scherflein in Form von Windelwechseln und Breikochen und allem, was für einen Mann in meiner historischen Situation und mit meiner Überzeugung dazugehört, beigetragen hat. Dieser Klagegesang kann andeuten, daß der Verfasser dieser Zeilen allerlei an seiner Frau auszusetzen hat, aber keine Panik, Katrine hat an mir genausoviel auszusetzen, und hier führe nun einmal ich das Wort, ja, mein Bekenntnis kann vielleicht fast schon als Beichte durchgehen, die ich wohl brauche, um diesen Sommer durchzustehen. Denn, nachdem wir beschlossen haben, daß ich die Verantwortung trage für das, was passieren wird, hier in diesem Haus, in dem ein Mord begangen worden ist, gehen wir hinaus ins Sonnenlicht, wo die Kinder auf dem Balkon sitzen und Eis essen, und fragen sie, wie ihnen ihre Zimmer gefallen.
»Spitze«, antwortet Thomas, zwölf.
»Super«, sagt Hanne, fünfzehn.
Worauf wir das Gepäck aus dem Auto holen und ins schöne, jetzt leicht gespenstische Haus tragen – abgelegen ist es auch noch – und unser Hab und Gut in Schubladen und Schränke verteilen, während Katrine sich ans Kochen macht. Das ist ihr größtes Steckenpferd, das Kochen; Vater ist nämlich der eher improvisierende Typ, der gerne ißt, wenn er Hunger hat, und schläft, wenn er müde ist, womit Katrine sich abgefunden hatte, bis wir Hanne bekamen, und dann startete sie, Katrine, ihren Kreuzzug gegen das ganze zufällige Chaos in unserer postpubertären Lebensführung, und die festeste aller Strukturen – neben dem Zähneputzen – ist die warme Hauptmahlzeit, gerne von der angegrünten Sorte: Salate und Vitamine und so. Als die Kinder klein waren, und Katrine und ich getrennt ausgehen mußten, wenn wir uns mit Bekannten treffen wollten, erzählte sie mir immer, sowie ich nach Hause kam, ausführlich und unaufgefordert, was sie und die Kinder gegessen hatten. Wogegen ja auch nichts zu sagen war, ich hörte zu, ich erfuhr, daß alles in schönster Ordnung war, und brachte meine Zufriedenheit darüber zum Ausdruck. Aber dann fing sie an, von mir dieselben Berichte zu verlangen, wenn sie weggewesen war, wo ich doch am liebsten Romane las, ein Glas Bier trank und Schokoladenstückchen auf den Boden schnippte, was den Kindern auch gefiel, wenn sie wie dressierte Seelöwen mit weit aufgerissenem Mund dasaßen. Mit anderen Worten wurde über diese Mahlzeiten einiges an kleinen Lügen erzählt, Lügen, auf die ich nicht besonders stolz bin, einerseits, weil ihnen in der Regel jegliche literarische Qualität abging: »Ich hab ein paar Frikadellen aus der Tiefkühltruhe genommen. Ja, sicher, sie haben alles aufgegessen«..., und weil ich ganz einfach nicht gern lüge, was ich aber während unserer gesamten stürmischen Ehe immer wieder mußte, um sie in Gang zu halten, was ich eben wollte, denn niemand soll glauben, zwischen uns gäbe es keine Liebe. Es gibt sogar eine recht reine Liebe, unter den vielen kleinen Lügen, der schiefen Verteilung der Verantwortung, dem Salat und den aufgezwungenen Routinen, denn auf irgendeine Weise hat Katrine immer gewußt, daß sie es mit einem widerwilligen Idealisten zu tun hat. Das gefällt ihr überhaupt nicht, und sie versucht, das zu verbessern. Aber in lichten Stunden macht sie sich auch gern über ihre Freundinnen lustig, die Männer haben, die auf dem Papier behaupten, gleich mit ihnen teilen zu wollen, ohne einzusehen, was ich längst getan habe, daß wir Männer einfach nicht gut genug sind. Katrine ist auch stolz auf meinen literarischen Erfolg, es gefällt ihr, wenn etwas über mich in der Zeitung steht, und es gefällt ihr auch, obwohl sie das niemals zugibt, daß ich mehr als sie für dieses System bezahle, das sie als gerechte Verteilung bezeichnet.
Nun gut.
Wir sind in Gang. Wir sitzen vor unseren Salatschüsseln in der großen, gemütlichen und altmodischen Küche in einem Haus, in dem ein Mord begangen worden ist – und der Abend nähert sich in sanftem, sommerlichem Trab. Katrine und ich trinken Rotwein, die Kinder Saft. Und ungefähr mitten im Nachtisch fragen Thomas und Hanne, ob sie nach draußen gehen dürfen.
»Können wir ans Meer gehen, Mama?«
»Ja, ja«, seufzt Mama. »Ihr seid jetzt sicher satt.«
Man könnte meinen, daß in diesem Seufzer eine Art freundliche Resignation liegt, ein Wiedererkennen der Gelüste der eigenen Kindheit, und das stimmt vielleicht auch, aber darin versteckt sich auch eine subtile Anspielung auf zwei kleine, aber dennoch unglückselige Tatsachen:
die Kinder
hätten
ihren Salat aufessen müssen, und
Vater
hätte
ihnen im Supermarkt, wo wir angehalten hatten, um nach dem Weg zu fragen, nicht dieses große Eis kaufen dürfen.
»Aber bleibt nicht lange«, sagt sie. »Und seid vorsichtig.«
Mutter und Vater sitzen nun vor ihren Weingläsern. Vater gießt ihr den letzten Rest ein, sie legt eine schlanke Hand über das Glas, aber erst, nachdem es voll ist, denn das Signal bezieht sich nicht auf sie, sondern auf mich, und will sagen, es sei nicht notwendig, noch eine Flasche zu öffnen. Aber das macht Vater jetzt. Vater scheißt auf ihre kleinen Signale und auf ihre schlummernden Alkoholikertendenzen. Er hat Urlaub. Er ist weit gefahren, wir kommen den ganzen Weg aus Tromsdalen, und er fischt einen neuen Rotwein aus dem Schrank, wo die beiden mitgebrachten Kisten ihren natürlichen Platz gefunden haben, öffnet sie, schenkt sich ein und nimmt einen großen Schluck – ahhh!!! –, stochert ein wenig in seinem Salat herum und seufzt erleichtert auf.
Katrine:
»Was war das eigentlich für ein Mord?«
»Keine Ahnung.«
»Hast du nicht gefragt?«
»Nein, das ist doch wirklich schnurz. Ein Haus verändert sich doch nicht, bloß, weil darin jemand umgebracht worden ist.«
»Woher willst du das wissen?«
Diese Frage wirft mich tatsächlich mehr oder weniger um.
»Nein, da hast du vielleicht recht. Wir können ja anrufen und uns erkundigen.«
»Nein, nein, so war das nicht gemeint.«
Sie trinkt, und ich sehe, daß das genau so gemeint war, daß ich morgen den Makler anrufen und mich genauer nach dem Mord erkundigen muß, ohne das auf ihren Befehl hin zu tun.
Danach stehe ich auf, gehe mit dem Rotweinglas zum Spülstein und mache mich an den Abwasch, um ein wenig Goodwill auf mein Konto einzuzahlen, obwohl das keinen Zweck hat, denn Katrine fängt sofort an zu putzen. Sie putzt die Schlafzimmer, lüftet auf dem Söller die Bettwäsche aus, putzt die Kinderzimmer, den Küchenboden ... ist viel länger mit ihren Pflichten beschäftigt als Vater, und ist erst fertig, als er seine Schreibmaschine am Fenster des einen Schlafzimmers im ersten Stock aufgebaut hat, als er sich hingesetzt hat, um seinen unmöglichen Roman zu vollenden, und als sich der zweite Schnaps schon der Neige nähert.
»Was für ein herrliches Zimmer«, sagt sie hinter mir, warm von ihrem Einsatz. Ich habe mir natürlich das schönste Zimmer unter den Nagel gerissen, das mit Blick auf Garten und Fjord. Aber das findet ihre volle Billigung, Schreiben ist jetzt nämlich wichtig. Es gab eine Zeit, als es für uns beide selbstverständlich war, daß ich einen Roman nach dem anderen aus dem Ärmel schüttelte und am laufenden Band von Buchklubs eingekauft wurde, eine Zeit, als mein Schreiben von Katrine sogar kritisiert wurde, da es den Kindern und meinen Pflichten soviel Zeit stahl. Aber nachdem ich vor vier Jahren einfach steckenblieb und ein Roman pro Jahr keine alljährliche Selbstverständlichkeit mehr war, merkte Katrine, daß sie ihr fehlten, die Romane (sie ist eine meiner überzeugtesten Anhängerinnen), die Zeitungsartikel und natürlich: das Geld. Wir haben im Laufe dieser Jahre auch die Vierzig hinter uns gebracht und sind zu der Erkenntnis gekommen, daß wir in unserer lauten Jugend gefährlich viel für selbstverständlich gehalten haben. Deshalb ist sie zum reinen Engel geworden, wenn es darum geht, dem Ehemann Ruhe für seine Kunst zu verschaffen. Zum Beispiel ist es ihre Idee, daß wir diese drei Monate hier im Süden verbringen, obwohl meine Unterschrift so schicksalsschwanger auf dem Mietvertrag steht.
»Wenn wir nur irgendwohin fahren könnten, wo du deine Ruhe hast«, seufzte sie irgendwann im Winter, als ich nach einer recht ausgedehnten Sauferei einen milden Zusammenbruch erlitt und ihr durch einen Tränenstrom, so weit ich mich erinnere, erzählte, daß es unmöglich ist, auf Bestellung zu schreiben, zu wissen, daß die eigene Kunst Skiausrüstung und Essen besorgen und die Stromrechnungen bezahlen soll ... für eine ganze Familie.
»Ja, ja«, sagte ich zu ihrem Vorschlag. »Vielleicht könnten wir im Sommer in den Süden fahren ...«
Statt noch eine Expedition nach Nordfinnland, Spitzbergen oder an die schwedische Küste auszurüsten ...
»Ja, das machen wir«, sagte Katrine.
Und vergaß es. Also ging mir im Mai auf, daß ich handeln mußte, ehe ein anderer Plan in die Tat umgesetzt wurde, der ganz langsam anfing, Form anzunehmen. Murmansk, das im Laufe der letzten Jahre westlichen Touristen zugänglich gemacht worden war. Deshalb handelte ich noch am selben Tag, telefonierte und mietete ein Spukhaus in Drøbak. Wir haben außerdem Freunde da in der Gegend, auch sie schreibende Menschen. Ein Ehepaar in unserem Alter, das später im Sommer herkommen wird, Freunde, mit denen wir in den neun langen Jahren, die wir nun schon im Norden wohnen, Kontakt gehalten haben.
»Was die Kinder wohl machen?« fragt Katrine.
Die Kinder, ja.
»Sollen wir mal nachsehen, ob wir sie vielleicht finden?«
»Warum nicht?«
Sie zieht eine Jacke über ihr weißes Baumwollkleid. Ich gehe in Hemdsärmeln. Wir verlassen das Haus, bleiben davor stehen und sehen es an, ein schönes Haus, wir lächeln uns zu, fassen uns bei den Händen und gehen langsam über den Rasen zur Straße und zur See, auf allen Seiten umgeben von Flieder und grünen Birken, erzählen uns gegenseitig, daß in Tromsø noch Schnee liegt, und spüren, wie schön es ist, hier zu sein. Und während wir zwischen den kleinen, weißen idyllischen Häuslein dahinspazieren (was mich betrifft, nett angeschwipst), denke ich noch einmal gründlich über unsere seltsame Ehe nach, die ich zeitweise als leicht langweiligen Roman von Alain Robbe-Grillet betrachtet habe, als Lebensform, die ich nur ertrage, um zu sehen, wie der Schluß ausfallen wird, ohne je so weit zu kommen. Ich spiele ganz leicht mit dem Gedanken, unseren Aufenthalt hier unten dauerhaft werden zu lassen, denn wie alles andere in meiner politischen Karriere (die peinlich genau mit meiner persönlichen und beruflichen übereinstimmt) war auch der Umzug in den Norden nur halbherzig. Ich gab nach, als Katrine nach dem Examen erklärte, daß unser nördlicher Landesteil »uns braucht«, bewußte Lehrerinnen wie sie und gesellschaftlich engagierte Schriftsteller wie mich. Und das ist ja auch ein bißchen schmeichelhaft. Ich fand es dann auch sehr schön im Norden, in den ersten drei, vier Jahren, ehe mir so langsam bewußt wurde, daß ich diesmal wohl zu weit gegangen war. Ein Gefühl, das von da an immer nur stärker wurde, so daß ich mich in finsteren Momenten frage, ob ich daraus eine richtige Bruchsituation machen und also in einem Aufwasch die Scheidung einreichen soll. Aber der Gedanke, in Oslo zu wohnen, wo ich am liebsten wohnen würde, während die Kinder in Tromsø wohnen und wachsen, ist unerträglich, selbst in finsteren Momenten. Außerdem habe ich auch meine lichten Momente, in denen ich mich auch nach dem Süden sehne, aber dann auf aufmunterndere Weise, und dann will ich auch Katrine bei mir haben. Deshalb sage ich, als wir noch ein weißes Häuslein mit Fensterchen und dressiertem Vorgarten passieren, zwischen dem weißen Holzwerk und dem ebenso weißen Lattenzaun:
»Was sagst du zu der Idee, wieder in den Süden zu ziehen, Katrine?«
Ich spüre ihren Blick, sie schluckt ihre Empörung hinunter und macht statt dessen Platz für eine nüchterne Frage:
»Gefällt es dir nicht mehr im Norden?«
»Tja, das weiß ich wirklich nicht.«
»Davon hast du nie etwas erzählt.«
(Wir sind also wieder in Gang.)
»Mir ist das erst heute abend so richtig bewußt geworden«, murmele ich und bin dieses eine Mal zufrieden mit meiner Lüge, ich strecke sogar die Hand aus und zeige ihr die weißen Häuser und den Weg hinab zum Fjord, zum Oslofjord, der in seiner schwarzen Fläche einige wenige Lichter von den Häusern auf dem anderen Ufer widerspiegelt, ein Feuer in der Dunkelheit. Wir hören ferne Musik, Stimmen, Lachen, ein träges Boot, Sommergeräusche, die heute besonders stark auf uns wirken, nach dem abrupten Übergang von beißendem Wind und standhaftem Winter.
»Das müssen wir uns auf jeden Fall gut überlegen«, sagt Katrine. »Was ist mit den Kindern?«
»Die haben ja noch nicht mal den Akzent von da oben aufgeschnappt, die werden sich hier im Handumdrehen eingewöhnen.«
Wenn man diesen Satz genau untersucht, was Katrine tut, dann wird man sehen, daß er durchaus eine Spur von Herablassung unserem nördlichen Landesteil gegenüber enthalten kann, vor allem, wenn man noch dazu meine Stimmlage mit in Betracht zieht, die nicht nur der hohen Promille zugeschrieben werden kann. Aber Katrine lächelt nur und geht zu einem Fliederbusch, dessen selbstleuchtende Blüten über dem Weg hängen und uns in einen Duft einhüllen, der mir, wie gesagt, seit neun Jahren fehlt. Sie blickt sich um, wie ein Dieb in der Nacht, stellt sich auf Zehenspitzen, zieht einen Zweig zu sich hinunter und bricht ihn ab, zu meiner großen Überraschung, sie bricht bei wildfremden Menschen im Garten einen Zweig ab – das muß Katrines erster und einziger Diebstahl auf dieser Welt sein –, lächelt verschmitzt und reicht ihn mir mit einem Kuß auf den Mund:
»Riech mal, wie der duftet!«
»Der duftet einfach wunderbar. Was ist in dich gefahren«, füge ich nüchtern hinzu.» Zu tief ins Glas geschaut?«
»Wahrscheinlich. Außerdem liebe ich dich.«
»Du liebst mich doch sonst nicht so, daß ich das merke, Katrine.«
»So siehst du uns also?«
»Ja, und eigentlich gefällt mir das. Gefühle machen nur Ärger.«
»Jetzt hör aber auf!«
Ich lächele und stecke mir meinen frischerworbenen und arg unverdienten Liebesbeweis ins Knopfloch, und wir schlendern noch tiefer in diese unendliche Sommernacht hinein, zum Hafen hinunter, wo die Leute vor einem Restaurant auf dem Anleger sitzen und Wein trinken, schön angezogene Menschen, die Frauen in Weiß, die Männer in heller, beiger und grauer Freizeitkleidung. Eine Bande von Jugendlichen lärmt unten am Strand herum, teilweise an Bord eines Cabincruisers, teilweise im Wasser. Und auf einem Steg sitzen zehn, zwölf Kinder und lassen die Füße baumeln. Wir sehen auch unsere Gören.
»Sollen wir sie stören oder lieber ein Glas Wein trinken?« frage ich.
»Wir stören sie doch nicht.«
»Dann trinken wir ein Glas Wein.«
»So war das nicht gemeint.«
»Ich weiß, wie das gemeint war, meine Liebe, du meinst immer dasselbe. Weißwein?«
Wir setzen uns an den einzigen freien Tisch auf der Pontonbrücke vorm Restaurant und bestellen bei einer süßen Kleinen, die der Restaurantbesitzer aus unerfindlichen Gründen in ein österreichisches Dirndl gesteckt hat, Trittenheimer Altärchen. Ich lasse meine Frau den Wein kosten, auch das ein altes Ritual. Katrine, die es in früheren Zeiten und im Namen des Fortschrittes durchgesetzt hat, daß sie im Restaurant die Vorkosterin macht. Jetzt lächelt sie nur.
»Nein, probier du, ich merke ja doch nicht, ob er gut ist.«
»Der ist gut«, sage ich ohne zu kosten zum Dirndl, denn ich habe es auch nie gewagt, eine geöffnete Flasche Wein in die Küche zurückgehen zu lassen. »Schenken Sie ein.«
Wir trinken, stoßen auf den Sommer und auf meinen Roman an.
»Wie läuft es eigentlich?« fragt Katrine und bringt die Falte zwischen ihren dunklen Augen an, die Falte, die für dieses eine Thema reserviert ist: für die Schreibprobleme des Gatten.
»Zum Teufel. Aber das macht nichts.«
»Das meinst du doch nicht im Ernst?«
»Doch, aber das habe ich schon oft gemeint und dann doch noch was geschafft. Und das wird diesmal wohl auch so sein.«
»Dir fehlen doch bloß noch zehn, zwanzig Seiten, stimmt das nicht?«
»Mir fehlt der Abschluß, und ein Abschluß kann zwei oder auch sechzig Seiten lang sein, es kommt darauf an. Ein Abschluß kann kurz oder endlos sein, Hauptsache, er ist gut; daß der Abschluß gut ist, ist wichtiger als der ganze Rest.«
»Und was ist ›ein guter Abschluß‹?«
»Tja, wenn ich das wüßte!«
Ich möchte an dieser Stelle zugeben, daß ich die Sorte Schriftsteller bin, die sich durch achtzig bis hundert Seiten hindurchstolpert, aufgrund von Einfällen und einer leicht vagen Idee (sie muß sogar »vage« sein), daß mir in der Regel unterwegs neue Aspekte einfallen, nach und nach auch in bezug auf die vorangegangenen Seiten, so daß sich daraus eine Art Architektur ergibt, ein geschichtetes Bauwerk, an dem ich weiter herumstapele – bis ich leer bin. Wenn ich dann leer bin (und den ganzen Mist einfach satt habe), geht mir immer nach einer Weile verwirrter Dürre ein Licht auf. Und deshalb haben alle meine Romane einen leuchtenden Schluß, oder eine »Pointe«, könnte ich wohl sagen, das Licht, das jetzt also auszubleiben droht. Und das Schlimmste ist, daß ich auch nichts Neues anfangen kann, wenn ich wie jetzt auf der Stelle trete. Ich muß mit dem einen Buch ganz fertig sein, ehe ich an das nächste auch nur denken kann. Katrine weiß das. Deshalb wartet auch sie auf ein Licht. Jetzt warten wir gemeinsam. Und es wird schon kommen, denn der Wein ist süß, und diese südnorwegische Sommernacht hat einen ganz außergewöhnlichen Einfluß auf mich, sie gibt mir die selbstsichere Ruhe, die ich immer in den Tagen vor dem Blitzeinschlag verspüre, ja, hier sitze ich wirklich in diesem Hafenrestaurant in Drøbak und weiß, daß es jetzt wieder geschehen wird – ehe es geschieht. Jetzt bin ich nämlich aufgestanden und stehe still am Tisch, steif; meine Finger berühren ganz leicht die Tischkante. Ich blicke über den Steg mit den lachenden Kindern, ich sehe sie nicht, ich sehe nichts, in meinem Gehirn geschieht etwas, ich blicke auf Katrine hinunter, sie blickt zu mir auf und lächelt gespannt. Wir lächeln uns an. Ich reiche ihr über den Tisch hinweg die Hand, presse ihre – und verlasse sie! Ich verlasse meine Frau hier im Hafenrestaurant, zusammen mit einer fast vollen Flasche Wein, und laufe zurück zu meinem Spukhaus, mit der undefinierbaren Wärme, die neben Lieben und Kindererziehen das einzige ist, was mich in diesen sinnlosen zweiundvierzig Jahren am Leben erhalten hat, laufe nach Hause und hinauf ins Zimmer mit der Schreibmaschine am Fenster, wo meine Hände ganz leise zittern, als ich einen Bogen einspanne, ehe ich plötzlich wieder ganz ruhig bin – denn jetzt kommt er, jetzt kommt der Abschluß, nach vier Jahren der Leere.
Am nächsten Morgen bin ich erschöpft und übermütig vor Freude, und es ist gar nicht Morgen, sondern Mittag, nach Katrines Stundenplan, und die Familie sitzt am Küchentisch, als ich mit roten Augen und im Bademantel aus dem Himmel herniedersteige.
»Wenn ihr euch scheiden laßt, Mama, dann will ich bei Papa bleiben«, sagt der Knabe. Dieses Vertrauen habe ich meiner haltlosen Einstellung Essenszeiten und Salaten gegenüber zu verdanken. Der Leser stutzt vielleicht über eine so klare Meldung von einem so jungen Mann, aber in unseren Kreisen kommt es wirklich oft vor, daß Kinder frühreife Frechheiten dieser Art servieren – aus Jux. Und Mutter lacht:
»Wir lassen uns doch nicht scheiden!«
»Nein, zum Glück nicht«, sage ich und lasse mich auf den Stuhl fallen, der, wie ich weiß, für den Rest des Sommers meiner sein wird, auf den Stuhl, der übrig bleibt, nachdem sich die anderen nicht nur ihre Lieblingsstühle ausgesucht, sondern außerdem wortlos untereinander abgemacht haben, wo Vater zu sitzen hat. Am besten setzen wir ihn neben die Tochter auf die eine Längsseite. Mutter sitzt an der Querseite – die andere stößt gegen die Fensterwand –, und auf der anderen Längsseite, Vater und Tochter gegenüber, sitzt der hochaufgeschossene Sohn.
»Na, wie war es heute nacht?« fragt Katrine und reicht mir die Teekanne, setzt sie wieder ab, ohne daß ich ein Wort zu sagen brauchte, und holt statt dessen den Kaffee, gießt Kaffee in meine Teetasse, normalerweise muß ich mir selber einschenken.
»Ganz toll«, sage ich wahrheitsgemäß. »Bloß habe ich heute morgen alles noch mal von Anfang an gelesen, und es taugt nichts.«
»Was sagst du da?«
»Nein, ich muß es wohl umschreiben.«
Das sage ich leichthin, denn ich habe wieder Lust zu schreiben, und ich weiß, es wird mich nicht mehr als drei, vier Wochen kosten, den Unfug zu verbessern, der in dieser ganzen langen Zeit krank danieder gelegen hat. Meine Leichtigkeit paßt schlecht in den gesellschaftlichen Zusammenhang, meine Frau betrachtet sich nämlich als eine Art Lektorin. Sie hat das Manuskript gelesen und es über die Maßen gelobt, und deshalb gefällt es ihr nicht, daß ich es jetzt einfach runtermache, aber da kann man nichts machen.
»Lies das noch mal«, sage ich. »Dann verstehst du, was ich meine.«
»Ich versteh auch ohne es zu lesen, was du meinst«, sagt mein Sohn, zu dem ich ein sehr vorurteilsloses Verhältnis habe, ein Verhältnis, das an Gleichgültigkeit grenzt, von meiner Seite aus, solange ich sehe, daß er frisch und gesund ist, wohlgemerkt. »Du schreibst die ödesten Bücher, die ich kenne.«
»Du hast doch gar keins gelesen.«
»Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß du dir etwas Witziges ausdenken kannst.«
Auch das ist ein Jux. Mein Sohn und ich wissen nämlich, daß für die absurden Einfälle, die ab und zu unser ordentliches Leben aufleuchten lassen, nur einer steht, und zwar Vater.
Und nun machen wir uns an unser erstes Sommerfrühstück, und da klar ist, daß Vater arbeiten muß, weshalb er von der Aufgabe befreit ist, die heranwachsende Generation zu unterhalten, bitten sie um die Erlaubnis, verduften zu dürfen, die sie erhalten, mit weniger Hin und Her als sonst. Aber als sie das Haus verlassen haben, stellt sich heraus, daß Katrine folgendes auf dem Herzen hat:
»Hast du angerufen?«
»Angerufen? Wen?«
»Den Makler. Du wolltest dich doch nach dem Mord erkundigen?«
»Nein, das habe ich vergessen. Kannst du das nicht machen?«
»Nee ...«
»Dann vergessen wir die ganze Geschichte einfach, ja?«
»Man kann nicht auf Kommando vergessen, John. Außerdem finde ich das spannend.«
»Dann ruf selber an, ich habe im Grunde etwas anderes zu tun.«
»Na, so wichtig ist das ja auch wieder nicht.«
Das ist auch ein Aspekt unserer Arbeitsteilung; was ich gerne mache, wird nicht ohne weiteres zu meiner Aufgabe, während das, was sie mag, sofort zu ihrer wird. Das, was wir beide nicht mögen, wird dagegen – nicht ganz und gar zu meiner Aufgabe (so despotisch ist sie nicht) sondern – von Katrine verteilt, was nicht unbedingt bedeutet, daß sie sich selber verschont. Ganz im Gegenteil, sie verschont sich nicht, und dadurch bleibt ihr das Recht, die Leitung zu behalten. Aber jetzt hat sie soviel persönliches Engagement gezeigt, daß diese Ordnung ihren wegweisenden Effekt verliert. Ich kann mit gutem Gewissen aufstehen, abräumen und die vier Teller, die vier Messer und die vier Gläser spülen, kann den Tisch abwischen und mit meiner Tasse und der Kaffeekanne hinauf in mein Nest im ersten Stock gehen, um einen Tag voller berauschender und konzentrierter Einsamkeit an der Schreibmaschine zu beginnen. Aber so kommt es dann doch nicht. Katrine stört mich schon nach einer halben Stunde.
»Da geht niemand ans Telefon«, sagt sie mit besorgt gerunzelter Stirn, mit der Falte, die sonst für die literarischen Aktivitäten des Hauses reserviert ist.
»Na und?« erwidere ich gereizt.
»Nein, das hat vielleicht nichts zu bedeuten, aber es ist doch eine Maklerfirma mit vielen Angestellten.«
»Vielleicht machen sie Urlaub.«
Ich habe mich wieder meinem Blatt Papier zugewandt. Dort lese ich: »Als er ihr die Hände um den Hals legt, um den Samt in der Schönheit dieses lebenden Wesens in sich aufzunehmen ...« und denke, daß das doch wirklich nur Gefasel ist, und wenn ich auf mehr Stellen von dieser Art stoße, dann habe ich es, mit Verlaub, nicht mit einem Roman, sondern nur mit einem Abschluß zu tun, den ich heute nacht auf Grund der Annahme verfaßt habe, das Vorausgegangene sei etwas ganz anderes als das, als was es sich nun mit immer größerer und peinlicherer Deutlichkeit entpuppt.
»Die können doch nicht jetzt schon Urlaub machen!«
»Und was soll ich dagegen tun?! Jetzt reg dich ab, Katrine, und laß mich in Ruhe!«
Ich mache mich abermals über mein Machwerk her, mit Todesverachtung, lese eine pathetische Formulierung nach der anderen, schreibe sie um und habe eine mittelmäßige Einleitung, als Katrine eine Stunde später abermals in den Hoheitsbereich der Kunst einbricht, diesmal mit folgender Mitteilung:
»Er wollte es mir nicht sagen.«
»Wer – wollte dir was nicht sagen?«
»Der Makler. Er wollte mir nichts über den Mord erzählen. Er hat gesagt, er wolle mir keine Angst einjagen. Und als ich gesagt habe, daß er mir auf diese Weise viel mehr Angst macht, hat er nur gelacht. Aber das war kein beruhigendes Lachen, es hörte sich eher so an, als ob er wüßte, daß es vielleicht wieder passieren könnte ...«
»Katrine!!!«
»Ja?«
»Wüßte, daß es vielleicht wieder...? Das ergibt doch alles überhaupt keinen Sinn!«
»Doch, natürlich, er will uns austricksen, verstehst du das nicht?«
»Jetzt reißt du dich zusammen, meine Liebe. Ich arbeite. Kannst du nicht mal in den Ort gehen, einkaufen, baden, ein Buch lesen – wir haben doch Ferien, Katrine!«
Sie bleibt noch stehen, schaut aus dem Fenster und murmelt:
»Ja, das kann ich wohl.«
Und ich stürze mich auf Seite vier, besessen von einem immer stärker werdenden Gefühl, daß ich, wenn es nicht bald besser wird, die nächsten drei Monate damit verbringen werde, einen Roman einem Abschluß von sechs maschinengeschriebenen A 4-Seiten, Zeilenabstand 2, anzupassen. Nun, viele Jahre in der Branche haben mir beigebracht, daß solche Gedanken beiseitegeschoben werden müssen, sie werden erst behandelt, wenn kein Weg mehr daran vorbei führt. Aber ich komme heute nicht weit, ich komme weder weiter noch höher, denn jetzt steht plötzlich unten im Garten ein Mann und blickt zu meinem Fenster herauf. Ein Mann von Mitte 30, in Jeans und Flanellhemd und abgenutzten Turnschuhen, ein kräftig gebauter Mann mit strohblonden halblangen Haaren und einem weißen Lächeln in einem braunen Gesicht. Er signalisiert mit der Hand, ich solle das Fenster öffnen. Also öffne ich das Fenster, das hätte ich schon längst tun sollen, – öffne das Fenster und lasse den Sommer herein – und beuge mich über die Schreibmaschine. Der Fremde sagt, noch immer lächelnd:
»Wir sind Nachbarn, ich dachte, ich sag einfach mal guten Tag, oder störe ich?«
»Nicht, wenn du mir von dem Mord erzählen kannst.«
»Was?«
»Hier soll einmal ein Mord geschehen sein, weißt du etwas darüber?«
»Nein ... wir kommen seit fünfzehn Jahren her, aber ein Mord ...«
»Komm auf die andere Seite, dann trinken wir einen Kaffee.«
Ich verlasse das Kunstwerk und gehe in die Küche hinunter. Mein Nachbar und ich machen uns miteinander bekannt.
»Du bist Schriftsteller, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ja, ich habe ein Foto von dir in der Zeitung gesehen. Und jetzt schreibst du wohl einen Kriminalroman, oder?«
»Nein, ich kann Kriminalromane nicht ausstehen. Ich sitze an einer Art Liebesgeschichte, die im Moment stekkengeblieben ist. Setz dich, dann hole ich dir eine Tasse.«
»Und was ist das für ein Gerede über einen Mord?«
»Das hat uns der Makler erzählt. Aber als wir heute angerufen haben, wollte er plötzlich nicht mehr verraten. Wem gehört dieses Haus eigentlich?«
»Ursprünglich hat es einer alten Kapitänsfamilie gehört, Schou-Nilsens, aber aufgrund von Erbschaftsstreitigkeiten hat die Familie beschlossen, es von einem Anwalt verwalten zu lassen, ich glaube, zusammen mit Aktien und anderem, was sie nicht aufteilen konnten. Ich kenne sie nicht, aber solange wir herkommen, wird dieses Haus schon vermietet.«
»Und der Makler hat die Mordgeschichte erfunden, um das Haus attraktiv zu machen?«
»Vielleicht«, lacht mein neuer Nachbar. »Hier sind im Laufe der Jahre viele komische Vögel gewesen, Künstler, exzentrische Typen.«
»Ach ja? Und was machst du so?«
»Ich habe eine kleine Firma, die Spielgeräte herstellt, Schaukeln und Rutschbahnen und so, für Kindergärten in der Umgebung. Ich nehme im Sommerhalbjahr meinen Computer mit hierher, zeichne und konstruiere und mache meine Arbeit, und die Familie hat dann auch Ferien. Hast du Kinder?«
»Ja, einen Jungen von zwölf und ein Mädchen von fünfzehn.«
»Schön, schick sie rüber, ich habe drei ungefähr im selben Alter. Ihr braucht bloß durch das Loch in der Hecke zu kriechen, dann geht der Weg nach unten, wir wohnen im ersten roten Haus am Strand.«
»Schön. Aber über diese Mordgeschichte weißt du also nichts?«
»Nein, aber die kann auch schon hundert Jahre her sein. Möchtest du, daß hier ein Mord begangen worden ist?«
»Nein, nein, um Himmels willen.«
Aus irgendeinem Grunde hat mein sonst so friedliches, literarisches Inneres im Laufe dieser nichtssagenden Unterhaltung eine ziemliche Erregung entwickelt. Und nachdem der Typ weg ist, nachdem wir uns noch einmal versprochen haben, Kinder auszutauschen, und uns auch angelächelt haben, greife ich zum Telefon und habe gleich den Makler an der Strippe.
»Meine Frau hat Sie vorhin angerufen.«
»Ja.«