Die Ur-Mächte von Mysteria - Liza Redwood - E-Book

Die Ur-Mächte von Mysteria E-Book

Liza Redwood

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Beschreibung

Vor langer Zeit drängten die Träger der Ur-Mächte und ihre Blutlinge das Land Mysteria am Rand des Abgrunds. Nun herrscht Frieden in der magischen Welt. Doch wird es von Dauer sein? Im Blutblattwald lauern die Spuren des Krieges. Davon ahnen die Geschwister Hellary und Heaven nichts, die wie jedes Jahr das Ahnenfest feiern. Schon bald werden die Geschwister getrennt und versuchen in der Welt von Mysteria zu bestehen. Werden sie sich wieder sehen?

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Die Ur-Mächte von Mysteria

Ein Roman von

Liza Redwood

Texte: © Copyright by Liza Redwood

Coverdesign und Umschlaggestaltung: Florin Sayer-Gabor – www.100covers4you.com

Korrektorat: Roberta Altmann

Liza Redwood

Lisa Birner

Büttenstraße 13

91522 Ansbach

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

1. Kapitel

Hellary rannte über den Feldweg zur Hütte, wo die Tür offen stand. Sie keuchte und die Lungen schmerzten. Wie hatte das nur passieren können? Sie schaute zurück, der Anblick, wie Großvater ihren bewusstlosen Bruder trug, war kaum zu ertragen. Sie spürte einen Kloß im Hals.

»Madam Fanara.« Panisch stolperte Hellary über die beiden Stufen in die Hütte hinein.

Madam Fanara stand vor dem Regal der Heilkräuter und drehte sich um.

»Hellary, was machst ...?«

»Heaven ist ...«

»Was ist mit deinem Bruder?« Fanara ließ sich von der Aufregung anstecken.

»Er ist von der alten Eiche gestürzt und bewusstlos«, erklärte ihr Großvater, der in diesem Moment eintrat.

»River, leg deinen Enkel hier hin.« Fanara deutete auf das Bett an der Wand.

»Natürlich«, entgegnete er ruhig. »Hellary Spatz, lass mich mal vorbei.«

River trug den Jungen hinüber zum Bett. Heavens Gesicht war gerötet, die Arme mit Kratzern übersät. In seinen blonden Haaren klebten Blätter. Hellary war wie vom Donner gerührt. Je länger sie Madam Fanara zusah, wie sie seine Wunden verarztete, desto trockener wurde ihr Hals. In ihrem Geist hörte sie noch immer den Schrei ihres Bruders und das Geräusch, als er auf den Boden aufschlug. Ihre Hände wurden feuchtkalt. Was war, wenn er nicht mehr aufwachte? Hellary kämpfte mit den Tränen, dann legte ihr Großvater die Hand auf ihre Schulter.

»Na, na, na. Komm her zu mir«, tadelte ihr Großvater. »Mach dir keine Sorgen. Heaven hat doch schon viel Schlimmeres weggesteckt.«

Hellary schwieg. Für einen Moment dachte sie darüber nach, ihm zu erzählen, wie es zu dem Sturz gekommen war, doch sie schämte sich dafür.

Fanara lächelte ihr aufmunternd zu. »Es ist nichts gebrochen. Nur ein paar Kratzer und Aufschürfungen. Er wird bald wieder aufwachen.«

Großvater war erleichtert. »Na das klingt doch gut.« Er klopfte Hellary auf die Schulter. »Komm, lass uns gehen.«

Hellary sah ihn entsetzt an. »Aber was ist mit Heaven?«

»Er ist doch hier in guten Händen, außerdem müssen wir für das Ahnenfest heute Abend noch einiges vorbereiten.«

Fanara meldete sich zu Wort. »Ich verspreche dir, dass ich mich erst um Heaven kümmern werde, bevor ich zum Gesangskreis komme.«

Hellary wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte, weiter zu diskutieren. Sie bedankte sich bei Fanara und folgte ihrem Großvater hinaus.

Mit gesenktem Kopf trottete sie ihm hinterher. Immer wieder forderte Großvater sie dazu auf, schneller zu gehen, doch Hellary hörte nur mit einem Ohr hin. Zu sehr beschäftigte sie der Zustand ihres Bruders. Wie würde Heaven reagieren, wenn er zu sich kam? Nach ein paar Schritten kam ihr ein Geistesblitz.

»Hellary. Komm jetzt endlich.«

»Komme gleich wieder, Großvater!«

Hellary rannte zurück. Ohne anzuklopfen, trat sie ein. Madam Fanara sah auf. »Schon wieder hier?«

»Ich will Heaven noch etwas geben.« Aus der Tasche ihres Schürzenkleides holte sie eine Halbmaske heraus. Das Stück Metall hatte schon bessere Tage gesehen. Rost an den Kanten, die Gravuren verblasst. Vorsichtig legte Hellary das Erbstück auf Heavens Brust, anschließend seine Hand darauf. Sie lächelte, küsste ihn auf die Wange und flüsterte ihm zu: »Mutter passt auf dich auf, Hev.«

2. Kapitel

Heaven blinzelte, sein Kopf brummte. Benommen fasste er sich an die Stirn, etwas Nasses lag darauf. Mit der Hand an der Schläfe setzte er sich auf. Er nahm die Umgebung nur verschwommen wahr, doch der Geruch von Heilkräutern brachte Licht ins Dunkel. Heaven hörte Schritte.

»Heaven, du bist wach.« Madam Fanara kam lächelnd auf ihn zu.

»Was ist passiert?«

»Du bist von der alten Eiche gefallen, als ihr sie geschmückt habt. Deine Familie hat dich bewusstlos hergebracht.«

Heaven konnte sich an das Geräusch erinnern, als der Ast unter seinen Füßen zerbrochen war, jedoch nicht an mehr.

»Was hast du dir dabei gedacht, hm? Haben wir nicht erst darüber gesprochen, dass du vorsichtiger sein sollst?«

»Ja schon, aber ...«

Sie schaute ihn vorwurfsvoll an. »Wieso hältst du dich nicht an das, was du mir letztes Mal versprochen hast?«

»Ich hab das doch nicht mit Absicht gemacht. Der dumme Ast ist einfach zerbrochen.«

Fanara seufzte, gleichzeitig legte sie die Hand auf seine Wange. Mit dem Daumen streichelte sie ihm darüber. Ein vertrautes Gefühl. Sowohl kalt als auch ebenmäßig wie ein Stein. Sie sahen einander an. Ihre Enttäuschung war nicht zu übersehen. Er schwieg.

»Hev, wann lernst du, auf dich acht zu geben? Mein kleiner Junge.«

Fanara stand auf, um vom Kräuterschrank eine Schale zu holen, anschließend setzte sie sich wieder auf den Hocker neben ihm. Heaven schmunzelte innerlich. Ein kleiner Junge war er schon lange nicht mehr, aber er wusste, dass sie ihn nie anders sehen würde. Ohne Vorwarnung verteilte Fanara die Salbe auf den Wunden. Es brannte höllisch.

Heaven jammerte. »Aua. Fanara, das tut weh.«

»Halt still.« Vorsichtig tupfte sie mit einem Taschentuch die grüne Salbe auf die Kratzer. Bei jeder Berührung musste Heaven die Zähne zusammenbeißen.

»Du musst nur ein Wort sagen, dann werde ich dir mit meiner Magie die Schmerzen nehmen«, sagte sie.

Heaven schüttelte den Kopf, denn er wusste, dass ihre Magie ihm das Brennen ersparen würde.

Nachdem die Verletzungen verarztet waren, reichte sie ihm einen dampfenden Becher Milch.

»Hier, das hast du dir verdient, mein kleiner Junge.«

Heaven wollte protestierten, doch der Gedanke an frische Kuhmilch ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er nuschelte ein Dankeschön. Erst jetzt bemerkte er, dass sie ihr langärmliges Festgewand trug. Ein schlichtes Kleid, im Farbton eines Pfirsichs. Ihre langen Haare waren unter einer weißen Haube versteckt, lediglich eine graue Strähne lugte unter dem Stoff hervor. Es war ein helles Grau, anders als das Grau ihrer Haut, das dem Grau vom Kies vor dem Haus ähnelte. Als er den zweiten Schluck nahm, platzte River herein.

Heaven war überrascht. »Großvater?«

»Heaven, wo bleibst du? Der Marsch beginnt gleich.« Zügig kam er auf ihn zu, in den Händen hielt er ein Bündel Kleidung. Heaven schwante Übles. Das Bündel landete bei ihm im Bett.

»Aufstehen, anziehen. Zack, zack.«

Heaven quengelte wie ein Kind. »Aber Großvater.«

»Keine Widerrede.«

Murrend stieg Heaven aus dem Bett, dabei klatschte sein Großvater auffordernd in die Hände.

»Na los. Spurte dich.« Mit dieser Aufforderung verließ er die Hütte. Innerlich seufzend tauschte Heaven seine Tunika gegen das alte Hemd. Die Ärmel zu kurz. Das Hemd zu klein. Sein Bauch lugte unter dem Stoff hervor. Anschließend schlüpfte er in die Beinschoner. Fanara legte ihm den Brustschutz sowie den Ledergürtel mit Beutel und Trinkflasche an. Heaven sah an sich hinunter. Auf dem Metall, was seinen Oberkörper schützte, war etwas eingezeichnet. War es eine geflügelte Echse? Oder doch eine Schlange? Mit viel Fantasie könnte es auch ein Vogel sein.

»Als ich deinen Großvater kennengelernt habe, trug er genau diese Rüstung. Kaum zu glauben, dass sie dir jetzt schon zu klein ist.« Sie strahlte ihn an, Heaven entgegen gelang nur ein müdes Lächeln. Anschließend reichte Fanara ihm die Halbmaske, dabei verabschiedete er sich.

»Ach Hev«, rief sie ihm nach, »ich möchte dich heute nicht noch einmal behandeln müssen.«

Mit der Rüstung am Leib verließ Heaven die Hütte. Sein Großvater kam ihm entgegen.

»Da bist du ja endlich. Hier.«

Heaven seufzte schwer, während er die Fackel an sich nahm. Großvater legte die Hände auf seine Schulter.

»Mach mich stolz, Hev.«

Heaven mied den Blickkontakt. »Sollte dann nicht lieber Hellary an meiner Stelle gehen?«

River drehte ihn zu sich. Seine dünnen Haare bedeckten die linke Gesichtshälfte, die von Brandnarben gezeichnet war.

»Werd nicht albern, Hev.« Dabei gab er ihm einen Schubs in die Richtung des Festplatzes.

Heaven wollte gehen, doch ihm fiel etwas ein. »Großvater.« Er streckte das Erbstück in dessen Richtung. »Kannst du die Hellary geben?«

»Behalte sie für das Fest, das kann bis morgen warten.«

Heaven befestigte die Halbmaske an seinem Gürtel.

»Bis später.«

Heaven nahm den Weg, der ins Dorf führte. Die Sonne färbte den Himmel in einem zarten Orange. Blumenketten schmückten die Häuser, den Wegesrand zierten Figuren aus Stroh. Angeblich sollten diese die Ahnen des Dorfes darstellen, doch für ihn waren es einfach Schneemänner aus getrocknetem Gras. Unterwegs kreuzten Bauern seinen Weg, die ihr Vieh zurück in die Ställe trieben. Nach den Bauernhäusern erreichte er den Torbogen der Ehe. Das Mauerwerk zierten zahlreiche Blumen. Zwischen den Säulen war ein Leinentuch gespannt. Heaven betrachtete den Schriftzug darauf: Wer das Feuer befragt, findet in der Asche Rat.

Vor zwei Jahren hatte Hellary als zukünftige Braut unter dem Bogen gestanden, doch die Hochzeit hatte nicht stattgefunden. Seine Gedanken spielten verrückt. Alles ging schief an jenem Tag. Der Bräutigam starb, durch den Biss einer Dornenkopfspinne. Aus dem Brautstrauß wurde ein Trauergesteck, der fröhliche Gesang wich dem Weinen der Angehörigen. Trotz allem schaffte es Hellary, zu lächeln und ihr Beileid der Fischerfamilie auszusprechen. Nie zeigte sie Tränen. Wie stellte sie das an? Er seufzte schwer. Auf sie konnte Großvater immer stolz sein.

»Heaven, bleib stehen!« Das Rufen holte ihn zurück.

Heaven brummelte. »Hallo, Weles.«

Der Junge spottete. »Ist der große Heaven vom Baum gefallen?«

Heaven konterte. »Wenigstens müffel ich nicht wie ein toter Fisch.«

Weles trat heran, seine Augen funkelten vor Zorn. Obwohl sie gleich alt waren, überragte der Fischersohn ihn. In dessen finsterem Haar klebten Schuppen sowie der Geruch von Meeresgetier.

»Wenn River erst der Verlobung zwischen mir und Hellary zugestimmt hat, werd ich mir keine Beleidigung mehr von dir gefallen lassen.« Weles rempelte ihn an und stapfte voraus.

Heaven schimpfte in sich hinein. Nur über meine Leiche!

Auf dem Hauptplatz sammelten sich die Männer des Dorfes. Heaven schritt durch die Menge. Alle Augen waren auf den Fahnenmast in der Mitte des Platzes gerichtet, daneben standen eine Trommel sowie der Dorfälteste. Dieser stützte sich mit seinem Stock ab, schwankte wie trockene Äste im Wind. Wie lange würde er wohl noch dort vorne stehen? Ohne ihn konnte sich Heaven das Ahnenfest nicht vorstellen. Seit er denken konnte, leitete Melenk die Zeremonie. Heaven bemerkte den Holzfäller des Dorfes.

Earth Oldman. Der alte Mann trug ein zusammengeflicktes Hemd und eine dicke Wollhose. Heaven eilte zu ihm hinüber.

Oldman lächelte. »Heaven, du kommst spät.«

»Entschuldige, Oldman.«

Earth umarmte ihn zur Begrüßung. Neben dem Holzfäller stand Tones. Der Junge ging Oldman nur bis zur Hüfte.

Heaven nickte ihm zu. »Schon nervös?«

Tones sah ihn fragend an, anschließend blickte er nach vorn. Dies brachte Heaven zum Grinsen, denn anders kannte er den Sohn des Töpfers nicht. Schweigsam und in sich gekehrt. Um seinen Kopf trug er ein grünes Stirnband, das gehörte genau so zu ihm wie der Köcher auf seinem Rücken.

Die Trommel ertönte. Alle Gespräche verstummten. Der Älteste trat hervor und begann mit erhabener Stimme seine Rede.

»Meine lieben Freunde. Heute wollen wir unseren Vorfahren gedenken, die unter Einsatz ihres Lebens unser Dorf gegen das Heer der Toten verteidigten. Dank dem Opfer ihres Blutes können wir in Frieden leben, verborgen im Schatten des Blutblattwaldes.«

Während der Rede bewegte Heaven die Lippen. Er konnte die Worte bereits im Schaf aufsagen. Zum fünften Mal stand er sich die Füße in den Bauch, hoffend, dass der Älteste bald schwieg.

»... eure Ahnen kämpften Seite an Seite. Viele von ihnen hatten Angst, doch einige kehrten ruhmreich nach Verdamm zurück. Lasst uns die Lichter entzünden, wie es einst ihre Kinder taten.«

3. Kapitel

Wie ein begossener Hund stand Heaven in der Menge, während der Älteste die meerblaue Dorffahne hisste. Die Männer klatschten und pfiffen, als diese sanft im Wind flatterte. Der Trommler schlug sein Instrument. Der dumpfe Klang ließ Heavens Knie weich werden. Nein. Nein. Ich will nicht wieder nachts in den Wald. Er sah gehetzt um sich, wich zurück. Dabei rempelte er gegen Earth Oldman, den Holzfäller des Dorfes. Der alte Mann lächelte ihm aufmunternd zu, dennoch verspürte er den Drang, zu verschwinden, aber seine Beine bewegten sich nicht.

Nach und nach teilten sich die Männer in Gruppen auf und verließen den Hauptplatz. Heaven konnte an nichts anderes mehr denken als an den Wald. Nachts wimmelte es dort von unheimlichen Tieren. Darüber hinaus hatte er keine Waffe, nur eine Fackel.

»Können wir langsam gehen?«, drängte Weles. Er reckte und streckte sich, um seine pechschwarze leichte Rüstung zur Schau zu stellen. Heaven versuchte, ihn zu ignorieren, doch das Gehabe des Fischerjungen nervte wie Stechmücken in der Nacht. Gerade als er glaubte, ihm das Maul stopfen zu müssen, kam Melenk auf sie zu. Weles verstummte, als der Älteste vor ihnen stehen blieb. Hinter ihm stand sein Sohn, ein großgewachsener Mann mit Vollbart. Dieser streckte ihm eine Feuerschale entgegen. Heaven tauchte seine Fackel in die Glut. Ein leises Knistern erfüllte die Luft, bevor sie Feuer fing. Anschließend wandte er sich seinen Kameraden zu. Keiner sagte ein Wort, stattdessen nickte Oldman.

Heaven führte die Gruppe durch das Dorf, in Richtung des Osttores. Eine beängstigende Stille umgab sie, lediglich ihre Schritte waren zu hören. Ob es seinen Vorfahren genauso ergangen war? Hatten sie auch die Angst gespürt? In Gedanken vertieft wechselte Heaven die Hand für die Fackel. In allen Schriften war nur von den Söhnen die Rede. Der Sohn des Fischers, der des Holzfällers, des Töpfers sowie der Sohn des Schmiedes. Warum kannte man ihre Namen nicht? War etwa damals die Verteidigung der heiligen Quelle wichtiger als deren Leben? Vermutlich, sonst müssten wir nicht einmal im Jahr eine Nacht im Wald verbringen, stellte Heaven für sich selbst fest.

Als sie an der Schmiede vorbei kamen, hörte er den vertrauten Hammerschlag auf glühendem Metall. Aus der Schmiede strömte heiße Luft. Im Innern arbeitete River am Amboss. Hellary saß auf ihrem Lieblingsplatz, zwischen Werkzeugen und Holz. Gerade als er weiterlaufen wollte, bemerkte sie ihn. Voller Freude winkte seine Schwester ihm zu. Heaven hob zur Begrüßung die Hand. Ihre sonst offenen Haare waren für das Ahnenfest geflochten. Sie trug ein haselnussbraunes Schürzenkleid mit einem blauen Taillentuch. Wie alle in ihrem Alter würde sie später zum Gesangkreis an der alten Eiche gehen. Plötzlich wurde er voran geschoben.

»Beweg dich endlich«, schimpfte Weles. Widerwillig lief Heaven los, konnte sich aber nicht losreißen. Erst als er sich fast seinen Hals verrenkte, sah er wieder nach vorn. Schweigend durchschritten sie das Osttor.

Vor Heavens Truppe erstreckte sich der Blutblattwald. Zittrig hielt Tones den Bogen fest. Hilfesuchend blickte der Junge ihn an.

Heaven tätschelte dessen Schulter und meinte: »Wird schon schief gehen.«

In der Hoffnung, dass er recht behielt, wagte er die ersten Schritte. Das Laub knirschte unter seinen Schuhen. Er bewegte die Fackel im Halbkreis. Dicke Wurzeln ragten aus dem Boden des Pfades. Etwas flog über ihre Köpfe hinweg. Weles zuckte erschrocken zusammen, was Heaven zum Grinsen brachte. Mit der freien Hand bog er das Gestrüpp beiseite, dennoch kratzten Zweige sein Gesicht. Heaven schwenkte das Feuer. In den Büschen abseits des Weges klebten Spinnennetze. Er verzog das Gesicht. Allein der Gedanke an die langen Beine auf seiner Haut ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Da erblickte er eine Gestalt im leuchtenden Gewand in dem Dickicht. Wie angewurzelt blieb Heaven stehen und starrte in die Dunkelheit. Hin und wieder verschwand die Silhouette hinter den Bäumen. Er wollte wegsehen, doch es gelang ihm nicht.

»Lauf endlich. Ich will das Frühstück nicht verpassen«, nervte Weles.

Energisch wandte sich Heaven zu ihm. »Aber da hinten ist irgendetwas.« Ohne hinzusehen, deutete er auf den Schatten.

Kurzes Schweigen, dann lachte Weles: »Du siehst Gespenster.«

Heaven verteidigte sich. »Mach deine Augen auf, du ...«

Wutentbrannt sah Heaven wieder nach vorne, sofort verschlug es ihm die Sprache. Die Gestalt war weg. Hatte er sie sich eingebildet? Nur langsam gelang es ihm, sich loszureißen, um dem Pfad weiter zu folgen, und das Wesen blieb verschwunden.

4. Kapitel

Konzentriert kratzte Jankin mit einer Feder verschmierte Buchstaben auf das Pergament, das mit einem blauen Lichtstein beleuchtet war. Das Schreiben auf dem Papier gestaltete sich als schwierig, denn es rollte sich immer wieder zusammen. Fluchend stellte er das Tintenfässchen auf die rechte obere Ecke und den fünfarmigen Kerzenleuchter aus feinstem Silber auf die linke Ecke. Die Federtinte tropfte auf das geschriebene Wort. Seufzend steckte er die Feder in das Fläschchen, anschließend lehnte er sich zurück, um ein wenig zu dösen.

Seit den frühen Morgenstunden war er nun hier. In einer Holzhütte, im hintersten Winkel von West-Mysteria. Die Füße schmerzten wegen der langen Reise. Das ganze Land hatten seine Frau und er durchquert, doch nirgends waren Hinweise über die Blutlinge zu finden. Bei den Gedanken an die miesen Kreaturen stellten sich seine Nackenhaare auf. Täglich rieb sein olivgrüner Schal an der rauen Stelle am Hals. Dieses unangenehme Gefühl erinnerte ihn an die schmachvolle Niederlage sowie an den Moment, als er seine Sterblichkeit verloren hatte.

Plötzlich ein Summen direkt an seinem Ohr. Instinktiv schlug er danach, verfehlte, die Wange schmerzte. Das nervige Insekt flog umher. Es setzte sich vor ihm auf den Tisch und putzte mit den Hinterbeinchen die Flügel. Es ähnelte einer Stechmücke, hatte aber den Körperbau einer Spinne. Mit erhobener Hand beugte Jankin sich nach vorn. Bevor er zum Schlag ausholen konnte, flog es los und landete auf dem Leuchter. Er wollte die Hand erneut heben, dann kam ihm eine bessere Idee. Der Querreiser krabbelte an dem Kerzenleuchter empor. Langsam bewegte Jankin die Hand zu dem Sockel, den Blick fest auf das Vieh gerichtet, das hinter seinem magischen Blut her war. Nach einem kurzen Flug setzte es oben auf. Mit triumphalem Grinsen umfasste Jankin das Silber und dachte an das Zauberwort, das aus dem Leuchter eine Schusswaffe machte.

»Shonsa!«

Ein Schuss. Aus dem Leuchter stiegen Rauchschwaden auf, die nach Schwefel stanken. Jankin blickte nach oben und lachte hämisch, wegen des großen Lochs in der Holzdecke. Die Stechmücke war verschwunden. Zufrieden tauchte Jankin die Feder in Tinte. Nach wenigen Worten rieselte Schmutz von oben herab. Unbeeindruckt fegte er den Dreck mit seinem tintenbefleckten Schal beiseite. Ein Knarzen von oben. Ehe Jankin nach oben sehen konnte, stürzte das Holzdach über ihm ein. Er rumpelte auf, die Tinte kippte und befleckte seine braune Tunika.

In diesem Moment hörte er, wie jemand zur Tür hereinkam. Angenervt sah er auf. Velouria hing ihre weiße Robe auf und zupfte ihr gleichfarbiges Spitzenkleid zurecht. Jankin versuchte zu lächeln, aber wegen des Ärgers schaffte er es nur, gequält zu grinsen.

»Was hast du angestellt, Liebster?«

»Nicht so wichtig.«

»Ich bin froh, dass du wohlauf bist.«

Er ging zu ihr hinüber und küsste sie. Velouria schaute an ihm vorbei und scherzte: »Hattest wohl eine spannende Zeit hier.«

Peinlich berührt betrachtete er den Holztisch, der unter Schutt begraben war. Jankin traute sich nicht, ihr zu sagen, wie es dazu gekommen war. Stattdessen wechselte er das Thema. »Gibt es was Neues über die Blutlinge?«

Velouria schüttelte den Kopf, dabei setzte sie sich auf den Stuhl.

Jankin grummelte: »Wieder nichts. Ich wusste doch, dass Silas’ Nachtmahre nichts zu bedeuten haben.«

»Vielleicht ist da doch was dran.«

Er sah sie fragend an. Daraufhin beugte sich Velouria zu ihm und flüsterte: »Es gibt menschliches Leben hinter dem Blutblattwald.«

Jankin staunte. Er erinnerte sich noch gut daran, wie schwer es ihm gefallen war, in diesem verfluchten Baumlabyrinth zu atmen.

»Wie ist das möglich?«

»Ich weiß es nicht. Es sind gewöhnliche Bauern, die dort leben. Keine Anzeichen von mächtigen Zaubern oder ähnlichem.«

»Haben sie dich gesehen?«

Velouria antwortete nicht. Ihr Schweigen machte ihn nervös.

»Nun sag schon.«

»Der Fackelträger hat mich womöglich gesehen.«

Jankin kräuselte die Nase und schwieg. Natürlich hatte er sie gesehen! Bei Verzauberung strahlte ihre Robe wie Sternenlicht. Nur ein Volltrottel könnte das nicht wahrgenommen haben, stellte er für sich selbst fest.

»Lass uns verschwinden, Velouria. Wir werden hier nichts finden, was ihn beruhigen könnte.«

Seine Frau erhob sich und schritt zum Fenster. Mit einem kurzen Handgriff band sie ihre kohlrabenschwarzen Haare zusammen. Auf ihrem bleichen Rücken war ihr Merkmal zu erkennen. Eine dunkle Verfärbung der Haut, in Form eines Köchers.

»Noch nicht. Ich hab das Gefühl, ein Geheimnis ist hier verborgen.«

»Haben wir nicht schon genug Geheimnisse, die wir lösen müssen? Reichen die denn nicht?«

»Vermutest du keinen Zusammenhang?«

»Keineswegs, aber wenn du es für nötig hältst.« Jankin ging zu ihr hinüber. Er legte seine Arme um ihre schmale Taille und drückte sie an sich. »Soll ich dich nicht lieber begleiten?«

Mit gedämpfter Stimme antwortete sie. »Dieser Ort ist viel zu weit von der Quelle deiner Kraft entfernt, ich kann dich nicht wieder leiden sehen und wissen, dass ich dir nicht helfen kann.«

Er gab ihr keine Antwort, stattdessen liebkoste er mit seiner Hand an ihrem freien Rücken entlang. Sie war warm.

Jankin flüsterte: »Wir wollten uns nicht mehr trennen. Lass uns nicht denselben Fehler immer und immer wieder machen.«

»Ist es ein Fehler, vorsichtig zu sein, wenn man von der Gefahr weiß?«, entgegnete sie ruhig.

»Es gefällt mir trotzdem nicht.«

Velouria drehte sich zu ihm. »Mir doch auch nicht.« Sie näherte sich mit ihren hellblauen Lippen. Ihre Nasen berührten einander, dann neigte er den Kopf. Der Kuss ließ ihn für einen Moment alles vergessen. Die Unruhen der letzten Jahre, die Trennungen, die Verluste in der Vergangenheit und die Angst vor der ungewissen Zukunft.

Viel zu schnell endete die traute Zweisamkeit. Hilflos musste er zusehen, wie die Liebe seines Lebens sich für den Kampf bereit machte. Sie nahm ihren silbernen Bogen von der Wand. Bei jedem ihrer Schritte rang er mit sich selbst. Gleich würde sie sich erneut Gefahren stellen. Ohne ihn. An der Tür blieb sie stehen und blickte zurück. Es herrschte absolute Stille. Sie lächelte, ehe sie ihn verließ. Die Tür stand auf. Jankin sah zu ihrer Robe hinüber, die Velouria bei ihrer Ankunft an die Wand gehängt hatte. Ein kalter Windzug von außen, der ihn zittern ließ. Er begann, eine Zaubermelodie zu summen. Beim letzten Ton verwandelte sich die Robe in einen Mottenschwarm und folgte ihr hinaus in die Nacht.

5. Kapitel

Müde trottete Heaven den Pfad des Blutblattwaldes entlang. Die Füße schmerzten und der ausgestreckte Arm, mit dem er die Fackel hielt, wurde immer schwerer. Mit verzogener Miene stützte er diesen ab, aber es half nicht viel. Vorsichtig linste er hinter sich. Tones, Weles und Oldman folgten im Gänsemarsch. Keiner von ihnen sagte ein Wort, dann bemerkte er Tones’ ängstlichen Blick. Heaven lächelte ihm aufmunternd zu, bevor er wieder nach vorne sah. Je weiter sie dem Weg folgten, desto zahlreicher blühten die Mondperlen am Wegesrand. Bald haben wir es geschafft! Kaum hatte Heaven den Gedanken beendet, rannte Tones an ihm vorbei.

»Tones, bleib hier!« Heaven wollte nach ihm greifen, aber er bekam ihn nicht mehr zu fassen. Rufend eilte die Gruppe hinterher. Der Rauch der Fackel blies ihm in die Augen. Halbblind rannte Heaven voraus, dabei orientierte er sich an den hellgelben Blumen auf dem Weg. Gerade als er Seitenstechen bekam, holte er Tones ein. Heaven packte ihn an der Schulter und zwang ihn dazu, stehen zu bleiben. Heaven schimpfte, wobei er Pausen einlegen musste, um zu Atem zu kommen.

»Bist du verrückt? Du kannst doch nicht einfach so losrennen.«

Tones sagte nichts, stattdessen deutete er nach vorn. Als Heaven dorthin sah, schwand seine Wut augenblicklich.

Vor ihnen erstreckte sich eine kreisrunde Lichtung. Der Boden war bedeckt mit einem Meer aus Mondperlen. In der Mitte ragte ein spitzer Felsblock in die Höhe, der so groß war wie er selbst. Für eine Weile ließ er sich von dem Anblick fesseln, dann wandte er sich hilfesuchend der Gruppe zu. Oldman nickte. Tones und Weles hingegen vermieden seinen Blick. Heaven seufzte innerlich und beschloss, es endlich hinter sich zu bringen.

Vorsichtig bahnte er sich einen Weg durch die leuchtenden Blumen, ohne dabei welche zu zertreten. Vor der versiegten Quelle waren zwei Holzpflöcke in den Boden gerammt. Auf jeder stand eine Feuerschale aus Messing. Heaven versuchte, mit einer Hand den Lederbeutel von seinem Gürtel zu lösen, aber es wollte nicht klappen. Angenervt legte er die Fackel auf die Schale. Warum machte Großvater die immer so fest? Mit den Fingernägeln versuchte er, den Knoten zu lösen, doch sie waren zu kurz. Erst als er die Zähne zu Hilfe nahm, gelang es ihm, den Lederbeutel zu öffnen. Er nahm die Fackel wieder in die Rechte und befüllte mit der freien Hand die Feuerschalen mit dem getrockneten Gras aus dem Beutel.

Oldman stand ihm gegenüber. Weles links, Tones rechts von ihm. Alles war bereit. Heaven zögerte, ehe er das Stroh entzündete. Kaum brannte das Feuer, floss Wasser aus der eichelförmigen Vertiefung des heiligen Steines heraus. Es war still, nur das Plätschern des Wassers war zu hören.

Allmählich schliefen Heaven die Beine ein. Er trat von einem Fuß auf den anderen, doch es half nichts. Um sich abzulenken, nahm er seine Halbmaske in die Hand. Er seufzte schwer. Wieder ein Jahr vergangen, in dem Mutter nicht bei ihm war.

Ein seltsames Gluckern übertönte das sanfte Plätschern. Verwundert sah Heaven auf die Quelle. Das Gluckern entwickelte sich zu einem Grollen. Der heilige Stein erzitterte wie bei einem Beben. Risse bildeten sich um die Einkerbung des Steines.

»Was zum ...?« Ehe Heaven den Gedanken zu Ende bringen konnte, schoss das Wasser wie bei einem Geysir nach oben. Es stank nach Verwesung sowie nach altem Blut. Wie Regen kam die Plörre wieder herunter. Er hörte die Schreie seiner Kameraden. Der Gestank umhüllte ihn, die Nässe durchdrang seine Kleidung. Heaven ging in die Knie, würgte und schützte sein Gesicht. Als es aufhörte, auf ihn einzuprasseln, lugte er unter seinen Armen hervor. Ihm stockte der Atem beim Anblick des heiligen Ortes. Der Stein gespalten, der mit Mondperlen übersäte Boden war unter einer violetten Schlammmasse begraben. Der Tümpel blubberte, mit jedem Platzen der Blasen wurde der Gestank unerträglicher. Hustend eilte er zu Tones hinüber, der auf dem Boden kauerte.

»Alles okay bei dir?«

Sofort kniete er sich zu Tones und versuchte, den stinkenden Schlamm aus dessen Gesicht zu bekommen. Der Töpfersjunge wimmerte, sah an Heaven vorbei, als wäre er nicht da.

»Na los, komm. Hoch mit dir.« Kaum stand Tones wacklig auf den Beinen, schrie Weles nach ihm.

»Heaven! Tones! Kommt schnell her.« Weles beugte sich über den Tümpel und hielt etwas fest. Erst beim genaueren Hinsehen entdeckte er Earth darin.

»Oldman«, schrie Heaven und eilte Weles zu Hilfe. Gemeinsam gelang es ihnen, Earth aus dem Schlamm zu ziehen. Heaven spürte, wie sein Gewicht ihn allmählich in die Knie zwang. Er spannte die Muskeln an und biss die Zähne zusammen.

Heaven keuchte. »Nur noch ein Stückchen.« Genau in diesem Moment verließen ihn die Kräfte und Earth landete unsanft im Matsch. Tones nahm sein Stirntuch ab und befreite Oldmans Augen, Nase und Mund von dem Schlamm.

»Earth? Alles okay?«

Oldman reagierte nicht. Heaven beugte sich mit dem Ohr über seinen Mund.

Er war erleichtert. »Er atmet noch. Wir müssen ihn so schnell wie möglich ins Dorf bri...«

Ein Schrei, als würde man mit spitzen Krallen eine Tafel kratzen. Heaven zuckte zusammen. Gänsehaut breitete sich auf seinem Körper aus. Aus dem Schlamm ragten knochige Arme hervor.

»Oldman, du musst aufwachen. Das Heer der Toten ist hier.« Panisch tätschelte Tones die Wange des Bewusstlosen.

»Earth, Earth, Earth!« Verzweifelt versuchten die drei Jungen, ihn wach zu bekommen. Dabei ließ Heaven die Quelle nicht aus den Augen. Es wurden immer mehr. Die Schreie wurden lauter.

»Komm schon, Earth«, flehte Heaven.

Mit einem Mal brachen aus der Schlammdecke knochige Gestalten hervor. Der Anblick jagte Heaven einen Schauer über den Rücken. Sie wirkten wie Menschen, doch die Gliedmaßen waren unnatürlich lang. Die Beine ledrig. Heaven konnte vor Angst kaum atmen. Einer davon trug ein Schwert, zwei andere einen Bogen. Der Schwertträger schlurfte auf sie zu, dabei zog er das Schwert aus der Scheide. Die Schneide schliff auf dem Boden entlang. Heaven versuchte zurückzuweichen, doch er schaffte es nicht. Earth war zu schwer.

Da schoss Tones einen Pfeil an ihm vorbei und durchbohrte den Schädel des Blutlings. Dieser kreischte und geriet ins Taumeln.

»Gut gemacht, Kleiner«, jubelte Weles.

Die Freude hielt nicht lange an. Mit einem Ruck zog der Blutling den Pfeil wieder heraus. Ein ohrenbetäubender Ruf. Der Schwertträger ging voraus. Heaven drückte Earth an sich. Keine Waffe. Kein Schwert, mit dem er sich gegen die Blutlinge verteidigen könnte. Seine innere Stimme drängte ihn, davonzulaufen. Lauf. Mach, dass du wegkommst. Doch er schaffte es nicht, loszulassen. Immer wieder drehte er sich um. Das schützende Dickicht war nicht weit.

»Ich werde nicht so sterben«, schrie Weles.

Kaum hatte er den Satz beendet, spürte Heaven einen Stoß. Im Augenwinkel erkannte Heaven Weles, der mit Tones an der Hand floh, bis er mit dem Gesicht voraus im Schlamm landete.

Bevor Heaven sich aufrappeln konnte, packte ihn die Hand am Schopf. Er spürte, wie die Krallen durch seine Haare glitten, zupackten und ihn nach oben zogen. Wimmernd versuchte er, dem Griff zu entkommen. Seine Füße baumelten in der Luft. Er konnte dem Blutling direkt in die Augen blicken. Groß und schwarz. Ein rotes Flackern, wie bei glühender Kohle.

»Bringt mir ihre Leichen.«

Die Stimme wie ihr Ruf. Kratzig. Eine Qual für die Ohren. Bei jedem Wort schwappte dunkler Speichel über das spitze Kinn. Auf Kommando nahmen die Gestalten die Verfolgung auf. Heaven zappelte herum. Urplötzlich ließen die Kreaturen ihn los. Er schrie bei dem Aufprall auf den Boden. Schmerz nagte an seinen Knochen, dennoch versuchte er, sich aufzuraffen. Mit einem Tritt gegen seinen Oberkörper hielt die Kreatur ihn am Boden. Seine Brustrüstung krachte.

»Lass mich. Geh weg von mir.« Verzweifelt schlug er auf das Bein ein, doch es rührte sich nicht. Der Blutling beugte sich zu ihm hinunter, dabei drückte es mit ganzem Gewicht gegen seinen Oberkörper. Heaven trat und schlug um sich. Die Rüstung knackte bei jeder Bewegung. Er spürte, wie der Druck ihm die Luft zum Atmen raubte.

»Hilfe. Oldman, hilf mir doch«, schrie Heaven. In dem Moment zischte etwas an ihm vorbei. Tones stand am Rand der Lichtung, mit gespanntem Bogen. Er schoss erneut, aber der Pfeil verfehlte sein Ziel.

Der Blutling tobte. »Du kleiner Wicht.«

Er ließ von ihm ab und jagte dem Töpfersjungen nach, der im Wald verschwand. Heaven quälte sich auf alle viere, ehe die Schmerzen eine Flucht zuließen.

Ohne sich umzudrehen, rannte er in das Dickicht. Heaven keuchte. Er presste die Hand auf die Brustrüstung, um diese bei sich zu halten, aber sie rutschte bei jedem Schritt. Die Lunge schmerzte, er geriet ins Straucheln. Mit letzter Kraft schleppte er sich ins Gebüsch. Gerade als die Blätter den Körper bedeckten, hörte er Tritte. Angestrengt versuchte Heaven, die Atmung zu verbergen. Zitternd löste er die Halbmaske vom Gürtel und legte diese auf seine Atemwege. Wie von selbst saugte sich das Erbstück an der Haut fest. Die Schritte kamen näher, direkt vor ihm blieb das Wesen stehen. Bei dem Anblick der knochigen Füße mit ledriger Haut wagte er es nicht, sich zu bewegen. Der Busch raschelte, während die Arme des Blutlings durch die Blätter glitten. Voller Angst krümmte er sich zusammen. Die Augen fest verschlossen, sodass er es nicht mitansehen musste, wie die Hand seinem Gesicht immer näher kam. Er hörte den Blutling atmen und spürte die Krallen an seiner Schulter. Wie ein Stich einer Wespe. Da rief ihn jemand.

»Heaven! Heaven, wo steckst du?«

Sofort erkannte er Oldmans Stimme, die immer deutlicher wurde. Die Kreatur stand genau vor ihm, ein Ton von ihm und er wäre tot.

6. Kapitel

Müde saß Jankin vor seinen geschriebenen Worten. Seit Velouria fortgegangen war, versuchte er, sich damit abzulenken. Auf dem Tisch sowie auf dem Boden lagen unzählige zerknüllte Pergamentseiten. Er nippte am Wein des Trinkbeutels und überflog die ersten Sätze.

Ich schreibe diese Zeilen, kurz vor der Landesgrenze von Mysteria. Weit bin ich mit Velouria gereist, quer durch das Land, wegen eines Albtraumes eines Freundes. Jetzt sitze ich hier alleine, schon wieder. Was für ein Mist!

»Das kann ich nicht so lassen«, murmelte Jankin.

Kurzerhand zerknüllte er den Anfang und warf ihn hinter sich. Womit sollte er nur beginnen? Mit der langen Reise? Mit seinen Atemschwierigkeiten im Wald oder dass Velouria noch immer nicht von dort zurückgekehrt war? Seufzend tauchte Jankin die Feder in die Tinte. Viele Worte schwirrten ihm im Kopf, doch keines davon schaffte es auf das Papier. Warum hatte er Velouria nur gehen lassen?

Im nächsten Moment hörte er einen dumpfen Schlag auf Fensterglas. Irritiert sah Jankin dorthin, konnte aber nichts erkennen. Müde fuhr er mit der Hand über das Gesicht, bevor er zum Schreiben ansetzte. Da war es erneut.

»Verdammt noch mal!«

Stürmisch stand er auf und stapfte zum Fenster. Eine weiße Motte schwirrte draußen. Ungläubig trat er näher heran. Es war kein Nachtfalter, sondern ein Stückchen zusammengefalteter weißer Stoff, darauf waren hauchdünne Silberfäden zu sehen. Augenblick war Jankin hellwach. Er rüttelte am Fenster. Als er es nicht auf bekam, rannte er nach draußen. Die Motte flatterte ihm entgegen, auf ihr war ein augenförmiges Symbol abgebildet. Jankin schluckte. Seine Freude über das sogenannte innere Auge hielt sich in Grenzen. Das Gefühl, den Körper zu verlieren und als schwebendes Auge in dem Erlebten von jemand anderem zu sein, strapazierte jedes Mal seinen Magen.

Zögerlich streckte Jankin die Hand danach aus. Die Motte setzte sich auf seine Fingerkuppen und leuchtete wie Sternenlicht. Stotternd sprach er das Zauberwort.

»Ey... Eysonme.«

Schnell schloss er die Augen. Ein kraftvoller Luftzug strömte ihm entgegen, dabei spürte Jankin, wie er vom Grasboden abhob. Er war nun nicht länger der Herr über seine Sinne, sondern nur das geistige Auge von Velouria. Was sie gesehen hatte, sah auch er. Er würde nichts fühlen, nichts hören oder sagen können. Nur zusehen und ertragen.

Eine alte Eiche ragte in die Höhe. Nicht weit davon entfernt schützte ein brüchiger Holzwall eine handvoll Häuser. Jankin war sich sicher, dass dies das Dorf sein musste, von dem Velouria gesprochen hatte. Ohne Geräusche wirkte es wie eine Geisterstadt. Kein Licht. Kein Rauch aus den Kaminen. Jankin war nicht wohl bei dem Gedanken, dass seine Frau alleine war. Am liebsten würde er ihre Hand ergreifen und sie beschützen.

Unerwartet suchte sie Schutz hinter einem Stamm. Im nächsten Moment rannte eine alte Frau vorbei, dicht gefolgt von Blutlingen. Er konnte nicht glauben, was er gerade gesehen hatte. Blutlinge? Hier? Inständig hoffte er, seine Frau würde in Sicherheit bleiben, doch seine Bitte wurde nicht erhört. Augenblicklich nahm Velouria die Verfolgung auf. Einer der Blutlinge riss die Frau zu Boden und biss zu. Sofort schoss Velouria ihren grellen Pfeil ab. Das Geschoss durchbohrte den Schädel der Kreatur. Sie eilte zu der Frau und zog den leblosen Blutling herunter. Jankin konnte den Anblick kaum ertragen. Blut quoll aus der Bisswunde am Hals und tränkte die Kleidung rot. Er konnte die Angst in den Augen der Alten sehen. Sie sagte etwas, aber er konnte ihre letzten Worte nicht verstehen. Velouria kniete, dabei streichelte sie der Frau über die Wange, bis deren Augen zufielen. In dem Moment begann es unter der Bluse der Frau zu glühen. Jankin stutzte.

»Was ist ...?«

Er konnte seinen Gedanken nicht beenden. Rauch stieg von der Leiche auf, ehe eine blaue Stichflamme ihm die Sicht nahm.

Die Botschaft flimmerte.

Jankin versuchte, den Namen seiner Liebsten zu schreien, doch er hatte keine Stimme. Hin und wieder blitzte die Erinnerung auf. Feuer. Fliehende Menschen. Er konnte förmlich die Schreie hören, die plötzlich verstummten. Wut durchströmte seinen Geist. Er wollte zu ihnen rennen, wollte helfen, aber konnte es nicht. Ein kurzes Aufflackern, ehe die Botschaft klar wurde.

Velouria taumelte. Um sie herum lagen unzählige leblose Körper, bei jedem Schritt lösten diese sich in blauem Feuer auf, zurück blieben nur Ascheflecken. Sie stand einem Jungen in schwarzer Rüstung gegenüber. Er hatte sein Schwert gezückt und zeigte mit der Schneide in ihre Richtung. Er zitterte, konnte kaum die Waffe in den Händen halten. Velouria schleppte sich auf ihn zu, doch er wich zurück. Ihre Hände zerkratzt, obendrein gerötet vom Feuer. Der Junge war aufgeregt. Immer wieder fuhr er herum, deutete auf den Wald, der hinter ihm lag. Velouria gelang es, vermutlich mit gutem Zureden, seine Waffe sinken zu lassen. Langsam schritt sie auf den Knaben zu. Plötzlich riss er die Augen auf und Velouria zuckte zusammen. Ein schwarzer Pfeil steckte in seiner Brust. Sie wirbelte herum und spannte ihren Bogen, aber niemand stand ihr gegenüber. Velouria ließ ihre Waffe sinken und ging zu dem Jungen. Dieser war auf den Boden gesunken. Tränen rollten über seine Wangen. Behutsam streichelte sie durch sein schwarzes Haar, in dem Fischschuppen klebten, so lange, bis er sich nicht mehr rührte.

Jankin zerriss es das Herz, zu wissen, dass er nicht bei ihr sein konnte. Am liebsten würde er ihr nun ins Ohr flüstern, dass dies nicht ihre Schuld war. Aber sie war alleine, er konnte ihr nicht beistehen. Da sah er, gespiegelt in der Rüstung des Jungen, einen Blutling, der sich von hinten anschlich.

»Velouria, pass auf, hinter dir!«

Als hätte seine Liebste ihn gehört, ergriff sie das Schwert und drehte sich mit Schwung um. Jankin konnte in den Rachen der Kreatur blicken. Gerade als er dachte, es sei zu spät, fiel der Kopf zu Boden. Velourias Hieb hatte getroffen. Sie wandte sich wieder dem Jungen zu. Sie schloss seine Augen, anschließend zog sie den Pfeil heraus. Sie legte das Schwert in seine Faust, platzierte die Hand über seinem Herzen und die andere darüber. Unterhalb des Griffes war eine Gravur deutlich zu sehen: Weles.

Rauch bildete sich um die Wunde. Wie bei den anderen umhüllten ihn blaue Flammen und ließen nur einen dunklen Aschefleck zurück. Sie entfernte sich, dann schrieb sie mit dem Zeigefinger ein Wort in seine Asche.

»Silas.«

Das Bild vor seinen Augen verschwand nach und nach. Jankin spürte, wie er ruckartig in seinen Körper zurückgelangte. Er stolperte rücklings und fiel zu Boden. Er war nun wieder Herr über seinen Körper und seinen Geist. Nur nicht über seinen Magen.

7. Kapitel

Jankin kauerte auf allen vieren. Zwischen seinen Händen war eine Pfütze aus Erbrochenem, von der ein säuerlicher Geruch ausging. An seinen Fingern klebten Bröckchen von seinem letzten Mittagessen, Trockenfleisch und Wanderbrot. Er würgte, aber der Magen war bereits leer.

Dieses verdammte innere Auge! Mit dem Schal säuberte er seine Mundwinkel, anschließend schleppte er sich zurück in die Hütte. Dort durchwühlte er am Tisch den Wanderbeutel nach etwas Brauchbaren, um den säuerlichen Geschmack aus dem Mund zu bekommen. Er nahm einen Schluck von dem Wein und schimpfte: »Velouria weiß genau, dass mir davon schlecht wird.«

Mit der Hand auf seinem Magen ließ er sich auf den Stuhl fallen. Noch immer war ihm schwindlig. Langsam realisierte er, was er gerade erfahren hatte. Blutlinge. Sie waren zurück. Schneller und gefährlicher als je zuvor und Velouria folgte ihnen in diesem Moment.

Kurzerhand räumte er seine Sachen zusammen. Die zerknüllten Pergamentseiten lagen noch verstreut auf dem Boden. Die getrocknete Tinte auf dem Tisch war nicht zu übersehen. Mit einer einfachen Wischbewegung mit der Hand in der Luft ließ er alles verschwinden, was seine Anwesenheit verraten könnte. Die Seiten, die Tinte, selbst das Loch in der Decke verschwand. Er umfasste mit dem Ende des Schals den Sockel vom Kerzenleuchter, dreimal schlug er damit gegen die Tischplatte. Wie von selbst schrumpfte das Silber in seiner Faust und wurde zu einer Stickerei auf dem Stoff. Dann verließ er die Hütte.

Draußen wehte ihm die kalte Morgenluft entgegen. Je näher Jankin dem Wald kam, desto deutlicher kamen ihm die Bilder der Botschaft wieder in den Sinn. Das Feuer. Die Panik der Menschen. Aber am schlimmsten war der Anblick von Velourias verletzten Händen, völlig zerkratzt und gerötet. War sie schlimmer verletzt? In ihm stieg Panik hoch und er schimpfte mit sich selbst. Warum hab ich sie gehen lassen? Wie konnte ich nur so dumm sein! Gerade als Jankin sein Tempo anziehen wollte, erinnerte er sich an den Namen, den Velouria mit ihrem Finger in die Asche geschrieben hatte. Fassungslos blieb er stehen. Er konnte nicht glauben, was sie von ihm verlangte. Er raufte sich die Haare und schüttelte entgeistert den Kopf.

Wie konnte Velouria von ihm verlangen zurückzugehen? Jankin seufzte schwer, denn ihm wurde klar, dass es nötig war. Er griff in seine Hosentasche und holte ein Stück Holzrinde heraus. Die Innenseite war blank poliert. Darauf war eine Kohlenskizze schwach zu erkennen. Er schnippte mit den Fingern dreimal gegen die Blankbaumrinde. Nach und nach wurden die Linien stärker. Sie zeigten einen Springbrunnen in Form einer Rose und eine Bank, die im Schatten eines Baumes stand.

Jankin stutzte kurz. »Wir müssen wohl unsere Platten vertauscht haben.« Anschließend warf er sie auf den Boden. Binnen weniger Sekunden verschwand die Rinde im Erdboden und hinterließ ein schwarzes Loch, das immer größer wurde. Ein kalter Wind zog ihn förmlich hinein. Er atmete einmal tief durch, ehe er mit etwas Anlauf hineinsprang.

8. Kapitel

Unsanft landete Jankin auf dem Grasboden im Garten. Mühevoll raffte er sich auf. Das Steißbein schmerzte. Er fluchte.

»Heute ist nicht mein Tag!«

Mit der Hand rieb er die schmerzende Stelle und ging voran, vorbei am Springbrunnen und die Treppe hinauf. Als er die letzte Stufe hinter sich hatte, stöhnte er auf wie ein alter Mann. Vor ihm kahle Mauer, schwach beleuchtet durch die Grünsteinfackeln an den Wänden. Er klopfte viermal gegen die Mauer. Ein Knacken. Langsam sank die Wand in den Steinboden ab. Hitze vom Kaminfeuer strömte ihm entgegen. Die Wand verschwand im Boden, das Feuer erlosch.

Der Raum war verlassen. Auf dem Mahagonitisch standen ein Teeservice sowie ein Korb mit Brot. Der dunkelrote Vorhang vor dem großen Fenster verbarg das Tageslicht. Ein leidendes Ächzen. Da entdeckte er Silas, der sich hinter dem Tisch auf dem Boden krümmte. Jankins Schmerz war wie weggeblasen.

»Silas, mein Freund!« Jankin eilte zu ihm, umfasste dessen Schulter und drehte ihn auf den Rücken. Seine Augen waren weit aufgerissen. Das Gesicht kreidebleich. Aus seinem Mund quoll eine schwarze Substanz.

Er tätschelte Silas’ Wange. »Verdammt, red mit mir.« Hektisch ließ Jankin von ihm ab und durchwühlte die Schubladen. Schreibzeug, Papyrus, Landkarten, ein rotes sowie ein blaues Band.

»Warum hast du denn hier so viel Schrott drin?«, schnauzte Jankin. In der untersten Schublade fand er, wonach er suchte. Rasch öffnete er den Lederbeutel, holte eine der grauen Murmeln heraus und zerdrückte diese zwischen den Fingern. Der widerliche Geruch von Fischtran breitete sich aus. Mit der anderen Hand öffnete Jankin die ersten drei Knöpfe von Silas’ Hemd. Sein Oberkörper war mit dunklen Flecken übersät. Jankin redete seinem Freund gut zu, während er die Substanz auf dessen Brust verteilte. Jankin setzte sich zu ihm und gönnte sich, nach der ganzen Aufregung, einen Schluck Wein aus dem Trinkbeutel. Nun hieß es warten, bis die Medizin wirkte.

Als der Wein geleert war, rührte sich Silas neben ihm. Augenblicklich legte er den Trinkbeutel beiseite und wandte sich Silas zu.

»Silas?«

Silas blickte um sich. Er versuchte sich aufzurichten, sank aber wieder zurück auf den Boden.

Er atmete schwer. »Seit wann ...« Er stockte und musste zu Atem kommen. »... bist du wieder hier?«

»Nicht lange.« Jankin half seinem Freund dabei, sich aufzusetzen, und redete weiter. »Warum hast du deine Medizin nicht genommen?«

Silas winkte ab, trocknete seinen Mund mit dem Ärmel ab und lehnte sich gegen die Wand.

Jankin schimpfte. »Das ist verantwortungslos.« Er griff nach dem Wasserkrug vom Tisch, befüllte den Kelch und reichte ihn Silas. Dankend nahm er ihn entgegen.

»Du erzählst mir etwas von Verantwortung?«

Jankin ging nicht weiter darauf ein. »Ich werde Pun-Pun holen.« Er eilte zur Tür, doch Silas piff ihn zurück.

»Lass ihn. Ich brauche seine Hilfe nicht.«

Jankin, der seine Hand bereits auf der Türklinke hatte, fluchte innerlich. So ein sturer Bock!

»Gibt es etwas Neues zu berichten?«, wollte Silas wissen.

»Wo soll ich anfangen? Deine Nachtmahre haben sich bewahrheitet.« Er ließ den Türgriff los und setzte sich zurück auf seinen Platz.

»Es ist wahr?« Silas stockte. »Die Blutlinge sind zurückgekehrt? Was ist geschehen?«

Tonlos berichtete Jankin von den Ereignissen im Blutblattwald.

»Velouria ist also dortgeblieben, um die Blutlinge zu verfolgen?«

Allein der Gedanke daran ließ Jankin zittern. Sie war alleine. Irgendwo da draußen. »Wenn dieser verdammte Wald nicht gewesen wäre ...«

Silas unterbrach ihn. »Es war richtig, mir Bericht zu erstatten. Ich werde alles dafür tun, dass East Mirrored sicher bleibt.«

9. Kapitel

Der Morgen dämmerte, als Heaven das Dorf erreichte. Die Blutlinge konnte er abhängen, doch auch seine Gefährten waren verschwunden. Was war wohl mit ihnen passiert?

Kraftlos schleppte er sich durch das Osttor. Seine Gliedmaßen fühlten sich an, als wäre er von der Streckbank entkommen. Nur der Gedanke an seine Familie ließ ihn die Schmerzen ertragen. Erst jetzt bemerkte er die zahlreichen Ascheflecken auf dem Boden.Schockiert schüttelte er den Kopf. Das konnte nicht sein. Nein! So schnell er konnte, folgte er dem Weg zur Schmiede.

Das Tor war angelehnt. Aus dem Innern drang der Gestank von Verwesung. Hustend legte Heaven die Hand auf die Stahltür, drückte diese sachte auf, um hinein zu sehen. Heaven zuckte. Ein lebloser Blutling hing gekrümmt über dem Amboss. Nahe der Kreatur lag der Schmiedehammer auf dem Boden. Sofort erkannte er das Werkzeug seines Großvaters. Heaven nahm seinen ganzen Mut zusammen. Die Tür knarrte beim Eintreten. Bei dem Geräusch erstarrte er, doch der Blutling rührte sich nicht. Von den langen spitzen Krallen der Kreatur tropfte Blut. Ihm stockte der Atem, als er die Blutstropfen erblickte, die von der Kreatur wegführten. Mit gekrümmten Schultern folgte er diesen zu der Kohleecke, die hinter einer Stützwand verborgen war. Er hörte eine vertraute Stimme, die seinen und Hellarys Namen gebrochen wiederholte. Heaven beschleunigte seinen Schritt, um nachzusehen.

»Großvater!«

River lehnte gegen die Kohlesäcke. Erschöpft hob dieser den Kopf, aber er lächelte.

»Hev, mein Junge.«

Schluchzend stürzte Heaven zu ihm. Glücksgefühle durchströmten ihn, als er seinen Großvater endlich umarmen konnte.

»Die Ur-Mächte«, River stockte, »waren gnädig.«

Heaven versuchte, zu erzählen, was geschehen war, aber er stammelte nur. Die heilige Quelle, die Blutlinge und sein Versagen. Nichts davon konnte er in Worte fassen. Rivers Hemd war zerrissen und blutdurchtränkt.

Heaven stotterte: »Großvater. Was ist ...?«

River bedeckte mit der Hand die Wunde. Hektisch blickte Heaven um sich. Ruß und Dreck um sie herum. An ihm selbst klebte Schlamm. Die Tücher, die für das Verbinden in Frage kämen, waren dreckig. Das Feuer im Schmiedeofen erloschen.

»Du musst durchhalten, Großvater.«

Rasch legte Heaven die Wunde frei, indem er das Hemd aufriss. Der Anblick ließ ihn für einen Moment erstarren. Das Blut quoll weiter heraus. Heaven geriet in Panik. Verzweifelt drückte er mit dem zerrissenen Stoff auf die Wunde. Das schmerzerfüllte Stöhnen seines Großvaters ging ihm durch Mark und Bein. Hilflos musste Heaven mitansehen, wie das Blut den Stoff durchtränkte und anschließend zwischen seinen Fingern floss.

»Es hört nicht auf. Wieso kann es nicht aufhören?«, klagte Heaven. In diesem Moment kippte River zur Seite.

»Großvater!«

Er versuchte, ihn wieder aufzurichten, aber River war zu schwer. Geistesabwesend fasste Heaven unter dessen Schultern und zog ihn von den Kohlesäcken weg.

Heaven keuchte. »Großvater. Bitte, du musst mithelfen.«