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Die 36-jährige, vitale Lehrerin Lisa erkennt, wie der Fleischhunger der westlichen Welt die Abholzung des Regenwaldes vorantreibt. Sie wird Vegetarierin. Als sie an ihrer Münchner Realschule für vegetarische Ernährung wirbt, beschweren sich Schülereltern. Der Boss einer Fleischfirma wird ihr erbitterter Gegner. Er beauftragt seinen PR-Mann, sie auszuspähen und kaltzustellen. Ihre Freundin Sophie, eine agile Seniorin, kommt ihr zu Hilfe. Sophie gründet mit ihrem Partner den Initiativkreis 'Nachhaltig wollen wir leben', der gegen Klimakrise und Massentierhaltung kämpft. Lisa hätte gerne einen festen Partner und eigene Kinder. Ihr vegan lebender Kollege, ein verwitweter Biobauer und Sophies Sohn Max, der unglücklich verheiratet ist, werben um sie. Zwischen Partnersuche und vorbildlicher fleischloser Ernährung wird Lisa in eine waghalsige Aktion verwickelt …
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Seitenzahl: 324
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Für meine Enkel
Jonas und Antonia,
Annabella und Lennart
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Ich verzichte auf fleisch. das ist mein beitrag zur lösung der klimakrise
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Eine Fernsehsendung über Treibhausgase machte mich auf das Thema aufmerksam. Bei meinen Recherchen stieß ich bald auf den FLEISCHATLAS, ein Kooperationsprojekt vom Bund für Umwelt und Naturschutz, der Heinrich-Böll-Stiftung und Le Monde diplomatique. Diese großartige Publikation zeigte mir den Zusammenhang zwischen dem Fleischhunger in der westlichen Welt und der Abholzung des Regenwaldes im Amazonasbecken für neue Weideflächen und Sojafelder. Vielen Dank für diesen Augenöffner!
Mir liegt daran, meine Erkenntnisse über die unbeabsichtigten Folgen unseres Ernährungsstils interessierten Lesern zur Verfügung zu stellen. Menschen, denen die Zukunft dieses Planeten nicht gleichgültig ist und die über ‚Generationengerechtigkeit’ nicht nur reden, sondern sie durch nachhaltiges Verhalten fördern wollen.
Um auch Menschen zu erreichen, die nicht gerne Sachbücher lesen, wählte ich das Genre ‚Beziehungsroman’. Meine Geschichte ist zwar frei erfunden, könnte sich aber so ähnlich ereignet haben - einige Szenen orientieren sich bewusst an der Realität. Der Gegenwartsroman spielt in München und im idyllischen Voralpenland.
Im November 2015
Richard Ulrich
Als Lisa Berner an einem Samstag im Oktober 2012 den Biergarten am Starnberger See betrat, ärgerte sie sich über ihre feuchten Hände und ihren rasenden Puls. Sie atmete langsam und tief, um sich zu beruhigen. Doch der Versuch misslang, denn an einem der Tische erblickte sie ihren früheren Freund und Geliebten Max Wallersleben. Nach zehn Jahren trafen sie sich zum ersten Mal wieder. Obwohl sie es unterdrücken wollte, liefen Erinnerungsfetzen mit unangenehmen Details der damaligen Trennung vor ihrem geistigen Auge ab. Hartnäckig bemühte sie sich, gelassen und ausgeglichen zu erscheinen.
Max saß allein an einem Tisch mit blauweiß karierter Tischdecke und schaute zufrieden auf den in der Sonne glitzernden See und die dahinter liegenden Alpengipfel. Als er seine Exfreundin bemerkte, stand er auf, ging langsam auf sie zu und machte Anstalten, sie zu umarmen. Doch Lisa streckte ihm nur die Hand entgegen. Verblüfft brach er den Annäherungsversuch ab und begrüßte sie mit einem kräftigen Händedruck.
„So eine Wärme in der zweiten Oktoberhälfte, der Himmel meint es gut mit uns.“ Sein Smalltalk überzeugte nicht, denn sein verkrampfter Gesichtsausdruck passte nicht zu dem, was er sagte.
Lisa tat ihm den Gefallen und ging auf seine Wettermeldung ein. „Herrlich diese Aussicht! Besten Dank an den Föhn! Ich glaube, man sieht heute bis zur Zugspitze.“
„Nein Lisa, nicht von hier aus. Die liegt weiter rechts.“
Er hat sich nicht verändert, dachte sie. Schon immer musste jede Einzelheit stimmen. Sie nahm seine Korrektur gelassen hin, denn wegen so einer Nebensächlichkeit wollte sie sich nicht mit ihm streiten.
Der Kellner brachte die Karte. Max entschied sich rasch und bestellte Schweinsbraten mit Knödel und Weißkrautsalat. Lisa brauchte mehr Zeit und nahm einen ‚Griechischen Salat‘.
Er versuchte sie umzustimmen. „Möchtest du nicht etwas Herzhaftes, ein Stück Fleisch. Der Schweinsbraten ist hier ausgezeichnet.“
„Nein danke, seit einem halben Jahr bin ich Vegetarierin.“
„Waaas?“ Max beugte sich über den Tisch und sah sie mit offenem Mund an. „Was soll das denn? In unserem gemeinsamen Leben, damals vor zehn Jahren, hast du doch gerne Fleisch gegessen, oder?“
„Stimmt, aber die Zeiten ändern sich. Ich habe dazugelernt, Anschauungsunterricht im brasilianischen Regenwald hat mich überzeugt.“ Und mit einem verschmitzten Lächeln fügte sie hinzu: „Offensichtlich im Gegensatz zu dir.“
Max verzog das Gesicht und blickte Hilfe suchend an den Nachbartisch. Dort saß eine junge Familie, die Eltern Mitte dreißig mit zwei kleinen Kindern, die sich langweilten und die Erwachsenen nervten. Als Lisa auf die Vier aufmerksam wurde, besetzte unvermittelt ein Gedanke ihr Gehirn: Max und sie könnten sich jetzt in einer ähnlichen Konstellation befinden. Eine Familie mit eigenen Kindern! Wehmut überkam sie. Doch sie verdrängte rasch ihre tristen Überlegungen, da Max einen neuen Anlauf unternahm, mit ihr ins Gespräch zu kommen.
„Ehrlich, Lisa, du siehst großartig aus, genauso aufregend wie damals!“
Sie stutzte, das Kompliment überraschte sie. Nach ihrer Erinnerung waren charmante Schmeicheleien früher nicht sein Ding gewesen. Sollte sie sich höflich für das Kompliment bedanken oder es besser übergehen? Sie entschied sich für eine Antwort, die zu einer emanzipierten Frau passte:
„Vielen Dank. Nett von deinem Sehapparat, auf Unschärfe zu stellen und die Fältchen in meinem Gesicht gnädig zu übersehen.“ Sie drückte sich mit gestreckten Armen vom Tisch weg. „Einige dieser ‚interessanten’ Falten verdanke ich übrigens dir.“ Sie bemerkte, wie Max sich auf die Unterlippe biss und ergänzte: „Oder wolltest du eben sagen, dass ich angesichts meines hohen Alters von sechsunddreißig Jahren noch recht passabel ausschaue? Wenn es so ist, dann danke ich dir für diese zutreffende Feststellung.“ Lisa betonte dezent das Wort zutreffend.
„Respekt Lisa, du bist selbstbewusster als früher.“
Ohne es zu wollen, freute sie sich über seine Bemerkung.
„Die jungen Frauen strotzen heutzutage vor innerer Stärke und Selbstsicherheit.“ Wie in Trance blickte er in die Ferne. „Wir Männer werden dagegen immer mehr zu Randfiguren im Schachspiel, das Leben heißt. In vielen Beziehungen dominiert heute die Frau.“
„Sprichst du gerade von deiner Ehe?“
„Nein, vom Mainstream in der westlichen Welt.“
„Ach je, die armen, unglücklichen Männer, muss ich sie bedauern?“
„Nein, ich gönne es den Frauen, dass sie es in der westlichen Welt geschafft haben, Benachteiligung und Unterdrückung zu überwinden.“ Während Max dies sagte, blickte er frustriert auf die Tischdecke, wo sich gerade ein Marienkäfer mit einem Brotkrümel abmühte.
In diesem Augenblick tauchte am Eingang des Biergartens ein älteres Paar auf. Max winkte ihnen zu und holte sie an ihren Tisch. Es waren seine Mutter Sophie und Robert Ponto, ihr neuer Lebensgefährte. Sophie und Lisa umarmten sich herzlich und lange, sie waren seit zwanzig Jahren befreundet und hatten sich monatelang nicht mehr gesehen. Robert traf Lisa heute zum ersten Mal. Er betrachtete sie aufmerksam, vielleicht einen Moment zu lange, so sehr war er von ihrer Ausstrahlung fasziniert.
Sie hatten kaum Platz genommen, da meinte Sophie: „Und? Wie kommt ihr beide bei eurem Wiedersehen nach zehn Jahren miteinander klar?“ Es sollte beiläufig klingen, doch jeder konnte sehen, wie sich ihre Mundpartie verkrampfte und sie mit flehenden Augen abwechselnd auf ihren Sohn und auf dessen frühere Freundin blickte.
Lisa fühlte sich überrumpelt. Es war ihr unangenehm, diese Frage jetzt zu besprechen. Abrupt wechselte sie das Thema: „Ach, erzählt doch mal von der Wohnung in Tutzing, die ihr gestern besichtigt habt, passt alles?“
Sophie stutzte, aber als sie in Lisas Gesicht sah, begriff sie. „Alles großartig. Die Wohnung ist genau so, wie wir sie uns vorstellen. Vier Zimmer mit hundertzwanzig Quadratmetern, großer Südbalkon, von dem man auf den See blicken kann, überall wunderschönes Parkett, neben dem Esszimmer ein kleiner Wintergarten. Und die Anlage hat nur sechs Wohneinheiten, liegt ruhig in einer Sackgasse und zur S-Bahn nach München sind es nur zehn Minuten zu Fuß.“
„Wann könnt ihr einziehen?“
„Wenn alles glatt läuft in sechs Wochen!“ Sophie schaute Robert an und strahlte.
„Wie habt ihr das bloß geschafft, in der Region München eine so tolle Wohnung kurz vor ihrer Fertigstellung zu bekommen?“
„Mit viel Glück. Eine ältere Dame ist abgesprungen und unser Makler hat davon Wind bekommen. Wir haben sofort, noch von Bonn aus, einen Vorvertrag abgeschlossen.“
„Ist das denn bezahlbar, hier am Starnberger See?“ Max runzelte die Stirn.
„Keine Sorge, mein Sohn, du musst nicht für mich bürgen. Für mein Haus auf dem Venusberg in Bonn kriege ich einen guten Preis. Zum Glück gibt es mehrere, ernsthafte Interessenten, denen es offenbar Vergnügen bereitet, sich gegenseitig zu überbieten.“
Es trat eine kurze Pause ein, dann wandte sich Lisa an Sophie: „Ich frage mich, was treibt euch zwei an, die Zelte im Rheinland abzubrechen und ins fremde Bayern zu ziehen?“
„Es ist vor allem Roberts Wunsch. Er ist in der Umgebung von München aufgewachsen und jetzt strebt er zurück in seine Heimat.“
„Na, na, dir passt es doch auch ins Konzept.“ Roberts Einwand klang leicht verärgert.
„Natürlich“, lachte Sophie, „so bin ich doch immer in der Nähe von euch beiden.“ Mit strahlenden Augen blickte Sophie auf ihre Freundin und ihren Sohn.
„Wie läuft es denn an deiner neuen Schule? Du, die vorwitzige Preußin aus Bonn, in der Schicki-Micki-Weltstadt München, kann das gutgehen?“ Sophies Interesse wirkte echt.
Lisa lächelte gequält. „Es funktioniert ziemlich gut. Die Kollegen sind nett und hilfsbereit, der Schulleiter ist zwar manchmal etwas aufdringlich aber andererseits auch kooperativ. Und die Schüler sind fleißig und pflegeleicht. Kein Grund zum Meckern.“
„Und die Helikopter-Eltern? Machen die hier ebenso viel Wind wie die im Rheinland?“
„Kann man so sagen. Aber ich hab dafür Verständnis. Es ist die Sorge um ihren Nachwuchs. Dass er sich nicht optimal entwickelt, nicht ganz an der Spitze ist.“ Lisa zögerte, bevor sie unwillig ergänzte: „Manche Eltern verhalten sich bisweilen widersprüchlich. Einerseits verlangen sie von der Schule, ihre Kids so gut es nur geht auf das Leben vorzubereiten. Aber wenn der Lehrer es wagt, etwas anzusprechen, das ihren persönlichen Lebensstil berührt, fühlen sie sich bevormundet und beschweren sich beim Schulleiter.“
Sophie sah sie fragend an.
„Ein Beispiel: Stellt man fleischarme Ernährung als zukunftsweisend und gesundheitsfördernd heraus, dann passt das einigen Eltern nicht.“ Lisa senkte die Stimme: „Aber bitte, lassen wir das heute. Die Sonne scheint, das Weißbier schmeckt, da möchte ich euch und mir nicht mit Schulproblemen die gute Laune verderben.“
Am nächsten Tag fuhren Sophie und Robert in ihrem Auto zurück nach Bonn. Sie unterhielten sich lange über die Begegnung mit Max und Lisa im Biergarten. Unvermittelt fragte Sophie:
„Und, wie findest du Lisa?“
„Zweifellos eine sehr attraktive, sehr gescheite und sehr charmante Frau!“
Sophie nickte und schaute regungslos durch die mit Fliegen übersäte Windschutzscheibe.
„Du hast mir schon einiges über deine Freundin erzählt, aber noch nicht, wann und wie du sie kennengelernt hast?“
Sophie sah ihn erstaunt an, dann sagte sie leise: „Vor zwanzig Jahren tauchte Lisa in meinem Blickfeld auf, genauer gesagt in dem Tennisclub auf dem Bonner Venusberg, in dem ich damals im Vorstand für Nachwuchswerbung zuständig war. Auf meinen Vorschlag hin setzten wir für die Gewinner eines Sportfestes an Bonner Schulen einen Preis aus. Der Sieger durfte in unserem Club bei unserem Tennistrainer einen kostenlosen Schnupperkurs machen.“
„Aha, Lisa war vermutlich eine Gewinnerin.“
„Richtig. In dieser einen Woche hat sie sich so talentiert angestellt, dass wir sie, gerade mal sechzehn Jahre alt, sofort ohne Wartezeit in den Club aufgenommen haben. Ich besorgte für sie Tennisschläger und Kleidung, denn ihre Familie konnte sich das nicht leisten. Ihr Vater war schon viele Jahre tot und ihre Mutter hielt die beiden mit Putzen und anderen einfachen Arbeiten über Wasser.“
„Wie hat denn Max reagiert, als Lisa plötzlich auftauchte? Er war etwa in ihrem Alter und Lisa war vermutlich ein aufregender Teenager?“
„Max war gerade neunzehn, aber das andere Geschlecht interessierte ihn nicht, er war sehr schüchtern. Natürlich trafen sich die beiden regelmäßig im Tennisclub, aber es blieb lange ein rein freundschaftliches Verhältnis.“
„Hatte sie da bereits ihr Pädagogikstudium begonnen?“
„Nein. Nach dem Abitur jobbte sie erst ein paar Jahre in einem kleinen Betrieb als Sekretärin und Übersetzerin. Da kam ihr zugute, dass sie bereits während der Schulzeit einen Fernkurs zur Fremdsprachenkorrespondentin gemacht hatte. Ihre Mutter war an Brustkrebs erkrankt und konnte zeitweise nicht arbeiten. Da die Rente vom Vater niedrig war, musste Lisa Geld verdienen und ihr Studium zurückstellen.“
„Und Max war schon mitten im Jurastudium?“
„Nein. Nach dem Abitur machte er erst einmal mit einem Kumpel eine einjährige Rucksacktour durch Australien. Dann begann er in Köln ein BWL-Studium, das er nach drei Semestern frustriert aufgab. Erst anschließend hat er mit Jura angefangen.“
„Und wann hat es zwischen Max und Lisa gefunkt?“
Sophie überlegte. „Das muss im Herbst 1996 gewesen sein, abends bei einem Fest im Tennisclub. Die beiden hatten beim Clubturnier zusammen Mixed gespielt und überraschend das Turnier gewonnen. Ich erinnere mich noch genau an diesen lauen Septemberabend, als Max endlich seine Lethargie ablegte und mit der wunderschönen Lisa zu flirten begann. Ich war sehr glücklich, als ich bemerkte, wie sie sich näher kamen.“
„Wie lange waren sie dann zusammen?“
„Bis Max der Fehltritt mit Petra unterlief, also knapp sechs Jahre.“ Sophie schwieg. Robert bemerkte den aufgewühlten Gesichtsausdruck seiner Lebensgefährtin, die sich gerade daran erinnerte, wie Max ihr unter Tränen seinen Seitensprung gebeichtet und erklärt hatte, dass er jetzt Petra heiraten werde, da sie ein Kind von ihm erwarte.“
„Hast du nicht versucht, ihn umzustimmen? Für Lisa Partei zu ergreifen?“
„Nein, nicht ernsthaft. Lisa hat mich gebeten, mich rauszuhalten, das müsse Max alleine entscheiden.“
„Und außerdem hat vermutlich dein Mann, der anerkannte Steuerexperte, mithilfe bayerischer Kollegen ganz schnell ermittelt, dass die Seidlsche Privatbrauerei eine Goldgrube ist und Max ein Dummkopf wäre, wenn er auf diese tolle Partie verzichten würde?“
Sophie nickte resigniert. „Dennoch werfe ich mir bis heute vor, nicht mit Max gesprochen zu haben. Schon damals ahnte ich, dass Petra für eine konventionelle bürgerliche Ehe nicht taugt.“
„Wann kam dann Petras wahrer Charakter, ich meine ihr fataler Hang zu außerehelichen Beziehungen, ans Tageslicht?“
„Etwa ein halbes Jahr nach der Hochzeit, nachdem das Kind von Max bei der Geburt gestorben war.“
Robert legte seine rechte Hand auf Sophies Oberschenkel und streichelte ihn sanft. „Jetzt verstehe ich, warum du Max zu einer Scheidung von Petra drängst und auf einen Neustart mit Lisa hoffst.“
„Ich möchte meinen damaligen Fehler ausbügeln. Zumal mir mit der Zeit klar wurde, welch großartiger Mensch Lisa ist und dass Max keine bessere Frau finden kann. Ich hoffe, sie hat den Mut, mit Max noch einmal von vorne anzufangen.“
„Machen Sie sich keinen Stress, Frau Berner, das werden wir schon hinkriegen!“
Als ihr Vorgesetzter dabei seine Hand auf ihre Schulter legte, zuckte sie leicht zusammen. Wollte Schulleiter Jürgen Wortmann ihre Lage ausnutzen? Oder war es nur eine kumpelhafte Geste, wie sie an bayerischen Schulen üblich ist?
Wortmann hatte Lisa Berner, seine neue Lehrerin, während einer ihrer Freistunden zu sich gebeten. Es ging um ihre ‚Werbeaktion’ für vegetarische Ernährung. Sie hatte es nur gut gemeint und nach Abschluss des Lerngebiets Fotosynthese auf die Frage eines Schülers die Klasse 6b über die Vorteile einer fleischlosen Ernährung aufgeklärt. Wie man das eben so macht als engagierte Biologielehrerin.
Und nun bemühte sich Wortmann, seinem Greenhorn, wie er Lisa zu deren Missfallen nannte, ein paar schulische Grundregeln zu erläutern: „Ein gutes Verhältnis zu den Eltern ist heute wichtiger denn je. Um das zu erreichen, muss man sie reden lassen.“
Während Wortmann dozierte, schweiften Lisas Gedanken zurück zu der Unterrichtsstunde, die so viel Staub aufgewirbelt hatte.
„Hören Sie mir eigentlich zu, Frau Berner?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, redete Wortmann weiter. „Eltern wollen ernst genommen werden. Zumindest müssen wir ihnen diesen Eindruck vermitteln. Wir haben es geschafft, wenn sie glauben, dass wir mit allem, was wir in der Schule tun und lassen, nur das Wohl ihrer Kinder im Fokus haben.“
„Aber genau das ist doch meine Absicht, Herr Wortmann. Wenn ich den Kids beibringe, wie man sich richtig ernährt, steht doch das Wohl der Kinder im Mittelpunkt. Oder nicht?“
Ihr Chef schaute sie verdutzt von der Seite an. Dann räusperte er sich, blickte kurz zu Boden und fuhr zu ihrer Überraschung friedlich fort: „Sie haben ja recht, Frau Berner. Fleischarm essen ist zweifellos gesünder als ständig Fleisch in sich reinzustopfen. Das ist auch mir bekannt.“
„Dann sind wir uns ja einig.“
„Das Problem ist leider diffiziler.“ Er beugte steif den Oberkörper in ihre Richtung und raunte: „Leider zählen in diesem Fall nicht nur die Fakten. Manche davon sind für Eltern unangenehm und werden daher von ihnen ausgeblendet. Letztlich geht es um die elterliche Vorbildfunktion, die erschüttert werden könnte. Das wollen neun von zehn Eltern auf keinen Fall.“
„Entschuldigen Sie, das habe ich nicht verstanden. Könnten Sie es für Ihr ‚Greenhorn’ vielleicht etwas einfacher formulieren?“
„Die große Mehrheit der Eltern will von der Schule keine Ratschläge zum privaten Lebensstil.“ Der Schulleiter reduzierte wichtigtuerisch seine Lautstärke. „Dazu gehört zweifellos die Ernährung. Nach Auffassung der Eltern ist die Schule dafür nicht zuständig. Kein Vater, keine Mutter lässt sich gerne vom eigenen Kind belehren, wenn es die in der Schule empfohlene Ernährung zu Hause überprüft. Die Eltern fühlen sich ertappt, wenn ihr Kind dabei feststellt, ökologisch betrachtet würden sie sich nicht richtig ernähren.“
„Jetzt hab ich’s kapiert“, meinte Lisa in einem sachlichen Ton. „Es ist für einen Vater unangenehm, wenn seine Tochter beim Abendessen seinen umfangreichen Wurstkonsum kritisiert. Und dies auch noch mit einem Hinweis auf die Biologiestunde bei Frau Berner.“
„Exakt. Wenn so etwas passiert, habe ich am nächsten Tag den tobenden Vater am Telefon.“
„Verstehe.“ Langsam dämmerte es Lisa, warum die aus ihrer Sicht harmlose Stunde über die Vorzüge einer fleischarmen Kost zu einem Problem geworden war. Diese Erkenntnis tat ihr weh. Sie spürte plötzlich eine Enge in der Brust, die ihr die Luft zum Atmen nahm. Die Motivation für ihren Beruf schien ins Wanken zu geraten. Wie sollte sie Kinder auf das Leben vorbereiten, wenn die Eltern in wesentlichen Lebensbereichen ganz andere – und aus ihrer Sicht falsche Vorstellungen für ihre Kids hatten?
Wortmann sah das bedrückte Gesicht seiner Lehrerin und suchte nach einem Ausweg. „Ich möchte Ihnen Folgendes vorschlagen, Frau Berner: Im Fach Haushalt und Ernährung wird der Aspekt der fleischarmen Ernährung im Zusammenhang mit Gesundheit und Ernährung behandelt. Das steht erst in der siebten Jahrgangsstufe auf dem Lehrplan. Deshalb meine Bitte an Sie: Lassen Sie Ihre 6b noch dieses eine Jahr in Frieden ihre Wurstsemmeln essen.“
„Na gut“, brummte Lisa. Sie musste notgedrungen den Vorschlag ihres Vorgesetzten akzeptieren.
Schulleiter und Lehrerin einigten sich auf einen Elternabend, der schon bald stattfinden sollte. Wortmann sagte zu, auch anwesend zu sein und den Abend zu moderieren. Es sei seine kollegiale Pflicht, ihr in dieser schwierigen Situation ‚Seite an Seite’ beizustehen.
Zum Elternabend waren sechzehn Mütter und sieben Väter erschienen, beachtlich bei einer Klassenstärke von fünfundzwanzig Schülern! Lisa betrachtete die Eltern. Einige blickten erwartungsvoll nach vorne, die meisten schwiegen und strahlten eher Skepsis als Vertrauen aus. Dieser Abend würde – das spürte Lisa deutlich - zur ersten Bewährungsprobe in Bayern werden, wo sie noch lange nicht ‚dahoam’ war.
Wortmann begrüßte die Anwesenden. Mit der Routine seiner zwanzigjährigen Lehrertätigkeit und mit seinem verhaltenen Charme, den er seiner wohlklingenden Stimme und seinem bayerischen Dialekt verdankte, gelang es ihm rasch, für eine entspannte Atmosphäre zu sorgen. Er betonte das Wohl der Kinder, das im Zentrum aller Bemühungen seiner Schule stehe. So sei auch der Exkurs von Frau Berner in den Bereich ‚Gesunde Ernährung’ zu verstehen. Dabei müsse man fairerweise berücksichtigen, dass sie erst seit vier Wochen an der Schule unterrichte und daher noch nicht alle Gepflogenheiten kenne. Der Spruch In Bayern gehen die Uhren anders stimme häufiger als man denke, das müsse Frau Berner noch lernen. Einige Eltern lächelten verhalten, während Lisa Berner säuerlich zu Boden blickte.
Es ärgerte sie, wie ihr Schulleiter sie gerade wie ein Greenhorn behandelte, man könnte auch sagen wie ein Kind. Sie durchschaute seine Strategie, ihren ‚Ausflug’ in die vegetarische Ernährung als unglücklichen Fauxpas einzuordnen, der nur ihrer Unkenntnis des neuen schulischen Umfeldes zuzuschreiben sei.
Obwohl sich Lisa auf ihr Statement gut vorbereitet hatte, war sie nervös. So aufregend hatte sie sich ihren ersten Elternabend in München nicht vorgestellt! Mit ihrer Freundin Sophie Wallersleben, die mit ihren vierundsechzig Jahren über viel Lebenserfahrung und Menschenkenntnis verfügte, hatte sie sich am Telefon beraten. Wäre es klug, ihre Abschweifung zum fleischlosen Essen offensiv zu verteidigen? Oder sollte sie lieber Wortmanns Linie folgen, Bedauern äußern und das Ganze als Missverständnis darstellen? Sophie empfahl ihr eine Vorwärtsstrategie.
Lisa war gespalten: Einerseits wollte sie vier Wochen nach ihrem Einstieg in der neuen Schule eine Auseinandersetzung mit den Schülereltern vermeiden. Andererseits – das wusste sie aus leidvoller Erfahrung – war sie nur dann mit sich im Reinen, wenn sie in kritischen Situationen nicht feige schwieg oder einlenkte, sondern sich zu ihren Prinzipien und Positionen bekannte. Dafür brauchte es Mut, doch daran fehlte es Lisa nicht. Sie entschied sich daher, Sophies Rat zu folgen und den Vortrag mit einem Paukenschlag zu beginnen.
„Liebe Eltern, was ist wichtiger für das Wohl Ihrer Kinder als eine intakte Umwelt? Jetzt, in der Gegenwart, aber auch in zwanzig Jahren, wenn Ihre Kinder erwachsen sind und vielleicht schon eigene Kinder haben. Müssen wir nicht alles tun, damit Ihre Kinder auch in Zukunft in einer menschenwürdigen Umwelt leben können?“
Lisa machte eine rhetorische Pause. Sie blickte in die Gesichter ihrer Zuhörer, in denen sie mit Genugtuung Interesse und Nachdenklichkeit registrierte.
Dann schilderte sie, warum sie Lehrerin geworden war. Sie berichtete von der fünfjährigen Entwicklungszusammenarbeit in Brasilien, wo sie in einem Pilotprogramm zur Erhaltung der tropischen Regenwälder gearbeitet habe, speziell auf dem Gebiet Bewahrung der Artenvielfalt. Dabei sei es ihre Aufgabe gewesen, Lehrern und politischen Entscheidungsträgern die biologische Bedeutung der Artenvielfalt zu erläutern und praxisnahe Lösungsansätze zu ihrer Erhaltung auszuarbeiten. Lisa berichtete den jetzt mit großem Interesse zuhörenden Eltern, wie sie bei ihren Reisen in Brasilien die zunehmende Abholzung der Regenwälder im Amazonasbecken miterleben musste und wie ihre Vorschläge bei den brasilianischen Stellen meist wirkungslos verpufften.
„Und wozu die Vernichtung der Regenwälder und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen? Um zusätzliche Flächen für den Sojaanbau zu schaffen, damit die Massentierhalter in Europa billiges Tierfutter zur Verfügung haben! Multinationale Konzerne stellen es her und streichen riesige Profite ein. Gleichzeitig verarmt die einheimische Bevölkerung am Amazonas, weil die kleinbäuerlichen Sojaproduzenten im Wettbewerb mit der industriellen Soja-Landwirtschaft keine Chance haben.“
Lisa war in Fahrt gekommen, sie redete eindringlich und konzentriert. „Damit wir hier billig Fleisch produzieren und konsumieren können, wird der Regenwald und die Existenz vieler kleiner Bauern vernichtet. Das ist ein Skandal, den man nicht hinnehmen darf.“
Herr Wortmann räusperte sich. Er hatte einen gequälten Gesichtsausdruck. Doch ehe er eingreifen konnte, verkündete Lisa: „Nur wenige Menschen wissen, dass Kühe beim Wiederkäuen Methan erzeugen. Und dieses Methan schadet dem Klima fünfundzwanzigmal mehr als Kohlendioxid. Daher ist mein Fazit eindeutig: Wer wenig oder gar kein Fleisch isst, trägt dazu bei, die Klimakrise abzumildern, vielleicht sogar zu verhindern.“
Im Klassenzimmer war es mucksmäuschenstill geworden. Die meisten Eltern blickten verlegen vor sich hin, eine Frau nickte zustimmend. Lisa war erleichtert. Wie es schien, war es ihr gelungen, den Elternabend zu einer Veranstaltung für klimafreundliche Ernährung zu machen.
Schulleiter Wortmann atmete tief durch, runzelte die Stirn und leitete zur Diskussion über. „Vielen Dank, Frau Berner. Sie haben mit Ihrem Statement brandaktuelle Fragen angesprochen. Aber die Schule kann diese Probleme nicht lösen, das ist Sache der Politik. Daher schlage ich vor, die globalen Folgen eines hohen Fleischkonsums bei unserer Diskussion auszuklammern und uns auf die individuellen Auswirkungen einer fleischarmen Kost zu konzentrieren.“
Bei diesen Worten stockte Lisa der Atem und massiver Ärger schnürte ihr die Kehle zu. Was hatte sie denn gerade ausführlich erläutert? Hatte Wortmann nicht zugehört?
Eine ältere Frau meldete sich und stellte sich als die Großmutter einer Schülerin vor, mit der sich Lisa gut verstand.
Die Frau fand Wortmanns Anregung nicht in Ordnung. Sie sprach sich entschieden dagegen aus, bei diesem für das künftige Wohlergehen der Kinder wichtigen Thema einen wesentlichen Teilbereich auszuklammern. Gerade die globalen Folgen eines hohen Fleischkonsums würden die Lebensqualität der Kinder in Zukunft massiv beeinträchtigen.
Wortmann schaute nervös in die Runde. Er fragte vorsichtig, ob diese Ansicht allgemeine Auffassung sei. Es meldeten sich zwei Väter und eine junge Mutter, die sich nachdrücklich für den Vorschlag des Schulleiters einsetzten. Man habe hier nicht die Zeit und auch nicht die Fakten zur Hand, um sich mit Details wie dem von Rindern produzierten Methangas zu befassen.
Auf dem geröteten Gesicht des Schulleiters zeichnete sich Erleichterung ab. Er nutzte rasch die Gelegenheit und bei der Abstimmung erhielt sein Vorschlag, das Thema einzugrenzen, eine klare Mehrheit.
Lisa war entrüstet und eine unchristliche Wut auf ihren Vorgesetzten stieg in ihr hoch. Warum war Wortmann so feige und scheute eine umfassende Diskussion?
Im Folgenden ging es nur noch um die eine Frage: Kann eine fleischarme Ernährung bei Kindern, die sich mit zwölf Jahren in einer wichtigen Entwicklungsphase befinden, zu einem ernsthaften Mangelzustand führen?
Es meldete sich ein kleiner Mann mit Glatze und Bauchansatz, der sich als praktischer Arzt und Vertreter der Schulmedizin ausgab. „In diesem Alter ist eine fleischlose Ernährung unverantwortlich. Wertvolle Vitamine, Mineralien und Spurenelemente, die gerade der Körper von Jugendlichen dringend benötigt, werden dabei nicht in ausreichender Quantität aufgenommen.“
Dem widersprach energisch eine ältere Dame: „Ich arbeite seit mehreren Jahrzehnten als Ernährungsberaterin und bin selbst Veganerin. In meiner Praxis habe ich schon mehrere Jugendliche betreut, die sich vegetarisch ernährten. Alle haben sich vollkommen normal und gesund entwickelt. Man muss nur darauf achten, dass eine Person, die kein Fleisch isst, ausreichend pflanzliche Proteine zu sich nimmt, zum Beispiel in Form von Linsengerichten.“
Kaum war das Stichwort vegetarisch gefallen, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Eltern wieder auf Lisa. Ihr Outing vor der Klasse als Vegetarierin stand nun im Brennpunkt.
„Als Lehrerin haben Sie eine Vorbildfunktion“, entrüstete sich ein Vater. „Wenn sich ein Mädchen mit Essstörungen die eigene Biologielehrerin zum Vorbild nimmt und kein Fleisch mehr isst, dann verschlimmert dies das Problem.“ Und direkt an Lisa gewandt zischte er erregt: „Und das haben dann Sie provoziert ... und zu verantworten!“
Im Klassenzimmer entstand Unruhe, erregt sprachen alle durcheinander. Einige Eltern sandten unfreundliche Blicke in Richtung Lisa, die in gebückter Haltung mit rotem Kopf am Lehrertischchen saß.
Ein selbstständiger Anwalt verschaffte sich mit lauten Zwischenrufen Gehör. Er meinte, man könne es in der heutigen Zeit einer Lehrerin nicht vorwerfen, wenn sie sich vor der Klasse als Vegetarierin bekenne. Aus seiner Sicht sei aber die indirekte Empfehlung von Frau Berner an ihre Schüler, es ihr gleichzutun, problematisch. Damit habe sie seiner Ansicht nach ihre Vorbildfunktion missbraucht.
Wieder wildes Durcheinandergerede. Lisa presste die Lippen zusammen und schloss die Augen. Wortmann war der kalte Schweiß auf die Stirn getreten. Er bat die Eltern um eine Unterbrechung und zerrte seine Kollegin ungalant vor die Tür.
„Wie konnten Sie bloß so töricht sein und vor der Klasse sagen, Sie seien Vegetarierin? Das geht doch keinen etwas an! Ihr Outing verschärft die Lage. Es wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben, als sofort dazu Stellung zu nehmen. Die Eltern werden eine Erklärung verlangen, dass Sie Ihre vegetarische Ernährung als Privatangelegenheit betrachten.“
Wortmanns Verhalten enttäuschte Lisa. Nichts war mehr zu spüren von dem gemeinsamen Kampf ‚Seite an Seite‘.
Mit monotoner Stimme rechtfertigte sie sich vor den Eltern: „Mein sogenanntes Outing als Vegetarierin war die Antwort auf die entsprechende Frage eines Schülers. Auch mein Hinweis, ich würde mich seit sechs Monaten fleischlos ernähren und mich seither gesundheitlich besser denn je fühlen, kam auf die Frage dieses Schülers zustande.“
Nach einer Pause ergänzte Lisa in ruhigem Ton: „Meine Erlebnisse in Brasilien haben mich zur Vegetarierin gemacht. Ich bin zuversichtlich, dass immer mehr Menschen, sobald sie die Zusammenhänge verstanden haben, sich ebenfalls für eine fleischarme Ernährung entscheiden werden. Menschen mit Gemeinsinn und der Fähigkeit, über den heutigen Tag hinaus zu denken. Denn sie haben erkannt, dass sie auf diese Weise eine Klimakatastrophe abwenden und den Hunger auf der Welt verringern können.“
Wortmann hielt nun die Zeit für gekommen, die Diskussion zu beenden. Unter dem Eindruck von Lisas abschließender Bemerkung ruderte er zurück: „Meiner Meinung nach ist es durchaus Aufgabe der Schule, Fragen zur gesunden Ernährung zu behandeln. Im Lehrplan der Jahrgangsstufe 7 ist im Fach Haushalt und Ernährung die vollwertige Ernährung ein Thema und in diesem Zusammenhang auch der Vegetarismus.“
Nachdem die Eltern das Klassenzimmer verlassen hatten, bat der Schulleiter Lisa, um des lieben Friedens willen in der nächsten Schulstunde auf denkbare gesundheitliche Risiken der fleischlosen Ernährung einzugehen. Außerdem solle sie erklären, dass sie die vegetarische Lebensweise als Privatangelegenheit ohne Vorbildcharakter betrachte.
Lisa war bereit, das Thema in der nächsten Stunde nochmals aufzugreifen. Auf die Feststellung, ihre vegetarische Ernährung sei ihre Privatangelegenheit, würde sie jedoch verzichten, da war sie sich sicher. Denn sie hielt diese Aussage schlichtweg für falsch.
Aufgewühlt diskutierte Lisa Berner am nächsten Tag mit Kollegen den Elternabend. Ihr Selbstverständnis als Lehrerin stand auf dem Spiel. Wie soll sie Kinder zu aufgeklärten und verantwortungsbewussten Menschen erziehen, wenn die Eltern sie daran hindern, im Unterricht die Wahrheit zu sagen?
Viele von Lisas Kollegen wollten sich bei der Frage der ‚Vorbildfunktion eines Lehrers’ nicht festlegen. Einige betonten, dass man mit ihr achtsam umgehen müsse. Dies verpflichte den Lehrer, sich bei Fragen des persönlichen Lebensstils zurückzuhalten.
Nur Kollege Benedikt Tauber, der an Lisas Schule Deutsch und Englisch unterrichtete, stellte sich unmissverständlich auf ihre Seite. Er sah es als die Pflicht eines Lehrers an, seine Schüler über Ursachen und Hintergründe der sich anbahnenden Klimakrise aufzuklären. Dazu gehöre auch der viel zu hohe Fleischkonsum in den Industriestaaten. Bei dieser Gelegenheit bekannte Tauber, dass er bereits seit drei Jahren Veganer sei und – wie er mit einem Augenzwinkern hinzufügte – immer noch lebe.
Sophie, mit der Lisa am Abend telefonierte, war entrüstet über den Verlauf des Elternabends: „Unglaublich! So viel Ignoranz in der Weltstadt München!“
Auch in ihrem Blog ‚Nachhaltig und fair’, den Lisa vor einigen Monaten gestartet hatte, berichtete sie über die Kontroverse an ihrer Schule. Am Schluss forderte sie ihre Leser auf, ihre Meinung zu posten.
Einige Tage später rief Lisa aufgeregt bei Sophie an: „Wahnsinn! Über hundert Kommentare.“
„Super! Hätte ich nicht gedacht. Und, wie ist die Tendenz? Eher für oder gegen dich?“
„Etwa zwei Drittel der Kommentare stimmen mir zu.“ Lisa platzte fast vor Stolz. Sophie konnte es durchs Telefon spüren und freute sich mit ihr.
„Haben die Kommentatoren deines Blogbeitrags neue Belege für Fleischverzicht gebracht? Ich meine Argumente, die du in der Unterrichtsstunde und beim Elternabend nicht verwendet hast?“
„Ja, ein Krankenhausarzt aus, warte mal ... aus Niedersachsen informierte mich über seine Probleme mit MRSA-Keimen. Die entstehen in großen Schweinemastbetrieben, wenn ständig Antibiotika eingesetzt werden, meist prophylaktisch zur Vermeidung von Krankheiten aber manchmal auch als Wachstumsbeschleuniger. Durch die ständigen Antibiotikagaben entwickeln sich Bakterienstämme, die gegen herkömmliche Antibiotika resistent sind. Und die Leute, die in diesen Ställen arbeiten, bringen die Keime dann ins Krankenhaus, sei es als Patient oder als Besucher.“
„Das ist ja fürchterlich!“ Ihr Zorn ließ Sophies Gesicht krebsrot werden. „Weiß irgend jemand, wie wir mit diesem Problem fertig werden sollen?“
„Inzwischen habe ich mit dem Arzt telefoniert. Er sagte, im letzten Jahr habe es Todesfälle in deutschen Krankenhäusern gegeben. Wegen dieser MRSA-Keime! Vor allem Patienten, die durch eine große OP geschwächt sind, oder ältere Menschen mit einem schwachen Immunsystem sind gefährdet.“
Da hörte sie Sophie leise aber mit großem Nachdruck sagen: „Lisa, ich glaube, das ist der Hebel, um in Deutschland der Massentierhaltung endlich den Garaus zu machen. Gefährliche Keime, die aus Mastbetrieben mit Massentierhaltung in Krankenhäuser verschleppt werden!“ Wütend stieß Sophie ihren Atem aus. „Das ist ein Riesenskandal. Diese Schweinerei wird nicht nur die Leser der BLICK-Zeitung interessieren.“
„Aber die Leute sind doch keine Mikrobiologen. Und wer kennt sich schon mit Hygiene in Krankenhäusern aus?“
„Dafür werden die Medien sorgen, so ein Thema muss doch die Menschen elektrisieren. Killerkeime im Krankenhaus, da läuft es doch jedem halbwegs normalen Bürger eiskalt den Rücken runter.“
„Soll ich zu dem Arzt Kontakt halten?“
„Unbedingt! Das ist ein Mediziner, der sein Berufsethos ernst nimmt. Dem es nicht egal ist, was für ein Damoklesschwert über unserem Gesundheitssystem baumelt.“
In den nächsten Tagen gingen etwa achtzig weitereKommentare zu Lisas Blogtext ein. Tierschutz- und Vegetarierverbände fragten an, ob sie ihn auf ihrer Website und in ihrem Newsletter veröffentlichen dürften. Lisa freute sich darüber, denn je mehr Menschen sich mit dem Thema befassten, umso besser.
Ernsthafte Kommentare beantwortete sie, unabhängig davon, ob sie für oder gegen ihre Auffassung waren. Es meldeten sich auch zwei Oppositionspolitiker aus dem bayerischen Landtag, die Lisa ermutigten, ihre Position in der Schule und, falls erforderlich, gegenüber der Schulverwaltung offensiv zu vertreten.
Als ein freier Mitarbeiter der Münchner Allgemeinen Zeitung (MAZ) um ein Interview anfragte, bekam Lisa Herzklopfen und erbat sich Bedenkzeit.
Sie telefonierte mit ihrer Freundin Sophie. „Wie siehst du das? Kann ich als Beschäftigte im Öffentlichen Dienst so ein Interview geben? Oder wird man mir mangelnde Loyalität vorwerfen, wenn ich dies ohne Zustimmung meines Schulleiters mache?“
„Du könntest ihm ja ganz unschuldig das fertige Interview zur Genehmigung vorlegen. Wenn er den Text abzeichnet, sind wir aus dem Schneider.“
„Ja wenn! Doch Wortmann wird das nicht auf seine Kappe nehmen. Vorsichtig und karrieregeil wie er ist, wird er ganz schnell die Verantwortung nach oben schieben. Dann bekommen wir, wenn überhaupt, in sechs Wochen die Genehmigung eines zusammengestrichenen Interviews mit minimalem Aussagewert.“
Sophie dachte nach. „Ich finde, auch eine Beschäftigte im Öffentlichen Dienst hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Und du wirst ja in dem Interview nicht deine Schule oder deinen Schulleiter oder das bayerische Kultusministerium in die Pfanne hauen, sondern nur ganz vorsichtig an den Betonköpfen einiger Eltern anklopfen.“
„Richtig“, stimmte Lisa zu, „aber darf ich Einzelheiten eines Elternabends an die Öffentlichkeit bringen?"
„Das hast du doch nicht vor. Du könntest aber im Interview durchblicken lassen, wie sehr die steinzeitlichen Ansichten einiger Eltern über eine gesunde Ernährung dich enttäuscht haben. Vor allen, weil sie nicht den Bedürfnissen ihrer Kinder gerecht werden.“
Lisa war immer noch unentschlossen. „Bloß keinen Ärger mit der Bildungsbürokratie. Du weißt, wie schwierig es für mich war, eine Stelle in Bayern zu bekommen. Das hat nur funktioniert, weil meine Fächerkombination Biologie/Chemie gerade gesucht war.“
Sophie seufzte. „Meine Liebe, sehe doch auch die positiven Seiten eines Interviews in einer führenden Tageszeitung. Es ist eine Superchance für uns, eine große Zahl von Menschen über nachhaltige Ernährung aufzuklären.“
Dieses Argument überzeugte Lisa. Klar: Mit diesem Interview konnte sie etwas für die Sache tun, die ihr so am Herzen lag. Dafür war sie auch bereit, ein persönliches Risiko einzugehen. Ihre Bereitschaft zu Mut und Zivilcourage hatte gegenüber der anfangs vorherrschenden Ängstlichkeit die Oberhand gewonnen.
Einige Tage später traf Lisa den MAZ-Mitarbeiter in einem Café in der Münchner Innenstadt. Er stellte Fragen zu ihrem beruflichen Werdegang, machte von allen Seiten Fotos und übergab ihr die Interviewfragen. Innerhalb von drei Tagen sollte sie ihm ihre Antworten mailen.
Lisa gefiel vor allem die Frage nach ihrem Motiv, für eine vegetarische Ernährung in der Öffentlichkeit einzutreten. Entsprechend ausführlich wurde ihre Antwort. Sophie, der sie ihren Text zur Durchsicht gab, verstand es, ihn ohne Substanzverlust zu kürzen. Außerdem ermutigte sie Lisa, die günstigen Auswirkungen einer fleischarmen Ernährung auf das Weltklima noch mehr in den Mittelpunkt ihrer Antworten zu rücken.
Schließlich war Lisas Interviewtext locker formuliert, verständlich und witzig. Auch die rhetorische Frage nach dem Standort von Deutschlands wichtigstem Methanvorkommen konnten sie unterbringen. Nein, nicht offshore irgendwo draußen in der Nordsee, sondern in den Mägen der deutschen Rindviecher.
Das Interview erschien wenige Tage später in der MAZ.Noch am selben Tag wurde Lisa von Kollegen darauf angesprochen. Einige prophezeiten ihr massiven Ärger mit der Schulbehörde, da sie es versäumt habe, das Interview genehmigen oder gegenlesen zu lassen. Nur Kollege Tauber stellte sich vorbehaltlos hinter Lisas Text und lobte ihre Zivilcourage.
Am nächsten Tag bat Schulleiter Wortmann sie zu einem Gespräch. Er hatte Sorgenfalten auf der Stirn.
„Welcher Teufel hat Sie bloß geritten, unseren Elternabend auf diese Weise publizistisch auszuschlachten? Damit haben Sie sich selbst, der Schule und auch mir einen Bärendienst erwiesen.“
Lisa Berner holte tief Luft, bevor sie loslegte: „Was soll die Dramatisierung, Herr Wortmann? Wenn Sie mein Interview unvoreingenommen lesen, müssen Sie zugeben, dass ich weder Sie, noch die Schule, noch den Lehrplan für Realschulen, noch die bayerische Bildungspolitik kritisiere.“
„Das sehe ich anders. Unterschwellig enthält das Interview Kritik am bayerischen Schulsystem.“
„Dann interpretieren Sie etwas hinein, was ich nicht gesagt habe. Ich habe nur die Haltung einiger Eltern beklagt und dazu stehe ich. Es ist bedauerlich, wenn Eltern nicht einsehen wollen, dass eine fleischarme Ernährung in vielerlei Hinsicht dem Wohl ihres Kindes dient.“
„Selbst wenn Ihre Argumente richtig wären, Frau Berner, was soll Ihre Nörgelei? Sie werden damit bei einem Teil der Eltern aufs Neue böses Blut schaffen. Dadurch tragen Sie nicht zur Befriedung des Konfliktes bei, sondern zu seiner Eskalation.“
Lisa Berner sah Wortmann so treuherzig wie sie nur konnte in die Augen und versicherte, dies sei nicht ihre Absicht gewesen. Aus den vielen Antworten im Netz auf ihren Blogeintrag ergebe sich ein anderes Bild von der Auffassung der Elterngeneration.
„Was für ein Blog?“ Lisas Schulleiter musterte sie mit offenem Mund.
„Mein Blog heißt ‚Nachhaltig und fair’. Und bitte, nehmenSie das zur Kenntnis, die große Mehrheit der Eltern, die auf meinen Eintrag geantwortet hat, liegt auf meiner Linie. Diese Eltern akzeptieren es nicht nur, wenn ihre Kinder auf Fleisch verzichten, nein, sie freuen sich sogar darüber.“ Nach einer Pause fuhr Lisa in bedächtigem Ton fort: „Vielleicht sollte ich ein paar Eltern meiner Klasse Nachhilfe über gesunde und nachhaltige Ernährung geben. Ich bin gerne dazu bereit, aber ich bin nicht bereit, in dieser fundamentalen Frage mir einen Maulkorb verpassen zu lassen.“
„Ist das Ihr letztes Wort?“
„Ja.“
„Dann kann ich Ihnen auch nicht mehr helfen. Die Konsequenzen werden Sie ganz alleine tragen müssen.“
Andreas Draxl, der PR-Manager der Münchner Qualitätsfleisch GmbH, wunderte sich über die Bitte von Geschäftsführer Hackeberg, ihn unverzüglich zu sprechen. Das kam selten vor, denn regelmäßigen, persönlichen Kontakt pflegte Hackeberg, der sich gerne mit ‚Herr Generaldirektor’ anreden ließ, nur zu den anderen Geschäftsführern.
Mit einem laschen Händedruck begrüßte Hackeberg seinen Mitarbeiter und bat ihn, auf einer Sitzgruppe aus Nappaleder Platz zu nehmen. Während er sich ihm gegenübersetzte, fragte er beiläufig: „Zigarre, Zigarillo, Zigarette?“
„Vielen Dank für Ihr Angebot, Herr Generaldirektor, aber Rauchopfer gehören schon seit einigen Jahren nicht mehr zu meinem Repertoire.“
Ohne sich weiter darum zu kümmern, zündete sich Hackeberg einen Zigarillo an. „Wie geht es Ihnen, Draxl? Macht die Arbeit Spaß?“
„Danke der Nachfrage, Herr Generaldirektor! Ja ... doch ... oder ... sagen wir mal … meistens.“
„Das klingt gut! Nur Spaß soll die Arbeit nicht machen. Dann wäre es ja keine Arbeit sondern Hobby.“ Hackeberg grinste dümmlich und zeigte seine gelb verfärbten Zähne. Nach einem genussvollen Zug an seinem Zigarillo, wobei er den Rauch senkrecht nach oben paffte und das markante Kinn von den umliegenden Fettpölsterchen entblößte, fragte er: „Sind Sie eigentlich durch Ihre Arbeit ausreichend gefordert, ich meine intellektuell?“
Draxl überlegte, warum der Alte wohl diese Frage stellte. Da er auf Anhieb das Motiv nicht erkennen konnte, entschloss er sich, wahrheitsgemäß zu antworten: „Grundsätzlich schon. Ein Teil meiner Arbeit ist jedoch inzwischen Routine, das finde ich weniger spannend.“
„Eine ehrliche Antwort“, murmelte der Chef. „Ich denke, Ihrem Mangel an intellektueller Herausforderung kann ich abhelfen. Sie sind doch seinerzeit von der Zeitung zu uns gekommen?“
„Ganz recht, Herr Generaldirektor. Ich habe zuvor beim Augsburger Tagblatt gearbeitet.“
„Aha, also Journalist von der Pike auf?“