Pazifismus - ein Irrweg? - Pascal Beucker - E-Book

Pazifismus - ein Irrweg? E-Book

Pascal Beucker

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Beschreibung

Könnten wir nicht einfach Nein sagen zum Krieg? Bislang ist das offenbar nicht gelungen. Bemerkenswert spät in der Menschheitsgeschichte kommt die Idee des Pazifismus auf, die Ablehnung jeder Anwendung von Gewalt. Anstelle von Krieg setzt Pazifismus auf Verhandlungen und Diplomatie, bisweilen auch auf passiven Widerstand. Durch die Friedensbewegung der 70er und 80er Jahre wurden die Gedanken auch in einer breiteren Öffentlichkeit populär und erfreuen sich in Deutschland noch immer großer Beliebtheit. Aktuell sind im Zuge des Kriegs in der Ukraine vielfach Stimmen zu hören, die jegliche militärische Unterstützung des angegriffenen Landes ablehnen. Mehrheitsfähig ist das jedoch bislang nicht. Pascal Beucker stellt Geschichte, Hintergründe und Erfolgsaussichten des Pazifismus vor. Kann Pazifismus mehr sein als ein blauäugiges Ideal? Kann Gewaltfreiheit tatsächlich gegen einen Aggressor wie Putin helfen? Kann es eine friedliche Welt geben?

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Kohlhammer Trilogien

Herausgegeben von Jörg Armbruster

Die anderen beiden Bände der Trilogie „Von Krieg und Frieden“, Jochen Hippler: Logik und Schrecken des Krieges und Hartwig von Schubert: Den Frieden verteidigen, finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/trilogien

Der Autor

Pascal Beucker, geboren 1966 in Düsseldorf, arbeitet seit 1999 für die tageszeitung (taz), zunächst als Landeskorrespondent in Nordrhein-Westfalen, ab 2014 in der Berliner Zentrale als Redakteur im Inlandsressort. Er ist Mitglied des taz-Parlamentsbüros und der Bundespressekonferenz. Laut schriftlichem Bescheid des Ausschusses für Kriegsdienstverweigerung beim Kreiswehrersatzamt Düsseldorf vom 13. Mai 1991 ist er „berechtigt, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern“.

Pascal Beucker

Pazifismus – ein Irrweg?

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlagabbildung: © Adobe Stock.

1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-043432-5

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-043433-2

epub: ISBN 978-3-17-043434-9

Print-Paket der Trilogie „Von Krieg und Frieden“:

ISBN 978-3-17-044695-3

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

Einleitung

Was ist eigentlich Pazifismus?

Bertha von Suttner und die Anfänge der Friedensbewegung

Grundgesetzliche Dehnübungen

Der Ukrainekrieg, die Atombombe und andere Dilemmata

Das Peace-Zeichen: Ein Symbol für den großen Wunsch nach Frieden

Von den Schwierigkeiten der Friedensbewegung mit dem Ukrainekrieg

Zeitenwende für den Pazifismus?

Vom Recht, sich dem Krieg zu verweigern

Chronologie des Pazifismus und der Friedensbewegung

Literatur

Vorwort des Herausgebers

Der 24. Februar 2022. An diesem Tag geschieht etwas, was die meisten Europäer für undenkbar gehalten haben: Russland überfällt die Ukraine. Ein Angriffskrieg gegen ein Nachbarland mitten in Europa. Der erste seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Empörung ist groß. Zu Recht. Die Sorge, in diesen militärischen Konflikt hineingezogen zu werden, aber auch. Ebenfalls zu Recht. Schließlich ist der Aggressor eine Atommacht, die gleich zu Beginn des Krieges und seither immer wieder mit dem Einsatz der Bombe gedroht hat. Feststeht jedenfalls: Putin hat die in Europa inzwischen zur Selbstverständlichkeit und daher vielleicht auch bequem gewordene Friedensordnung der vergangenen Jahrzehnte schlagartig zerstört. Wohin Europa nach diesem Tabubruch steuert? Auch heute weiß das niemand wirklich.

Von Anfang an war klar: Die Ukraine wird nur dann nicht zur schnellen Beute Putins werden, wenn die NATO sie massiv unterstützt. Kriegspartei jedoch dürfe das Westbündnis nicht werden, das beeilten sich die Politiker der Mitgliedsländer sofort zu betonen. Es bleibt also ein riskantes Unterfangen, auf das sich die europäischen Regierungen und die USA einlassen müssen. Wo verläuft die rote Linie, die nicht überschritten werden darf? Niemand weiß es genau. Und dennoch – von der ersten Kriegswoche an liefern sie dem angegriffenen Land Waffen.

In Deutschland haben dieser Angriffskrieg und die westlichen Reaktionen die Bevölkerung einmal mehr gespalten. Die wenigsten sympathisieren ernsthaft mit Putin. Bei der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine allerdings ist die Stimmung weniger klar: Im Januar 2024 gaben laut ARD-Deutschlandtrend 36 % der befragten Bürger an, die Lieferung von Waffen ginge ihnen zu weit, 21 % meinen, nicht weit genug, 35 % hielten den gegenwärtigen Umfang für angemessen. In den ostdeutschen Bundesländern gibt es dagegen eine deutliche Ablehnung der Waffenlieferungen. Dort sagen fast zwei Drittel der vom MDR im Juli 2023 Befragten „Nein“ zur militärischen Unterstützung der Ukraine durch die NATO. Für sie gilt: „Krieg? Nicht mit uns!“

Nicht zuletzt der Ukrainekrieg und unser Umgang damit sind Anlass, in dieser Trilogie aus drei Perspektiven über Krieg und Frieden nachzudenken. Die drei Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden, bilden aber zusammen eine Einheit.

Im ersten Band, Logik und Schrecken des Krieges, geht Jochen Hippler der Frage nach, warum es überhaupt immer wieder Kriege gibt. Jeder weiß doch, selbst bei einem Sieg steht der Angreifer als ein von Zerstörungswut und Habgier getriebener Barbar da, der auch über sein eigenes Volk mehr Elend und Leid gebracht hat als Nutzen. Aber stimmt das eigentlich? Wenn es keinen Nutzen gäbe, dann gäbe es auch keine Kriege, schreibt Hippler. Die allseits bekannten Schrecken des Krieges reichen nicht aus, um sie zu verhindern. Warum Kriege geführt werden, wie sie geführt werden und wann sie enden, folgt einer eigenen Logik.

Wären passiver Widerstand, gewaltfreie Aktionen und Verhandlungen die besseren Antworten auf den russischen Angriff gewesen, wie es bundesdeutsche Pazifistinnen wie Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht und Margot Käßmann schon kurz nach Kriegsbeginn den Ukrainern empfohlen hatten? Verhandlungen, koste es, was es wolle, statt Selbstverteidigung? Wem nützen solche Forderungen? Den Ukrainern oder gar Putin oder doch nur dem Wohlbefinden der „blauäugigen Träumer vom ewigen Frieden“? Pazifismus – ein Irrweg?, fragt daher der taz-Redakteur Pascal Beucker im zweiten Band der Trilogie. Zwar entsprach Pazifismus nie dem Zerrbild naiver Träumerei, aber kann er wirklich Kriege verhindern oder wenigstens beenden?

Wie also muss Sicherheit in Zukunft gedacht werden, was verlangt das fraglos legitime Schutzbedürfnis der Bürger von jedem Einzelnen? Eine 100 Milliarden teure Aufrüstung der Bundeswehr hat die Bundesregierung beschlossen. Frieden schaffen mit immer mehr Waffen? Mehr Panzer, bessere Kampfflugzeuge, weitreichendere Raketen? Ist es tatsächlich sinnvoll eine derartig gewaltige Summe in Sicherheit zu investieren? Zeit jedenfalls, grundsätzlich über die gesellschaftspolitischen und internationalen Grundlagen von Frieden und Sicherheit nachzudenken. Seit Jahrtausenden beschäftigen sich Philosophen mit diesen Fragen, schließlich gab es nie eine Zeit ganz ohne Kriege. Ist es dennoch möglich, eine friedliche Weltordnung zu schaffen? Ein weltweit geltendes Rechtssystem, dem sich die Staaten unterwerfen müssen, um miteinander in Frieden zu leben?

Nach den beiden verheerendsten Kriegen des 20. Jahrhunderts versuchte es die Völkergemeinschaft: Sie gründete 1945 die Vereinten Nationen, um „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren“, wie es in ihrer Charta heißt. Mit wenig Erfolg, wie wir heute wissen. Im Gegenteil: Heute scheinen wir einem dritten Weltkrieg näher als einem „ewigen Frieden“. Diese düstere Zukunftsvision bestätigen auch vier renommierte deutsche Friedens- und Konfliktforschungsinstitute in ihrem jüngsten Friedensgutachten: Es drohe geradezu ein alles zerstörender Orkan. Daher plädieren auch diese eigentlich der Friedensbewegung nahestehenden Institute für eine härtere konventionelle Abschreckung als Ergänzung zu Friedensbemühungen auf diplomatischer Ebene. Das Wort „kriegstüchtig“ würde vermutlich keiner der Forscher in den Mund nehmen, dennoch bestätigen sie den Kurs der Aufrüstung, den die Bundesregierung nach dem russischen Überfall auf die Ukraine eingeschlagen hat. In genau dieser Richtung entwickelt auch Hartwig von Schubert seine Argumente und Impulse im dritten Band Den Frieden verteidigen.

Keiner der drei Bände bietet endgültige Lösungen an. Die Fragen um Krieg und Frieden sind komplex und herausfordernd, einfache oder gar schnelle Antworten zu aktuellen Konflikten verbieten sich. Die Trilogie versteht sich also nicht als Ratgeber in unsicheren Zeiten, sondern als Stichwortgeber für offenen Dialog und mit gesichertem Wissen angereicherte Debatten. Denn die brauchen wir dringender denn je, um Politik besser zu verstehen, um uns im Dschungel der Sozialen Medien besser zurechtzufinden, um Fakes zu durchschauen und schließlich um in unserer Demokratie mitreden und sie mitgestalten zu können.

Stuttgart, im Juni 2024Jörg Armbruster

Einleitung

„Dass man pazifistisch oder gegen den Krieg ist, fand ich, war ganz selbstverständlich. Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind. Besonders die, die nicht hineingehen müssen.“

Erich Maria Remarque

Ein Buch über Pazifismus zu schreiben, mutet in Zeiten wie diesen, in denen ein deutscher Verteidigungsminister davon spricht, Deutschland müsse wieder „kriegstüchtig“ werden, als merkwürdiges Unterfangen an. Der fürchterliche Krieg, den Russland in der Ukraine führt, hat auch in der Bundesrepublik zu gravierenden Verschiebungen im gesellschaftlichen Bewusstsein geführt. Der Ukrainekrieg hat Weltbilder und lange gehegte Sicherheiten zerstört. Die Realisierung eines friedlichen Zusammenlebens in Europa und der Welt auf der Grundlage von Kooperation und Abrüstung scheint in weite Ferne gerückt zu sein – schon die Vorstellung wird von vielen inzwischen als naiv und weltfremd begriffen. Das Denken in den Kategorien militärischer Stärke erlebt eine Renaissance. Dass kräftig aufgerüstet werden müsse, gilt als unumstößliche Tatsache. Pazifismus ist aus der Mode gekommen. Aber war er überhaupt je in der Mode?

Krieg lässt Menschen verrohen. Das gilt für jede bewaffnete Auseinandersetzung, auch die in der Ukraine. Und das betrifft nicht nur Menschen, die unmittelbar von einem Krieg betroffen sind. Mehr als zwei Jahre nach Kriegsbeginn zeigt sich, wie die deutsche Gesellschaft in Muster zurückgefallen ist, die längst überwunden schienen. Der demokratische Diskurs, sich mit anderen Auffassungen nicht diffamierend, sondern wertschätzend auseinanderzusetzen, scheint plumpen Freund-Feind-Bildern gewichen zu sein. Das gefährdet, zur Freude Wladimir Putins, den innergesellschaftlichen Zusammenhalt. Wenn die einen pauschal als „Friedensschwurbler“ oder sogar „Lumpenpazifisten“ und die anderen als „Kriegstreiber“ beschimpft werden, dann ist damit jegliche konstruktive und erkenntnisfördernde Diskussion beendet. In diesem Buch soll ein anderer Weg gewählt werden. Wer einfache Antworten sucht, der oder die wird daher kein Gefallen an ihm finden.

Pazifist:innen haben derzeit keinen leichten Stand. Wobei sie den noch nie hatten. Bertha von Suttner, Ludwig Quidde und Carl von Ossietzky, die hervorstechendsten Köpfe der Antikriegsbewegung vor dem Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik, waren trotz ihrer Friedensnobelpreise stets politische Außenseiter:innen und wurden auf das Übelste angefeindet. Trotzdem oder gerade deswegen ist pazifistisches Denken wichtig, ist es doch ein Stachel gegen jene, die bereit sind, sich allzu selbstsicher wie leichtsinnig in einer Welt der Waffen und Kriege einzurichten. Nichtsdestotrotz wird in diesem Buch ein ausführlicher Blick darauf geworfen, dass der Pazifismus in seinen verschiedenen Ausprägungen auch seine Tücken und Widersprüche hat.

Ist der Pazifismus ein Irrweg? Aus der Erfahrung lässt sich diese Frage nicht beantworten, denn dazu hätte es einer relevanten Zahl von Regierungen bedurft, die sich ernsthaft auf einen pazifistischen Weg begeben hätten. Doch die gab es nicht einmal in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Unter den 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen befindet sich mit Costa Rica nur ein einziges Land, das bereit ist, grundsätzlich auf eigene Streitkräfte zu verzichten. Gleichwohl lassen sich Annäherungen an eine Antwort finden. Dabei ist es wichtig zu begreifen, dass es nicht nur den einen „wahren“ Pazifismus gibt. Vielmehr versammelten sich von Anfang an unter diesem Etikett verschiedene Anschauungen, deren Gemeinsamkeit ganz allgemein nur war und ist, sich für den Frieden einzusetzen, Kriegsgefahr reduzieren und Militarisierung bekämpfen zu wollen. Gemeinsam hatten und haben die verschiedenen pazifistischen Strömungen, der Logik des Krieges eine andere Logik entgegensetzen zu wollen. Aber was bedeutet das konkret? Sicherlich haben Pazifist:innen ein kollektives Grundverständnis, Schwerter zu Pflugscharen umschmieden zu wollen. Der Auffassung, unter allen Umständen die zweite Wange hinzuhalten, folgte und folgt jedoch stets nur ein Teil von ihnen.

Die Spannweite zwischen einem „absoluten“ und einem „pragmatischen“ Pazifismus ist gewaltig. Das führt in der aktuellen Situation dazu, dass es nicht nur eine einzige pazifistische Antwort gibt, wie mit der russischen Aggression umzugehen ist. Die Behauptung, Pazifist:innen wollten die Menschen in der Ukraine unisono im Stich lassen, ist denn auch ein demagogisches Zerrbild. Zur Wahrheit gehört allerdings ebenso, dass an diesem Zerrbild die Friedensbewegung, die vom Pazifismus nicht zu trennen ist, eine Mitverantwortung trägt. Auch mehr als zwei Jahre nach dem Angriff Russlands sucht sie immer noch nach einem überzeugenden Umgang mit dem Ukrainekrieg. Ist die Welt nach dem Ende der alten Ost-West-Konfrontation einfach zu kompliziert für die Friedensbewegung geworden? Oder liegt ihr Problem nicht eher darin, dass schon lange bestehende Grundkonflikte nicht mehr überdeckt werden können? Es spricht einiges dafür, dass diese ungelösten Grundkonflikte einen gehörigen Anteil daran haben, dass die Friedensbewegung in Deutschland heute so schwach ist wie schon lange nicht mehr.

Der Mythos der Friedensbewegung speist sich bis heute aus der großen Mobilisierung, die ihr in der alten Bonner Republik im Zuge des NATO-Doppelbeschlusses 1979 gelungen ist. Die Bilder von den Hunderttausenden auf der Hofgartenwiese 1981 und 1983, die Millionen, die damals insgesamt für eine atomwaffenfreie Welt auf die Straße gegangen sind, haben sich nicht nur bei denen, die damals dabei waren, tief ins Gedächtnis eingegraben. Die damalige Friedensbewegung wirkte tief hinein in die Gesellschaft und war prägend für eine ganze Generation. Mit Nenas „99 Luftballons“ schaffte sie es sogar an die Spitze der Charts und mit Nicoles „Ein bisschen Frieden“ zum Sieg beim Eurovision Song Contest. Es ist die Erinnerung an diese Zeit, an der nach wie vor alle Aktivitäten der Friedensbewegung gemessen werden. Doch das ist ein historisch unscharfer Blick.

Dreimal ist es in der deutschen Geschichte gelungen, über einen begrenzten Zeitraum von wenigen Jahren eine relevante Anzahl von Menschen öffentlichkeitswirksam hinter pazifistischen und antimilitaristischen Ideen zu versammeln. Das war bei der „Nie-wieder-Krieg“-Bewegung Anfang der 1920er Jahre in der Weimarer Republik so, bei der „Kampf-dem-Atomtod“-Kampagne Ende der 1950er Jahre und bei der Bewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss Anfang der 1980er Jahre. Das bedeutet, dass die Hausse der Friedensbewegung eine historische Ausnahme, die Baisse hingegen die Regel war. Trotz aller gegenteiligen Behauptungen war und ist Deutschland kein friedensbewegtes Land. Angesichts zweier entfesselter Weltkriege ist das, vorsichtig formuliert, bedauerlich. Die heutige Friedensbewegung sollte jedoch nicht den Fehler begehen, ihre aktuelle Schwäche nur auf die herrschenden Verhältnisse zu schieben, ohne ihre eigene Verantwortung zu reflektieren, warum so viele Menschen nicht mehr mit ihr demonstrieren, sondern sie nur noch als dogmatisch verknöchertes Randphänomen wahrnehmen.

Es wäre arg unterkomplex, die Diskussion über Pazifismus auf die tagesaktuelle Frage zu beschränken, ob jemand für oder gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ist. Ohne die Bedeutung der militärischen Unterstützung für das angegriffene Land herunterspielen zu wollen: Darauf lässt sich diese oder jene Antwort geben, ohne dass sich daran die Relevanz des Pazifismus entscheidet. Denn die liegt in der Hauptsache in der Kriegsvermeidung, also im Vorfeld eines Konflikts. Je weiter ein Konflikt eskaliert, desto geringer werden die pazifistischen, ja überhaupt die politischen Optionen. Hat ein Krieg erst einmal begonnen, ist es zu spät für eine gewaltfreie Lösung, dann geht es nur noch um das kleinere Übel. Die Angegriffenen haben zwar immer noch die Möglichkeit gewaltfreien Handelns, sind jedoch bereits der Gewalt des Angreifers ausgesetzt. Und als nicht unmittelbar Beteiligte:r auch dann noch auf dem Prinzip der Gewaltfreiheit zu beharren, steht schnell im Verdacht des Wohlfeilen oder sogar Zynischen, weil das wie eine Aufforderung wirken kann, die angegriffene Seite solle einfach des eigenen lieben Friedens willen kapitulieren. Aber ist deswegen der Pazifismus ein Irrweg? Wer in die Geschichte schaut, kann schnell erkennen, dass es viele Menschenleben gerettet hätte, wäre auf Pazifist:innen öfters früher gehört worden.

Die Gefahr in der gegenwärtigen Situation ist, dass ein von Beginn an zentrales Anliegen des Pazifismus in der allgemeinen Neo-Kalte-Krieg-Stimmung untergeht: der Versuch, Konflikte mittels zwischenstaatlicher und internationaler Vereinbarungen sowie eines verbindlichen völkerrechtlichen Regelwerks zu zivilisieren und dadurch zu entschärfen. Dass die imperiale Politik des Putin-Regimes die europäische Sicherheitsordnung empfindlich bedroht, lässt sich kaum bestreiten. Gleichzeitig wäre es ein Fehler, die Augen davor zu verschließen, dass der gegenwärtig stattfindende Rüstungswettlauf per se erhebliche Gefahren in sich birgt. Die Erosion globaler Rüstungskontroll- und Abrüstungsabkommen befördert eine Rüstungsspirale, die fatale Folgen haben kann – und sei es nur durch ein Versehen oder einen technischen Fehler. Ebenfalls höchst bedenklich ist es, dass die offenkundige Unzulänglichkeit der bestehenden Strukturen der Vereinten Nationen nicht zu einer Diskussion führt, wie es erreicht werden kann, sie robuster zu machen, sondern dazu, ihre generelle Bedeutung infrage zu stellen. Wenn der Glauben an friedliche Konfliktlösungsstrategien verloren geht, macht das im Atomzeitalter die Welt noch unsicherer, als sie bereits ist. Über den menschengemachten Klimawandel muss man sich bei einer atomaren Apokalypse keine Gedanken mehr machen.

Sicherlich wäre es leichter gewesen, ein Buch zu schreiben, das vom aktuellen Geschehen abstrahiert, also sich nur abstrakt mit pazifistischen Ideen oder nur mit der pazifistischen Bewegung in der Geschichte beschäftigt. Aber das wäre unbefriedigend. Denn das würde eine Beurteilung verunmöglichen, wie realitätstauglich der Pazifismus ist. Freilich gibt dieses Buch keine einfachen Antworten, es erhebt ebenso wenig den Anspruch, alle Fragen abschließend zu beantworten. Über ein so komplexes Thema wie den Pazifismus lassen sich sehr dicke Werke schreiben. Das hier ist jedoch ein dünnes Buch, das nur versuchen kann, einen Überblick und Anregungen zu geben. Es kann also nicht den Anspruch erheben, alle Aspekte umfassend zu behandeln, auch fehlt der Platz für mitunter sicher sinnvolle Vertiefungen. Aber wenn es als Grundlage zum Weiterdenken gelesen wird, würde das den Autor erfreuen.

Was ist eigentlich Pazifismus?

Der Begriff „Pazifismus“ ist die deutsche Übersetzung einer recht jungen französischen Neubildung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich im Rahmen der bürgerlich-liberalen Emanzipationsbewegung in Europa und den USA eine organisierte Friedensbewegung herausbildete. Kreiert hat das Wort pacifisme der Lexikologe Jean-Baptiste Richard de Radonvilliers für sein 1845 erschienenes Wörterbuch neuer Wörter. Es ist abgeleitet vom lateinischen Substantiv pax für „Frieden“ (Genitiv pacis) und dem Verbum facere für „machen, tun, herstellen“. Radonvilliers definierte das neue Wort als „System der Befriedung, des Friedens; alles, was dazu dient, ihn zu etablieren, zu erhalten“.

Auf dem Weltfriedenskongress Mitte September 1901 in Glasgow wurde „Pazifismus“ erstmals offiziell als Bezeichnung für die verschiedenen Strömungen und gedanklichen Positionen der Friedensbewegung international verwendet. Das basierte auf einem Vorschlag des französischen Anwalts und Schriftstellers Émile Arnaud, den der Präsident der Internationalen Liga für Frieden und Freiheit im Monat zuvor in der belgischen Zeitung L’Indépendance Belge gemacht hatte. Dort schrieb Arnaud: „Wir sind nicht nur friedlich, wir sind nicht nur friedfertig, wir sind nicht nur friedensstiftend. Wir sind alles zusammen und noch mehr: Wir sind, in einem Wort, Pazifisten.“

Aber was ist jetzt genau unter Pazifismus zu verstehen? Das ist gar nicht so einfach. Der Duden definiert Pazifismus als „weltanschauliche Strömung, die jeden Krieg als Mittel der Auseinandersetzung ablehnt und den Verzicht auf Rüstung und militärische Ausbildung fordert“. In Meyers großem Taschenlexikon heißt es, es handele sich um eine „Grundhaltung und Bewegung, die aus eth[ischen] Gründen Gewaltanwendung sowie militär[ische] Vorbereitung eines Krieges verwirft und kompromisslose Friedensbereitschaft fordert“. Der Brockhaus sieht im Pazifismus „eine geistige Strömung innerhalb der Friedensbewegung beziehungsweise antimilitaristischer Bewegungen, die sich durch die Ablehnung von (militärischer) Gewalt auszeichnet“. Der Pazifismus lehne „den Einsatz von Militär zur Konfliktregelung ab; er fordert als Mittel gegen bewaffnete Okkupation die soziale Verteidigung und andere Formen zivilen Ungehorsams“. Außerdem setze er „sich für die Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht ein“, so der Brockhaus weiter. Für die Bundeszentrale für politische Bildung ist der Pazifismus „einerseits eine menschliche Überzeugung, andererseits auch eine politische Bewegung“. Die pazifistische Haltung sei „geprägt von einer grundsätzlichen Kriegsgegnerschaft, das heißt, Kriege werden in jedem Fall abgelehnt“. Pazifist:innen treten dagegen für den gewaltlosen Widerstand ein, was laut Bundeszentrale bedeute, „dass sich selbst im Falle eines kriegerischen Angriffs der betroffene Staat keiner militärischen Mittel zur Verteidigung bedienen, sondern gewaltfrei und friedlich handeln soll“.

Doch all diese Definitionen stimmen in ihrer Absolutheit so nicht, weil sie eine Strömung des Pazifismus, und zwar dessen weitestgehende, radikalste, zur allgemeingültigen erklären. Das erscheint nicht nur deshalb höchst problematisch, weil dadurch der Pazifismus sowohl in der Geschichte als auch der Gegenwart nur äußerst unzureichend erfasst wird. Diese Verkürzung läuft auch – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – auf eine Diffamierung der Friedensbewegung hinaus. Der Freiburger Historiker und Friedensforscher Wolfram Wette weist in seinem Buch Ernstfall Frieden darauf hin, dass die Position der absoluten Gewaltlosigkeit innerhalb der pazifistischen Bewegung stets nur von Minderheiten vertreten wurde, etwa von religiös-pazifistischen Gruppen, „und selbst von diesen mit Einschränkungen“. Sie war also zumindest in Kontinentaleuropa nie dominant. „Ansonsten ist die Vorstellung, der Pazifist sei ein Feigling und Phantast, der von der wirklichen Welt der Macht und Gewalt nichts verstehe, das Zerrbild, das die Militaristen von Bismarck bis Hitler von ihm gezeichnet haben, um ihn zu desavouieren“, so Wette. Die historische Wirklichkeit habe anders ausgesehen: Im deutschen wie im europäischen Pazifismus habe der Frieden „als politisches Ziel“ gegolten, „das schrittweise und mit unterschiedlichen, möglichst gewaltarmen Methoden erreicht werden sollte“.

Der Pazifismus ist nicht nur ein polarisierendes, sondern vor allem auch ein facettenreiches und zum Teil widersprüchliches Phänomen. Er ist eine Philosophie und zugleich auch und gerade eine Bewegung. Alleine das macht es schon nicht ganz so einfach. Dabei differieren die Vorstellungen, was genau unter Pazifismus zu verstehen ist, von jeher zwischen den jeweiligen Akteur:innen, die deswegen auch nicht selten untereinander zerstritten waren und sind. In der wissenschaftlichen Literatur wird mittlerweile zwischen unzähligen verschiedenen Varianten von Pazifismus differenziert, die sich manchmal nur in Nuancen, manchmal aber auch fundamental voneinander unterscheiden. Entsprechend gibt es eine Vielfalt von Motiven und Begründungen. Es gibt einen religiösen Pazifismus in verschiedenen Ausprägungen ebenso wie einen bürgerlichen, einen radikalen, einen sozialistischen oder einen anarchistischen Pazifismus. In der Weimarer Republik gab es sogar einen revolutionären Pazifismus, für den beispielsweise der Schriftsteller Kurt Tucholsky gestritten hat. Es gibt einen moralisch-weltanschaulichen und einen politisch-wissenschaftlichen Pazifismus, einen gesinnungsethischen und einen verantwortungsethischen Pazifismus sowie einen Zielpazifismus. Um nur einige Pazifismen zu erwähnen. Eine ganz taugliche Arbeitsdefinition stammt von dem Bremer Historiker und Friedensforscher Karl Holl, dem linksliberalen Nestor der deutschen historischen Friedensforschung. Danach, so schreibt er in seinem Beitrag für das Historische Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, lässt sich Pazifismus als „die Gesamtheit individueller und kollektiver Bestrebungen bezeichnen, die eine Politik friedlicher, gewaltfreier zwischenstaatlicher Konfliktaustragung propagieren und den Endzustand einer friedlich organisierten, auf Recht gegründeten Staaten- und Völkergemeinschaft zum Ziel haben“.

Absoluter versus konditionaler Pazifismus

Absoluter Pazifismus ist die Form von Pazifismus, die sich in den allgemeinen Definitionen der genannten Lexika findet. Er bedeutet die universelle Ablehnung von Gewalt und Krieg, geht also davon aus, dass Krieg und Gewalt immer und ohne Ausnahme falsch sind. Ein solcher kategorischer Pazifismus ist in sehr vielen Fällen mit einer religiösen Haltung verbunden, in der Gewaltlosigkeit als religiöses Gebot angesehen wird. Christlich motivierte Pazifist:innen leiten ihre Überzeugung aus dem christlichen Ideal der Widerstandslosigkeit gegenüber dem Bösen ab, wie es in der Bibel in den Aussagen von Jesus in der Bergpredigt (im Matthäusevangelium) oder der Feldpredigt (im Lukasevangelium) gefordert wird. Die bekannteste Persönlichkeit dieser Strömung ist der 1968 ermordete US-amerikanische Bürgerrechtler und Friedensnobelpreisträger Martin Luther King Jr. In der Bundesrepublik steht dafür heutzutage beispielsweise die evangelisch-lutherische Theologin und Pfarrerin Margot Käßmann, die frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland. In indischen Traditionen basiert der absolute Pazifismus auf der Verpflichtung im Hinduismus, Jainismus und Buddhismus zu ahimsa