Die verlogene Politik - Pascal Beucker - E-Book

Die verlogene Politik E-Book

Pascal Beucker

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Entlarven Sie die Lügen und Legenden der Politik! Von den schwarz-gelben Steuersenkungsversprechen bis zu den sogenannten »humanitären Einsätzen« der Bundeswehr, von Thilo Sarrazins Überfremdungsphantasien bis zu Guido Westerwelles Klagen über »spätrömische Dekadenz« – die renommierten Journalisten Pascal Beucker und Anja Krüger versammeln in Die verlogene Politik die größten Täuschungen der Politik. Schonungslos decken sie auf, wie und warum wir von Politikern immer wieder belogen werden. Dieses aufrüttelnde eBook beleuchtet politische und gesellschaftliche Debatten kritisch und hinterfragt die Aussagen unserer Volksvertreter. Ein Muss für alle politisch Interessierten, die hinter die Fassaden blicken möchten. Die verlogene Politik ist ein Weckruf für mehr Transparenz und Ehrlichkeit im politischen Diskurs.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 403

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Pascal Beucker / Anja Krüger

Die verlogene Politik

Macht um jeden Preis

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Vorwort Niemand beabsichtigt, eine Mauer zu errichtenKapitel 1 Im Dickicht zwischen Lüge und WahrheitEs gilt das gebrochene WortSelten: Aufstand gegen LügnerNichts für Warmduscher und WeicheierDie Kunst des DementisFalsche AnkündigungenDie Anti-Wortbruch-IntrigantenVon »Lügilanti« zur »Kraftilanti«Dunkle FleckenDas taktische Verhältnis zur WahrheitExkurs Das unschöne K-WortKerngeschäft TötenDer Fall KunduzDabei sein ist allesGrundgesetzliche DehnübungenKapitel 2 Die Lüge von der SachentscheidungDie StrippenzieherDer ungleiche Kampf Umwelt- versus EnergielobbyVom Hinterzimmer ins MinisterbüroEin Drehbuch für die AtomlobbyBeharrlich pro KernkraftLobbyisten auf dem KunstrasenDie Initiative Neue Soziale MarktwirtschaftAPO des KapitalsPflegeversicherung teilprivatisiertKapitel 3 Die Riester-Renten-LügeFörderung für VersicherungsvertreterBismarcks Sozialreformen als WaffeDie Geburt des Eckrentners»Walter fürs Alter«Etikettenschwindel BetriebsrenteHaken bei der privaten AltersvorsorgeKapitel 4 Die Arbeitsmarkt-LügeDie Hartz-KommissionFördern als AlibiVon der Vollbeschäftigung zur MassenarbeitslosigkeitDie berühmte HängematteArbeiten zu DumpinglöhnenVerfassungswidrige RechentricksWesterwelles PhilippikaVerachten statt mitfühlenZu wenig JobsGewinner und VerliererKapitel 5 Die SteuerlügenLüge mit AnsageMehr verdienen, weniger zahlenDeutschland heizt den Steuerwettbewerb anDie attraktive MittelschichtDie schrumpfende MitteMister Mittelstand BrüderleMächtige GroßkonzerneKapitel 6 Die BildungslügeHerr Dr.PolitikerDie soziale AusgrenzungVon der Bildungseuphorie zur ErnüchterungVerlierer geben sich selbst die SchuldDer verlorene Mut zur VeränderungReformplacebosGesamtschule – warum nicht?Kapitel 7 Die GesundheitslügeDas furchtbare Wort »Rationierung«Gefühlte Zwei-Klassen-MedizinGesundheit rückt ins Zentrum der PolitikPolitik individualisiert KrankheitsrisikoVersicherungsstatus: der kleine UnterschiedPolitik stiehlt sich aus der VerantwortungDie Belastung der Versicherten steigtMillionen neuer FürsorgeempfängerKapitel 8 Die Lüge, dass sich gute Politikerinnen stets gegen schlechte Politiker durchsetzenFrauen in die AufsichtsräteAngetäuschtes GleichstellungsgesetzGrüne Frauen gegen alte KameradenDie erste 50-Prozent-QuoteDie SPD zieht nachDie CDU führt das »Quorum« einDie FDP: fast frauenfreiDie Schnecke auf dem GlatteisDie gläserne DeckeKapitel 9 Die IntegrationslügeZirkus SarrazinFremdenfeindlichkeit in der Mitte der GesellschaftFehlender RückfahrtscheinDie AnwerbungDer Mann mit dem MopedDas Kühn-MemorandumDie Feinde der FremdenDer Lehrer und die PutzfrauTrotz alledemDie Realitätsverweigerung der UnionSozialdemokratische AltlastenKapitel 10 Die Lüge von der sauberen ParteienfinanzierungDer schwarze Kanzler mit den schwarzen KassenDer wiederholte AmtsmeineidDer Alte aus Rhöndorf und sein PrivatbankierIndustrielle im Kalten KriegCDU-Regierung um jeden PreisGeldregen nach GutdünkenKampf gegen Willy BrandtDie Flicksche LandschaftspflegeDas illegale Spendensystem fliegt aufHelmut Kohls GedächtnislückenExkurs Möllemann – eine liberale KarriereRasanter AufstiegMöllemanns MillionenHauptsache, die Kasse stimmtKapitel 11 Die Lüge von der uneigennützigen PolitikDurch die DrehtürCash für Schröder und FischerMoneten für Minister a.D.Der Fall ClementDie schwarz-roten MietlobbyistenDer »gläserne« AbgeordneteErst der Skandal, dann die TransparenzBlick über den TellerrandLiteratur
[home]

VorwortNiemand beabsichtigt, eine Mauer zu errichten

In der Nähe des Märkischen Museums in Berlin begegnen Passanten einer der bekanntesten Lügen der deutschen Geschichte, ja vielleicht der Weltgeschichte. In der Mitte der deutschen Hauptstadt erinnern Steinsäulen an historische Ereignisse. Per Knopfdruck können Interessierte Tondokumente abrufen, darunter Ausschnitte aus der berühmten Pressekonferenz vom 15. Juni 1961 in Ostberlin. Auf die Frage der Journalistin Annamarie Doherr von der Frankfurter Rundschau zu Plänen, die Grenze zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland mit einer Mauer zu sichern, antwortet der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht mit dem legendären Satz: »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.« Zwei Monate nach seiner Zusicherung begann die DDR am 13. August 1961 mit dem Bau der Mauer.

Dass in der »kommoden Diktatur«, wie Günter Grass die DDR genannt hat, gelogen wurde, gehörte quasi zur Staatsräson. Bewusst die Unwahrheit zu sagen ist allerdings kein Alleinstellungsmerkmal von Politikern autoritärer Staaten. Auch in Demokratien wie der Bundesrepublik gehörte und gehört die Lüge stets zum Repertoire der politischen Akteure. »Niemand hat je bezweifelt, dass es um die Wahrheit in der Politik schlecht bestellt ist, niemand hat je die Wahrhaftigkeit zu den politischen Tugenden gerechnet«, konstatierte 1967 die Philosophin Hannah Arendt, eine der scharfsinnigsten politischen Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts. Sie zog den beunruhigenden Schluss: »Lügen scheint zum Handwerk nicht nur des Demagogen, sondern auch des Politikers und sogar des Staatsmannes zu gehören.«[1] Arendts Feststellung hat bis heute nichts von ihrer beklemmenden Aktualität verloren.

Aber Vorsicht! Es gehört mittlerweile zu den Gepflogenheiten der Parteien, sich gegenseitig der Lüge zu bezichtigen. Das gilt als legitimes Mittel im Meinungskampf. Die Folge ist eine fatale Desensibilisierung. Im Dickicht der Beschuldigungen lässt sich die Wahrheit nur noch schwer identifizieren. Sie wird zur Glaubensfrage und verliert an Relevanz. Lässt sich nicht mehr unterscheiden, wer lügt und wer nicht, bleibt nur noch die persönliche Präferenz zur Beurteilung. Und wer der Überzeugung ist, von Politikern ohnehin nur belogen zu werden, für den ist Aufrichtigkeit auch kein Kriterium mehr für seine Wahlentscheidung – wenn er denn überhaupt noch wählen geht. Er beginnt abzustumpfen und sich abzufinden. Politik ist halt ein schmutziges Geschäft. Doch was ist die Konsequenz aus diesem Fatalismus? »Wer gegen Politik ist, ist für die Politik, die mit ihm gemacht wird«, schlussfolgerte Bertolt Brecht.

Eine Diktatur kann Kritik nicht dulden, es sei denn, sie richtet sich gegen ihre Kritiker. Einer der großen Vorteile eines demokratischen Staates ist die Möglichkeit zur Kritik an den herrschenden Verhältnissen. Aber was nützt dieser Vorteil, wenn er nicht wahrgenommen wird? Was hilft Kritik, wenn sie nicht gehört werden will? Allein dass Konrad Adenauer und Helmut Kohl bis heute in der Bundesrepublik als große Staatsmänner gelten, zeigt, welchen geringen Stellenwert die Wahrhaftigkeit eines Politikers für seine Bewertung hat. Der Zweck heiligt die Mittel, allzu oft rehabilitiert er den Lügner. Genau an diesem Punkt beginnen die Grenzen zu verschwimmen. Wer legt fest, welcher Zweck auch die Anwendung eigentlich illegitimer oder gar eindeutig illegaler Mittel rechtfertigt? Wer tatsächlich meint, der Zweck heilige die Mittel, dem gehen schnell die Maßstäbe verloren – die für Menschlichkeit und Würde ebenso wie die für Rechtstaatlichkeit und ethisches Wirtschaften.

Die Lüge hat viele Gesichter. Sie kommt als Etikettenschwindel daher, als Halbwahrheit, als bewusstes Verschweigen, als gebrochenes Versprechen oder als grobe, betrügerische Täuschung. Wer sie einsetzt, verfolgt immer eine Absicht – eine schlechte und bisweilen auch eine gute. Niemand lügt einfach so. Wer versehentlich nicht die Wahrheit sagt, der lügt nicht, der irrt. Auch das kommt vor im politischen Geschäft, recht häufig sogar. Der echte Lügner hat eine klare Vorstellung von seinem Tun und ein klares Ziel. Er will sich oder anderen einen Vorteil verschaffen, womöglich sich oder andere vor einem Schaden bewahren. »Was ist besser, von einem bösen Gewissen genagt zu werden oder ganz beruhigt am Galgen zu hängen?«, fragt der Philosoph Georg Christoph Lichtenberg. Es gibt Lügen in guter und Lügen in böser Absicht. Im Leben von Millionen von Menschen ist das Motiv für eine Lüge oft zugleich die Rechtfertigung oder zumindest die Entschuldigung. Darf man einen Sterbenden über seine Lage im Unklaren lassen, um ihm das noch verbleibende Leben leichter zu machen? Darüber lässt sich kontrovers diskutieren, aber den verschiedenen Standpunkten die ethische Redlichkeit absprechen kann man nicht. Notlügen gehören zum Alltag der Menschen. »Lügen sind erwartbar und unvermeidlich«, weiß der Soziologe Robert Hettlage. »Wer nach der Wahrheit – und nur nach der Wahrheit – lebt, wird sozial inkompetent.«[2]

Im politischen Feld sieht die Sache allerdings etwas anders aus. Hier geht es immer um widerstreitende politische und wirtschaftliche Interessen. Der Staat ist eben nicht Freund, Betreuer oder Vater der Bürger, er darf auch in Ausnahme- und Notfällen nicht über ihren Kopf bestimmen, was gut und richtig ist. Der Bürger gibt mit der Wahl keine Patientenverfügung ab. Politiker haben eine besondere Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit. Auch die gute Absicht kann für sie keine Rechtfertigung zur Lüge sein.

Abgeordnete, Staatssekretäre und Minister sind Meister der bürokratischen Sprache und gleichzeitig ausgesprochen kreativ. Sie entwickeln bizarre Begriffe wie »Umweltprämie« für Zuschüsse zu neuen Autos oder »Eigenverantwortung« für höhere finanzielle Eigenleistungen der Bürger. Sie bezeichnen getötete Zivilisten als »Kollateralschäden« und Bomben als »Wirkmittel«. Arbeitslose werden umdefiniert zu Kunden der Arbeitsagentur, Reform meint nicht mehr die Verbesserung von Lebenswirklichkeit, sondern die Androhung von Kürzungen. Begriffskosmetik dieser Art ist für Politiker ein geeignetes Instrument, Wählern unpopuläre Entscheidungen zu verkaufen, um an die Macht zu kommen oder sie zu behalten. Ob scheinbar harmlose Schummelei oder gezielte Täuschung – Politiker sollten damit nicht durchkommen.

 

Köln, Sommer 2010

Pascal Beucker, Anja Krüger

[home]

Kapitel 1Im Dickicht zwischen Lüge und Wahrheit

Warum Wahrhaftigkeit nicht zu den politischen Tugenden gehört

 

Politiker einer Lüge zu überführen, das ist eigentlich fast die einzige Möglichkeit, sie rasch und endgültig loszuwerden«, formulierte der im Juni 2009 verstorbene liberale Vordenker Ralf Dahrendorf.[3] Aber das ist leichter gesagt als getan. Eine geschickte Lüge ist nicht so einfach zu entlarven, eine dreiste bisweilen ebenso wenig. Und wem wird geglaubt: dem Aufklärer oder dem Lügner? Über den italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi sagt der amerikanische Wissenschaftler und Journalist Alexander Stille, er habe das Lügen zum Prinzip erhoben. »Ich bin noch nie jemandem begegnet, der in so kurzer Zeit so viel gelogen hat«, berichtet Stille.[4] Der Autor von »Citizen Berlusconi«, einer vielgelobten Biographie über den umstrittenen italienischen Politiker und Medienmogul, erzählt von seinem Besuch einer politischen Kundgebung, auf der Berlusconi seinen Anhängern erklärte: Wenn man eine Lüge oft genug wiederhole, werde sie irgendwann zur Wahrheit. »Das ist ein ziemlich gruseliges Credo, und er verfährt danach.« Das Bemerkenswerte an Berlusconis Lügen sei, »mit welcher Überzeugung er sie vorträgt«, so der Professor für Journalismus an der Columbia University. »Das ist ein starkes Machtinstrument.« Es ist in Deutschland beliebt, mit einer Mischung aus Amüsement und Fassungslosigkeit auf Italien zu blicken. Undenkbar scheint »in diesem unseren Land« (Helmut Kohl), jemanden wie Berlusconi zum Bundeskanzler zu wählen. Aber täuschen wir uns nicht: Die Gefahr ist größer, als mancher zu glauben bereit ist.

Von Berlusconi stammt der Ausspruch: »Es ist richtig, dass alle vor dem Gesetz gleich sind. Aber ich bin gleicher, weil mich die Mehrheit des Volkes gewählt hat.« Handelte Helmut Kohl während seiner Kanzlerschaft nicht exakt nach der gleichen Maxime, als er sich mit seiner illegalen Spendenakquise zugunsten der CDU – falls es sich überhaupt um Spenden handelte – ganz bewusst über das Grundgesetz hinwegsetzte, auf das er geschworen hatte? Als das Bonner Landgericht im Februar 2001 seine Zustimmung zur Einstellung der Ermittlungen gegen den Bundeskanzler a.D. gab, begründeten die Richter ihre Entscheidung nicht nur mit dem angeblichen Fehlen eines öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung, sondern auch mit den besonderen Verdiensten Kohls: Gewürdigt werden müsse »ein über 50 Jahre währendes Engagement für die staatliche Gemeinschaft« ebenso wie »seine unbestrittenen Verdienste um die Schaffung einer europäischen Friedenszone im allgemeinen, um die Aussöhnung mit den Nachbarn Deutschlands und um die deutsche Einheit im besonderen«. Außerdem hebe die Staatsanwaltschaft zu Recht hervor, »dass die persönlich herabwürdigenden Angriffe in der Medienberichterstattung mildernd berücksichtigt werden müssten«, heißt es in dem Beschluss des Landgerichts.[5] Ein Ladendieb kann nicht darauf bauen, dass ein Richter ihm seine politischen Verdienste strafmildernd zugutehält. Kann ein des Sozialbetrugs beschuldigter Hartz-IV-Empfänger hoffen, dass ihn persönlich herabwürdigende Berichte in den Medien vor Gericht zu seinen Gunsten gewertet werden? Manche sind eben gleicher.

Es gilt das gebrochene Wort

Ob Politiker heute ein distanzierteres oder engeres Verhältnis zur Wahrheit haben als früher – das wird niemand mehr nachvollziehen können. Denn dass Betrugsmanöver in der Vergangenheit nicht bekannt wurden, heißt nicht, dass es sie nicht gab. Die Führungstechniken von Konrad Adenauer würde man heutzutage in feierlichen Akademieansprachen über die politische Kultur in der Zivilgesellschaft eher nicht lobend hervorheben, stellt der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter fest. »Ein Musterdemokrat war Adenauer gewiss nicht. Um seine Partei gefügig zu machen, griff er oft zum Mittel der Dramatisierung phantasievoll ausgedachter Gefahren. Er log die Parteigremien kalt an, wenn es ihm opportun erschien – und das war keineswegs selten der Fall«, stellt Walter fest. »Er benutzte Informationen aus klandestinen Dossiers und Geld aus verdeckten Kassen.«[6]

Auch mit dem politischen Gegner ging Adenauer nicht zimperlich um. Auf dem Höhepunkt des Bundestagswahlkampfs 1953 behauptete er öffentlich, SPD-Politiker würden sich von der DDR bezahlen lassen. Zwei nordrhein-westfälische Genossen hätten »je 10 000 DM West aus der Sowjetzone erhalten«. Das Geld stamme aus einem Fonds der SED für Wahlkampfzwecke. Einen Beweis blieb Adenauer schuldig. Aber er beharrte auf seinen Anschuldigungen – bis zum Wahltag. Anfang 1954 ließ der wiedergewählte Kanzler das Bonner Landgericht lapidar wissen, seine Informationen seien leider falsch gewesen: »Ich nehme deshalb mit dem Ausdruck des Bedauerns meine Behauptung zurück«, teilte Adenauer in einer Erklärung mit. Damit war der Fall für ihn juristisch erledigt. »Ein Journalist, der die gleiche Behauptung verbreitet hätte, wäre nach § 187 a StGB wegen ›politischer übler Nachrede‹ mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft worden«, kommentierte der Spiegel.[7] Nur wenige Wochen nach seinem schriftlichen Bedauern der Wahlkampflüge spottete Adenauer im Bundestag in Richtung der zutiefst empörten Sozialdemokraten: »Wenn Sie dieses Auftreten und Reden einige Millionen Stimmen gekostet hat, dann bin ich sehr froh darüber.«

Nicht hinter jeder Unwahrheit verbirgt sich unbedingt ein Lügenmanöver. Manchmal liegt die Wahrheit verschollen im Bermudadreieck zwischen Irrtum, Irrsinn und Irreführung. Die deutsche Einheit begann mit den legendären »blühenden Landschaften« Helmut Kohls. Im Buhlen um die Gunst der Wähler versprach der damalige Bundeskanzler vor der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990: »Für die Menschen in der Bundesrepublik gilt: Keiner wird wegen der Vereinigung Deutschlands auf etwas verzichten müssen. Es geht allenfalls darum, Teile dessen, was wir in den kommenden Jahren zusätzlich erwirtschaften, unseren Landsleuten in der DDR zur Verfügung zu stellen – als Hilfe zur Selbsthilfe.«[8] Ob Kohl selbst an seine eigenen Worte geglaubt hat? Eigentlich kaum möglich. Falls er seinerzeit die Bevölkerung bewusst getäuscht haben sollte, so hat er es nie zugegeben. Auf jeden Fall verschafften ihm seine vollmundigen Versprechungen den entscheidenden Vorteil gegenüber seinem sozialdemokratischen Herausforderer Oskar Lafontaine. Nur allzu gerne wollten die Wähler den realitätsfernen Verheißungen Kohls glauben, statt auf die Warnungen Lafontaines zu hören. Dessen Hinweise auf die mit dem Vereinigungsprozess verbundenen großen ökonomischen und sozialen Probleme taten sie lieber als das Lamentieren eines miesepetrigen Wiedervereinigungsmuffels ab. Dabei hätte jeder wissen können, wie es um die von Kohl versprochenen »blühenden Landschaften« bestellt sein würde. »Das dicke Ende kommt«, sagte der Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein kurz vor der Bundestagswahl voraus: »Es gilt das gebrochene Wort.«[9]

Wollen die Wähler belogen werden? Nein, das wollen sie ganz und gar nicht. Sie erhoffen sich von Politikern die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse, zumindest jedoch, dass sie nicht zu ihrer Verschlechterung beitragen. Dabei klammern sich die Wähler bisweilen an Illusionen und beleuchten ein Versprechen nicht in dem Maße, wie es angemessen wäre. Politiker machen sich diesen Mechanismus gezielt zunutze. »Was eine Regierung tut, wenn sie einmal gewählt ist, hat häufig mit ihren Ankündigungen im Wahlkampf wenig zu tun.« Wahlkampf dient vor allem der Volksverdummung, davon ist der Autor Thomas Wieczorek überzeugt.[10] Sachthemen werden vor allem in plattester Kampagnenform behandelt. »Versprechen wie 1990 Helmut Kohls ›blühende Landschaften‹ im Osten oder 1998 Gerhard Schröders ›am Abbau der Arbeitslosigkeit wollen wir uns messen lassen‹ sind nur Spitzen eines gigantischen Wählerverblödungseisberges.« Die Parteien haben mit solchen falschen Wahlkampfversprechen dafür gesorgt, dass die Wähler ihnen kaum noch Glauben schenken.

Selten: Aufstand gegen Lügner

Gefährlich wird es für Politiker, wenn die Wähler allzu brutal darauf gestoßen werden, dass die gegebenen Versprechungen bewusste Irreführungen waren. Diese Erfahrung musste der ungarische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány machen. Im Herbst 2006 zogen in Ungarn empörte Bürger wochenlang protestierend durch die Straßen und lieferten sich sogar Straßenschlachten mit den Ordnungskräften, nachdem der damalige sozialdemokratische Ministerpräsident Gyurcsány vor Parteifreunden eingeräumt hatte, die Bevölkerung belogen zu haben. Bei den Parlamentswahlen im April 2006 war die von ihm geführte sozial-liberale Koalition als erste ungarische Regierung überhaupt nach der Wende von 1989 im Amt bestätigt worden. Kurz darauf hielt Gyurcsány auf einer internen Sitzung seine berüchtigte »Lügenrede«[11]. »In Europa hat kein Land so einen Unfug getrieben wie wir«, startete er seine Philippika. »Wir haben offensichtlich in den vergangenen anderthalb bis zwei Jahren von Anfang bis Ende gelogen. Es war vollkommen klar, dass das, was wir sagten, nicht die Wahrheit war.« Er sei »fast daran verreckt, anderthalb Jahre lang so tun zu müssen, als ob wir regiert hätten. Stattdessen logen wir morgens, nachts und abends.« Jetzt sei der Augenblick der Wahrheit gekommen.

Mit seiner »Blut-Schweiß-und-Tränen«-Rede wollte der Premier seine Partei, die sozialdemokratische MSZP, auf einen radikalen Kurswechsel einschwören. Vergleichbar mit Gerhard Schröder und dessen »Reformpolitik« in der zweiten Legislaturperiode setzte Gyurcsány nach der Wahl zwecks Haushaltskonsolidierung auf den Abbau des Sozialstaats. Vor den Parlamentswahlen hatte er noch alle, die ihm vorwarfen, genau das zu planen, öffentlich der Lüge bezichtigt und zur Rücknahme ihrer Behauptungen aufgefordert. »Schließlich sollte man nicht mit Lügen an die Macht kommen wollen«, attackierte er noch kurz vor dem Urnengang in einer Fernsehdebatte seinen rechtskonservativen Herausforderer Viktor Orbán. Das Bekanntwerden von Gyurcsánys »Blut-Schweiß-und-Tränen«-Rede im September 2006 löste die bisher schwersten Unruhen im postkommunistischen Ungarn aus. Bis heute ist ungeklärt, wie der Ton-Mitschnitt der Ansprache an die Öffentlichkeit gelangte. Einen Rücktritt lehnte Gyurcsány trotz der Proteste ab. Bis April 2009 blieb er im Amt. Die Konsequenzen für seine Partei allerdings sind ähnlich wie die Folgen von Gerhard Schröders Politik für die SPD: 2002 war die MSZP mit einem Wahlergebnis von 42 Prozent an die Regierung gekommen, bei der Parlamentswahl im April 2010 reichte es für die ungarischen Sozialdemokraten nur noch für einen Stimmenanteil von 19,3 Prozent.

Nichts für Warmduscher und Weicheier

Manche Vorhaben und rhetorischen Feldzüge sind von Anfang an als Betrugsmanöver angelegt. Dann gebrauchen Politiker die Lüge, wie sie klassisch nach der Definition des Theologen Augustinus aus dem 5. Jahrhundert verstanden wird: die Lüge als eine unwahre, mit dem Willen zur Täuschung vorgebrachte Aussage. Setzen Politiker dieses Mittel ein, wollen sie meistens etwas kaschieren – das eigene Versagen, eine unmoralische Handlung, ein nicht erlaubtes Geschäft unter Freunden, eine Parteispende zweifelhafter Herkunft. Ab und zu hat der Aufbau einer Lügengeschichte ein juristisches Nachspiel.

Die ans Licht gekommene Lüge im Sinne des Augustinus ist für Politiker eine schwere Bürde, auch wenn sie nicht im juristischen Sinne kriminell gehandelt haben. Die Öffentlichkeit hat ein gespaltenes Verhältnis zu ertappten Politikern. Für die einen hat die Entdeckung keinerlei Konsequenzen. Andere werden so lange gejagt, bis sie ihre Karriere aufgeben. Offensichtlich gibt es Umstände, unter denen Öffentlichkeit und Wähler nachweislich unwahre Behauptungen und das Verschweigen wichtiger Informationen verzeihen. Immer wieder kommen Politiker erstaunlich gut durch schwierige Affären. Andere nicht.

Dem SPD-Vorsitzenden Björn Engholm wurde zum Verhängnis, dass er vor einem Untersuchungsausschuss des schleswig-holsteinischen Landtags 1987 behauptet hatte, er habe erst am Wahltag, dem 13. September, von den durch den damaligen Ministerpräsidenten Uwe Barschel (CDU) veranlassten Bespitzelungen erfahren – tatsächlich wusste er es bereits eine Woche früher. Obwohl die Affäre Jahre zurücklag und unbestritten Engholm das Opfer war, trat er 1993 als Vorsitzender der SPD, als deren Kanzlerkandidat und als schleswig-holsteinischer Ministerpräsident zurück, nachdem seine falsche Aussage bekannt geworden war. Barschel hatte mit einer ganzen Reihe unmoralischer und illegaler Mittel Engholm im Wahlkampf zu schaden versucht. Berichte darüber kurz vor und nach der Wahl bestritt er vehement. Schließlich nahm er sich das Leben. Diese Affäre und Barschels Lügen stehen unter einem kriminellen Vorzeichen. Sie sind natürlich politisch, aber nicht typisch für den politischen Betrieb in der Bundesrepublik. Engholm, das Opfer der kriminellen Machenschaften, hält den eigenen Rückzug nach der Entdeckung seiner Lüge noch immer für richtig. »Dass ich da mit reingerutscht bin wegen einer in der Sache nicht bedeutenden, aber vom Verfahren her bedeutenden Unwahrheit, ist scheiße«, sagte er im Sommer 2009 im Interview mit der Berliner Tageszeitung taz. Auf die Frage, ob ein Politiker wegen derselben Lüge auch heute zurücktreten müsste, antwortet er: »Müsste, aber kein Mensch tritt zurück. Für mich war das wichtig. Eine Befriedung. Mein halbwegs ordentliches Ansehen hängt damit zusammen.«[12]

Die Kunst des Dementis

Björn Engholm hat sich selbst die Höchststrafe gegeben. Die sieht auch der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff für Politiker vor, die vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss nicht die Wahrheit sagen. Dort und im Plenum des Parlaments dürfen Politiker nach seiner Auffassung nicht lügen. Schockenhoff ist als Mitglied des Deutschen Ethikrates eine Art Hausethiker des politischen Establishments. »Die Wahrheitsforderung, der Politiker je nach Handlungskontext und Redesituation in abgestufter Weise unterstehen, duldet hier aus verfassungsrechtlichen Gründen keine Abstriche«, findet der Moraltheologe[13], der Bruder des CDU-Bundestagsabgeordneten Andreas Schockenhoff ist. Bei Verstößen von Politikern gegen das Wahrheitsgebot, die sich nicht gegen Verfassungsorgane richten, ist der Berater der deutschen Bischofskonferenz aber großzügig: »Zwar kann niemand für sich ein Recht auf ›geringfügige‹ Lügen in Anspruch nehmen, doch gibt es auch in diesem Bereich Verfehlungen von unterschiedlichem Gewicht, auf die abgestufte Reaktionen der Öffentlichkeit eine angemessenere Antwort wären als die auf durchgängig höchster Erregungsstufe gezeigte Empörung, die in den modernen Mediendemokratien eine Art Ersatzfunktion für den ritualisierten Abwehrzauber archaischer Gesellschaften übernimmt.«

Eine Variante der klassischen Lüge ist das falsche Dementi. Wie Theologe Schockenhoff ist auch der Historiker Wolfgang Reinhard gegenüber Politikern und ihren Sprechern nachsichtig, wenn sie ein falsches Dementi geben. Dementis seien so häufig unzutreffend, dass ihnen von vornherein Unwahrheit unterstellt wird, meint Reinhard. »Dennoch fehlt dem Dementi zur Lüge die Täuschungsabsicht, weil niemand damit getäuscht wird. Denn die Markierung als Dementi enthält bereits die Aussage, dass es sich bei ihm – ebenso wie bei seiner scheinbar gutgläubigen Hinnahme – nicht um Informationsaustausch, sondern um ein Ritual handelt, um eine Geste diplomatischer Höflichkeit«, glaubt Reinhard.[14] Schockenhoff geht mit Hinweis auf Sprachregeln bei diplomatischen Kontakten noch einen Schritt weiter: »Da alle Beteiligten mit den entsprechenden Gepflogenheiten vertraut sind und jedermann weiß, dass ein formelles Dementi nicht den Tatsachengehalt, sondern nur die Opportunität einer Meldung bestreitet, stellt ihre wahrheitswidrige Leugnung im amtlichen Auftrag der Regierung keine Informationsverletzung dar«, glaubt er. Dementis seien nun einmal »keine Lügen, sondern eine Art von Höflichkeitsfloskeln im Umgang der Staaten miteinander«.[15] Diese Vorab-Absolution ist gefährlich. Sie ist ein Freifahrtschein zum Lügen für Politiker und ihre Pressesprecher.

Dabei gibt es genug sprachliche Instrumente, um auch bei Missstimmungen Abgesandte anderer Staaten nicht zu brüskieren. Die Lüge in Form des falschen Dementis darf nicht dazu gehören. Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf zutreffende Information. Ohne die ist sie nicht dazu in der Lage, die politische Situation angemessen einzuschätzen und eventuell auf Korrekturen zu dringen – das zeigen nicht zuletzt die Kriege auf dem Balkan und in Afghanistan. Auch in der Innenpolitik dürfen falsche Dementis nicht hingenommen werden, nicht nur aus Gründen der politischen Hygiene. Bei Unfällen in Atomkraftwerken oder chemischen Werken müssen sich Bürger darauf verlassen können, dass sie richtig informiert werden.

Falsche Ankündigungen

Die seinerzeitige hessische SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Andrea Ypsilanti hätte nach der hessischen Landtagswahl im Januar 2008 bei dem Moraltheologen Schockenhoff Argumentationshilfe holen sollen. Denn der hat ein recht laxes Verhältnis zu Wahlkampfversprechen. »Aufgeklärte Bürger wissen im Allgemeinen, dass Versprechen im Wettbewerb um die Wählergunst nicht als wörtliche Ankündigungen des künftigen Regierungshandelns, sondern bestenfalls als Grundsatzabsichten zu gelten haben, deren Realisierung von äußeren Umständen abhängt, die durch den politischen Willen der Mehrheit nur teilweise beeinflusst werden können«, meint er.[16] Macchiavelli hat es etwas deutlicher ausgedrückt. Auch der Denker der Renaissance war der Auffassung, dass etwas Versprochenes der Realität angepasst werden müsse: »Ein kluger Herrscher kann und soll daher sein Wort nicht halten, wenn ihm dies zum Schaden gereicht und die Gründe, aus denen er es gab, hinfällig geworden sind.«[17]

Andrea Ypsilanti wähnte sich unaufhaltsam auf dem Weg zur Macht – und stolperte über ihr im Wahlkampf gegebenes Versprechen: Keine Zusammenarbeit mit der Linkspartei! Ohne Wenn und Aber! Die Sozialdemokratin hatte nicht nur nebenbei mal in Interviews erwähnt, sie würde sich nicht mit den Stimmen der Linkspartei zur Ministerpräsidentin wählen lassen. Ständig hatte sie das versichert – und sich dabei auch nicht der üblichen Floskeln bedient, die Eindeutigkeit suggerieren, jedoch tatsächlich alle Optionen offen lassen. So hatten es die grüne Spitzenkandidatin Christa Goetsch vor der Bürgerschaftswahl in Hamburg 2008 und auch deren saarländisches Pendant Hubert Ulrich vor der dortigen Landtagswahl 2009 gehalten. Die beiden Grünen hatten zwar den Eindruck vermittelt, nicht mit der CDU koalieren zu wollen – es aber nicht definitiv ausgeschlossen. Im engeren Sinne wortbrüchig wurden sie also nicht, als sich die jeweiligen grünen Landesverbände nach der Wahl anders entschieden.

Trotzdem war die Empörung besonders im Saarland groß, wo im Gegensatz zu Hamburg – dort blieb der damalige SPD-Spitzenkandidat und heutige Cicero-Chefredakteur Michael Naumann auch nach der Wahl bei seiner strikten Ablehnung eines Bündnisses mit der Linkspartei – ebenso eine rot-rot-grüne Koalition möglich gewesen wäre. Ein »extrem hohes Maß an Verlogenheit« warf der SPD-Landeschef Heiko Maas dem Grünen-Frontmann Ulrich vor. Von »Charakterlosigkeit« und einer »Schmierenkomödie« sprach Saarlands Linksparteifraktionsvorsitzender und Ex-Ministerpräsident Oskar Lafontaine. Daniel Cohn-Bendit bezeichnete Ulrich sogar als zweifelhafte Persönlichkeit: »Er ist ein Mafioso.«[18] Ein deftiges Urteil über einen Parteifreund.

Allerdings wirft das Zustandekommen von »Jamaika« im Saarland tatsächlich zumindest einige Fragen auf. Besonders pikant: Im Frühjahr 2010 kam heraus, dass die Saar-Grünen vor der Landtagswahl allein im Jahr 2009 Spenden in Höhe von mindestens 47 500 Euro von der Unternehmensgruppe »Victor’s« des schillernden Saarbrücker Geschäftsmanns und FDP-Kreisvorsitzenden Hartmut Ostermann erhalten hatten. Nur seine eigene Partei konnte sich noch größerer Zuwendungen des »Paten von der Saar« (Spiegel) erfreuen. Zudem war der grüne Partei- und Fraktionsvorsitzende Ulrich jahrelang – und auch noch während der Koalitionsverhandlungen – beruflich für das IT-Beratungshaus think & solve tätig, zu dessen Gesellschaftern Ostermann gehört. Dass das seine Entscheidung zugunsten einer Koalition mit der CDU und der FDP beeinflusst haben könnte, bestreitet Ulrich jedoch vehement.

Geschadet hat das unerwartete Bündnis Ostermann, der sowohl an den Sondierungsgesprächen teilgenommen als auch dem Koalitionsausschuss angehört hatte, jedenfalls nicht. Kurz nach der Zustimmung des Grünen-Parteitags Mitte Oktober 2009 zur »Jamaika-Koalition« wurden fünf Steuerverfahren gegen ihn eingestellt. Mitte Februar 2010 setzte der Saarbrücker Landtag auf Antrag der Oppositionsfraktionen einen Untersuchungsausschuss ein zur Aufklärung seiner Rolle bei der Regierungsbildung im Saarland.

Anders als die Grünen Ulrich und Goetsch ließ sich SPD-Frau Ypsilanti keine Hintertür offen: »Es gibt keine irgendwie geartete Zusammenarbeit mit den Linken«, lautete ihre unzweideutige Botschaft.[19] Sämtliche Führungskräfte und Kandidaten der hessischen Sozialdemokraten versicherten hoch und heilig, auf gar keinen Fall und unter keinen Umständen ein Bündnis mit der Linkspartei einzugehen. Eine Eselei: Mit ihrem Bekenntnis hatten sich die Genossen selbst vor der Wahl in eine politisch ausweglose Lage manövriert, aus der ihnen nur noch ein Wunder oder eine Wahlniederlage hätten helfen können. Eine eigene Mehrheit für Rot-Grün war völlig illusionär, einer Ampel-Koalition hatte die FDP eine unmissverständliche Absage erteilt, und mit einem schwarz-roten Bündnis würde sich der versprochene Politikwechsel nicht realisieren lassen. Wer unter diesen Umständen Rot-Rot-Grün ausschließt, dem bleibt nach der Wahl nur noch die Opposition – wenn er sich nicht für den einen oder den anderen Wahlbetrug entscheidet. Ypsilanti entschied sich, es doch mit der Linkspartei zu versuchen. Zwar habe sie einerseits versprochen: »Nie mit der Linken«, andererseits habe sie ihren Wählern zugesagt, eine gerechtere Bildungspolitik zu beginnen, Studiengebühren abzuschaffen und mehr fürs Soziale zu tun, wenn sie die Gelegenheit dazu habe, erklärte sie im März 2008 dem ARD-Fernsehmoderator Reinhold Beckmann. »Man muss irgendwo an irgendeiner Stelle sagen: Dieses Versprechen kann ich nicht einhalten«, stellte Ypsilanti fest.[20]

Die Anti-Wortbruch-Intriganten

Dass sie doch nicht zur Ministerpräsidentin gewählt wurde, lag an vier Abweichlern aus den eigenen Reihen – nur einer hätte es sein dürfen. Die Darmstädter Landtagsabgeordnete Dagmar Metzger hatte bereits im Frühjahr 2008 mitgeteilt, dass sie eine von der Linkspartei geduldete rot-grüne Minderheitsregierung ablehne. Nach den Erfahrungen der Parteifreundin Heide Simonis, die wegen einer fehlenden Stimme aus den eigenen Reihen im Jahr 2005 als schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin im Landtag nicht wiedergewählt worden war, zögerte Ypsilanti über Monate, sich der Abstimmung zu stellen. Nur einen Tag bevor sie sich schließlich doch noch im Landtag zur Wahl stellen wollte, teilten die drei SPD-Parlamentarier Jürgen Walter, Carmen Everts und Silke Tesch mit, ebenfalls nicht für ihre Genossin zu stimmen. »Wir haben heute Vormittag die SPD-Landes- und Fraktionsvorsitzende Andrea Ypsilanti darüber informiert, dass wir die Bildung einer rot-grünen Minderheitsregierung mit den Stimmen der Linkspartei nicht mittragen können«, verkündete Everts am 3. November 2008 auf einer gemeinsamen Pressekonferenz der vier Dissidenten. »Der Auftrag meiner Wählerinnen und Wähler war und ist die Ablösung der Regierung Koch und eine andere sozialdemokratische Politik. Aber nicht um den Preis der Beteiligung der Linkspartei, nicht um den Preis meiner persönlichen Integrität und Grundwerte und nicht um den Preis der Wahrhaftigkeit in der Politik. Das kann ich einfach nicht.«[21]

Vielen erschienen diese vier Abgeordneten als Aufrechte, Wahrhaftige. Sie hätten »ein Lehrstück politischer Kultur abgeliefert und ein Lehrstück politischer Unkultur abgewendet«, schrieb das Bielefelder Westfalen-Blatt. Ypsilanti dagegen galt als Wortbrüchige, als Lügnerin. Doch spätestens das Buch »Die Vier. Eine Intrige« des Journalisten Volker Zastrow brachte an den Tag, dass die Dinge komplizierter liegen. Mindestens zwei der vier Dissidenten, der frühere SPD-Landtagsfraktionsvorsitzende Jürgen Walter und seine treue Helferin Carmen Everts, verfolgten ganz eigene Pläne. Ernsthafte Gewissensbisse wegen der geplanten Unterstützung durch die Linkspartei waren es wohl nicht, die sie dazu brachten, Ypsilanti scheitern zu lassen. Für den als »pragmatisch« und »wirtschaftsnah« geltenden Walter – der selbst Spitzenkandidat der hessischen SPD hatte werden wollen, jedoch auf dem Nominierungsparteitag im Dezember 2006 Ypsilanti ganz knapp unterlegen war – ging es schlicht um knallharte Machtpolitik. »Walter, der als Junge ein begeisterter Schachspieler gewesen war, hielt sich für einen Großmeister des politischen Spiels«, beschreibt Zastrow. »Freilich sah er im Schach keine rationale oder gar mathematische Denkkunst, sondern einen Sport, einen Kampfsport: eine psychologische Auseinandersetzung, bei der es darauf ankam, den Gegner zu übertölpeln. So ungefähr ließ sich auch Politik begreifen.«[22] Erst nachdem Walter bei den rot-grünen Koalitionsverhandlungen nur das Verkehrsministerium angeboten bekommen hatte, entschlossen er und Everts sich zu ihrem ganz persönlichen Wortbruch, hatten sie doch beide zuvor immer wieder beteuert, bei der Ministerpräsidentenwahl für Ypsilanti stimmen zu wollen – Linkspartei hin oder her. Zudem hatten die beiden laut Zastrow eigentlich einen noch größeren Wortbruch geplant: Sie hatten gehofft, sich als eigene Fraktion von der SPD abspalten zu können, um dann gemeinsam mit CDU und FDP eine Regierung zu bilden. Das scheiterte an den zwei anderen Abweichlerinnen Dagmar Metzger und Silke Tesch, die dabei nicht mitspielen wollten.

Bis heute ungeklärt ist, inwieweit CDU-Ministerpräsident Roland Koch oder andere Christdemokraten in die Planungen von Walter & Co. eingeweiht waren. Fest steht nach Zastrows Recherchen jedenfalls, dass die vier Dissidenten ihre Entscheidung nicht ganz so einsam trafen, wie es zunächst den Eindruck erweckt hatte. Kurz bevor sie am 3. November ihren Entschluss öffentlich bekanntgaben, Ypsilanti die Unterstützung zu entziehen, hatte sich der Schwiegervater von Dagmar Metzger, der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Günther Metzger, mit einer ganzen Reihe von Sozialdemokraten beraten. Der Mitgründer des rechtssozialdemokratischen Seeheimer Kreises »führte zahllose Gespräche mit alten Seeheimern, mit Hans Apel, Hans-Jochen Vogel, den Freunden und Genossen seiner Generation: Hans Koschnick, Jürgen Schmude, Rainer Offergeld, Konrad Porzner und vielen mehr«, fand der FAZ-Redakteur heraus. »Alle boten Hilfe an, aber vorrangig ging es um eines: Sollen die Abweichler es offen machen oder in geheimer Wahl? Die Meinungen waren geteilt. Vogel sagte: ›Also auf keinen Fall geheim. Das muss offen gemacht werden.‹ Aber es gab auch andere Stimmen, wie die von Hans Apel: ›Wieso? Die sind verrückt, wenn sie das offen machen.‹« Die Sache sei bis hinauf zum hochbetagten Helmut Schmidt gegangen. »Doch der Altbundeskanzler bat um Verständnis, dass er sich zu aktuellen Angelegenheiten nicht mehr äußern wolle.«[23]

Politische Akteure müssen sich an ihren Ankündigungen messen lassen, selbst und gerade wenn die politischen Umstände aus ihrer Sicht eine Kurskorrektur erforderlich machen. Wann ist ein gebrochenes Wahlversprechen eine Lüge? Nicht einmal, wenn eine Partei die absolute Mehrheit erringt, kann sie ihr gesamtes Programm umsetzen. Tausende von Widerständen hindern sie daran, die Regierung muss Prioritäten setzen. Über Jahrzehnte hatte die FDP die Abschaffung der Kirchensteuer in ihrem Programm, ernsthafte Anstrengungen, diesen Punkt umzusetzen, hat sie nie unternommen. Fehlende Ernsthaftigkeit ist nicht schön, aber noch keine Lüge. Auch bei einem gebrochenen Versprechen ist die Täuschungsabsicht entscheidend. Tatsächlich spricht einiges dafür, dass Ypsilantis Wortbruch nicht im Voraus geplant war, sondern aus einer fatalen Fehleinschätzung resultierte: Da die hessische SPD aufgrund der schlechten Umfragewerte selbst lange nicht an die Möglichkeit eines Wahlerfolges geglaubt hatte, hoffte sie, durch ihre scharfe Abgrenzung gegenüber der Linkspartei wenigstens die linke Konkurrenz aus dem Landtag halten zu können. Wer die Linkspartei wähle, wähle eigentlich Koch, lautete die verquere sozialdemokratische Botschaft. Diese Wahlkampfstrategie wäre sogar beinahe aufgegangen, die Linkspartei schaffte mit 5,1 Prozent nur ganz knapp den Sprung ins Parlament. Gleichwohl kann niemand außer Andrea Ypsilanti definitiv sagen, ob sie nicht vielleicht doch schon vor der Wahl vom Januar 2008 beabsichtigt hatte, für den Fall der Fälle mit der Linkspartei ein Bündnis zu schmieden, und das durch die Behauptung des Gegenteils kaschieren wollte. Sie selbst hat das stets energisch bestritten: »Ein nicht haltbares Versprechen ist keine Lüge«, betonte sie immer wieder.[24]

Die Christdemokraten schlachteten das hessische Desaster der SPD propagandistisch aus und schöpften in Anlehnung an Andrea Ypsilantis gebrochenes Wahlversprechen ein neues Wort: »Lügilanti«. Die gescheiterte Herausforderin der Lüge zu bezichtigen und den Amtsinhaber zu feiern – was für eine Ironie der Geschichte. Offenkundig baute die CDU auf das kurze Gedächtnis der Bevölkerung. Schließlich war es Roland Koch gewesen, der im Jahr 2000 im Zuge illegaler Geldtransaktionen seiner Partei erst »brutalstmögliche Aufklärung« über Schwarzkonten in der Schweiz und Liechtenstein versprochen und sich dann in einem Gestrüpp aus Halbwahrheiten und Ungereimtheiten verstrickt hatte. Letztlich musste Koch sogar zugeben, dass er in der Öffentlichkeit und im Parlament die Unwahrheit über seine Beteiligung an Vertuschungsversuchen gesagt hatte. »Ich kenne bis zum heutigen Tag keinen einzigen Vorgang außerhalb der offiziellen Buchhaltung der Christlich-Demokratischen Union«, sagte Roland Koch im Januar 2000. Kurze Zeit später musste er gestehen, dass der Rechenschaftsbericht der Landespartei manipuliert war. In Vergessenheit geraten scheint auch zu sein, mit welcher Unverfrorenheit der mittlerweile verstorbene hessische CDU-Schatzmeister Casimir Johannes Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg Ende 1999 versucht hatte, illegale Geldströme aus schwarzen Konten in die Parteikasse zu vertuschen. Das Geld stamme, so hatte er behauptet, aus anonymen Nachlässen. »Prinz Wittgenstein vermutet die Vermächtnisgeber in Kreisen deutschstämmiger jüdischer Emigranten, in denen er sehr bekannt und angesehen ist«, ließ Sayn-Wittgenstein den damaligen CDU-Generalsekretär Herbert Müller erklären.[25] Eine perfide Lüge. Nach der Aufdeckung seiner Finanzmanipulationen gab sich der Ex-Schatzmeister zerknirscht: »Solange alles gutgeht, ist man der Feine. Wenn es einmal schiefgelaufen ist, dann ist man eben der Übeltäter.«[26]

Von »Lügilanti« zur »Kraftilanti«

Um die nordrhein-westfälische SPD-Chefin Hannelore Kraft zu beschädigen, variierten die Christdemokraten an Rhein und Ruhr die »Lügilanti«-Wortschöpfung. Sie legten eine bizarre Kampagne mit dem Titel »Kraftilanti« auf. Während CDU-Landeschef und Ministerpräsident Jürgen Rüttgers sich einerseits als landesväterlicher Nachfahre von Johannes Rau zelebrierte, hatte er andererseits seinen Generalsekretär Hendrik Wüst als Kampfhund gegen die politische Konkurrenz von der Leine gelassen. Dass diese – um eben nicht in die Ypsilanti-Falle zu tappen – eine Zusammenarbeit mit der dämonisierten Linkspartei nicht von vorneherein gänzlich ausschließen wollte, versuchte Wüst als »Bedrohung für Nordrhein-Westfalen« zu brandmarken. Seine Propaganda erinnerte in ihrer intellektuellen Schlichtheit an jene längst überwunden geglaubten Kalte-Kriegs-Zeiten, als die Union noch mit der Plakatparole »Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau!« in den Wahlkampf zog. Mit allen Mitteln sollte der SPD-Herausforderin Kraft der böse »Kraftilanti«-Spitzname angehängt werden. Da trugen Pressemitteilungen Überschriften wie »Kraftilantis Bruderkuss mit Erich Honecker«, es gab »Kraftilanti«-Videos, »Kraftilanti«-Postkarten, ja sogar einen von der NRW-CDU eingerichteten »Kraftilanti«-Twitter.

Kraft wehrte sich gegen die Wüst-Kampagne, die unüberhörbar auch einen frauenfeindlichen Unterton hatte. Als die CDU ihr auf einer Postkarte mit dem Titel »Kraftilantis Lebenslauf-Lüge« unterstellte, sie habe ihre Vita im Internet aufgehübscht, weil dort inzwischen ein angeblich in einen Förderskandal verwickelter früherer Arbeitgeber nicht mehr aufgeführt werde, zog sie im Juli 2009 vor Gericht. Allerdings errang sie nur einen Teilsieg. Die Pressekammer des Kölner Landgerichts untersagte der CDU, Kraft in einen Zusammenhang mit dem vermeintlichen Skandal des Ex-Arbeitgebers zu bringen. Denn dabei würde es sich um eine unwahre Tatsachenbehauptung handeln. Den Begriff »Kraftilantis Lebenslauf-Lüge« hingegen wertete die Kammer als zulässige Meinungsäußerung im Wahlkampf.

Die bizarre Auseinandersetzung zeigt: Auch wenn viele Menschen es für selbstverständlich halten, dass Politiker schwindeln – für die Betroffenen ist das ein ehrenrühriger Vorwurf. »Es geht um meine Ehre«, begründete Kraft ihr Vorgehen gegen die Kampagne.[27] »Die Prozesshanselei von Frau Kraft ist Ausdruck ihres Scheiterns«, giftete hingegen Wüst – und setzte seine »Kraftilanti«-Kampagne unverdrossen fort.[28] Mitte Februar 2010 musste der jung-dynamische Haudrauf seinen Rücktritt vom Generalsekretärsposten erklären, nachdem der Spiegel über umstrittene Werbebriefe der NRW-CDU berichtet hatte, in denen potenziellen Sponsoren gegen Geld exklusive Gesprächstermine mit Regierungschef Rüttgers oder seinen Ministern auf CDU-Landesparteitagen angeboten worden waren.

Dunkle Flecken

Was als dunkler Fleck in der Biographie gilt, hängt stark von den zeitgenössischen Wertvorstellungen ab. Der militante Habitus des jungen Joschka Fischer regte die konservative Welt ungeheuer auf, als Ende 2000 jahrzehntealte Bilder veröffentlicht wurden, die den mittlerweile zu einem der führenden Repräsentanten der Republik aufgestiegenen Grünen als vermummten Straßenkämpfer zeigten, der auf einen Polizisten einprügelte. Die politischen Gegner nutzten die Fotos von Mitte der siebziger Jahre für eine heftige Kampagne – die aber nicht verfing, obgleich der seinerzeitige Außenminister kurzzeitig sogar an Rücktritt gedacht hatte. Aber er stand die Auseinandersetzung durch. Fischer hatte nie geleugnet, in seiner Jugend als Mitglied der Sponti-Truppe »Revolutionärer Kampf« Teil der militanten Frankfurter Szene gewesen zu sein – und er leugnete seine Vergangenheit auch während der gegen ihn gerichteten Kampagne nicht. »Ich habe damals Unrecht getan, und ich habe mich dafür bei allen, die davon betroffen waren, zu entschuldigen«, sagte Fischer im Bundestag.[29] »Ich stehe dazu, weil es meine Geschichte ist, aber nicht in dem Sinne: Das war toll.« Teile der Neuen Linken hätten damals »eine revolutionäre – das heißt auch: eine gewalttätige, eine nicht demokratische – Politik nicht grundsätzlich ausgeschlossen«. Das sei »der eigentliche politische Fehler, den ich mir selbst vorwerfe«. Zum Leidwesen der Konservativen schadete letztendlich Fischer die Auseinandersetzung über seine gewalttätige linke Vergangenheit nicht.

Anders verhält sich das bei ehemaligen Mitarbeitern der Staatssicherheit der DDR – nicht immer, aber in vielen Fällen zu Recht. In den ersten Jahren des wiedervereinigten Deutschland musste eine ganze Reihe von Politikern aus den fünf neuen Bundesländern wegen ihrer Stasi-Verstrickungen von ihren Ämtern zurücktreten. Es gab Fälle, in denen die Aufregung über die »Inoffiziellen Mitarbeiter« (IM) der DDR-Staatssicherheit verständlich und auch absolut gerechtfertigt war. Einige hatten nach der Wende quer durch die Parteien versucht, nun in der Bundesrepublik Posten zu ergattern, ohne sich zu ihrer Vergangenheit zu bekennen und Reue zu zeigen. Das Hetzklima gegen IM machte das allerdings auch nicht gerade leicht. Bisweilen hatte es tragische Folgen: Ein Nachbar fand am 15. Februar 1992 den Bundestagsabgeordneten Gerhard Riege in seinem Schrebergarten tot an einem Baum hängend. Der PDS-Parlamentarier, dem die Gauck-Behörde kurz zuvor seine inoffizielle Stasi-Mitarbeit in den Jahren 1954 bis 1960 nachgewiesen hatte, hinterließ einen langen Abschiedsbrief an seine Frau und seine drei erwachsenen Kinder. Er fürchtete, so heißt es in dem Schreiben, »die von den Medien geschaffene Wirklichkeit« nicht zu überstehen. Riege schrieb: »Mir fehlt die Kraft zum Kämpfen. Sie ist mir in der neuen Freiheit genommen worden.«[30] Dabei hatte die heutige Birthler-Behörde die Kontakte, die der renommierte Wissenschaftler in den fünfziger Jahren zum MfS hatte, als »unerheblich« eingestuft. Seine Verpflichtungserklärung soll er unterschrieben haben, weil er als wissenschaftlicher Mitarbeiter eine Forschungsreise in den Westen antreten wollte. Die Stasi erlaubte das nur unter der Bedingung, dass er im Nachhinein über seinen Aufenthalt einen Bericht ablieferte. Doch in dem damaligen Klima in der Bundesrepublik wurde auf solche »Feinheiten« – zumindest wenn es um Mitglieder der PDS ging – keinen größeren Wert gelegt. Das hatte Riege bereits bitter vor seiner Enttarnung feststellen müssen. In seinem Abschiedsbrief nannte er denn auch den »Hass«, der ihm im Bundestag »aus Mündern und Augen« entgegengeschlagen sei, als Motiv seines Freitodes. Der Abgeordnete war bei einer Haushaltsdebatte im März 1991 während seiner kurzen Rede gleich dreißig Mal durch Zwischenrufe vor allem von Unionsseite unterbrochen und dabei unter anderem als »Stasi-Heini«, »Stasi-Bruder« und »Stasi-Bonze« beschimpft worden. Trotzdem erteilte der damalige Bundestagsvizepräsident Hans Klein (CSU) keinen einzigen Ordnungsruf.

Dennoch: Politiker, denen eine tatsächliche Stasi-Vergangenheit öffentlich vorgeworfen wird, einfach als Opfer zu sehen ist falsch. Die Linkspartei, als Nachfolgerin der PDS und damit der ehemaligen DDR-Staatspartei SED, ist mutmaßlich die Partei mit dem höchsten Anteil ehemaliger Ost-Geheimdienst-Mitarbeiter. Sie hat bis heute ein höchst problematisches Verhältnis zur Aufarbeitung der dunklen Seiten der DDR-Geschichte. Ihr Umgang mit ehemaligen Stasi-Mitarbeitern ist bigott. Formal ächtet die Partei Mitglieder, die sich nicht zu ihren Verfehlungen frühzeitig bekannt und öffentlich bereut haben. Praktisch ist das den Funktionären und auch vielen Mitgliedern aber egal.

Im Juni 1991 fasste die PDS einen Beschluss, der alle Funktionärskandidaten auf Landes- wie Bundesebene verpflichtete, eine frühere IM-Tätigkeit »offenzulegen«. Wer sich als »unehrlich gegenüber der Partei« erweist, wird von seiner Funktion entbunden, hieß es darin. Doch Papier ist geduldig. Das zeigt eindrucksvoll das Beispiel des Linkspartei-»Vordenkers« André Brie. Bereits Vize-Bundesvorsitzender, wurde er im Oktober 1991 Chef der Berliner PDS und damit Nachfolger von Wolfram Adolphi, der seinen Posten wegen einer bekannt gewordenen früheren IM-Tätigkeit hatte räumen müssen. Ein Jahr nach seiner Wahl flog Brie auf und musste eingestehen: Stolze 19 Jahre hatte er für die Stasi gearbeitet. Der damalige PDS-Chef Gregor Gysi hatte frühzeitig von der IM-Tätigkeit seines engen Vertrauten gewusst. Nach Gysis eigenen Angaben hatte sich Brie ihm bereits im Sommer 1990 anvertraut. Trotzdem unterstützte er, dass Brie das Amt des Berliner Landesvorsitzenden übernahm. Dabei sei er davon ausgegangen, dass dieser später seine IM-Tätigkeit offenbare, »in einer Situation, wo er es verkraftet und wo die gesellschaftliche Atmosphäre so ist, dass er es machen kann«, so Gysi seinerzeit.[31] Zugleich eröffnete der heutige Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag den überraschten Delegierten auf einem Sonderparteitag der Berliner PDS, dass er den 1991 gefassten Beschluss über den Umgang mit MfS-Vergangenheiten, nach dem Funktionsträger ihre frühere Stasi-Tätigkeit offenbaren müssen, für falsch halte und er seinerzeit auch nicht dafür gestimmt habe. Nach seiner Enttarnung musste André Brie zwar als Berliner PDS-Chef zurücktreten. Seiner politischen Karriere tat dies jedoch keinen großen Abbruch: Bald darauf wurde er für die PDS ins Europaparlament gewählt. Wie schwer sich die Partei mit ihrer DDR-Vergangenheit bis heute noch tut, zeigt das Beispiel der Linkspartei in Brandenburg. Nachdem es dort im Herbst 2009 zu einer rot-roten Koalition gekommen war, flogen gleich mehrere Linkspartei-Abgeordnete auf, die ihre Stasi-Mitarbeit verheimlicht hatten. Dabei hätten sie innerhalb der Partei nichts zu befürchten gehabt, wenn sie sich frühzeitig selbst geoutet hätten, wie die Beispiele der Landtagsfraktionsvorsitzenden Kerstin Kaiser und des Landesvorsitzenden Thomas Nord zeigen. Auch sie hatten einst dem MfS gedient.

Das taktische Verhältnis zur Wahrheit

Der frühere britische Premier Tony Blair gilt als einer der erfolgreichsten Labour-Politiker der vergangenen fünfzig Jahre – und gleichzeitig auch als einer der größten Lügner. »Der Schlüssel zum Verständnis des Politikers Blair ist seine einzigartige Verbindung von extremer schauspielerischer Begabung und religiösem Eifer«, schreibt der Philosophieprofessor Raymond Geuss.[32] »Wenn die Aufgabe unendlich wichtig ist, sind kleine oder auch größere Unwahrheiten lässliche Sünden«, erklärt der amerikanische Wissenschaftler. »Was zählt schließlich eine kleine Lüge, verglichen mit der Bekämpfung des Terrors?« Es habe »vielleicht sogar etwas Heldenhaftes an sich, die eigene Seele um des Sieges der guten und gerechten Ordnung willen moralisch zu belasten«. Für Geuss paart sich die kurzfristige argumentative Überlegenheit, die aus dem absoluten Vertrauen in die Richtigkeit des eigenen moralischen Urteils entsteht, »mit der eventuellen Unfähigkeit, die Welt so zur Kenntnis zu nehmen, wie sie ist.«

Gemeinsam mit dem rechtskonservativen damaligen US-Präsidenten George W. Bush hatte der Sozialdemokrat Blair im Vorfeld des Irakkrieges unablässig und wahrheitswidrig behauptet, der irakische Diktator Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungswaffen. Es war eine Erfindung zur Legitimierung des vereinbarten regime change in Bagdad, des Sturzes Saddams. Im Dezember 2009 räumte Blair ein, er hätte in jedem Fall den Befehl zur Intervention im Irak gegeben, auch wenn herausgekommen wäre, dass das Saddam-Regime überhaupt nicht über Massenvernichtungswaffen verfügte. »Offensichtlich hätte es dann aber eine andere Begründung geben müssen, was die Art der Bedrohung betrifft«, sagte Blair kaltschnäuzig in einem Interview mit der BBC.[33] Auch die heutige Bundeskanzlerin Angela Merkel behauptete Anfang 2003: »Die Bedrohung durch Saddam Hussein und seine Massenvernichtungswaffen ist real.«[34] Hat sie gelogen, oder wusste sie es einfach nicht besser? »Der Lügner ist der Wahrheit näher als der Irrende, denn er weiß, was richtig ist, was auf den Irrenden nicht zutrifft«, philosophiert ihr Parteifreund Manfred Rommel, der frühere Stuttgarter Oberbürgermeister.[35] In der Politik ist der eine nicht weniger beunruhigend als der andere.

[home]

ExkursDas unschöne K-Wort

Wie die deutsche Politik ihren Frieden mit dem Krieg gemacht hat

Im Frühjahr 2010 erhielt Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg eine besondere Auszeichnung. Die Deutsche Sprachwelt kürte den Bundesverteidigungsminister zum »Sprachwahrer des Jahres«. Der CSU-Politiker spreche »nicht nur gutes Deutsch, sondern auch einwandfreies Englisch und liest Platon im altgriechischen Original«. Außerdem sei er »in der Lage, eine mitreißende Bierzeltrede zu halten«. Vor allem jedoch zeichne sich Guttenberg durch sein Bemühen um eine klare, verständliche und schnörkellose Sprache aus: »Anders als sein Amtsvorgänger vermeidet er nicht krampfhaft das Wort ›Krieg‹, wenn von Afghanistan die Rede ist.«[36] Hätte der fränkische Adlige bei so viel Mut nicht gleich das Eiserne Kreuz verdient gehabt, das sein Vorgänger Franz Josef Jung (CDU) 2008 als »Ehrenkreuz der Bundeswehr für außergewöhnlich tapfere Taten« wieder eingeführt hat?

In einem Interview mit der Bild-Zeitung hatte Guttenberg im November 2009 erstmals das große Tabu gebrochen.[37] Er »verstehe jeden Soldaten, der sagt: In Afghanistan ist Krieg, egal, ob ich nun von ausländischen Streitkräften oder von Taliban-Terroristen angegriffen, verwundet oder getötet werde«, sagte der Minister. Selbst von Krieg zu sprechen – so weit wollte der Minister dann doch nicht gehen. Schließlich muss er ja auf »notwendige juristische, akademische oder semantische Feinsinnigkeiten« achten, weswegen Guttenberg denn auch einen anderen Ausdruck zur Beschreibung der Zustände verwendet: »Ich will ganz offen sein: In Teilen Afghanistans gibt es fraglos kriegsähnliche Zustände.«

Seit fast einem Jahrzehnt führen die USA nun bereits in Afghanistan ihren War on Terror. Er dauert inzwischen länger als der Zweite Weltkrieg. Im Dezember 2001 entsandte die Bundesrepublik die ersten deutschen Soldaten an den Hindukusch. Nur – mit Krieg hatten sie dort nie etwas zu tun. Ob die Sozialdemokraten Rudolf Scharping und Peter Struck oder der Christdemokrat Franz Josef Jung: Wer auch immer in diesem Jahrhundert auf der Bonner Hardthöhe residierte, der vermied peinlichst das unschöne K-Wort. »Das war die Lebenslüge der deutschen Politik«, kritisiert Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU).[38] »Wir waren in demselben Krieg wie die Kanadier. Schon vor zwei Jahren. Und wie die Amerikaner und wie die Holländer und wie die Dänen und die Engländer Aber wir haben so getan, als ob wir etwas anders im Norden machen.«

Rühes Nachfolger sprachen lieber von einem »Stabilisierungseinsatz mit robusten Mitteln«. Sie taten so, als ob die Bundeswehr »eine Art bewaffneter Arm von Amnesty International, Rotem Kreuz und Emma sei, um am Hindukusch Mädchenschulen, Brunnenbau und freie Wahlen zu fördern«, wie Sonia Seymour Mikich, die Redaktionsleiterin des ARD-Politikmagazins Monitor, treffend formuliert hat.[39] Dass der Eindruck falsch war, den sie all die Jahre erweckten, steht spätestens seit dem Luftangriff nahe Kunduz in Nordafghanistan außer Frage.

Kerngeschäft Töten

Das erste Opfer eines Krieges ist die Wahrheit. So abgedroschen der Satz klingen mag, hat er doch nichts von seiner Gültigkeit verloren. Das gilt auch für den Einsatz in Afghanistan. Die deutschen Soldaten machen dort, was Soldaten in jedem Krieg machen: Sie bringen Menschen um – und versuchen zu vermeiden, selbst umgebracht zu werden. Mehr als vierzig deutsche Soldaten haben bislang am Hindukusch ihr Leben verloren. Wie vielen Menschen deutsche Soldaten das Leben genommen haben, darüber gibt es keine verlässlichen Zahlen. Die bis zu 142 Menschen, die Anfang September 2009 bei der Bombardierung zweier Tanklastwagen am Kunduz-Fluss starben, waren jedenfalls weder die ersten noch die letzten Opfer, die auf das Konto der Bundeswehr gehen. »Es fehlt der Mut, über den eigenen Schatten zu springen und sich zu dieser militärischen Seite des militärischen Kerngeschäftes zu bekennen«, sagt Ex-Nato-General Klaus Naumann.[40]