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Im lange erwarteten neuen Band seiner Insel-Saga, die Hunderttausende in aller Welt begeistert hat, entführt uns Roy Jacobsen wieder in die raue, atemberaubende Küstenlandschaft Norwegens und erzählt mit Lakonie und poetischer Kraft von der Härte des Insellebens am Rande der Zivilisation. Nach einer langen und beschwerlichen Reise durch Norwegen ist Ingrid zurück auf Barrøy. Das Leben auf der winzigen Schäreninsel wird noch immer vom jüngst vergangenen Zweiten Weltkrieg überschattet, die Menschen versuchen zu vergessen. Eines Tages wird ein fünfjähriger Junge auf die Insel gebracht. Als bald darauf sein Vater auf ungeklärte Weise verschwindet, adoptiert Ingrid den kleinen Mathias, der fortan fester Teil der Barrøy-Gemeinschaft wird. Doch sie ahnen zunächst nicht, dass mit Mathias auch das Drama um seine Herkunft mit auf die Insel geschwemmt wurde. "Die Kinder von Barrøy" erzählt mit großer Intensität vom Zusammenleben in einer Gemeinschaft, einem Land im Wandel und der Unerbittlichkeit des Meeres. Aber vor allem ist es das Porträt einer außergewöhnlichen Heldin, einer Mutter, die allen Schicksalsschlägen zum Trotz Verantwortung übernimmt...
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ROY JACOBSEN
DIE KINDER VON BARRØY
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann
C.H.Beck
Im lange erwarteten vierten Band seiner Insel-Saga, die Hunderttausende in aller Welt begeistert hat, entführt uns Roy Jacobsen wieder in die raue, atemberaubende Küstenlandschaft Norwegens und erzählt mit Lakonie und poetischer Kraft von der Härte des Insellebens am Rande der Zivilisation.
Nach einer langen und beschwerlichen Reise durch Norwegen ist Ingrid zurück auf Barrøy. Das Leben auf der winzigen Schäreninsel wird noch immer vom jüngst vergangenen Zweiten Weltkrieg überschattet, die Menschen versuchen zu vergessen. Eines Tages wird ein fünfjähriger Junge auf die Insel gebracht. Als bald darauf sein Vater auf ungeklärte Weise verschwindet, adoptiert Ingrid den kleinen Mathias, der fortan fester Teil der Barrøy-Gemeinschaft wird. Doch sie ahnen zunächst nicht, dass mit Mathias auch das Drama um seine Herkunft mit auf die Insel geschwemmt wurde. «Die Kinder von Barrøy» erzählt mit großer Intensität vom Zusammenleben in einer Gemeinschaft, einem Land im Wandel und der Unerbittlichkeit des Meeres. Aber vor allem ist es das Porträt einer außergewöhnlichen Heldin, einer Mutter, die allen Schicksalsschlägen zum Trotz Verantwortung übernimmt.
Roy Jacobsen
schreibt Romane, Novellen, Erzählungen und Kinderbücher und gilt als einer der wichtigsten Autoren Norwegens, wo er mit unzähligen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. «Die Unsichtbaren» wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und war – als erster norwegischer Roman – auf der Shortlist des Man Booker International und des Dublin Award. Roy Jacobsen lebt in Oslo.
Gabriele Haefs,
Autorin, Herausgeberin und Übersetzerin, ist eine der profiliertesten Übersetzerinnen vor allem aus dem Norwegischen. Sie erhielt u.a. als Übersetzerin den Deutschen Jugendliteraturpreis (mit Jostein Gaarder).
Andreas Brunstermann
übersetzt Belletristik und Sachbücher aus dem Norwegischen, Schwedischen und Englischen.
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Die Kinder von Barrøy ist der vierte Band der Insel-Saga von Roy Jacobsen, deren erste drei Teile (Die Unsichtbaren, Weißes Meer, Die Augen der Rigel) unter dem Titel Die Unsichtbaren2019 bei C.H.Beck erschienen sind.
Auf einer Insel, auf der fast niemand wohnt, bleibt kein Anlauf folgenlos, selbst wenn es nur die Milchroute ist. An diesem Tag beugte sich der Kapitän über die Reling des alten Kutters und reichte Ingrid die Zeitung, fast wie eine Quittung für die Milcheimer, die er dann an Bord hievte, langsam und umständlich. Wegen dieser Bewegungen wird er in Erinnerung bleiben, Johannes Hartvigsen, wegen des Langsamen und Umständlichen.
Aber an diesem Tag rutschte ein Brief aus der Zeitung, aus Trondheim, mit Briefmarken, die Ingrid noch nie gesehen hatte, und mit Namen und Adresse der Absenderin auf der Rückseite. Ingrid wurde rot, ließ die Zeitung auf den Anleger fallen und machte sich auf den Weg in den Süden der Insel.
Sie ging in Richtung der Lundeschären, vorbei am Schwedenschuppen und am Bolzen im Fels, hektisch und barfuß, über Geröll und warme Felsen, durch trockenes Heidekraut und gelb werdendes Gras, mit einem Brief, der in Einsamkeit gelesen werden musste, daran konnte es keinen Zweifel geben, einen Brief der unberechenbaren Mariann Vollheim, von der Ingrid seit Jahr und Tag nichts gehört und die sie nach besten Kräften zu vergessen versucht hatte, ohne Erfolg, wie sie mit erschütternder Klarheit erkannte.
Sie ging vorbei am Liebeswäldchen und über die Felskuppen zum Busengarten, aus irgendeinem Grund noch immer mit dem Bild des Milchkapitäns vor Augen, der wettergegerbten und schwieligen Hand von Johannes, der ihr die Zeitung reichte, heute also mit einem Brief, an sich schon ein Mysterium, da Barrøy nur zur Lofotsaison Briefe erhielt, und dann sehr wenige und sehr dünne Briefe, von den Männern der Insel, die versicherten, dass sie am Leben waren.
Hinter dem Kapitän erblickte sie das geölte Deck im funkelnden Sonnenlicht, die Backbordreling mit Messerhaltern und Wetzsteinen und Taurollen, dahinter wiederum das flache Meer und die Schären und die kleinen Inseln mit den stillstehenden Möwen, die mit jedem neuen Tag, den das Land sich auf den Herbst zubewegte, weniger von sich hören ließen.
Aber sie sah vor allem Hartvigsens vier oder fünf Jahre alten Sohn Mattis, der heute auf der Ladeluke saß wie eine sabbernde Elendsgestalt, in zerlumpten und viel zu engen Kleidern, mit Erbrochenem auf der Brust und drei Fingern im Mund, ein ungeschickter und barfüßiger Junge, an den Ingrid immer das eine oder andere freundliche Wort richtete:
Wie geht’s denn, Mattis? Wieder seekrank?
In der Hoffnung, in dem apathischen Wicht, der zum niet- und nagelfesten Inventar auf dem Boot geworden war, seit seine Mutter an einem Frühsommertag verschwand, aus Gründen, an die niemand glaubte, ein wenig Leben zu erwecken. Der Krieg war noch zu kurze Zeit her, deshalb konnte das Verschwinden nur damit zu tun haben. Jedenfalls hatte niemand das Gejammer der Verschwundenen über Not und Langeweile in Johannes Hartvigsens Haus ernst genommen, denn die Not war niemals geringer gewesen, und Langeweile war nur ein modernes Wort für Faulheit. Jedenfalls kein überzeugender Grund, Mann und Kind den Rücken zu kehren und sich vom Menschenmeer einer Großstadt verschlingen zu lassen, eine andere Möglichkeit gab es nicht, und dann nicht einmal ein Lebenszeichen zu schicken, natürlich hatte das mit dem Krieg zu tun!
Mattis’ Mutter hieß Olavia Hartvigsen, sie war eine geborene Storm, aus einer sehr «guten» Familie auf dem Handelsposten im Norden der Hauptinsel, ein schönes Kind, das sich graziös und selbstsicher durch die Kinder- und Jugendjahre manövriert hatte, ehe sie in der Schlussphase des Krieges plötzlich mit allen Privilegien der Vorsehung brach, um sich dem doppelt so alten Johannes Hartvigsen hinzugeben, den bis dahin keine Frau eines Blickes gewürdigt hatte. Die Frage war, hatte sie das aus freien Stücken getan? Nie im Leben. In zweifelhafter Absicht? Ziemlich sicher.
Das machte ihre Flucht wenigstens zu einer freiwilligen?
Aber mit der Folge, dass der routinierte Lebensnerv des Archipels es von nun an nicht nur mit einem verlassenen Ehemann, sondern auch mit dessen noch verlassenerem Sohn zu tun hatte, der tagein, tagaus mit drei Fingern im Mund auf dem bebenden Kutterdeck saß und darauf wartete, dass sie an irgendeinem Kai anlegen würden, zum Beispiel auf Barrøy, sodass seine Eingeweide für einen Augenblick zur Ruhe kommen könnten, und dass jemand von der Insel ihm ein barmherziges Wort gönnte, auf das er zwar niemals eine Antwort gab, das er aber registrierte, den Eindruck hatte Ingrid, durch ein zaghaftes Zucken in seinem Leib, das sie nun abermals vor sich sah, als sie weiter zum Süden der Insel wanderte, mit dem verwirrenden Brief in der Hand, der nichts mit dem armen Jungen zu tun hatte.
Ab und zu geschehen zwei Dinge gleichzeitig und werden zu ein und derselben Wunde in der Erinnerung, man weiß es nur erst, wenn es zu spät ist. Warum also nahm Ingrid keine Vernunft an und riss den Umschlag auf und las, was Mariann auf dem Herzen hatte, und brachte es hinter sich?
Ingrid war noch nicht so weit, sie ging weiter zum südlichsten Punkt von Barrøy, zur Bank, wie sie das nannten, einer kräftigen russischen Lärche, die der Sturm in Ingrids Kindheit hier an Land geworfen hatte und wo sie ihre privateste Gedankenarbeit erledigte, wohin sie sich setzte, wenn die Insel drohte, zu klein zu werden, wenn das Leben drohte, stehen zu bleiben, und an diesem Tag also mit einem Brief von Mariann Vollheim, Ingrid hatte Todesangst.
Mattis wirkte wie ein normaler Junge, der am Strand und auf dem kleinen Hof seines Vaters gespielt hatte, auf den Wiesen und im Laubwald und in den Schneewehen, und der gestrampelt und gelacht und geweint hatte wie andere Kinder, ohne sich von ihnen auf andere Weise zu unterscheiden, als dass eigentlich nur seine Eltern ihn aus der Ferne erkennen konnten. Bis er sich plötzlich änderte, von einem Tag auf den anderen, mit einem Tempo, zu dem nur Kinder in der Lage sind, eines Tages Ende Mai.
Dieser Tag begann damit, dass Johannes Hartvigsen auf der Bettkante saß, als der Junge die Augen aufschlug und das zerfurchte und bärtige Gesicht des Vaters erblickte, die Düsterkeit eines Mannes, der nicht wusste, wie er aussah, und der dieser Frage auch keinen einzigen Gedanken schenkte, zum Geräusch eines hämmernden Regens auf dem rostigen Blechdach. Mattis nannte das immer Donner, und das tat er jetzt wieder.
Und der Vater korrigierte ihn, wieder einmal, und wiederholte, dass der Junge noch niemals Donner gehört habe, in diesen Breitengraden gebe es nur selten ein Gewitter.
Das’s Regen, waste da hörst, Pissregen.
Nun musste Mattis aufstehen und sich anziehen und mit aufs Schiff kommen, an diesem Tag gab es kein Spiel mit Ole und Slutter, die Mama ist weggefahren.
Die Mama?
Ja, die Mama.
Wo isse denn, die Mama?
Diese Frage konnte Johannes nun wirklich nicht beantworten, und er fand auch nicht die Kraft, zu sehr über die Gründe zu spekulieren, aus denen seine Frau Olavia sie beide verlassen hatte. Olavia hatte sich zwar darüber beklagt, dass Johannes voller «schwerer Gedanken» sei, ein Mann mit «’nem schweren Kopf», was auf seine Umgebung übergriffe, also auf sie, Olavia, und davon habe sie nichts gewusst, als sie geheiratet hatten, behauptete sie. Johannes verhalte sich, als fühle er sich in seinem eigenen Heim nicht wohl, sondern wolle ein freier Vogel auf dem Meer sein, wie sie ebenfalls behauptete.
Er selbst hielt das für puren Unsinn. Die Milchroute war nur ein einträglicher Stumpfsinn, den er von seinem Vater geerbt hatte. Ehrlich gesagt, dachte Johannes an nichts anderes als an Olavia und den Kleinen, wenn er sich in seinem idiotischen Steuerhaus zu schaffen machte, daran, wie gut es tun würde, am Ende eines weiteren ereignislosen Tages zu vertäuen und die hundert Meter zum Haus zu gehen, die Wasserstiefel und die Arbeitskleidung abzulegen, sich das Öl von den Fingern zu schrubben und sich an den Abendbrottisch zu setzen, zusammen mit Olavia und Mattis, dem Liebsten, das er hatte.
Solche Worte wären jedoch zu groß für ihn gewesen. Johannes genoss seine Frau in privater Stummheit, die Wohlstandsdüfte von Seife und unerreichbarer Bürgerlichkeit, ihre Bewegungen, die Kleider, die Haare, die Hände, vor allem die Hände, verfeinert, schmal und weiß, selbst nach mehreren Jahren als Bäuerin, einer Arbeit, von der sie nicht die geringste Ahnung hatte, die sie aber dennoch mit ungefähr gleich großer Sparsamkeit und Skepsis verrichtete wie ihre Vorgänger, Johannes’ Eltern.
Aber dann kamen keine weiteren Kinder. Und darüber stutzte Johannes irgendwann, da ihre Zusammenkünfte so waren, wie sich das zwischen Mann und Frau gehört, soweit er das beurteilen konnte. Außerdem wurde im Laufe der Jahre im Dorf über Missstände in seinem Haus getuschelt, Gerüchte, die schließlich auch Johannes aufschnappte, vermutlich als Letzter. Vor allem ging es um die unheilschwangere Frage, wie einer wie er es geschafft hatte, sich die unerreichbare Olavia Storm zu krallen, eine der wenigen Frauen von der Hauptinsel, die wirklich die Wahl hatten, absolut vom Feinsten, sollte man meinen, und die ihn noch dazu gegen den Willen ihrer Eltern genommen hatte, hieß es, war Johannes wirklich auserwählt, wurde er geliebt? Das glaube, wer es glauben kann.
Mattis hatte kupferbraune Haare und grüne Augen, schöne, fast feminine Züge. Er sprach schon früh deutlich, war geschmeidig und kräftig und niemals krank. Er bekam zur richtigen Zeit Zähne, hörte früh mit Windeln auf und es gefiel ihm, sowie er Sprechen gelernt hatte, alles zu erklären und zu begründen, er ließ sich von einem frühen Alter an nicht zurechtweisen, nicht trotzig und aufsässig, er umschiffte nur Ermahnungen und Verbote elegant, als ob sie nicht existierten, ein selbstständiger und eigenwilliger Knabe.
Schon mit drei Jahren legte er sich die Gewohnheit zu, Olavia in allen Einzelheiten zu erzählen, was er an diesem Tag erlebt hatte, er konnte sich über das Tun und Lassen der Nachbarn und den Verkehr auf den Straßen und im Hafen verbreiten, Olavia nannte ihn einen Quatschkopf, und Johannes lächelte über so manche seltsame Überlegung, über den Blick des Jungen für witzige Details, Johannes empfand deshalb echten Stolz.
Aber als der Junge vier geworden war und seine Phantasien immer üppigere Formen annahmen, verspürte der Vater schließlich etwas, das fast wie Unbehagen wirkte, wenn sie zusammen waren, und in einzelnen Momenten wurde dieses Gefühl so stark, dass er sich fragte, ob er sich einen Fremdkörper ins Haus geholt hatte und keine Kopie seiner selbst.
Nun gibt es viele Erklärungen dafür, dass ein Apfel weit vom Stamm fallen kann, einzelne sind sogar beruhigend: unter anderem die Tatsache, dass Olavias Familie seit Generationen Zeit und Geld gehabt hatte, um sich himmelhoch über dem Rest der Bevölkerung zu veredeln.
Aber ebenso gibt es weniger beruhigende Erklärungen, zum Beispiel, dass die deutsche Besatzungsmacht ihr Hauptquartier nun gerade auf dem Gut der Familie Storm aufgeschlagen hatte, dass Olavia und ihre Schwestern in der Offiziersmesse bedient hatten, wenn sie sich nicht die Zeit in ihren tapezierten Jungmädchenzimmern vertrieben und darauf warteten, entdeckt zu werden, wie junge Damen ihres Standes es seit Jahrhunderten getan hatten, wenn kein Krieg war.
Aber nun war eben Krieg. Und dann war der Krieg zu Ende und die Leute fingen an, darüber zu reden, dass Mattis vielleicht nicht der leibliche Sohn von Johannes sei. Johannes sei nur das Tarnmanöver einer weitblickenden Frau, einer Frau, die wie so viele – auch stärkere Charaktere als Olavia – in Friedenszeiten etwas zu bereuen, etwas wiedergutzumachen oder etwas zu verbergen hatten.
Es konnte die Gerüchte nicht zum Verstummen bringen, dass zwei andere Frauen, die im deutschen Stützpunkt gedient hatten, zur Handelsstation zurückgeschickt worden waren, um ihre frühere Arbeit wieder aufzunehmen, als Frauenzimmer, in der weniger schmeichelhaften Bedeutung dieses Wortes, zwei verblühte Überreste, die vor dem Laden von Markus auf der Milchrampe saßen und alle ins Gespräch zogen, die vorüberkamen, die ihre Sätze mit beeindruckenden Flüchen würzten und Bettelbriefe an die Armenkasse schickten und die im Kirchenchor falsch sangen, während sie darauf warteten, dass der Hering kam, dass die Konservenfabrik wieder öffnete, und die nichts Besseres zu tun hatten, als auf dieser Rampe zu sitzen und anzudeuten, dass die Wahrheit nicht gerade das Erste ist, woran man denkt, wenn man den Blick auf der degradierten Kaufmannstochter Storm und ihrem Sohn Mattis ruhen lässt.
Johannes registrierte, dass das Gerede seiner angeblichen Schwermut mehr Substanz gab, dass dieser Zustand allmählich Ähnlichkeit mit etwas aufwies, das er in den ersten Jahren nach dem Tod seiner Mutter erlebt hatte, als er im Alter von zwölf seinen Vater aufs Meer begleiten musste, zuerst zum Fischen vom offenen Ruderboot aus, dann auf die Milchroute, ein Schicksal, das nun auch seinem Sohn zuteilwerden sollte, mit dem dramatischen Unterschied, dass Mattis erst fünf war.
Das Seltsame war, dass Johannes, als er an diesem ersten Morgen als verlassener Ehemann Seite an Seite mit seinem Sohn zum Hafen hinunterging, um auch an diesem Tag seine Pflicht zu tun, von der Erkenntnis getroffen wurde, dass das Ganze eigentlich kam wie erwartet. Olavia war zu schön gewesen, um wahr zu sein, für ihn, sie war ein Traum gewesen, der nun zu Ende war.
Es war kein einfacher Gedanke, um damit den Tag zu beginnen, aber er war immerhin zu ertragen, merkte Johannes, so, wie es ein Trost sein kann, wenn endlich eine Diagnose für etwas Rätselhaftes gestellt wird, mit dem man sich seit einiger Zeit herumquält, selbst, wenn es Krebs ist. Und vielleicht war diese widersprüchliche Klarsicht der Grund, warum er nicht augenblicklich Himmel und Erde in Bewegung setzte, um nach Olavia zu fahnden oder sie ausfindig zu machen oder zu untersuchen, ob sie etwas Schriftliches hinterlassen hatte. Ihm dämmerte schon in den ersten Minuten in der Küche, als er feststellen musste, dass ihr Koffer und ihre Kleider verschwunden waren, auf eine so unwiderrufliche Weise, und dass die Haustür einen Spaltbreit offen stand, dass hier nichts zu finden war.
Dass Olavia keinen Brief hinterlassen hatte, sagte natürlich etwas über sie, und dass Johannes sich nicht sofort auf die Suche nach einem solchen Brief machte, sagte vermutlich etwas über ihn, und zusammen sagte es wohl das, was über das Ehepaar Hartvigsen gesagt werden musste, das erkannte er mit verwirrender Klarheit.
Erst vier Tage darauf machte Johannes sich daran, die versteckten Winkel des Hauses zu untersuchen, um an einem müßigen Sonntag etwas zu tun zu haben und um sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wer Olavia eigentlich war, die Gegenstände, die sie mitgenommen hatte, könnten vielleicht etwas erzählen, was er über sie nicht wusste, ihn auf die Spur einer Erklärung bringen.
Zum einen fehlten ihre guten Schuhe, ein Paar schwarze Lackschuhe, die sie nicht einmal zu ihrer Hochzeit getragen hatte, mit Silberspangen am Spann, Johannes hatte einige Male gesehen, wie Olavia diese Schuhe mit ernster Miene geputzt hatte, dazu das wenige Silberbesteck, das sie von Storms mitbekommen hatte. Johannes besaß kein Silberbesteck. Und Olavias war, wie die Schuhe, nie benutzt worden.
Jetzt ging ihm auf, wie wenig sie eigentlich aus ihrem Elternhaus mitbekommen hatte, die zweitjüngste Tochter des Hauses, die erste und heißgeliebte unter den vieren, die geheiratet hatte. Neben den Schuhen und dem Silber waren nur zwei Kleider verschwunden, nicht ihr reich verziertes Spielzeug, ein gelbes Holzpferd, ein rot gemaltes Boot, ein Kugelrahmen, mit dem Mattis aus irgendeinem Grund nicht spielen durfte, er ist zu klein, sagte Olavia, mit derselben ernsten Miene, mit der sie Schuhe und Silber putzte.
Und der erwähnte Koffer, der neben ihrem Schuhkarton ganz oben im Regal in der Abstellkammer hinter dem Schlafzimmer verstaut gewesen war und von dem Johannes jetzt begriff, dass er nie gesehen hatte, wie sie ihn öffnete. Johannes hatte den Koffer einige Male verschoben, um an seine Meiereiabrechnungen zu gelangen, die er in einem kleinen Holzkarton im selben Regal aufbewahrte, und er hatte gedacht, der Koffer sei ja seltsam schwer, ohne sich deshalb weitere Gedanken zu machen.
Gab es noch andere Dinge, die er nicht genauer untersucht oder über die er nicht gestutzt hatte und über die er vielleicht hätte stutzen müssen?
Er registrierte, dass alles, was sie sich im Laufe ihres Zusammenlebens zugelegt hatte, noch vorhanden war. Die meisten Kleider hingen oder lagen dort, wo sie hingehörten, eine Wanduhr und eine Waage, die sie sich zum letzten Weihnachtsfest erstritten hatte, ein gerahmtes Foto des Jungen, einige karierte Schürzen, die Johannes zu teuer gefunden und die Olavia aus eigener Tasche bezahlt hatte, einer Tasche, über die Johannes keinen Überblick gehabt hatte, was ihn aber auch nicht gestört hatte. Aber mit diesen Mitteln hatte sie doch wohl ihre Reise finanziert? In der Kuchendose, die sie als gemeinsame Kasse des Hauses nutzten, fehlte jedenfalls nichts, dort lagen noch immer die zweiunddreißig Kronen, die Johannes am vergangenen Wochenende gezählt hatte.
Auch Olavias Art, Handtücher und Bettwäsche zu falten, war noch da, ihre Ordnung für Besteck und Tischtücher und die Kleider des Jungen, ihre Ordnung in der Speisekammer, ihr Grad an Reinlichkeit. Olavia war pedantisch und pingelig und reizbar gewesen, und Johannes hatte das gefallen. Die Wassereimer standen, wo sie gestanden hatten, seit Olavia ins Haus gekommen war und erklärt hatte, dort, wo sie bisher gestanden hätten, könnten sie nicht stehen bleiben. Dasselbe galt für Putzeimer, Besen und Wischlappen, die an allerlei Leinen im Schuppen hingen, Olavias Leinen und Olavias Ordnung.
Johannes ging wieder nach unten ins Wohnzimmer und sah, dass sie auch die beiden Flickenteppiche zurückgelassen hatte, die ihr von Storms mitgegeben worden waren, sie lagen über Kreuz auf dem Boden. Johannes hatte sich darüber gewundert, sah das nicht seltsam aus, zwei Flickenteppiche über Kreuz?
Olavia hatte ihn verdrossen angeblickt, hatte Tische und Stühle beiseitegeschoben und die Läufer nebeneinandergelegt, damit das Ehepaar gemeinsam feststellen konnte, dass die Läufer zu lang für das Zimmer waren, dass Johannes Hartvigsens Haus nicht groß genug war, damit sich zwei Läufer der Stormdynastie in ihrer vollen Länge entfalten konnten.
Nun versuchte er, der Tatsache, dass das Kreuz noch dort lag, keine große Bedeutung beizumessen, wer brennt schon mit zwei Flickenteppichen durch?
In den Jahren, in denen Johannes allein gelebt hatte, hatte er die Gewohnheit seiner Mutter beibehalten, jeden Frühling einen länglichen Holzkasten mit Erde zu füllen und Wiesenblumen hineinzupflanzen, um das Geländer des Windfangs damit aufzuhellen. Diesen Kasten hatte Olavia sofort geleert und in den Geräteschuppen verbannt, wo Johannes Werkzeug und Koks und die alten Fischereiutensilien seines Vaters aufbewahrte. Nun ging er hinüber in den Schuppen, holte den Kasten und stellte ihn auf das Geländer des Windfangs, mit dem Ziel, ihn aufs Neue mit Erde und Blumen zu füllen. Aber ein kurzer Blick hinab in die Leere brachte ihn zu der Erkenntnis, dass es wohl bei dem Gedanken bleiben würde.
Ungefähr mitten an diesem Sonntag fragte er Mattis, der im Schneidersitz auf den Flickenteppichen im Wohnzimmer saß, ob er nicht zu Ole und Slutter hinüberlaufen und mit ihnen spielen wollte, er hatte seine Freunde seit fast einer Woche nicht gesehen, wo er doch jetzt Matrose war.
Der Junge sagte Nein.
Johannes fiel nun nichts Vernünftiges ein, was er als Nächstes hätte fragen können, zum Beispiel:
Wieso nich?
Außerdem war es wohl an der Zeit, die Familie Storm zu informieren. Gudrun vom Nachbarhof hatte schon zweimal vorbeigeschaut und nach Olavia gefragt, mit dem üblichen scheelen Misstrauen in ihrem ewig grauen Blick, obwohl sie weder mit ihr noch mit Johannes befreundet war. Gudrun war eher eines der Frauenzimmer auf der Milchrampe, die in Krieg und Frieden gleichermaßen Möglichkeiten erblickten.
Johannes überlegte, ob er einen Brief schreiben und den am Morgen dem Bus mitgeben sollte, aber er kam zu dem Schluss, er müsse sich selbst auf den Weg machen, es waren etwas mehr als zehn Kilometer, vielleicht könnte er bei der Meierei ein Pferd ausleihen, eines der Zugtiere, die sonntags im Stall standen.
Aber er schob die Reise noch eine Weile vor sich her, drehte zwei Runden durch das Haus und über den Hofplatz, ließ den Blick über seinen Besitz gleiten, um den er sich so viel besser hätte kümmern müssen, aber dazu reichte die Zeit nicht, während er überlegte, ob er den Jungen mitnehmen sollte oder nicht, bis sich die Entscheidung von selbst ergab, er hatte keine Wahl.
Vater und Sohn gingen hinab zur Meierei, durften das älteste Pferd ausleihen und fuhren nordwärts, Johannes taub für das anhaltende Schweigen des Jungen, vertieft in die Überlegung, wie das Wiedersehen verlaufen würde, mit einer Schwiegerfamilie, die er seit mehreren Jahren nicht gesehen hatte, abgesehen von den Schwägerinnen, die ab und zu bei Olavia in Hartvika vorbeischauten, aber meistens schon wieder verschwunden waren, wenn Johannes vom Meer zurückkehrte, er kannte sie kaum.
Ehe sie bei Storms eintrafen, hatte er begriffen, dass er seiner Zögerlichkeit zuvorkommen musste, und deshalb sagte er sofort zur jüngsten Tochter des Hauses, Elisabeth, die ihnen die Tür öffnete, er sei hier, um Olavia nach Hause zu holen.
Elisabeth begriff gar nichts. Aber sie führte die Gäste in eine gute Stube mit Platz für unendlich viele Flickenteppiche, wo Johannes’ Schwiegereltern, beide in seinem Alter, auch das muss man bemerken, an einem riesigen, blank polierten Esstisch saßen und einander über ihre Kaffeetassen hinweg ansahen, vermutlich nach einer wohlschmeckenden Mahlzeit. Sie schauten kaum auf und lugten nur verstohlen zu Mattis hinüber, der barfuß neben seinem Vater stand und seine Blicke über die Wände wandern ließ, ehe sie dann beim Leuchter unter der Decke zur Ruhe kamen.
Elisabeth kniete nieder und hätte ihn fast nicht erkannt, sagte aber, er habe noch größere Ähnlichkeit mit seiner Mutter als zuletzt im Winter, und fügte noch allerlei hinzu, das Johannes nicht verstand, denn er war damit beschäftigt, die Reaktion seines Schwiegervaters auf das soeben Erzählte zu untersuchen, nämlich, dass Alfred Storms Tochter Olavia verschwunden sei und dass Johannes glaubte, sie sei hier, vielleicht, weil sie sich in Hartvika langweilte oder ihre Familie wiedersehen wollte?
Der Schwiegervater fegte diese Spekulationen vom Tisch, erhob sich und wollte wissen, wann genau Olavia aufgebrochen sei.
Johannes registrierte, dass der Alte nicht dasselbe Wort benutzte wie er selbst, verschwunden.
Isse nicht hier?, fragte er noch einmal.
Selbstverständlich nicht.
Johannes nannte das genaue Datum des Verschwindens seiner Frau.
Dienstag, ja, sagte Alfred Storm und rechnete zurück in der Zeit, verließ das Zimmer und kehrte mit einem Kalender zurück und stellte fest, am Tisch stehend wie ein Lehrer, dass seine Vermutung zutraf, ja, ganz früh am Dienstagmorgen verließ ein Boot mit Trockenfisch den Handelsplatz in Richtung Bergen. Die halbe Last gehörte übrigens ihm, Storm kannte sogar den Fischbeschauer, einen gewissen Jakobsen aus Tromsø, als ob das etwas mit der Sache zu tun hätte, wisse Johannes, ob Olavia mit der Mannschaft in Kontakt oder über die Abfahrtszeiten informiert gewesen sei?
Wie sollte ich?, erwiderte Johannes, der mit der aufkeimenden Ahnung rang, dass Olavias Verschwinden offenbar auch hier nicht wie eine Bombe einschlug, sondern eher mit einer Mischung aus resignierter Erwartung und beschämter Erleichterung aufgenommen wurde, dazu mit allerlei vagen Reden, durch die der verlassene Ehemann vermutlich im Ungewissen gelassen werden sollte.
Er fragte, ob eine der anderen hier am Tisch etwas von den Fluchtplänen gewusst habe. Das sei nicht der Fall, konnte Schwiegermutter Amalie versichern, mit einigen langen und in Johannes’ Ohren unklaren Sätzen, sie saß noch immer am Tisch, und ihre Hand, die sie sich vor den Mund hielt, zitterte leicht. Amalie kam aus Ålesund und machte Johannes nervös mit ihrem Akzent und der zitternden Hand, deshalb stellte er die Frage ein weiteres Mal, jetzt an Olavias jüngste Schwester gerichtet, ob Elisabeth etwas wisse.
Nein.
Aber sie sah wenigstens besorgt aus, ehrlich aufgebracht, soweit Johannes das beurteilen konnte, auch wenn ihr auf die Eltern gerichteter Blick eher flehend als vorwurfsvoll wirkte, als ob sie begriffen habe, dass die beiden etwas für sich behielten, das sie ihr möglicherweise verraten würden, wenn dieser Schwager nur erst das Haus verlassen hätte. Elisabeth sammelte sich und legte Mattis abermals eine Hand auf den Kopf und füllte ihr Lächeln mit so viel verfeinertem Mitgefühl, dass es dem Jungen gelang, zurückzulächeln.
Johannes hatte das Gefühl, das Seine getan zu haben, hier schien ihm offenbar niemand Vorwürfe wegen des Verschwindens der Tochter zu machen, auch wenn er sich angesichts der Entdeckung schämte, dass es einer der Gründe für diesen Besuch gewesen war, die Familie um Vergebung zu bitten, die er nun erhalten zu haben glaubte, vielleicht durch seine bloße Existenz, Johannes begriff die Menschen nicht, und ihm blieb nur, Abschied zu nehmen und zu gehen.
Elisabeth brachte sie hinaus und trat hinter das Tor in dem weißen Lattenzaun und sagte, kommt bald wieder, fuhr Mattis ein letztes Mal durch den Schopf und winkte ihnen hinterher, als ob sie willkommen gewesen wären.
Vater und Sohn fuhren im selben angespannten Schweigen nach Hause, wie sie gekommen waren, Johannes so voller Rätsel, dass er nicht auf den Gedanken kam, sich zu ärgern, weil ihm nicht einmal eine Tasse Kaffee angeboten worden war.
Sie lieferten Pferd und Wagen ab, gingen in dem hellen Sommerabend nach Hause und blieben gleichsam verdutzt vor dem kleinen Wohnhaus stehen, wie um es zu studieren, um die Bedeutung des Heims in sich aufzunehmen, das ist unser Haus.
Johannes Hartvigsen hatte nun einen ganzen Sonntag damit verbracht, sich einen Überblick über die Veränderungen in diesem Zuhause zu verschaffen, alle so klein, dass sie für jeden anderen Blick außer seinem vermutlich unsichtbar waren. Nur Johannes sah, dass das Haus nicht länger ihm gehörte und das auch niemals wieder tun würde. Oder vielleicht war es gerade das, es war sein Haus, nur seins, und das würde es auch bleiben.
Morgen ist Montag, sagte er zu Mattis, der seit dem Verschwinden der Mutter nicht einen Laut von sich gegeben hatte.
Dann fahr’n wir aufs Meer.
Ingrid saß auf der Bank, mit Mariann Vollheims Brief in den Händen. Es gab nur einen Grund, warum dieser Brief nicht bereits zerrissen oder ungelesen in den Ofen geworfen worden war, nämlich die entsetzliche Hoffnung, dass er etwas über einen Mann enthalten könnte, den sie und auch Mariann im letzten Kriegsjahr lieben gelernt hatten, einen jungen russischen Kriegsgefangenen namens Alexander Nischnikow, einen Überlebenden der Rigelkatastrophe, der sie beide hatte verlassen müssen, um sein Leben zu retten, und der es hoffentlich zurück in die Sowjetunion geschafft hatte.
Hatte Mariann ihn aufspüren können?
Mariann war die Erbin eines großen Hofes, sie hatte Geld, eine lange Ausbildung und war Lehrerin an der Kathedralschule in Trondheim, ein selbstbewusster Mensch, dem fast alles gelang, Ingrid blieb nur eins, den Brief zu öffnen und ihn zu lesen.
Ingrid öffnete den Brief und las. «Liebe Ingrid», als wären sie Freundinnen. «Ich hoffe, Du gestattest mir einen persönlichen Tonfall, ich bin nämlich keinem Menschen nähergekommen als Dir in jenem seltsamen Sommer vor vier Jahren, in Vollheim und bei Dir auf Barrøy im folgenden Herbst. Ich kann Dich nicht vergessen, und ich weiß nicht, warum.»
Das war ja ein reichlich starker Anfang, merkte Ingrid verlegen.