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Ein Kompass für die nächste Gesellschaft, gewidmet den kapitalismuskritischen Strömungen in den globalen Klimabewegungen Nachhaltig kann eine Gesellschaft nur sein, wenn sie den Zwang zu immer neuen Landnahmen bricht, der im kapitalistischen Besitz als Strukturprinzip angelegt ist. Eine Gesellschaft, die dieses expansive Prinzip auf demokratische Weise überwindet, muss eine sozialistische sein, argumentiert Dörre in diesem grundlegenden Buch. Um wieder Strahlkraft zu gewinnen, muss der Sozialismus jedoch von seinem dogmatisch erstarrten Anspruch abrücken und nochmals zu einer attraktiven Utopie werden. Inhalt dieser Utopie kann nicht mehr die Befreiung der Produktivkräfte aus den Fesseln hemmender Produktionsverhältnisse sein. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, der die eigene Geschichte und sein vielfältiges Scheitern reflektiert und mitdenkt, steht für die Suche nach einer Notbremse, die den mit Hochgeschwindigkeit auf einen Abgrund zurasenden Zug zum Halten bringt. Noch aber ist Zeit, die Weichen so zu stellen, dass andere Auswege aus der epochalen ökonomisch-ökologischen Zangenkrise möglich werden. Im Mittelpunkt von Dörres Gesellschaftsentwurf steht eine grundlegend veränderte Beziehung zwischen Gesellschaft und Natur, die feministische, ökologische und auch indigene Strömungen kapitalismuskritischen Denkens miteinbezieht.
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Seitenzahl: 475
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Klaus Dörre
Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution
Anlässlich des 200. Geburtstags von Friedrich Engelsund für die Aktiven in der Klimabewegungunserer Zeit
Zur Einführung, Selbstverortung eingeschlossen
I Visionen: »Pandemie stoppt Klimawandel!«
II Begriffe: Radikaler Humanismus, Postwachstum, Neosozialismus?
III Heuristik: Sozialismus – von der Wissenschaft zur Utopie
IV Diagnose: Landnahme, Zangenkrise, Anthropozän
V Gründe: Warum nachhaltiger Sozialismus?
VI Nachhaltigkeit: Eine neue Rechtfertigungsordnung
VII Fundamente: Konturen nachhaltig sozialistischer Gesellschaften
VIII Produktivkräfte: Digitaler Sozialismus?
IX Effizienz: Demokratische Planung, humane Arbeit, befreites Leben
X Katastrophen: Sozialismus oder Pandemie
XI Übergänge: Nachhaltiger Sozialismus jetzt!
Zum Schluss: Sozialismus im Handgemenge
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Das Auditorium Maximum der Leipziger Universität im Mai 2019. Vor dem zum Bersten gefüllten Saal drängen sich hunderte Studierende, um an der Gründung von Students for Future teilzunehmen. Mein Part ist es, in die Debatte um die Erderhitzung und deren gesellschaftliche Folgen einzuführen. Auf die an das Publikum gerichtete Frage, ob die klimapolitisch gebotene Nachhaltigkeitsrevolution innerhalb kapitalistischer Verhältnisse möglich sei, antwortet ein vielstimmiges »Nein!« Der Vorschlag, große Konzerne wegen ihrer Blockadehaltung gegenüber Klimazielen zu sozialisieren, erhält tosenden Applaus. Einigen Veranstalter:innen steht deshalb der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Angesichts der gerade erst im Entstehen begriffenen Bewegung wären ihnen weniger radikale Statements lieber gewesen. Doch solche Befürchtungen erweisen sich als unbegründet. Die Vollversammlung wird zu einem grandiosen politischen Erfolg, denn sie wirkt nach. Den Leipziger Ereignissen folgt ein bundesweiter Klimaratschlag in Jena. Er wird zu einem der Ausgangspunkte für neue politische Allianzen, die einen labour turn der Klimabewegung und zugleich einen climate turn von Gewerkschaften und anderen arbeitsorientierten Akteuren anstreben.1
Ich hebe dieses Ereignis hervor, weil es mich für einen lebensverlängernden Augenblick spüren ließ, dass ein ökologisch inspirierter Sozialismus zu einer höchst lebendigen Praxis werden kann. In Bewegungen mit großer Mobilisierungsfähigkeit verfügt er über eine riesige soziale und politische Basis. Dass die etablierte Linke diesen Kraftquell kaum zu nutzen weiß und er allenfalls Parteien zugutekommt, die ihre ökosozialistische Vergangenheit lange hinter sich gelassen haben, steht auf einem anderen Blatt. Dieses Problem ist in erster Linie hausgemacht. Gleich ob Migrationsregime, Haltung zur Europäischen Union, Umgang mit Rassismus und der radikalen Rechten oder das Management der Coronapandemie – es findet sich kaum ein Thema, das ungeeignet wäre, der gesellschaftlichen Linken Rohstoff für ihre Lieblingsbeschäftigung zu liefern. Gemeint ist der Hang zu vermeintlich absoluten Wahrheiten, zu Sektierertum und Selbstzerfleischung. Von einem linken Mosaik, wie es der Gewerkschaftsintellektuelle Hans-Jürgen Urban als idealtypischen Entwurf konzipiert hat2, sind wir, inmitten einer epochalen Krise des globalen Kapitalismus, meilenweit entfernt.
Schlimmer noch, innerhalb der Linken regiert die Hermeneutik des Verdachts. Wer auch nur andeutet, die imaginäre Revolte der radikalen Rechten habe etwas mit sozialen Verwerfungen zu tun, sieht sich sogleich mit dem Vorwurf der Rassismusverharmlosung konfrontiert. Umgekehrt heißt es, Plädoyers für ein offenes Migrationsregime ignorierten Alltagssorgen, mit denen sich »einfache Leute«3 auch in reichen Gesellschaften herumzuplagen hätten. Bei den Auseinandersetzungen um den ökologischen Gesellschaftskonflikt verhält es sich ähnlich. Üben sich die einen in der Kritik einer imperialen Lebensweise, die Herrschende und Beherrschte reicher Gesellschaten Beutegemeinschaten zur Ausplünderung ärmerer Länder zurechnet, verschanzen sich die anderen hinter den Grenzen nationaler Wohlfahrtsstaaten, weil sie annehmen, dass Politik zugunsten der Benachteiligten nur innerhalb dieser Arena möglich sei. Zwischentöne sind da nur Krampf im gegenseitigen Abwertungskampf.
Doch so unterschiedlich die jeweiligen Lager in ihren politischen Positionierungen auch sein mögen, in einem Punkt finden sie zumindest an ihrer Spitze und trotz wechselseitiger Ablehnung, ja Abschottung gerne zusammen. Das S-Wort schreckt sie ab. Mit Visionen einer sozialistischen Gesellschaft möchten sich Wortführer:innen der streitenden Lager eher nicht belasten.4 Dafür gibt es gute Gründe. Die Erinnerung an die Implosion des staatsbürokratischen Sozialismus ist zumindest bei den Älteren noch frisch. Aber auch die Begrenztheiten sowohl klassischer sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaatspolitik als auch deren Revision in Gestalt eines Dritten Weges, wie ihn Tony Blair, Gerhard Schröder oder Bill Clinton verkörperten, haben das politische Bewusstsein geprägt. Ergibt es in einer derartigen Konstellation wirklich Sinn, den Sozialismus, nunmehr als ökologischen oder besser: als demokratisch-nachhaltigen, wieder zu beleben?
Meine Antwort ist ein klares Ja. Dabei bin ich mir bewusst, dass es sich um ein Ja handelt, das in der hier vorgestellten Version gegenwärtig wohl nur eine kleine Minderheit teilt. Den Mitgliedern des Bundes der Kommunisten, für den Karl Marx und Friedrich Engels einst ihr Manifest der Kommunistischen Partei schrieben, dürfte es in persönlich ungleich schwierigerer Situation kaum anders ergangen sein. Im Unterschied zu ihnen formuliere ich meine Gedanken als Beamter auf Lebenszeit, ausgestattet mit einem Professorengehalt, aus einer privilegierten Position heraus und deshalb mit geringem Risiko. Ein wenig passt das zu Jena, der kleinen, idyllischen Stadt im Saaletal, in der ich mit meiner Familie seit vielen Jahren gerne lebe. Hier besitzt der Kathedersozialismus, über den schon Marx und Engels spotteten, durchaus eine Tradition.5 Ein Kathedersozialist bin ich dennoch nicht. Dabei hilft mir, wenn man so will, die Gnade der frühen Geburt. Ich gehöre zur politischen Generation der Postachtundsechziger, für deren engagierten Teil die Organisierung in einem sozialistischen oder kommunistischen Verband geradezu selbstverständlich war. Altersbedingt blicke ich deshalb mit anderen Augen auf den verblichenen Sozial- und den nun ebenfalls vergehenden Finanzkapitalismus als Angehörige von Jahrgangskohorten, deren politische Sozialisation mit dem Aufstieg neuer sozialer Bewegungen und grün-alternativer Parteien in den 1980er Jahren zusammenfiel.
Wie Ähnlichgesinnte meiner Generation lebte ich schon als Schüler, später dann als Student, in dem Bewusstsein, der Kapitalismus werde sich eher früher als später aus den Angeln heben lassen – in Westdeutschland und weltweit. Dafür sprach das politische Tagesgeschehen der 1970er Jahre. In Frankreich drängte ein linkes Volksfrontbündnis an die Macht. Die italienischen Kommunisten, damals eine Massenpartei mit zeitweilig bis zu zwei Millionen Mitgliedern, hatten sich vom sowjetischen Modell emanzipiert und drängten auf einen historischen Kompromiss mit der Christdemokratie. Der Reihe nach fielen Diktaturen in Griechenland, Portugal und Spanien. Für einen historischen Moment eröffnete die portugiesische Aprilrevolution Aussichten auf eine nichtkapitalistische Entwicklung. In Chile, wo die Regierung des Sozialisten Salvador Allende einen solchen Weg eingeschlagen hatte, wurde die Transformation durch einen blutigen Militärputsch gestoppt. Dafür gelangten in zahlreichen anderen Ländern antikoloniale Befreiungsbewegungen an die Macht, oder sie standen zumindest kurz davor. Angola, Mosambik, Guinea-Bissau, später Nicaragua und El Salvador boten Beispiele, um nur einige zu nennen. Der Geist, der uns beseelte, war deshalb geradezu fraglos internationalistisch. Solidarität, etwa mit den Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika, dem ANC oder der SWAPO of Namibia, gehörte zum Standardrepertoire linker Politik.
In welches Land wir auch reisten, wir begegneten Gleichgesinnten. Sozialismus war eine Lebensform. Sie blieb nicht auf politische Orientierungen und Weltsicht begrenzt, sondern erstreckte sich auf die gesamte Art des Zusammenlebens. In einer Wohngemeinschaft konnte man damals auch mit wenig Geld gut leben. Die Wohn- war keineswegs nur Zweckgemeinschaft, sondern im besten Falle Experimentierfeld für soziale Beziehungen. Veränderungen erfassten den sozialen Nahbereich und die Partnerschaften. Für mich begann die Politisierung noch vor der Wohngemeinschaftsphase mit einer Veranstaltung zu Klaus Theweleits Männerphantasien6, durchgeführt von einer Roten Basisgruppe an der Gesamtschule, die ich damals besuchte. Sozialismus hieß zunächst Auflehnung gegen die verlogene Spießermoral der Elterngeneration. Gleich ob lange Haare, Mädchenbesuche, Ferien auf Kreta, Nächte in Diskotheken oder der Beat Club im TV – alles und jedes wurde zum Gegenstand heftiger Alltagskonflikte. Bewegungen für die, je nach politischer Ausrichtung, Reform oder Streichung des Paragrafen 218 zu unterstützen, war eine Selbstverständlichkeit.
Stets gehörte für uns zusammen, was heute in einer unseligen Frontstellung zwischen Identitäts- und Klassenpolitik auseinanderdriftet. Als Sozialist:innen oder Kommunist:innen traten wir für Gleichheit ein, unsere kulturelle Ausrichtung war hingegen anarchisch-libertär. Wer, um nur einige der Besten zu nennen, mit Jimi Hendrix und Aretha Franklin, Janis Joplin, Eric Burdon, Nina Simone, Bob Dylan, John Coltrane, Miles Davis, Volker Kriegel, Chic Corea, Barbara Thompson oder Carla Bley aufwuchs, hatte mit einem kleinbürgerlichen Spießerleben nichts am Hut. Dieser Sound der Revolte war es, der uns über alle Sektenkämpfe hinweg in der alltäglichen Lebensführung verband. Wer sich als Revolutionär verstand, hörte die Rolling Stones, oder besser noch: die Pretty Things, Ornette Coleman, Gil Scott-Heron und die MC 5. Den Reformisten blieben immerhin die Beatles, wobei deren Genius John Lennon sich später als der eigentliche Revolutionär erweisen sollte.
In dieser Zeit des Aufbruchs hatte das Wort Reform noch einen positiven Klang, und sei es nur, weil sich mit ihm sozialdemokratischer Integrationismus als systemkonforme Politik kritisieren ließ. Mehr Demokratie zu wagen, wie es der damalige Bundeskanzler Willy Brandt formulierte, entsprach dem Lebensgefühl einer politischen Generation. Der Zug in Richtung Sozialismus rollte. Dass die Gesellschaft der Gleichen kommen würde, schien gewiss. Wohl ließ sich die Zugfahrt bremsen, mit Berufsverboten gegen Andersdenkende oder auch mit Bomben auf Hanoi. Doch in der Gesamtbilanz wiesen die Veränderungen in die richtige, die sozialistische Richtung:
Freiheit und Recht sind nach unseren geschichtlichen Erfahrungen bedroht durch die Tendenz zur Akkumulation von Besitz und Geld, die die Reichen immer reicher werden läßt, und die Tendenz zur Konzentration des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln in wenigen Händen. […] Dem freien Selbstlauf überlassen müssen eben diese negativen Tendenzen, bei aller ungebrochenen Leistungsfähigkeit, dessen Menschlichkeit [die des Kapitalismus, KD] am Ende zerstören: durch permanente Überprivilegierung der Besitzenden gegenüber den Besitzlosen, der Reichen gegenüber den Armen, der Produzenten gegenüber den Konsumenten, des Faktors Kapital gegenüber dem Faktor Arbeit7,
so hieß es, man glaubt es kaum, in den Freiburger Thesen, damals das Grundsatzprogramm der FDP.
Die Sozialliberalen wollten den Kapitalismus vor seinen schlimmsten Auswüchsen retten. Wir Sozialist:innen waren sicher, dass diese Gesellschaftsformation nicht überleben würde. Je näher das Ende rückte, desto größer würden die Freiheitsspielräume auch in den bereits existierenden sozialistischen Gesellschaften werden. Wer so empfinden konnte, verfügt trotz aller zerplatzten Träume noch heute über einen besonderen Erfahrungsschatz. Wie bei vielen Angehörigen dieser politischen Generation speist sich dieser Schatz auch in meinem Fall aus einer besonderen Bildungsgeschichte. In dem nordhessischen 900-Seelen-Dorf Külte als Sohn eines Eisenbahners und einer Bäckereigehilfin geboren, war mir der Aufstieg durch Bildung vergönnt. Bildung umfasste allerdings mehr als Schule und Studium, etwas anderes kam hinzu. Vieles von dem, was ich heute zu können glaube, verdanke ich der damaligen politischen Arbeit. Im Allgemeinen Studenten-Ausschuss (AStA) der Philipps-Universität Marburg über mehrere Semester hinweg als Fachschaftsreferent tätig und in einem marxistischen Studentenverband aktiv, lernte ich, was ich im Elternhaus nicht mitbekommen hatte. Ich sprach auf Vollversammlungen vor mehr als tausend Kommiliton:innen – frei, nur mit Stichworten versehen und im rhetorischen Schlagabtausch mit Anhänger:innen konkurrierender politischer Positionen. Im Alltagsleben ein Chaot, plante ich Großaktionen mit Tausenden Beteiligten. Stärken und Schwächen von Menschen zu beurteilen, ohne dies mit Herabsetzung zu verbinden, gehörte damals zum politischen Alltagsgeschäft. Im Hauptberuf war ich Revolutionär, das Studium nahm ich ernst, absolvierte es jedoch eher nebenbei. Der Aktivismus ließ sich nur durchhalten, weil mir ein Geflecht solidarischer Sozialbeziehungen half, wie ich es in dieser Intensität nie wieder erlebt habe. Ich bewegte mich in einem Umfeld, in welchem alle bereit waren, Dinge zu tun, ohne sich davon persönliche Vorteile zu versprechen. Dies geschah, obwohl ein Großteil der Aktivitäten wie auch die Aktiven selbst in der bürgerlichen Öffentlichkeit eher selten, und wenn, dann hauptsächlich negativ wahrgenommen wurden. Individuelle und kollektive Selbstwirksamkeit waren dennoch gegeben, denn die Erfahrung solidarischer Sozialbeziehungen stiftete auch subjektiv Lebenssinn.
Hinzugefügt sei, dass ich diese Zeilen im Bewusstsein bedrückender Gegenerfahrungen zu Papier bringe. Die dunkle Seite real existierender Sozialismen war jederzeit präsent. Gleich ob sowjetische Panzer in Prag 1968 oder die Brutalität der maoistischen Kulturrevolution, die Ausbürgerung Wolf Biermanns, staatliche Repression gegen die polnische Gewerkschaft Solidarnosc, Unterdrückung der Charta 77 in der CSSR, Verfolgung von Homosexuellen auf der Karibikinsel Kuba oder die Massenmorde der Khmer Rouge, die von einigen Linken verteidigt wurden – die Liste von Ereignissen, die auf Systemfehler der staatsbürokratischen Sozialismen und ihrer Satelliten im globalen Süden verwiesen, war bereits in den 1970er Jahren lang. Auf dem linken Auge blind gewesen zu sein, ist eine schuldhafte Verstrickung, die sich nicht einfach wegwischen lässt. Und auch die eigene politische Praxis darf keinesfalls in rosaroten Farben gemalt werden. Infolge der Dauermobilisierung, wie sie viele linksoppositionelle Organisationen der 1970er Jahre praktizierten, wurde manche Persönlichkeit verschlissen, ja regelrecht zerstört. Das, was in einigen K-Gruppen, deren Binnenleben ich nur vom Hörensagen kenne, an Unterordnung der Individuen unter ein hierarchisches Kollektiv praktiziert wurde, entsprach dem Gegenteil von Emanzipation. Doch auch in meinem Umfeld gab es die Ausgrenzung von konkurrierenden Linken. Ein bisschen Auflehnung gegen den verbreiteten Machismo konnte wahre Organisationskrisen auslösen. Dass die politischen Gegner:innen keineswegs mit Samthandschuhen angefasst wurden, kommt hinzu.
Dennoch, verkrustete Verhältnisse zum Tanzen zu bringen und Herrschaftsmechanismen aufbrechen zu können, ist eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Deshalb betrachte ich mich heute als den Angehörigen einer privilegierten Generation. Ich habe den revolutionären Aufbruch erlebt und bin zugleich ein Kind der größtmöglichen Niederlage – des Niedergangs sozialistischer und kommunistischer Arbeiterbewegungen ebenso wie der Implosion von Gesellschaftsmodellen, die für eine kurze historische Zeitspanne beanspruchten, erstrebenswerte Alternativen zum Kapitalismus zu sein. Das Bewusstsein der Niederlage bewahrt mich hoffentlich davor, Irrtümer und Fehler nur bei anderen zu suchen. Vor allem aber lässt es Illusionen über die vermeintlich schwindenden Lebensgeister kapitalistischer Vergesellschaftung nicht zu. Selbst epochale Krisen, die das gesamte Gesellschaftsmodell erschüttern, führen nicht im Selbstlauf aus der Verwertungslogik heraus. »Der Kapitalismus […] kann nicht durch einen ›endogenen‹ Verfall zugrunde gehen; nur ein äußerer Stoß von extremer Heftigkeit im Verein mit einer glaubwürdigen Alternative könnte seinen Zusammenbruch bewirken«, prognostizierte bereits der Historiker Fernand Braudel in seiner großartigen Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts.8 Dass die Coronapandemie einen Stoß von extremer Heftigkeit ausgelöst hat, dürfte, von querdenkenden Verwirrten abgesehen, kaum jemand bezweifeln. Es ist die glaubwürdige Alternative, an der es fehlt.
Diesen Mangel gilt es zu überwinden. Mein kleines Buch soll dazu einen bescheidenen Beitrag liefern. Sein Hauptargument lautet: Der Anspruch, von der Utopie zur Wissenschaft geworden zu sein, hat zur Verknöcherung des Sozialismus, zu falschen Versprechungen, herrschaftlichen Totalitätsansprüchen und dort, wo er zum System erstarrt war, letztendlich zu dessen Zusammenbruch geführt. Heute muss der Sozialismus sich wieder als attraktive Utopie bewähren, um überhaupt gesellschaftlich und politisch Wirkung erzielen zu können. Die Begründung dieser Sichtweise erfolgt in der Form eines Essays, das heißt ohne den Anspruch einer systematischen Aufarbeitung der mittlerweile wieder reichlich sprudelnden Literaturquellen. Es geht um eine Begründung der Koordinaten für eine ökologisch-sozialistische Transformation, nicht um die Beschreibung fertiger Gesellschaftsmodelle. Dabei arbeite ich mich an einigen Schlüsselthesen ab, wie sie Friedrich Engels in seiner populären Schrift zum wissenschaftlichen Verständnis des Sozialismus am Ende des 19. Jahrhunderts formulierte.
Engels hat in der Spätphase seines Schaffens ein Verhältnis von Sozialismus und parlamentarischer Demokratie begründet, hinter das ein Sozialismus des 21. Jahrhunderts nicht zurückfallen darf. »Wir, die Revolutionäre‹, die ›Umstürzler‹«, schrieb er angesichts großer sozialdemokratischer Erfolge bei Reichstagswahlen, »wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz. Die Ordnungsparteien […] gehen zugrunde an dem von ihnen selbst geschaffenen, gesetzlichen Zustand.«9 Das war zu optimistisch. Bemerkenswert ist aber, dass Engels diese Zeilen trotz der selbst nach bürgerlichen Maßstäben mehr als unvollständigen Demokratie des wilhelminischen Reichs formulierte. Bei allem, was an dieser Bemerkung auch taktischem Kalkül entsprungen sein mag, zeugt sie doch von einem Geist, der Sozialismus als Erweiterung bürgerlich-parlamentarischer Demokratie, nicht aber als deren Liquidierung versteht.10
Heute müssen wir, so meine ich, noch einige Schritte über Engels hinausgehen. Ohne Freiheitsgarantien auch für Nichtsozialist:innen büßt jede Alternative zum Kapitalismus ihre Glaubwürdigkeit ein. Unverändert gilt, was Rosa Luxemburg in ihrer Kritik an der russischen Oktoberrevolution und den Bolschewiki ebenso unmissverständlich wie hellsichtig formuliert hat. Für Luxemburg zeigt sich,
daß der ›schwerfällige Mechanismus der demokratischen [Institutionen – Einfügung aus der Fußnote zum Text – KD]‹ ein kräftiges Korrektiv hat – eben in der lebendigen Bewegung der Masse, in ihrem unausgesetzten Druck. Und je demokratischer die Institution, je lebendiger und kräftiger der Pulsschlag des politischen Lebens der Masse, um so unmittelbarer und genauer ist die Wirkung – trotz starrer Parteischilder, veralteter Wahllisten etc. Gewiß, jede demokratische Institution hat ihre Schranken und Mängel, was sie wohl mit sämtlichen menschlichen Institutionen teilt. Nur ist das Heilmittel, das Trotzki und Lenin gefunden: die Beseitigung der Demokratie überhaupt, noch schlimmer als das Übel, dem es steuern soll: Es verschüttet nämlich den lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können. Das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen.11
Dem ist nichts hinzuzufügen. Dass Freiheit immer auch die Freiheit Andersdenkender zu sein hat, sei diesem Essay als normative Prämisse vorangestellt. Schließlich ist es eine demokratisch verfasste Gesellschaft, die es mir erlaubt, auf den Ruinen des untergegangenen Realsozialismus für eine nachkapitalistische Zukunft zu plädieren. Modischen Abgesängen auf die parlamentarische Demokratie, gleich, ob sie von rechts oder von links12 kommen, begegne ich daher kritisch, ja ablehnend. Ich erwähne dies, weil mein Essay, neben vielem anderen, was fehlt, weder eine Analyse des Scheiterns staatsbürokratischer Sozialismen noch eine Ursachensuche für den Niedergang sozialdemokratischer Gegenentwürfe enthält.13 Die Suche nach einer ökologisch-sozialistischen Utopie kann man nicht mit Auflösungsszenarien vergangener Sozialismen beginnen.
Deshalb startet der Essay mit der Vision einer klimagerechten Gesellschaft, die nach einem Szenenwechsel erneut zur Leipziger Gründungsveranstaltung von Students for Future führt (Kapitel I). Es folgen eine Begründung für das Festhalten am Sozialismusbegriff sowie einige Bemerkungen zur Methodik eines democratic marxism, die bei der Reformulierung sozialistischer Ideen hilfreich sein können (Kapitel II). In Auseinandersetzung mit Friedrich Engels wird sodann die tragende Idee für einen ökologisch nachhaltigen Sozialismus des 21. Jahrhunderts herausgearbeitet (Kapitel III), um anschließend zeigen zu können, wie diese Grundidee mit dem in kapitalistischen Landnahmen angelegten Expansionsparadoxon korrespondiert und konfligiert (Kapitel IV). Aus der Beschreibung einer epochalen ökonomisch-ökologischen Zangenkrise ergeben sich die wichtigsten Gründe, die für eine neue sozialistische Utopie sprechen (Kapitel V). Als deren normative Grundlage können die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen dienen, die es möglich machen, das Handeln herrschender Klassen und Eliten an Nachhaltigkeitszielen zu messen (VI). Eine Skizze des Fundaments ökologisch-sozialistischer Gesellschaften schließt an (Kapitel VII). In einem Exkurs geht es um Ansatzpunkte für eine Transformation des Kapitalismus, die sich aus der Digitalisierung ergeben (Kapitel VIII) und zu neuen Kombinationen von intelligenter Produktion, humaner Arbeit und nachhaltigem Konsum führen (IX). Es folgen Überlegungen zu den Auswirkungen der Coronapandemie (X) sowie zu Übergangsstrategien, die den Weg zu nachhaltigen Gesellschaften öffnen können (Kapitel XI). Der Essay endet mit einigen Anregungen für Sozialist:innen, die das politische Handgemenge nicht scheuen.
All dies vorausgeschickt, bleibt mir, Danke zu sagen! Steffen Richter motivierte mich dazu, aus einem Artikel für die Zeitschrift Dritte Natur. Technik – Kapital – Umwelt ein kleines Buch zu machen. Er hat den Text sorgfältig lektoriert und den Kontakt zum Verlag hergestellt, der sich rasch bereitfand, den Essay zu veröffentlichen. Mareike Biesel hat gewohnt akribisch zusätzlich Korrektur gelesen. Johanna Sittel und Lena Haubner waren mir bei den Grafiken behilflich. Dem Schreiben ging eine Debatte mit Raul Zelik voraus, der als Fellow des Kollegs »Postwachstumsgesellschaften« ein eigenes Sozialismus-Buch verfasste.14 Angeregt hat mich eine herausragende Qualifizierungsarbeit von Jakob Heyer15, der mir auch bei der Sichtung wichtiger Literatur zuarbeitete. Kritische Bemerkungen meines Freundes und Doktorvaters Frank Deppe zu ersten Neosozialismus-Thesen haben mich ebenfalls angespornt. Hätte Frank mich nach dem Studium nicht davor bewahrt, als bezahlter Kader für die Revolution zu arbeiten, wäre mir eine wissenschaftliche Laufbahn wohl verwehrt geblieben. Ich müsste jetzt in anderen Arenen für einen nachhaltigen Sozialismus streiten. Wie immer hat mich Rebecca Sequeira bei allen Arbeiten ebenso umsichtig wie weitblickend begleitet. Ohne ihre großartige Arbeit würden Essays wie der vorliegende im akademischen Alltag wohl kaum zustande kommen.
Besonders bedanken möchte ich mich bei allen, die in zahlreichen Veranstaltungen mit Anregungen, Anmerkungen, aber auch mit ihrer Ablehnung des S-Wortes und der hinter ihm verborgenen Inhalte dazu beigetragen haben, dass ich einen nachhaltigen Sozialismus nunmehr als Gegenbegriff zur Dynamik kapitalistischer Landnahmen verwende. Beflügelt haben mich die Diskussionen mit Brigitte Aulenbacher, Ulrich Brand, Michael Brie, Michael Burawoy, Guilherme Leite Gonçalves, Elísio Estanque, Nancy Fraser, Bob Jessop, Stephan Lessenich, Birgit Mahnkopf, Hartmut Rosa, Christine Schickert, Franz Schultheis, Ngai-Ling Sum, Esteban Torres, Hans-Jürgen Urban, Michelle Williams, Erik Olin Wright und vielen anderen aus dem Postwachstums-Kolleg. Debatten mit den Herausgeber:innen und der Redaktion des Berliner Journals für Soziologie boten mir ebenfalls Inspiration. Obwohl mir die direkte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht fehlte, konnte ich auch von Diskussionen mit den Studierenden enorm profitieren.
Alle, die an den Sozialismus-Debatten aktiv beteiligt waren, haben, so hoffe ich, zur Schärfung meiner Argumente beigetragen. Ich schreibe in gendersensibler Sprache, das heißt, wo angebracht, wird ein [:] in Worte eingefügt. Um bessere Lesbarkeit zu gewährleisten, geschieht dergleichen weder bei zusammengesetzten Begriffen, Fachwörtern und Gruppenbezeichnungen noch in Fällen, in denen die Geschlechterzuordnung eindeutig ist. Hinzufügen möchte ich, dass Veränderungen der sprachlichen Form herrschaftliche Verhältnisse nicht verschleiern dürfen, die trotz [:] fortbestehen.
Mit Die Utopie des Sozialismus endet meine Tätigkeit als Sprecher der Jenaer DFG-Kollegforschungsgruppe »Postwachstumsgesellschaften«. Dass der im Forschungsantrag versprochene Transformations-Kompass einen nachhaltigen Sozialismus als Gegenbegriff zur kapitalistischen Landnahme empfehlen würde, wäre mir zu Beginn der Kollegsarbeiten nicht einmal im Traum eingefallen. Ohne die Unter stützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft hätte es den Freiraum für ein solches Denkexperiment wohl kaum gegeben. Dafür schulde ich dem wichtigsten deutschen Forschungsförderer aufrichtigen Dank! Ob sich meine Ausführungen als Kompass für den Weg zu einer besseren Gesellschaft eignen, können nur die Leser:innen beurteilen. Mich freut bereits, dass die Debatte um einen nachhaltigen Sozialismus Fahrt aufnimmt.
Klaus Dörre, Jena, Mai 2021
…, so schallt es zum Ende des Schicksalsjahres 2021 aus allem Medien. Völlig überraschend hatten die Vereinten Nationen einen weitreichenden Durchbruch in der Klimapolitik erzielt. Von den Erfolgen bei der Bekämpfung der Coronapandemie angespornt, einigten sich die Mitgliedsstaaten darauf, die klimaschädlichen Emissionen binnen zehn Jahren auf null zu senken. Ein Sofortprogramm, das erneuerbare Energien, Biolandwirtschaft, nachhaltige Mobilität und klimagerechtes Bauen großzügig fördert, wurde im Hochgeschwindigkeitstempo umgesetzt. Dafür sorgte ein Klimanotstand, den alle Mitgliedsstaaten der United Nations (UN) akzeptierten. Vom UN-Generalsekretär António Guterres ausgerufen, stattete er die Regierungen mit weitreichenden Sondervollmachten aus, die allerdings vor ihrer Anwendung einer demokratischen Legitimation durch Parlamente und Transformationsräte bedurften. In der Europäischen Union, Vorreiterin bei der Nachhaltigkeitsrevolution, griffen erste Maßnahmen. Nach einer kurzen Übergangszeit hatten die zuständigen Behörden sämtliche Autobahnen für den individuellen PKW-Verkehr gesperrt. Zeitgleich wurden Autos aus den Stadtzentren und Ortskernen verbannt. Wer den Highway trotz eines Tempolimits von 110 Stundenkilometern benutzen will, fährt mit Elektrobussen, die, ebenso wie Züge, mit grünem Wasserstoff angetrieben werden. Flugreisen sind kontingentiert und müssen ab sofort mit individuellen CO2-Budgets abgeglichen werden. Die Ticketpreise verzeichnen allerdings einen drastischen Anstieg, weil es keine Subventionen für Flugbenzin gibt.
In Klimawerkstätten, die sich auf Recycling, Müllvermeidung und die Reparatur beschädigter Geräte konzentrieren, sind großflächig neue Beschäftigungsfelder entstanden. Unternehmen haben auf die Produktion langlebiger Güter umgestellt. Es gibt noch immer Autos, aber ausschließlich solche, die, etwa auf dem Lande, wirklich sozialen Mobilitätsbedürfnissen dienen. Sofern sie überhaupt noch im Privatbesitz sind, werden PKWs von Einzelpersonen nur einmal gekauft, denn sie laufen über eine Lebensspanne hinweg weitgehend störungs frei oder sind zumindest jederzeit reparabel. Das Auto ist aber nur eines von zahlreichen Beispielen für den Übergang zu nachhaltigen Produkten und Produktionsformen. Dieser Übergang hat auch zu einer Umwälzung der Eigentumsverhältnisse in großen Unternehmen geführt. Konzerne, die sich der Produktion für das Gemeinwohl verweigerten, wurden sozialisiert und gehören nun denen, die die Arbeit leisten. Öffentliche Infrastrukturinvestitionen, der Ausbau sozialer Dienstleistungen und großzügig angelegte Weiterbildungsprogramme haben einen wirtschaftlichen Take-off eingeleitet. Dessen Nutzen wird allerdings nicht mehr anhand der Kriterien des Bruttoinlandsprodukts (BIP), sondern mithilfe von Entwicklungsindikatoren gemessen, die unbezahlte Sorgetätigkeiten, informelle Arbeit, aber auch ökologische Belastungen wirtschaftlicher Aktivitäten (»destruktives Wachstum«) einbeziehen.
Eine großzügige Rückverteilung von den alten und neuen Zentren der Weltwirtschaft in die Peripherie und von den einkommensstärksten zehn Prozent hin zur unteren Hälfte der Weltbevölkerung hat dafür gesorgt, dass die Lasten der sozial-ökologischen Transformation einigermaßen gerecht verteilt werden. In einem ersten Schritt hatte die Staatengemeinschaft Coronaimpfstoffe zu einem öffentlichen Gut erklärt. So wurde mit dem Impfstoffnationalismus auch die Pandemie besiegt. Im nächsten Schritt konnten Hunger und extreme Armut weltweit beseitigt werden. Alle Geberländer haben sich bereit erklärt, die dazu nötigen Mittel aus ihren Haushalten aufzubringen. Zwecks Finanzierung verzichteten sie auf die Produktion zusätzlicher Rüstungsgüter. Große Vermögen werden seither, so sie denn überhaupt noch entstehen, progressiv besteuert. Ein strenges Erbschaftsrecht sorgt dafür, dass angesammelter privater Reichtum sich in Eigentum auf Zeit verwandelt. Auf allen administrativen Ebenen überwachen Nachhaltigkeitsräte die Transformation.
Die Erfolge der 2021 eingeleiteten Nachhaltigkeitsrevolution sind durchschlagend. Schon im ersten Jahr wurden die Klimaziele übererfüllt. Allerdings waren Folgeschäden der Erderhitzung nicht mehr in allen Erdregionen umzukehren. Wo Wetterextreme und der Anstieg des Meeresspiegels ganze Landstriche unbewohnbar gemacht haben, sorgen nun großangelegte Migrationsprogramme für Entlastung. Die Einwanderung von Klimaflüchtlingen in bewohnbare Weltgegenden regelt ein Nansen-Pass1, der die Hauptverantwortung der reichen Länder für die Erderhitzung anerkennt. Über die genaue Ausgestaltung des globalen Migrationsregimes wird politisch noch immer heftig gestritten, doch die Möglichkeit, Regionen mit hohem Katastrophenpotenzial zu verlassen, ist nun ein unhintergehbares Menschenrecht. Saubere Luft, nutzbare Böden, die Versorgung mit Wasser, Elektrizität und existenznotwendigen Lebensmitteln sind, ebenso wie Mobilität, der Zugang zu Bildung und zu digitaler Kommunikation, zu öffentlichen Gütern geworden. Eine weltweit vorhandene soziale Infrastruktur wird durch gesellschaftliche Fonds garantiert, in die alle Erwachsenen der Weltbevölkerung einzahlen. Als Gegenleistung haben sie Anrechte auf eine bedingungslose Grundzeit, die ihnen für finanzierte Tätigkeiten ihrer Wahl zur Verfügung steht. Im Verhältnis von Erwerbsarbeit und arbeitsfreier Zeit kommen die neuen Gesellschaften dem nahe, was Thomas Morus einst auf seiner Insel Utopia vorfinden wollte. Weil die Erwachsenen
nur sechs Stunden bei der Arbeit sind, könnte man vielleicht der Meinung sein, es müsse daraus ein Mangel an lebensnotwendigen Arbeitsprodukten entstehen. Weit gefehlt! Im Gegenteil genügt diese Arbeitszeit nicht nur zur Herstellung des nötigen Vorrats an allen Erzeugnissen, die zu den Bedürfnissen oder Annehmlichkeiten des Lebens gehören, sondern es bleibt sogar noch davon übrig.2
Mit größeren, frei verfügbaren Zeitbudgets ausgestattet machen sich die wichtigsten Veränderungen bei der politischen Partizipation bemerkbar. In allen Gesellschaften ist es zu einem Engagement gekommen, wie es die Welt noch nie erlebt hat. Druck durch soziale Bewegungen, Klimastreiks in großen Unternehmen, staatliche Reformen, aber auch nachhaltige Produktions- und Lebensformen, die sich zunächst in Nischen entwickeln konnten und sich dann ausbreiteten, haben dafür gesorgt, dass tatsächlich eingetreten ist, was weitblickende Kapitalismuskritiker vorausgesagt hatten. Die Profitwirtschaft und ihre herrschenden Klassen haben abgedankt. Vielen Akten »kollektiver Selbstermächtigung«3 ist zu verdanken, dass der Kapitalismus aufgehört hat, uns als »schicksalsvollste Macht des modernen Lebens«4 zu beherrschen.
Welchen Namen die neuen Gesellschaften tragen sollen, die sich mit dem Niedergang der kapitalistischen Moderne als nächste herausgebildet haben, ist, wie so vieles, umstritten. Von den 31 ihrem Selbstverständnis nach postkapitalistischen Formationen, die im Parlament der Vereinigten Staaten von Europa vertreten sind, verstehen sich nur einige explizit als sozialistisch. Andere lehnen das S-Wort als Bezeichnung für die neu entstandenen Gesellschaften ab. Doch das ist bei weitem nicht der einzige Konflikt. Von den Prioritätensetzungen in öffentlichen Haushalten über Verteilungsrelationen bis hin zur Zusammensetzung der Nachhaltigkeitsräte wird über fast alles gestritten, diskutiert, verhandelt. Was den nichtkapitalistischen Block zusammenhält, ist allein seine prinzipielle Gegnerschaft zu den Parteien der prokapitalistischen Wende. Die Bürgerfront zur Wiedereinführung der freien Marktwirtschaft stagniert bei Wahlen zum Europäischen Parlament seit Jahren bei einem Drittel der Stimmen. Ihre Konkurrenz auf der äußersten Rechten kämpft mittlerweile um die Überwindung der Sperrklausel von drei Prozent. Gelegentlich hat die Bürgerfront in einzelnen Ländern triumphieren können, doch die Ergebnisse ihrer Regierungszeit waren für die Wählerschaft des prokapitalistischen Bündnisses frustrierend. Kaum hatten sie marktwirtschaftliche Reformen auf den Weg gebracht, waren die Front-Parteien in der Regel schon wieder abgewählt. Auch wegen der regulativen Funktion der Nachhaltigkeitsräte war und ist ihre politische Durchsetzungskraft vergleichsweise gering, wenngleich sie bei der Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Markt immer wieder konstruktive Vorschläge unterbreiten und durchsetzen konnten.
Trotz hoher Integrationskraft bieten die neuen, nachhaltig sozialistischen Gesellschaften das Gegenteil eines harmonistischen Stelldicheins. Heftige Konflikte prägen selbst den sozialen Nahbereich. An Vermögen, Einkommen und Bildungschancen gemessen sind die Menschen so gleich wie nie zuvor; und gerade aus diesem Grund treten ihre individuellen Besonderheiten umso stärker hervor. Das führt zu einer Vielfalt an Lebensformen und Lebensstilen, die alles andere als harmonisierend wirkt. Nachhaltigkeit beispielsweise ist ein dehnbarer Begriff, der Zielkonflikte beinhaltet. Wofür soll das gesellschaftlich erzeugte Mehrprodukt eingesetzt werden? Sollen die Einkommen für große Bevölkerungsgruppen steigen, oder steht das im Widerspruch zu ökologischer Nachhaltigkeit? Welche Stimme ist legitimiert, in politischen Entscheidungsprozessen für die Natur zu sprechen? Wie hoch darf der Preis sein, um bedrohte Tierarten zu retten? Sucht man Problemlösungen für ökologische Belastungen im technologischen Wandel, oder ist es sinnvoller, sich natürlichen Kreisläufen ohne zusätzliche technische Hilfsmittel anzupassen? Welche Vorstellungen vom »guten Leben« sind legitim, welche sind es nicht? Müssen an den Hochschulen in den sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächern demnächst Männerquoten eingeführt werden, um auf längere Sicht annähernd Geschlechtergerechtigkeit herzustellen, oder ist die Frauendominanz der legitime Preis, den Männer für den Verlust jahrtausendealter Privilegien zu zahlen haben? Macht die Vielfalt sexueller Orientierungen und geschlechtlicher Identitäten derart polarisierende Fragestellungen gar gänzlich überflüssig? Das sind nur einige der Themen, an denen sich die Geister scheiden. Das Leben ist für alle, jede und jeden ständige Herausforderung, permanenter Kampf. Es ist anstrengend und eben deshalb schön. Denn eines ist sicher – trotz des Streits kann man sich darauf verlassen, dass allen, die in Not geraten, von anderen geholfen wird.
Mit groben Pinselstrichen gemalt, sind das die Konturen einer möglichen nächsten Gesellschaft. Sie zeigen uns kein Paradies. Dennoch enthält das Bild einen utopischen Überschuss, der dazu anspornen kann, aus der wünschbaren eine erreichbare Zukunft zu machen. Es ist dies die ins Bild gesetzte nachhaltig sozialistische Zukunft. Wollen wir sie erreichen? Haben wir die Chance dazu?
Szenenwechsel. Blicken wir noch einmal auf das Auditorium Maximum der Leipziger Universität im Mai 2019. Haben diejenigen, die sich dort zu einer Bewegung formieren wollen, tatsächlich das Zeug, den Kapitalismus aus den Angeln zu heben? Wollen sie das überhaupt? Gegenargumente lassen sich leicht finden, denn die Mehrzahl der bei Fridays for Future Aktiven agiert keineswegs mit antikapitalistischem Selbstverständnis. Ein erheblicher Teil der Anwesenden hat sich überhaupt zum ersten Mal für ein politisches Engagement entschieden. Andere Aktive verorten sich im rot-grünen Parteienspektrum und handeln eher pragmatisch-lösungsorientiert als radikal und mit systemkritischer Grundhaltung.5 Auch die Forderungen, die auf der Vollversammlung beschlossen werden, klingen keineswegs sonderlich radikal. Ohne zu zögern, votiert eine überwältigende Mehrheit zugunsten einer CO2-Steuer – ein Instrument, das ohne soziales Korrektiv unweigerlich diejenigen mit den geringsten Einkommen am stärksten belasten würde. Sofern man überhaupt von einer ökologisch-sozialistischen Strömung sprechen kann, repräsentiert sie selbst innerhalb des linken Flügels der Klimabewegung allenfalls eine Minderheit. Und dennoch sind es diese jungen Leute, die eine zukunftsträchtige sozialistische Option in der Gegenwart am glaubwürdigsten verkörpern. Es ist die Grundidee, die überzeugt. Wie selbstverständlich werden die ökologische und die soziale Frage zusammengedacht. Deshalb kommt auch ein Betriebsratsvorsitzender aus dem Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) Leipzigs zu Wort, der als heimlicher Star der Veranstaltung zu Bündnissen von Klimabewegungen und Gewerkschaften aufruft.
Zu den Kräften progressiver Veränderung zähle ich ausdrücklich auch jene Teile der Klimabewegungen, die sich im De- oder Post-Growth-Spektrum verorten und ihre Wurzeln bevorzugt im Kosmos anarchistisch-libertärer Ideen suchen. Aktive aus dieser Strömung arbeiten sehr bewusst, fantasievoll und kreativ an Alternativen zu kapitalistischen Produktions- und Lebensformen.6 Sozialismuskonzepten, die auf Marx und Engels zurückgreifen, begegnen diese libertären Strömungen freilich mit Skepsis. Es mangelt denn auch nicht an Versuchen, den noch jungen Bewegungen altbekannte Feindbilder zu liefern. Manch neuere Bemühung um eine Wiederbelebung anarchistischer Utopien präsentiert sich in recht altbackener Manier als »kritisches Korrektiv gegenüber rechts- und linksautoritären Versuchungen«.7 Attackiert wird eine vermeintliche bürgerlich-marxistische »Fortschrittsideologie und Utopiefeindlichkeit«8, die sich als Kontrastfolie für eine positive Akzentuierung des eigenen Freiheitsverständnisses nutzen lässt.
Tatsächlich, das sei hinzugefügt, gibt es für Warnungen vor autoritären Versuchungen von links immer wieder neue Anlässe. Andreas Malms Plädoyer für einen »Ökoleninismus« bietet ein Beispiel, das in Teilen der Klimabewegungen auf Widerhall stößt.9 Lange vor Malm zeigten sich Ökosozialisten wie Wolfgang Harich und Rudolf Bahro10, die gegen den SED-Staat opponierten, ebenfalls für Autoritarismus anfällig. Doch einmal davon abgesehen, dass sich die ökosozialistische Traditionslinie nicht auf autoritäre Entgleisungen einiger Vordenker reduzieren lässt, wurzelt eine unbewältigte Schwierigkeit des Anarchismus darin, dass die Realisierungsversuche libertärer Visionen in der Regel über einen – mitunter durchaus innovativen – Nischensozialismus nicht hinausgekommen sind.11
Einen wunden Punkt trifft die libertäre Kritik dort, wo sie offenlegt, dass alle bekannten Sozialismen immer wieder zu einer Klassenherrschaft ihrer Eliten tendierten. Bei der Ursachenanalyse springt anarchistische Staats- und Bürokratiekritik jedoch dann zu kurz, wenn sie den Eigenwert parlamentarischer Demokratien unterschätzt oder völlig ignoriert. Ein zentraler systemimmanenter Fehler der verblichenen Staatssozialismen wurzelte darin, dass deren politische Systeme ohne entwickelte demokratische Institutionen und Prozesse über kein wirksames Korrektiv verfügten, welches der diesen Gesellschaften inhärenten Tendenz zur Akkumulation politischer Macht hätte Grenzen setzen können. Hannah Arendt hat die Mechanismen des Vorauseilens politischer Machtakkumulation vor der Kapitalakkumulation am Beispiel expansionistischer Ideologien des historischen Imperialismus in brillanter Weise analysiert:
»Durch eine unbegrenzte Akkumulation von Macht, das heißt von Gewalt, die kein Gesetz begrenzt, konnte eine unbegrenzte oder jedenfalls erst einmal unbegrenzt scheinende Akkumulation von Kapital vonstatten gehen«, konstatiert sie12 und macht deutlich, dass sich in stalinistischen Systemen ähnliche Mechanismen finden. Wie die Kapitalakkumulation benötigt auch das unersättliche Streben nach immer größerer Machtfülle, das diesen Systemen eigen ist, permanent neues Material. Sofern nicht erfolgreich, das heißt mithilfe demokratischer Institutionen und Verfahren, gegengesteuert wird, mündet totales Machtstreben unweigerlich in Repression, Terror oder gar in Krieg.
Alle staatssozialistischen Regime sind auch an dem Problem gescheitert, dass sie starke Institutionen für eine Kontrolle und Begrenzung zentralisierter politischer Macht nicht zu entwickeln vermochten. Dies begünstigt ein monistisches Bestreben, das von der Fiktion einer von oben hergestellten Klasseneinheit über die erzwungene Einheit der Partei bis hin zu Führerverehrung und Personenkult führen kann. In verschiedensten Variationen finden sich derartige systemische Mängel nicht nur in den implodierten staatssozialistischen Gesellschaften oder bei den nominalsozialistischen Regimen Chinas oder Nordkoreas. Auch politische Formationen, die aus nationalen, postkolonialen Befreiungsbewegungen hervorgegangen sind, bilden früher oder später Formen bürokratischer Klassenherrschaft aus. Neben Vietnam und Kuba stellen Südafrika, Nicaragua, Venezuela und selbst das Bolivien eines Evo Morales, der die Verfassung seines Landes zwecks Wiederwahl beugen wollte, prominente Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart dar.
Systemische Mängel und Zusammenbrüche real gewordener Sozialismen vor Augen, erscheinen alternative Bezeichnungen für bessere Gesellschaften manchen heute attraktiver als das belastete S-Wort. Für den Journalisten und einflussreichen Kapitalismuskritiker Paul Mason ist das der Grund, einem radikalen Humanismus das Wort zu reden.1 Doch Mason ergeht es wie manch anderen, die ähnlich vorgehen. Seine Argumentation wirkt gelegentlich so, als sollten sozialistische Zielsetzungen in einer begrifflichen Hülle verfolgt werden, die sie vor einer Kontamination durch geschichtliche Belastungen bewahrt. Das klingt an, wenn der radikale Humanismus mit einem kritischen Rückgriff auf Marx begründet wird. Zwar benennt Mason »wesentliche Konstruktionsfehler« der Marx’schen Theorie, stellt aber sogleich klar, »dass der Marxismus, wenn er von seinen autoritären Impulsen gereinigt wird, weiterhin eine wichtige Grundlage für eine radikale Strategie des Widerstands sein kann«.2 Das klingt ein wenig nach Mogelpackung, denn Marx sah die Alternative zum Kapitalismus zweifelsohne in einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft. Diese Zielsetzung begriffs-strategisch auszublenden, halte ich für einen Fehler. Denn jede Suche nach einer besseren Gesellschaft muss in Erinnerung behalten, was im »Zeitalter der Extreme«3 im Namen revolutionärer Absichten geschehen ist. Deshalb ergibt es Sinn, die höchst widersprüchliche Geschichte des Sozialismus nicht zu verdrängen, sondern sie zu reflektieren, wenn es um die Bezeichnung für postkapitalistische Gesellschaften geht. Das kann nur gelingen, indem der Sozialismusbegriff, statt ihn voreilig ad acta zu legen, mit neuem Inhalt gefüllt wird.
So vorzugehen, besitzt noch einen weiteren Vorteil. Zum wiederholten Mal für eine andere Moderne zu plädieren oder es beim vagen Begriff einer demokratischen Postwachstumsgesellschaft zu belassen, bedeutet im Grunde, sich hinsichtlich der Konturen einer nächsten Gesellschaft bedeckt zu halten. Sofern man möglichst wenig Reibungsverluste erzeugen möchte, ist das sicher eine gute Taktik. Die Abgrenzung zu autoritären, produktivistischen Praktiken früherer Staatssozialismen kann so durchaus gelingen.4 Doch sobald die Degrowth-/Postwachstumsperspektive in einem progressiven Sinne konkretisiert wird, landet man in gewisser Weise wieder beim Mason-Problem. Das, was über die Strömungsdifferenzen hinweg als »gemeinsamer Kern«5 der Veränderungen hin zu Postwachstumsgesellschaften präsentiert wird, ist problemlos in eine neosozialistische Agenda zu integrieren. Eine Schwierigkeit bei den Kernforderungen der Degrowth-/Postwachstumsbewegungen wurzelt indes darin, dass unklar bleibt, wie das, was in der postkapitalistischen Gesellschaft verteilt werden soll – etwa die Arbeitszeit mittels Arbeitszeitverkürzung für alle und bei Einkommensverlusten nur für die oberen 10 Prozent –, durch eine effiziente Produktion materiell abgesichert werden soll. Anders gesagt, die Kernforderungen der Degrowth-Bewegungen sind gut, wenn es um das Verteilen geht, doch sie blenden das Produktionsproblem aus. Belässt man es dabei, Postwachstumsgesellschaften mithilfe eines nicht näher spezifizierten bedingungslosen Grundeinkommens bestimmen zu wollen, dem, ebenso unverbindlich, ein wenig Umverteilung und ein bisschen Wirtschaftsdemokratie hinzufügt wird6, kann man diese Schwierigkeit vielleicht verdecken. Sobald die gesellschaftliche Transformation nach Konkretion verlangt, dürfte sich beim Publikum aber rasch Desillusionierung einstellen. Ohne genauere inhaltliche Festlegungen bleibt die Postwachstumsperspektive derart diffus, dass sie für nahezu alles und jedes benutzt werden kann. Eine Abkehr von Wachstumszwängen fordern Linke wie Rechte, Konservative ebenso wie Progressive, ja, selbst Faschisten und Antifaschisten.7 Deshalb ist es wichtig, in der Auseinandersetzung mit dem Expansionszwang und Wachstumsdrang kapitalistischer Gesellschaften genauer zu argumentieren.
Größere Präzision ist insbesondere deshalb angebracht, weil, wie sich zeigen wird, kapitalistische Postwachstumsgesellschaften in gewisser Weise bereits existieren. In den alten industriellen Zentren haben wir es überwiegend mit nur noch schwach wachsenden Ökonomien zu tun. Diesem Phänomen mit Formeln wie der von Wachstumsgesellschaten ohne Wachstum beikommen zu wollen, ist wenig hilfreich. Wer die Abkehr von systemischen Wachstumszwängen einfordert, muss die Wachstumstreiber, aber auch die Mittel und Wege zu ihrer Überwindung so genau wie möglich beschreiben und die Vorschläge zu ihrer Überwindung im Spektrum konkurrierender politischer Philosophien verorten. Die von vielen Wissenschaftler:innen gern behauptete Abkehr von gängigen Links-rechts-Schemata trägt hier wenig zur Klarheit bei.8
›Postwachstumsgesellschaft‹ eignet sich als Bezeichnung für alle zeitgenössischen sozialen Ordnungen, die ohne rasches und permanentes Wirtschaftswachstum auskommen müssen. Mein Vorschlag lautet, den Begriff analytisch und ohne normative Aufladung zu verwenden.9 Geht es jedoch um Weichenstellungen zugunsten einer besseren, weil ökologisch angepassten, egalitär-demokratischen und deshalb nachhaltigen Gesellschaft, spreche ich lieber von und schreibe über ›Sozialismus‹. Für erste Überlegungen hatte ich die Bezeichnung Neosozialismus gewählt. Neosozialismus, so schien mir, funktioniert wie Neo-Soul. Die Grundelemente bleiben gleich, sie wiederholen sich, werden aber anders interpretiert, rekombiniert, variiert, auseinanderdividiert und wieder zusammengesetzt, bis etwas völlig Neues entsteht. Wer würde bestreiten wollen, dass Sault, die Band des Jahres 2020, aufregende Musik macht. Mit Alben wie Rise und Black is hat das Musikkollektiv unbekannter Zusammensetzung den Soundtrack zu den Black-Lives-Matter-Protesten geliefert. Im Internet ist zu lesen, die Gruppe kombiniere Rhythm and Blues, House und Disco auf höchst originelle Weise und forme daraus etwas Innovatives, Aufregendes, Neuartiges. Für mich ist das Neo-Soul – großartige Klänge, noch dazu verbunden mit einer klaren politischen Botschaft.
Die Neoliberalen haben vorgemacht, dass es politischen Philosophien ähnlich ergehen kann wie dem Neo-Soul. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs völlig am Boden, hatte sich der Wirtschaftsliberalismus in neuem Gewand zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einigen Teilen der Welt de facto als eine Art Staatsreligion etabliert. Weder die Parteien mitte-rechts noch diejenigen mitte-links stellten die grundlegenden Koordinaten eines ansonsten variantenreichen Paradigmas – Primat der Marktkoordination, angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, Freihandel, Privatisierung, Steuersenkungen, Haushaltsdisziplin und Flexibilisierung der Arbeitswelt – grundsätzlich infrage. Der Aufstieg des neuen Marktradikalismus hatte in kleinen Zirkeln begonnen, die sich untereinander durchaus bekämpften. Mit dem Ordoliberalismus, der Wiener Schule eines Friedrich von Hayek oder den sogenannten Chicago-Boys um Milton Friedman sind Netzwerke entstanden, die in der Ökonomik Paradigmen setzten und die Politikberatung dominierten.
Warum sollte dem Sozialismus nicht Vergleichbares gelingen? Ausgerechnet in einem Land, dessen bürgerliche Öffentlichkeit Sozialismus in all seinen Schattierung lange Zeit mit dem Vorhof zur Hölle assoziierte, haben die Democratic Socialists um Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez vorgemacht, wie sich mit dem S-Wort erfolgreich Politik gestalten lässt. Offenbar ist die Praxis diesbezüglich weiter als die Theorie. Gleichwohl, ›Neosozialismus‹ klingt sperrig, für das politische Handgemenge ist der Begriff untauglich.10 Erik Olin Wright nennt ein weiteres Argument, das gegen eine Verbindung von Neo und Sozialismus spricht und eine andere Wortkombination an deren Stelle setzt. In den USA ist es die äußerst populäre Beifügung democratic, die dem S-Wort gerade bei jungen Leuten den Schrecken nimmt.11 In Kontinentaleuropa und Deutschland liegen die Dinge anders. Hier ist die distinktive Kraft eines demokratischen Sozialismus gering. Die Bezeichnung klingt zu sehr nach ausgelaugter Sozialdemokratie, als dass sie zum Attraktionspunkt innovativer Debatten werden könnte. Bob Jessop schlägt deshalb den Begriff ›demokratischer Ökosozialismus‹ als Alternative vor.12 Doch dessen Verwendung beinhaltet ein ähnliches Problem, wie es dem demokratischen Sozialismus innewohnt. In Deutschland erinnert Ökosozialismus an politische Positionen, die von den siegreichen Mehrheitsströmungen in der grünen Partei als Fundamentalismus bekämpft und erfolgreich marginalisiert wurden.
Schon zu Zeiten der Auseinandersetzung zwischen grünen »Fundis« und »Realos« war die ökosozialistische Strömung allerdings plural, und ihr Scheitern bedeutet nicht zwangsläufig, dass tragende Ideen überholt wären. Deshalb werde ich die Beifügung ›ökologisch‹ gelegentlich verwenden, um zu präzisieren, was mit einem neuen Sozia lismus gemeint sein kann. ›Nachhaltiger Sozialismus‹ ist nach meiner Auffassung aber besser geeignet, um zu konkretisieren, worum es in Zukunft geht. Nachhaltigkeit beinhaltet Antworten auf den ökologischen Gesellschaftskonflikt, sie schließt aber auch soziale Zielsetzungen ein und ist von ihrer Begriffsgeschichte13 her betrachtet sowohl global ausgerichtet als auch universalistisch angelegt. Nachhaltiger Sozialismus existiert, wie etwa auf der Leipziger Studierendenvollversammlung, in der Gegenwart nur in den Vorstellungen und Praktiken von Aktiven in sozialen Bewegungen. Eine demokratische und zugleich nachhaltige sozialistische Gesellschaft ist hingegen nirgendwo verwirklicht.
Vom Sozialismus als Bewegung oder gesellschaftlicher Ordnung muss Sozialismus als Gegenstand wissenschaftlicher Beobachtung unterschieden werden. Für die letztgenannte Bedeutung wird eine Heuristik benötigt, die es erlaubt, einen Gegenstand in ständiger Veränderung mit wissenschaftlichen Methoden zu erfassen und für Forschungszwecke zu operationalisieren.
Dabei kann eine Methodik helfen, wie sie im angelsächsischen Sprachraum mit den Ideen eines sociological oder democratic marxism verbunden wird.14 Forschende, die mit diesem paradigmatisch angelegten Konzept arbeiten, verstehen sich als »marxian«, nicht als »marxist«. Zu parteioffiziellen Marxismen verhalten sie sich kritisch.15 Die Beifügung democratic signalisiert eine Sensibilisierung für den Eigenwert pluralistisch-demokratischer Institutionen und Prozesse. Das ist kein Zugeständnis an hegemonial-bürgerliches Denken, wie manche Kritiker:innen meinen. Vielmehr entspricht die Aufgeschlossenheit einer emanzipatorischen Praxis, wie sie etwa während des südafrikanischen Anti-Apartheid-Kampfs selbstverständlich war. Aus den Erfahrungen solcher Freiheitsbewegungen heraus gelten plurale parlamentarische Demokratien als unverzichtbare Basis aller Versuche, Alternativen zum Kapitalismus überhaupt zu diskutieren.16 Zum Selbstverständnis eines democratic marxism gehört eine prinzipielle Offenheit für andere – etwa feministische, ökologische oder indigene –Strömungen kapitalismuskritischen Denkens. Das heißt in der Konsequenz: Es gibt nicht den Marxismus, sondern nur eine gewisse Pluralität an Konzeptionen, die sich in unterschiedlicher Weise auf Marx beziehen.17 Diese Pluralität ist im Fragment gebliebenen Werk selbst angelegt. Anregend sind aus der heutigen Perspektive gerade die Brüche und Ungereimtheiten in den theoretischen Arbeiten des Karl Marx und seiner zahlreichen Interpret:innen. Solche Inkohärenzen zu ignorieren hieße deshalb, einem »faulen Marxismus«18 das Wort zu reden.
Jenseits dogmatischer Erstarrung beinhaltet die Marx’sche Theorie in ihren zahlreichen Weiterentwicklungen und Verästelungen noch immer eine herausfordernde Kapitalismuskritik – »die gründlichste, kompromissloseste, umfassendste jemals vorgebrachte Kritik dieser Art«.19 Sie ist eine Theorie, in deren Namen »große Regionen der Erde umgestaltet« wurden.20 Damit hat sie jedoch zugleich ihre Unschuld verloren. Jede Spielart des Marxismus muss heute selbstreflexiv sein und sich um ein kritisches Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte und der durch sie legitimierten Praxis bemühen. Wer sich der Methodik eines soziologischen Marxismus verpflichtet fühlt, steht deshalb für eine niemals abgeschlossene Reinterpretation klassischer Texte unter Berücksichtigung des zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Wissens. Zum »pragmatischen Realismus«21 so verstandener Theoriebildung gehört es, Begriffe wiederzuentdecken oder Bedeutungen zu reanimieren, die seitens der marxistischen Orthodoxie längst ad acta gelegt waren. Sozialismus ist ein solcher Begriff, den zu reinterpretieren eine wissenschaftliche und damit auch eine soziologische Aufgabe darstellt.
Eine Methodik, die entsprechend verfährt, muss einigen Anforderungen genügen, die hier kurz genannt seien. Die erste dieser Anforderungen kann als Reinterpretation, Thesenbildung und Prüfung bezeichnet werden. Eine kritische Reinterpretation klassischer Sozialismus-Texte zu betreiben, ist unabdingbar. Dabei gewonnene Thesen müssen aber zumindest ausschnitthaft und exemplarisch einer empirischen Prüfung unterzogen werden, mit deren Hilfe sich theoretische Vorannahmen korrigieren lassen. Daraus folgt für soziologische Erkundungen einer nächsten sozialistischen Gesellschaft, dass sie experimentell und ergebnisoffen angelegt sein müssen. So hat Erik Olin Wright akribisch untersucht, welche Alternativen zur kapitalistischen Produktionsweise sich bereits in bestehenden Gesellschaften herausbilden, ob und unter welchen Umständen sie Bestand haben und auf welche Weise sie tatsächlich zu einem besseren Leben beitragen können. Prozesse des Scheiterns zu dokumentieren, ist in dieser Methodik ebenso angelegt wie eine Wertschätzung von Projekten einer solidarischen Ökonomie oder genossenschaftlicher Selbstorganisation, die sich zuerst in Nischen der kapitalistischen Produktionsweise durchsetzen.22
Eine zweite Anforderung resultiert aus der Mehrebenenproblematik moderner Gesellschaften. Zu bedenken ist, dass Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse in ausdifferenzierte soziale Felder23 und gesellschaftliche Bewährungsproben24 eingebettet sind, deren eigensinnige Machtkonflikte und Wertigkeitsprüfungen empirisch erforscht werden müssen. Von Kapitalismus als sozialer Formation zu sprechen, bedeutet daher keineswegs, soziale Differenzierung, Vielfalt, Kontingenz, die Schwerkraft von Institutionen und daraus erwachsende Pfadabhängigkeiten in Abrede zu stellen. Im Gegenteil. Statt von einer determinierenden ökonomischen Basis auszugehen, die den gesellschaftlichen Überbau strukturiert, ist es sinnvoll, die kapitalistische Ökonomie und ihre Märkte als tiefgestaffelte soziale Felder25 zu betrachten, die mit zahllosen Variationen eines ökonomischen Habitus korrespondieren, der als verinnerlichtes Äußeres zu rationalem Handeln unter kapitalistischen Bedingungen überhaupt erst befähigt.26 Die methodologische Anforderung, die sich daraus ergibt, lautet: unbedingt das Mehrebenenproblem und die Ausdifferenzierung sozialer Felder beachten und dennoch nach feldübergreifenden Strukturähnlichkeiten suchen, um Aussagen über größere Zusammenhänge und Ereignisketten überhaupt erst zu ermöglichen. Ohne Vorstellungen von gesellschaftlichen Ordnungen, die dabei helfen können, empirische Einzelbefunde zu gewichten und in einen Zusammenhang zu bringen, sind weder Aussagen über die kapitalistische Gegenwart noch über eine sozialistische Zukunft möglich.
In keinem Fall dürfen gesellschaftliche Dynamiken auf einen einzelnen Kausalmechanismus zurückgeführt werden. Die Eigentumsfrage ist für die Grundlegungen eines ökologischen Sozialismus noch immer zentral, aber neue kollektive Eigentumsformen garantieren für sich genommen noch nicht, dass sich die mit ihnen verbundenen Wirtschaftsweisen tatsächlich als nachhaltig erweisen. Deshalb müssen ökologisch-sozialistische Praktiken ebenso wie neu entstehende gesellschaftliche Institutionen feldspezifisch begründet und evaluiert werden. Wie das politische System einer künftigen sozialistischen Gesellschaft aussieht, kann und darf keinesfalls aus deren ökonomischer Verfasstheit »abgeleitet« werden. Gleiches gilt für Kultur, Lebensweisen, Öffentlichkeit, Subjektivitäten, kurzum für sämtliche gesellschaftliche Sphären jenseits der Ökonomie. Aus dieser Komplexität ergibt sich als zusätzliche Anforderung, die Möglichkeit zu Selbstkorrekturen von Gesellschaftssystemen zu beachten. Der Kapitalismus besitzt die Fähigkeit, sich immer wieder zu häuten, um seine Kernstruktur zu bewahren. Staatssozialistische Gesellschaften haben die dazu erforderlichen Selbststabilisierungsmechanismen nicht im gleichen Maße ausbilden können, doch auch ihre Entwicklung war nicht mit der Geburtsstunde vorgezeichnet. Es gab immer wieder Wegscheiden, an denen eine radikale Selbstkorrektur möglich gewesen wäre, denn auch die staatssozialistischen Ordnungen waren und sind keine monolithischen Blöcke.27 Daraus folgt, dass auch aus dem Scheitern gelernt werden kann. So können beispielsweise die wirtschaftsdemokratischen Überlegungen der Prager Reformer28, die Plattform der bewegungsorientierten Strömung in der italienischen Kommunistischen Partei (PCI)29 oder die Thesen der ökosozialistischen Strömung bei den Grünen der 1980er und frühen 1990er Jahre30 als unabgegoltene Programmatiken betrachtet werden, die noch immer ein großes Anregungspotenzial besitzen, obwohl, vielleicht auch weil ihre Realisierungsversuche gescheitert sind.
Aus den genannten methodologischen Regeln ergibt sich als eine dritte Anforderung, dass die Verbindung von wissenschaftlicher Analyse und normativ begründeter Gesellschaftskritik unbedingt zu beachten ist. Ein demokratischer Marxismus unterscheidet sich auch methodologisch von sozialtheoretischen Versuchen, die auf eine normative Letztbegründung von Gesellschaftskritik zielen. Kritik des Marx’schen Typus entsteht aus der möglichst präzisen Beschreibung sozialer Verhältnisse, gefolgt von Analysen, die immanente Bewegungsformen dieser Verhältnisse und der durch sie hervorgerufenen Verwerfungen und Krisen aufdecken. So enthält die genaue Beschreibung der Lage arbeitender Klassen in England, die Friedrich Engels seinerzeit geleistet hat, bereits eine radikale Gesellschaftskritik. Für die normative Begründung dieser Kritik muss allerdings etwas anderes hinzukommen. Die ideologischen Selbstlegitimationen kapitalistischer Dynamik produzieren beständig Ansprüche, Erwartungen und auch Gerechtigkeitsvorstellungen, die in der sozialen Realität nicht erfüllt werden. Solche Diskrepanzen zwischen Sein und Sollen sind ebenfalls eine wichtige, wenngleich nicht die einzige Quelle von Gesellschaftskritik, wie sie ein democratic marxism anstrebt. Die normativen Maßstäbe dieser Kritik können aus dem hegemonialen »Geist des Kapitalismus«31, den Rechtfertigungsordnungen kapitalistischer Gesellschaften, herausgefiltert werden. Wie sich noch zeigen wird, stellen die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen32 eine normative Grundlage sowohl von Kapitalismus- als auch von Sozialismuskritik dar, denn sie eignen sich, um Bestehendes und Erreichtes mit dem Nötigen und Wünschbaren abzugleichen.
Als weitere methodologische Regel folgt daraus: Die Maßstäbe, an denen sich eine nächste sozialistische Gesellschaft messen lassen muss, dürfen nicht hinter das normative Fundament zurückfallen, das zuvor den Maßstab für Kapitalismuskritik lieferte. Rosa Luxemburg hat das in ihrer bereits angesprochenen Auseinandersetzung mit den Bolschewiki sehr deutlich gemacht. Die autoritäre Versuchung, vor der sozialistische Revolutionen nicht gefeit seien, stelle sich bereits ein, wenn das, was von außen, von politischen Gegnern als Notmaßnahme aufgezwungen werde und zeitweilig kaum vermeidbar sei, zur Normalität erhoben und als emanzipatorische Praxis verklärt werde.33 Um dergleichen zu vermeiden, benötigen sozialistische Gesellschaften einen institutionalisierten Zweifel, also öffentliche, wissenschaftlich fundierte Gesellschaftskritik, die – wie im Kapitalismus – ihre normativen Maßstäbe offenzulegen hat.
Halten wir fest: Die Suche nach einer Neudefinition von Sozialismus kann methodologisch auf eine Reinterpretation klassischer Sozialismustexte und -konzepte zurückgreifen, sie hat analytischen Reduktionismus zu vermeiden und muss sich ihrer normativen Grundlage bewusst sein. Diesen methodologischen Anforderungen kann hier nur annäherungsweise entsprochen werden, denn sie klagen eine Systema tik ein, die ein Essay nur sehr bedingt einzulösen vermag. Bei dem Bemühen um eine Redefinition von Sozialismus gilt es außerdem zu bedenken, dass marxistische Begründungen sozialistisch-kommunistischer Gesellschaften nur eine Option unter anderen möglichen darstellen. Protagonist:innen der neuen Sozialismus-Debatte kommen häufig ohne umfassenden Rückgriff auf Marx’ Kritik der politischen Ökonomie aus. Die Autorinnen des Manifests Feminismus für die 99 % berufen sich vorzugsweise auf kapitalismuskritische Strömungen in der Frauenbewegung.34 Thomas Piketty grenzt seinen partizipativen Sozialismus ausdrücklich von marxistischen Konzeptionen ab.35 Michael Brie und Claus Thomasberger beziehen sich in ihrem Plädoyer für einen freiheitlichen Sozialismus stärker auf Karl Polanyi als auf Karl Marx und Friedrich Engels.36 Brigitte Aulenbacher verknüpft Polanyis Ideen mit Debatten um eine Care-Revolution37 und Evgeny Morozovs digitaler Sozialismus nimmt, wie Thomas Piketty, eher auf sozialdemokratischen Reformismus als auf revolutionäre Sozialismuskonzeptionen Bezug.38 Der Sozialismus eines John Stuart Mill findet ebenfalls wieder Anerkennung39 und manifestiert sich in zeitgenössischen Entwürfen als Spielart eines neuen Sozialliberalismus.40 Die Liste mit Referenzen für eine zukunftsträchtige Sozialismus-Diskussion ließe sich erheblich erweitern, und die Vielfalt der Interventionen kann, so sie denn zu konstruktiver Kontroverse anregt, zweifellos eine Stärke sein. Schon wegen der konzeptuellen Vielfalt müssen sich Sozialismus-Begründungen, die der Methodik eines democratic marxism entsprechen wollen, ihrem theoretischen Erbe behutsam und kreativ nähern, ohne es als einen Steinbruch zu betrachten, der nahezu jede beliebige Interpretation erlaubt. Blicken wir daher auf die Ursprünge des marxistischen Sozialismus zurück.
Nun kann es an dieser Stelle nicht um eine strenge Werkexegese gehen, die systematisch rekonstruiert, was Marx, Engels und ihre zahlreichen Interpret:innen zu Sozialismus und Kommunismus geschrieben haben. Ich beschränke mich darauf, Kriterien für eine Heuristik zu entwickeln, mit deren Hilfe sich tradierte von zeitgemäßen Sozialismen unterscheiden lassen. Als historischer Ausgangspunkt für dieses Vorhaben eignen sich Überlegungen, die Friedrich Engels in der Spätphase seines Lebens anstellte, als sozialistische und sozialdemokratische Parteien ebenso wie die Gewerkschaften sich anschickten, Massenorganisationen zu werden.
Beginnen wir unsere Entdeckungsreise in Sachen Sozialismus deshalb im späten 19. Jahrhundert. 1880 erschien, zunächst in französischer Sprache, eine Broschüre mit dem anspruchsvollen Titel Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft.1 Als Grundlage dienten drei Kapitel aus dem sogenannten Anti-Dühring2 – einer von Friedrich Engels verfassten Streitschrift, die sich gegen den Privatgelehrten und Verfechter eines antimarxistischen »Sozialismus des arischen Volkes«, Herrn Eugen Dühring, richtete. Die Intervention überlebte den Gegenstand ihrer Kritik und trug erheblich zur Popularisierung von Marx’ Theorie bei. Heute gilt das Bemühen, die von Hegel entliehene Dialektik nicht nur auf die Geschichte, sondern auch auf Mathematik und Naturwissenschaften zu übertragen, vielen als besonders dogmatischer Versuch, die Welt nach abstrakten Bewegungsgesetzen modellieren zu wollen. Sozialismus, so ein verbreiteter Vorwurf, werde zum Resultat eines vorprogrammierten geschichtlichen Verlaufs erklärt, den zu vollenden ausschließlich das revolutionäre Proletariat berufen sei.
Ohne Zweifel finden sich in Engels Schrift Formulierungen, die als Belege für ein teleologisches Geschichtsverständnis interpretiert werden können. Es sind aber auch völlig andere Lesarten jener Artikelserie möglich, die in der zitierten Broschüre als zusammenhängendes Ganzes präsentiert wird. Schon die ersten Zeilen stellen klar, dass der moderne Sozialismus »seinem Inhalt nach zunächst das Erzeugnis der Anschauung, einerseits der in der heutigen Gesellschaft herrschenden Klassengegensätze von Besitzenden und Besitzlosen, Kapitalisten und Lohnarbeitern, andrerseits der in der Produktion herrschenden Anarchie« ist.3 Die enge Koppelung von gesellschaftlichen Widersprüchen und sozialistischer Vision dient der Abgrenzung von einem utopischen Denken, dessen Anhänger den Sozialismus als »Ausdruck der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit« betrachten. Diese Wahrheit, so Engels süffisant, brauche »nur entdeckt zu werden, um durch eigene Kraft die Welt zu erobern«. Sie sei »unabhängig von Zeit, Raum und menschlicher geschichtlicher Entwicklung«; »bloßer Zufall« entscheide, wann und wo sie entstehe.4 Ewige Wahrheiten, die noch dazu bei »jedem Schulstifter verschieden«5 ausfallen, konfrontiert Engels deshalb mit einem wissenschaftlichen Anspruch, der den Sozialismus aus realen Bewegungen der Gesellschaft heraus zu begreifen beabsichtigt. 6
So verstanden, ist Sozialismus eben kein unabänderliches Endziel, das im Gang der Geschichte bereits angelegt wäre. Weder handelt es sich um ein geschlossenes, unabänderliches Theoriegebäude noch um ein starres Gesellschaftsmodell. Was Sozialismus sein kann oder sein soll, ändert sich mit der Entwicklung der kapitalistischen Formation und den Gegenbewegungen, die sie hervorbringt. Das ist der Grund, weshalb Engels sich, auch hierin seinem kongenialen Partner Marx eng verbunden, bei der genauen Beschreibung sozialistischer Gesellschaften zurückhält. Weil der Kapitalismus »nichts« ist, wenn er nicht in Bewegung ist7, wäre auch der Sozialismus missverstanden, würde er als fertiges Rezept begriffen, das soziale Bewegungen nur noch zuzubereiten hätten. Eher trifft das Gegenteil zu. So wie die Gesellschaft stetem Wandel unterliegt, muss sich auch die Rezeptur, müssen sich Ziele, Organisationsformen und Wege des Sozialismus verändern, um systemische Herrschafts- und Ausbeutungsmechanismen erfolgreich zu überwinden.
Deshalb kann es, wie Engels immerhin andeutet, nicht bei dem einen Sozialismus bleiben. Sofern es wissenschaftlichen Ansprüchen genügen soll, muss, das sei hinzugefügt, auch das S-Wort zwingend im Plural buchstabiert werden. Den Variationen des Kapitalismus entsprechen diverse Sozialismen. Das galt bereits für das Industriezeitalter und gilt für sozialistische Visionen am Beginn des 21. Jahrhunderts in besonderer Weise. Die Erstarrung und mitunter auch Pervertierung marxistischer Sozialismusvorstellungen in repressiven staatsbürokratischen Systemen hat, ebenso wie der Zusammenbruch dieser Herrschaftsvarianten und der Verschleiß konkurrierender sozialdemokratischer Konzeptionen, dazu geführt, dass Sozialismus heute wieder zur Utopie werden muss, um politisch wirken zu können.
Gänzlich falsch wäre es indes, das als bloßen Rückschritt deuten zu wollen.8 Die Sozialismen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren Kinder der ersten industriellen Revolution. Die Sozialismen des 21. Jahrhunderts werden ebenfalls Kinder einer Produktivkräfte-Revolution sein, die sich nun aber unter völlig anderen Vorzeichen vollzieht als ihre historischen Vorläufer. Sozialistische Ideen des 21. Jahrhunderts müssen, so die hier vertretene These, ihre Überzeugungskraft aus der Notwendigkeit einer Nachhaltigkeitsrevolution beziehen. Sie entstehen zumindest in den frühindustrialisierten Ländern, künftig mehr und mehr aber auch in großen und kleinen Schwellenländern, aus der Kritik an wirtschaftlich-technischer Überproduktivität. Zwar rebellieren auch sie gegen die Herrschaft des Kapitals, doch das nicht allein wegen der Ausbeutung von Lohnarbeit. Die Sozialismen des 21. Jahrhunderts präsentieren sich als Alternative zu einem »Imperialismus gegen die Natur«9, wie ihn Karl Marx in seinen mittlerweile veröffentlichten Exzerptheften brandmarkte. Sie attackieren die Ökonomie der billigen Güter10 und mit ihr die Abwertung reproduktiver Tätigkeiten, und sie beanspruchen, gleichgewichtig mit der Beseitigung von Klassenherrschaft, eine Überwindung aller patriarchalisch, rassistisch oder nationalistisch legitimierten Herrschaftsmechanismen anzustreben. Aus der Perspektive gesellschaftlicher Naturverhältnisse beinhalten sie vor allem die Suche nach einem Notausgang, nach Auswegen aus einer epochalen ökonomisch-ökologischen Zangenkrise, die das Überleben menschlicher Zivilisation berührt.11
Gründe für einen Neosozialismus gibt es viele. Doch welche gesellschaftlichen Verwerfungen verlangen nach einer ökologisch-sozialistischen Vision? Die Beantwortung dieser Frage führt erst einmal zum ursprünglichen marxistischen Sozialismus-Verständnis zurück. In der zitierten Broschüre begründet Friedrich Engels die Notwendigkeit einer sozialistischen Transformation hauptsächlich mit dem Konflikt zwischen »gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung«.12 Es herrsche »Anarchie in der gesellschaftlichen Produktion«, und dennoch folge die wirtschaftliche Entwicklung den Zwängen der Konkurrenz, die sich als »blindwirkende Naturgesetze«13 hinter dem Rücken der Produzenten durchgesetzt hätten. Diese Zwänge bewirkten, dass die Produkte jene beherrschten, die sie herstellten. Erst die Aufhebung privatkapitalistischer Aneignung könne den gesellschaftlichen Reichtum, den die Produktivkraftentwicklung ermögliche, für die Entfaltung der Fähigkeiten aller Menschen erschließen.
Bis es so weit ist, hemmt die Aneignungslogik der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse laut Engels die Vergesellschaftungslogik der Produktivkraftentwicklung. Sozialismus ist demnach die gesellschaftliche Formel, mit deren Hilfe sich die Aufhebung des Dauerkonflikts zwischen kollektiver Produktion und privater Aneignungen politisch zuspitzen lässt. Aus Engels’ Kapitalismusanalyse ergibt sich, was als elementares Dreieck des Sozialismus bezeichnet werden kann. Das Privateigentum an Produktionsmitteln muss überwunden und durch kollektiv-gesellschaftliches ersetzt werden, um die Fesseln zu beseitigen, die die Produktivkraftentwicklung hemmen. Nur diese Umwälzung der Eigentumsverhältnisse erlaubt es, die gesellschaftliche Kontrolle über den Produktionsprozess zurückzugewinnen, indem er von den Arbeitenden selbst organisiert und an gemeinschaftliche Bedürfnisse rückgebunden wird. Hauptziel der Koordinaten im elementaren Dreieck des Sozialismus ist »substanzielle Gleichheit«.14