Die Vermessung des Glücks in Deutschland - André Micklitza - E-Book

Die Vermessung des Glücks in Deutschland E-Book

André Micklitza

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Beschreibung

Das Glück zu erhaschen, ist nicht immer leicht. Zwei Handlungen sind dafür unerlässlich: Nachdenken und aktiv werden. Viele Tipps der Autoren lesen sich geradezu fantastisch und unerhört. Wer aber ihrem Gedankenansatz folgt, wird die Grundformel für das Glücklichsein schnell erkennen – öfters gegen den Strom schwimmen, dabei Zusammenhänge in Politik und Gesellschaft durchschauen, hinterfragen und selbst über das Leben bestimmen. In knackigen Passagen halten die Reisejournalisten dem bundesrepublikanischen Alltag einen Spiegel vor und geben so manchen Rat auf der Suche nach dem Glück. Mit spannenden Zitaten gespickt, ist dies ein Buch zum Lachen und zum Heulen, wie das Leben auch.

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Erfahrungen zahlt man teuer, obwohl sie gebraucht viel billiger wären.

Über die Autoren

Der Name Micklitza steht seit Jahren für individuelle und verlässliche Informationen in Reiseführern (Lausitz, Spreewald, Tschechien, Böhmisches Bäderdreieck, Polnische Ostseeküste und Slowakei). Über zwanzig Jahre schrieben und bebilderten sie anspruchsvolle Reisereportagen in zahlreichen Magazinen und in über zwanzig Tageszeitungen. Die Zusammenarbeit endete unfreiwillig durch die Sparwut in den Verlagshäusern. Die meisten Redaktionen arbeiten heute beim Thema Reise nur noch mit Agenturen zusammen oder bringen PR-Artikel, die kein extra Geld kosten.

Zwei Hobbyschreiber und Amateurfotografen entwickelten sich zu erfahrenen Reisejournalisten. Dieser seltene und zugleich glückliche Umstand mag einer der Gründe sein, dass die Autoren sich in der Lebensmitte auf einen neuen Pfad begaben, einen ungewöhnlichen Blick auf den deutschen Alltag werfen und dabei individuelle Chancen für ein glückliches Leben beleuchten.

Inhalt

Vorwort

Das Ideal

Glücklichsein ist ein Erkenntnisprozess

Glücklich nur mit Durchblick: Politik hinterfragen

Glücksbringer: Partner und Kind(er)

Glücksvorsorge: Gesundes Essen

Glücksdroge I: Sport und Sauna

Glücklich durch gesunde Lebensweise

Ein glückliches Gefühl: Gesunde Körperpflege mit wenig Geld

Glücklich befreit: Eigene Rituale pflegen

Besitz verpflichtet und macht (oft) unglücklich

Glücksgefühle durch Verzicht: Auto fahren einschränken

Zeit gewinnen: Das TV-Gerät entsorgen

Glücksdroge II: Lesen macht schlauer

Glückliche Zeiten: Reisen, Reisen

Hinweise zum Benutzen

Vorwort

„Alle Gelegenheiten zum Glücklichsein nützen nichts, wenn man den Verstand nicht hat, sie zu nutzen“ (Johann Peter Hebel)

Wieder ein Buch über das Glück. Wo es doch schon so viele gibt. Kein alleiniges Wundermittel vermag uns in jenen berauschenden Zustand zu versetzen. Hier soll kein pseudointellektuelles Geschwätz langweilen und kein astrologischer Unsinn aufgetischt werden, auch eine neue Heilslehre oder die Anbetung eines Götzen gibt es hier nicht. Viele solcher Titel wollen uns glauben lassen, dass es doch eigentlich ganz einfach sei, glücklich zu sein. Man folge nur einer dieser Gebrauchsanleitungen, nehme eine Portion Selbstvertrauen und denke dabei immer positiv. Über die Millionenauflage von ›Glück geht oft zusammen‹* schrieb eine Redakteurin lakonisch: „Diese Bestseller machen vor allem den Autor glücklich“ (Sächsische Zeitung, 5./6.12.09, S. 10).

Aus dem ›Happy Planet Index‹, entwickelt von der britischen New Economics Foundation, ging vor einiger Zeit hervor, dass die Deutschen in punkto Glück weltweit erst an 85. Stelle stehen. Sind wir also doch zu dumm zum Glücklichsein? Tatsächlich braucht es mehr, als erwähnte Ratgeber uns suggerieren wollen. Wir sollten wissen, wie Politik, Wirtschaft und Gesellschaftssystem funktionieren. Nur wer Zusammenhänge erkennen kann, ist in der Lage, daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Das ist freilich nicht immer leicht in einem Alltag, in dem beinah jeder von uns zwischen Existenzangst, Familie und Partner jonglieren muss. Wo Zeit zum Nachdenken ein kostbares, knappes Gut geworden ist. Doch nur wer selbst bestimmt, aus eigenem Antrieb handelt, wird mit seinem Leben zufrieden sein.

Zwar sind wir von Geburt an in unterschiedlichen sozialen Strukturen aufgewachsen und können Glück mit unseren Eltern und Erziehern gehabt haben, sind mit gesunden oder weniger guten Genen ausgestattet, haben mehr oder weniger Geld. Aber das kann das spätere Glücklichsein nur erleichtern oder erschweren. Vor allem kommt es auf uns selbst an! Glücklichsein erweist sich als alltägliche Arbeit. Nur wer seinen inneren Schweinehund wieder und wieder bekämpft, sich aufrafft aus der Bequemlichkeit, gesellschaftliche Konventionen und Traditionen hinterfragt, wird glücklich sein. Aber wie schon der Satiriker Kurt Tucholsky feststellte, ist immer irgendetwas, was uns vom restlosen Glücklichsein abhält: Wer sucht, wird auch Fehler finden. Perfekt ist nichts außer unseren Wünschen und Zielen.

So mancher Absatz in diesem Buch mag dem Leser zunächst unerhört, seltsam oder gar fantastisch erscheinen. Doch etwas zum Positiven verändern, das heißt sich anstrengen, über seinen Schatten springen, sich selbst und anderen unbequeme Fragen stellen, neue Wege einschlagen, gegen den Strom schwimmen.

Mit den meisten herkömmlichen Glücksratgebern ist es so wie bei der Schulmedizin. Diese doktert im Gegensatz zu einer Ganzheitsbetrachtung unseres Körpers oft nur an den Symptomen herum, ohne nach der Ursache zu forschen. Doch alles hängt mit allem zusammen. Wenn Sie sich auf diesen Gedankenansatz einlassen, wird klar, dass wir unser Gesellschaftssystem durchschauen müssen. Wo Geld die Welt regiert, stehen auf der einen Seite die Gewinner, auf der anderen viel mehr Verlierer. Die besten Chancen zum Glücklichsein haben wohl diejenigen, die ihren Durchblick dazu nutzen, sich möglichst viele Freiräume schaffen, unbedarften Konsum hinterfragen und die sich darauf konzentrieren, ihre eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vervollkommnen sowie nach zukunftsträchtigen Lebensentwürfen streben. Dazu muss niemand aus Deutschland auswandern.

Das Ideal

Ja, das möchste:

Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,

vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße;

mit schöner Aussicht, ländlich – mondän,

vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn –

aber abends zum Kino hast du´s nicht weit.

Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit:

Neun Zimmer – nein, doch lieber zehn!

Ein Dachgarten, wo die Eichen drauf stehn,

Radio, Zentralheizung, Vakuum,

eine Dienerschaft, gut gezogen und stumm,

eine süße Frau voller Rasse und Verve –

und eine fürs Wochenend, zur Reserve –

eine Bibliothek und drumherum

Einsamkeit und Hummelgesumm.

Im Stall: Zwei Ponys, vier Vollbluthengste,

acht Autos, Motorrad – alles lenkste

natürlich selber – das wär ja gelacht!

Und zwischendurch gehst du auf Hochwildjagd.

Ja, und das hab ich ganz vergessen:

Prima Küche – erstes Essen –

Alter Wein aus schönem Pokal –

Und egalweg bleibst du dünn wie ein Aal.

Und Geld. Und an Schmuck die richtige Portion.

Und noch ne Million und noch ne Million.

Und Reisen. Und fröhliche Lebensbuntheit.

Und famose Kinder. Und ewige Gesundheit.

Ja, das möchste!

Aber wie das so ist hienieden:

Manchmal scheints so, als sei es beschieden

Nur pöapö, das irdische Glück.

Immer fehlt dir irgendein Stück.

Hast du Geld, dann hast du nicht Käten;

Hast du die Frau, dann fehln dir Moneten –

Hast du die Geisha, dann stört dich der Fächer:

Bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher.

Etwas ist immer.

Tröste dich.

Jedes Glück hat einen kleinen Stich.

Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten.

Das einer alles hat:

Das ist selten.

(Kurt Tucholsky alias Theobald Tiger, 31.7. 1927 in Berliner Illustrirte Zeitung, Nr. 31, S. 1256)

Glücklichsein ist ein Erkenntnisprozess

„Das Leben wird sein, wie wir es machen“ (von Manfred Krug gesungen in ›Komm und spiel mit mir‹)

Die Menschen suchen das Glück. Wo ist es zu finden? Deutschland ist gemessen am Bruttoinlandsprodukt aller gefertigten Güter und Dienstleistungen ein sehr reiches Land. Aber sind wir auch ein glückliches Volk? Vor allem Gesundheit, Lebenserwartung, Bildung und Umwelt prägen unser Glücksgefühl.

Auf das eigene Glück oder Unglück in der Kindheit hat man selbst nur wenig Einfluss. Eltern, Freunde, Bekannte und Pädagogen haben dem jungen Weltenbürger gegenüber eine enorme Verantwortung. Sie müssen frühzeitig Begabungen und Neigungen des Kindes erkennen und fördern, es anleiten und lenken, Regeln und Grenzen aufzeigen sowie sich ihrer Vorbildwirkung bewusst sein. Nur so können Kinder und Jugendliche eigene Ideale herausbilden und einer wachsenden Orientierungslosigkeit in der Gesellschaft begegnen, ohne daran später zu verzweifeln. Wenn Eltern die Beobachtungsgabe ihrer Kinder schulen, dann werden diese später auch unscheinbare Veränderungen registrieren können. Sie werden daraus entsprechende Schlüsse ziehen und ihre Vorkehrungen treffen. Ausdauer, Disziplin, Mitmenschlichkeit und Naturliebe werden vor allem in jungen Jahren fürs Leben geschult. Auch die Neugier auf andere Landschaften und Kulturen kann schon früh geweckt werden. Reist die Familie schon immer auf eigene Faust, werden auch junge Erwachsene das selbst organisierte Reisen bevorzugen. Die eigenständige Planung und die damit verbundene Vorfreude gehören zum großen Glücksgefühl des Reisens dazu.

„Du siehst die Blumen nicht, die blühen, Du kannst nur arbeiten und schuften. Und wenn Du liegst dann auf der Bahre, grinst hinter Dir der Tod und lacht: Kaputt gerackert – Du Idiot!“. So sprach vor wenigen Jahrzehnten der deutsche Volksmund und bringt es noch immer auf den Punkt. Sie wollen doch sicher die Blumen sehen, sich am Leben erfreuen, zwar gern arbeiten, aber alles mit Augenmaß angehen? Viele Menschen sterben mit 50, 60 Jahren, weil eine Karriere um jeden Preis bis dahin das wichtigste Lebensziel bedeutete. „Durch Rücksichtslosigkeit haben die Menschen Erfolg, erlangen, was sie begehren. Aber danach verdorren sie an der Wurzel“, besagt eine indische Weisheit. Nehmen wir an, Sie haben ein Alter von zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren erreicht. Erschreckt Sie der Gedanke, bereits in 25 Jahren könnte Schluss sein? Wäre es nicht erstrebenswert, bis dahin ein intensives und selbstbestimmtes Leben zu führen und nicht nur zu funktionieren? Entwerfen Sie möglichst frühzeitig Konzepte, formulieren Sie die wichtigsten Lebensziele und tasten Sie sich Schritt für Schritt vorwärts. „Wer das Ziel kennt, kann entscheiden, wer entscheidet, findet Ruhe, wer Ruhe findet, ist sicher, wer sicher ist, kann überlegen, wer überlegt, kann verbessern“. Das hat Konfuzius schon vor zweieinhalbtausend Jahren treffend festgestellt. Die angeblich immer knapper werdende Zeit ist eine der Geißeln unserer Gesellschaft. Nur wer sie sich auch nimmt, kann für Momente immer mal wieder glücklich sein.

Glück im Wandel der Zeiten

Glück und Wohlstand sind sehr wandelbare Begriffe. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren ein voller Magen, eine warme Stube und die Heimkehr eines lieben Angehörigen aus der Gefangenschaft für die meisten Deutschen das größte Glück. Im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik Deutschland stiegen die Ansprüche Mitte der 1950er Jahre weit darüber hinaus und auch in der DDR musste ein Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches niemand mehr hungern. In den 1970er und 1980er Jahren schienen die Bundesbürger das Glück für sich gepachtet zu haben, frei nach dem Motto „Gott hat die Erde nur einmal geküsst, genau an dieser Stelle, wo jetzt Deutschland ist“ (CD ›D‹, Die Prinzen, ›Deutschland‹, 2001). Beide gesellschaftliche Systeme, das der Bundesrepublik und das der DDR, standen im Wettstreit um soziale Wohltaten. Auch wenn es heute vielleicht in Deutschland nur wenige wahrhaben wollen: Bei den allermeisten gewerkschaftlichen und politischen Verhandlungen um den Ausgleich ökonomischer Ungleichgewichte saß die DDR als unsichtbare aber fühlbare Größe mit am bundesrepublikanischen Tisch. Der Kapitalismus konnte so 40 Jahre gezügelt werden, denn die Beteiligten mussten sich oft auch an den sozialen Realitäten in Ostdeutschland messen lassen. Letztlich fehlte der DDR aber die ökonomische Basis für die Vielzahl der Sozialleistungen. Das brach dem Staat Ende der 1980er Jahre das Genick, auch weil das System politisch vollkommen abgewirtschaftet war. Aber man darf nicht vergessen: Die DDR hat fast die gesamten Reparationszahlungen des Zweiten Weltkrieges an die Sowjetunion für Westdeutschland mitbezahlt: Exakt 97 Prozent, die damalige BRD trug nur 3 Prozent. „Ein Gutachten, das die Bundesregierung 1989 in Auftrag gab, ermittelte ... dass die Schuld des Westens gegenüber dem Osten 727 Milliarden DM betrug“ (Günter Bienst, Leserbrief in der Lausitzer Rundschau, 30.10.10, S. 2).

Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der DDR gehen jetzt alle Bundesbürger einem ungewissen Schicksal entgegen, obwohl gegenwärtig für viele immer noch Milch und Honig fließen. „Die Sicherheitsversprechen der Moderne greifen nicht mehr, ... Aktien erweisen sich massenweise als Flop, Rentenanleihen werden Makulatur, Megakonzerne kollabieren, scheinbar florierende Staaten machen bankrott. Und man hat nicht gerade den Eindruck, dass das erodierende System sich stabilisiert oder gar neu sortiert. Die fetten Jahre sind unwiderruflich vorbei“ (Olaf Briese, Der Tagesspiegel, 17.08.10, S. 19). Auch bei den Lebensversicherungen, der Hauptstütze der privaten Altersvorsorge, bahnt sich wegen der jahrelangen Nullzinspolitik eine Katastrophe an – Deutsche halten knapp 90 Millionen Verträge (Stand 2012).

Der Staat hat bislang über zwei Billionen Euro Miese angehäuft. Inoffiziell, nämlich mit bereits zugesagten Beamten- und Pensionsgarantien, soll die Gesamtverschuldung etwa das Dreifache betragen. Dagegen waren die etwa 10 Milliarden Mark Schulden, die der DDR zum Verhängnis wurden, ein Klacks! Die Zeche bezahlt der Bürger – schließlich „bürgt“ er für den Staat und wird daher so genannt. „Verlasse dich auf nichts“ ist die einzige Regel auf die man sich wirklich verlassen kann.

Seit Ende der 1990er Jahre verharrte das Wohlstandniveau für Gesamtdeutschland, um seit der Jahrtausendwende schrittweise wieder zu sinken. Auch weil durch den Untergang des Sozialismus in Europa ein Korrektiv fehlt, an dem praktische Vergleiche möglich sind.

Die hohe Zahl Erwerbsloser, der demografische Wandel und die Globalisierung werden nach Expertenmeinung in den nächsten Jahren zu einer Neubewertung von Wohlstand führen. Weniger Geld in der Tasche heißt nicht zwangsläufig immer unglücklicher zu leben. Wohlstand und Zufriedenheit definieren sich zukünftig mehr als individuell unterschiedlich empfundene Lebensqualität und weniger über Geld und Besitztümer. Studien des Hamburger BAT-Freizeitforschungsinstituts haben ergeben, dass sich die Deutschen schon heute im Mittelfeld zwischen Überfluss und Not am wohlsten fühlen. „Wir müssen in Zukunft versuchen, Sinnbedürfnisse nicht mehr nur materiell zu lösen. Welches sind die Werte, von denen man sich Glück und Zukunft verspricht? Und weil die Parteien darauf nicht eingehen, haben wir diese enorme Parteiverdrossenheit“, meint Richard David Precht (Der Tagesspiegel, 2.01.11, S1).

Mit der gesellschaftlichen Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle wird diesem Empfinden weiter Nahrung gegeben. In der multiaktiven Leistungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts werden bezahlte und unentgeltliche (z.B. ehrenamtliche) Arbeit den gleichen Wert bekommen, sagen die Zukunftsforscher weiter. Der Großteil der Bundesbürger definiert den individuellen Lebenssinn weiterhin über abhängige Erwerbsarbeit und zwingt sich zur gesellschaftlichen Norm der Anpassung. „Mir macht meine Arbeit viel Spaß“, wird bei Befragungen oft in das Mikrofon gelogen, obwohl der alltägliche Zwangstrott viele abstumpfen lässt und krank macht. Nach einer Umfrage im Jahre 2013 hat knapp jeder Fünfte bereits innerlich gekündigt! „Der größte Teil der Mitarbeiter, nämlich 67 Prozent, ist nur schwach gebunden und leistet Dienst nach Vorschrift“ (Flora Wisdorff, welt.de, 31.3.14).

Besser wäre es, die Notbremse zu ziehen, bevor man durchdreht. Jährlich begehen hierzulande etwa 10 000 Suizid, zehn Mal so viele versuchen es. „Glück ist im menschlichen Bauplan nicht angelegt. Wer ein stimmiges Privatleben sucht und gleichzeitig auch Karriere machen will, der schafft dies nur, indem er beruflich und privat Abstriche macht und den hohen Erwartungsdruck in allen Lebensbereichen hinter sich lässt“, sagt der Psychologe Stephan Grünewald (Der Tagesspiegel, 20.12.09, S. K2).

Die Unzufriedenheit im Angestelltenalltag basiert bei näherem Hinschauen oft auf der Alternativlosigkeit. Die meisten Politiker wollen den angeblichen Sinnstifter „abhängige Lohnarbeit“ auch perspektivisch nicht in Frage stellen. Abhängige Arbeit stellt ein wichtiges Herrschaftsinstrument dar. Würde man den Bürgern ein bedingungsloses Grundeinkommen auszahlen, könnte sich jeder das ihm genehme Betätigungsfeld aussuchen, im Notfall bliebe das Bürgergeld. Der Kapitalismus bekäme mit dem bedingungslosen Grundeinkommen ein menschliches Antlitz, wie vom Kommunismus der Zukunft einst erträumt: ›Jeder lebt frei nach seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten‹. Das hätte sich der Philosoph und Systemkritiker Karl Marx nicht träumen lassen, dass eine Chance besteht, den Kapitalismus zu sozialisieren ohne ihn seiner Triebfedern zu berauben: Wenn die Grundbedürfnisse der Menschen finanziell abgesichert sind, kann sich das Individuum frei entfalten. Jeder bestimmt selbst, welche Lebensform zum persönlichen Glück führt – man kann sich auch immer wieder neu entscheiden. Erfüllende und damit glückbringende Tätigkeiten z.B. in der Alten-, Kinder- und Jugendbetreuung, in Bildung und im Umweltschutz, die viele aus innerem Bedürfnis gern übernehmen würden, der sie aber wegen schlechter oder gar keiner Bezahlung nicht nachgehen können, würden einen Aufschwung erleben. So könnte man vielen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen wie Betreuungsmangel, Vandalismus, Kleinkriminalität entgegenwirken. Die meisten Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens finden sich bei Linken und Grünen, aber auch einige FDP- und CDU-Politiker haben sich bereits damit angefreundet. Doch die Staatslenker, Lobbyisten und Hintermänner der Macht sind sich den Gefahren für die Fortdauer einer hierarchischen Ausbeutergesellschaft bewusst, wie es George Orwell bereits 1948 erkannte: „Denn wenn alle in der gleichen Muße und Sicherheit lebten, würde die große Masse der Menschen, die normalerweise durch die Armut verdummt sind, sich weiterbilden und selbstständig zu denken lernen; und wären sie erst einmal so weit, würden sie früher oder später dahinterkommen, dass die privilegierte Minderheit keine Funktion besaß, und sie hinwegfegen. Auf lange Sicht war eine hierarchische Gesellschaft nur auf der Basis von Armut und Unwissenheit möglich“ (›1984‹, Ullstein Taschenbuchverlag, 23. Auflage 2002, S. 229).

Seit 2007 macht sich der Heidelberger Lehrer Ernst Fritz-Schubert für einen Wandel in der Gesellschaft stark: Seither wird in der Willy-Hellpach- Schule das Fach „Glück“ gelehrt. Es geht im Leben um eine sinnvolle Tätigkeit, nicht um Geld und nicht um Besitz. Aber wieviel Zeit hat die Menschheit schon versäumt um sich zu ändern! Bereits Aristoteles, geboren 384 vor Christus, erkannte, dass die höchste Menschlichkeit sich in einer vernünftigen Tätigkeit zeige, die als Glück erlebt werde.

Geht es weiter wie bisher, wird das untere Drittel der Gesellschaft dauerhaft ausgegrenzt, steigen Kriminalität und Gewalt unvermindert an und es wird für alle unbehaglich, auch für die, die Besitztümer jetzt noch ihr eigen nennen.

Neue Berufswelten

Bis das Basiseinkommen für Jedermann kommt, wird es wohl noch eine Weile dauern, vielleicht bleibt es auch nur bei einem Wunschgedanken. Chancen für ein selbstbestimmtes Leben bieten sich heute vor allem für Selbstständige. Aber nur weniger als zehn Prozent der berufstätigen Deutschen haben sich bisher auf dieses Abenteuer mit Glückspotential eingelassen. Jungen Leuten stehen heute so viele Berufswege offen, dass sie allein dadurch schon wieder überfordert sind. „Es ist in dieser Welt sehr schwierig, mit sich selbst zufrieden zu sein, mit dem was man hat, wie man lebt. Wo ist der Punkt erreicht, an dem man sein Leben endlich gut findet?“, fragt die Regisseurin Sonja Heiss (Abendzeitung München, 22.11.07, S. 41).

Das Wichtigste bei der Arbeit ist, die Arbeit zu tun, die wir lieben. Niemand hindert uns daran, uns auch als Selbstständige zu fühlen, auch wenn wir angestellt sind. Jeder Mensch, der in seinem Beruf unzufrieden ist, ist nicht wirklich mit seiner Stellung oder dem Status unzufrieden, sondern hat den falschen Beruf gewählt oder arbeitet in der falschen Firma. Das Problem ist aber, die Menschen haben Angst, aus ihrer vermeintlichen Sicherheit auszubrechen. Sie ertragen lieber das Mobbing, die Angst vor übermorgen, weil sie sich selbst nicht zutrauen, dass es besser werden kann. Viele kommen mit der Freiheit nicht klar, sich ihren Tag jetzt selbst einteilen zu müssen. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt: Selbstständige, Unternehmer, denken und handeln anders als Arbeitnehmer. Viele Arbeitnehmer sind nicht bereit, den Arbeitsaufwand zu treiben, den ein Selbstständiger hat oder die Risiken einzugehen, also bleiben sie auf der Stufe, wo sie sich befinden.

Udo Jürgens, erfolgreicher Sänger und Entertainer, sagt im Interview: „Lebensglück kann nur bedeuten, sich allem Auf und Ab des Lebensweges zu stellen, zu stolpern und wieder aufzustehen. Euphorie entsteht nur nach der Niedergeschlagenheit ...“ (Der Tagesspiegel, 26.01.08, S. 21). Vor allem persönliche Freiheit und die frei verfügbare Zeit sind die Zauberschlüssel für ein selbstbestimmtes Leben. Die Globalisierung und das Internet gebären immer neue Berufsfelder. Die kreativen Möglichkeiten sind unerschöpflich, und wer sich mit pfiffigen Ideen und Diensten einen Markt schafft, muss die Zukunft nicht fürchten. Meist sind es Zwanziger bis Vierziger mit innovativen Ideen, die keinen Chef vor der Nase sitzen haben, der sie tyrannisiert und die sich keine Verzagtheit einreden lassen. Finanziell leben sie oft in einer angespannten Situation, ein fester Job ist selten in Aussicht. Dennoch pfeifen sie auf die Scheinsicherheiten eines Angestelltendaseins, denn die neue digitale Boheme hat aus der Not eine Tugend gemacht. Dank der weltumspannenden Datenautobahn können sie arbeiten, wo, wann und wie sie es wollen. Die Individualisierung, einst auf persönliche Freiheit und den Konsum begrenzt, dehnt sich nun auch auf den Sektor Arbeit aus und eröffnet so ganz neue Lebensentwürfe. Timothy Ferris, Unternehmer und Weltenbummler, sagt: „... dass der Ruhestand kein Ausgleich sein kann für ein unerfülltes und langweiliges Leben. ... Es geht darum, sein Leben Schritt für Schritt neu zu gestalten ... so dass Sie nicht mehr jene Dinge tun müssen, zu denen Sie keine Lust haben ... Einkommen ist nur in dem Maß wertvoll, wie man seine Zeit kontrolliert und es für erstklassige Erfahrungen einsetzen kann“ (Der Tagesspiegel, 18.05.08, S. K2).

Tipp zum Weiterlesen: ›Die 4-Stunden-Woche. Mehr Zeit, mehr Geld, mehr Leben‹, von Timothy Ferriss, Econ Verlag.

Glücklich nur mit Durchblick: Politik hinterfragen

„Wer nichts weiß, muss alles glauben, wer nichts weiß, glaubt irgendwann jeden Schei...“ (Joely & Oliver Lilipuz, Geschichtenliedererzähler, CD ›Wdr 5 Bis ans Ende der Welt‹, 2006)

Manche Mitbürger meinen, was schert es mich, was in der großen Politik abgeht. Soll ich wirklich danach streben, allen Dingen und Fragen möglichst auf den Grund zu gehen? Das kostet viel Zeit und Mühe. Die Antworten und Tatsachen sind oft beängstigend und rufen nach Konsequenzen. Das ist mir viel zu anstrengend! Sokrates aber wusste: „Das Glück wohnt in dem Menschen, der die Wahrheit sieht“ und der Philosoph und Theologe Thomas von Aquin meint: „Weisheit aber betrachtet den Inbegriff der Glückseligkeit selbst“.

Wichtig erscheint den meisten Politikern allein der Machterhalt. Als die Bundesregierung Ende 2007 ihre Halbzeitbilanz präsentierte, stellte der damalige FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle lakonisch fest: „Sie hassen sich wie die Pest“. Dennoch schweißt alle der Machtinstinkt zusammen. Viele Spitzenpolitiker erscheinen emotional verarmt. Der erfolgreiche Aufstieg war verbunden mit der Angst vor eigenen Fehlern und vor der Heimtücke der Konkurrenten. Der alltägliche Erfahrungsprozess hat sie hart werden lassen und zum Abstumpfen geführt. Aber wenn es brenzlig wird, deckt man sich gegenseitig. „Merkel wurde von einem niederländischen Korrespondenten gefragt, wie sie die Finanzen eines Landes mit 82 Millionen Bürgern einem Mann anvertrauen könne, der sich nicht einmal an die Details einer persönlich überreichten 100 000-Euro-Zahlung durch den Rüstungslobbyisten zu erinnern vermag. Merkel war erst sprachlos, sagte dann, dass sie Wolfgang Schäuble volles Vertrauen entgegenbringe und quittierte wiederholte Nachfragen mit Schweigen“ (Lars von Törne, Der Tagesspiegel, 31.12.09, S. 19).

Gerhart Baum, von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister, bekannte: „Als Berufspolitiker war ich berufsbedingt deformiert. Wenn ich alte nichtssagende Statements von mir selber heute lese, dann schüttelt es mich“ (chrismon, Heft 4/2008, S. 24). Der Journalist Günther Koch, ehemals Landtagsabgeordneter, erinnert sich: „Ich Depp war so naiv und dachte, dass ich für die Gemeinschaft etwas tun kann. Als Unabhängiger hätte ich einiges erreichen können. Als die Parteien gemerkt haben, dass da einer kommt, der nur macht, was er für richtig hält, wurde denen unwohl. Auch die SPD, die mich um eine Kandidatur gebeten hatte, hat mich im Regen stehen lassen ...“ (Der Tagesspiegel, 19.05.07, S. 31). Glaubhafte Berufspolitiker erscheinen selten auf der bundesrepublikanischen Bildfläche. Die verstorbene brandenburgische SPD-Sozialministerin Regine Hildebrandt war eine Volksvertreterin, der man vertrauen konnte. Der FDP-Politiker Gerhart Baum klagte gegen neue Regierungsgesetze und hat mehrmals Recht bekommen. Die CDU-Politiker Heiner Geißler (ehemals Generalsekretär) und Klaus Töpfer (ehemals Bundesumweltminister) sind mit dem Alter kritischer geworden: Geißler hat sich 2007 der Antiglobalisierungsbewegung Attac angeschlossen. Dr. Klaus Töpfer, durch seine Weltreisen als UN-Exekutivdirektor sensibilisiert, setzt sich seitdem für die Belange der Ärmsten ein und warnt eindringlich vor den Gefahren des Klimawandels. Gregor Gysi von der Linkspartei ist als langjähriger DDR-Bürger mit der Lebenserfahrung zweier unterschiedlicher Gesellschaftssysteme dazu befähigt, die Politik der Bundesregierung messerscharf zu analysieren: „Ich dachte, bei ihrem Besuch [von Angela Merkel, d. A.] auf der Ranch des US-Präsidenten fällt ihr irgendetwas zu dem Gefangenenlager Guantanamo oder den CIA-Geheimgefängnissen in Osteuropa ein. Und dann kam gar nichts. Das kann man ihr nicht durchgehen lassen. Die DDR hat auch immer Menschenrechtsverletzungen der USA angeprangert, nur in der Sowjetunion und bei sich selbst nicht. Von dieser Einseitigkeit habe ich die Schnauze voll“ (Der Tagesspiegel, S. 7. 16.12.07). Die meisten Politiker und Journalisten sind Gysi in Gesprächsrunden intellektuell unterlegen. Weil man ihn daher verunglimpfen möchte, wird seit einem Vierteljahrhundert die Stasikeule geschwungen. Auch Ex-Focus-Chefredakteur Helmut Markwort meldete sich diesbezüglich zu Wort: „.Ob er einen Spitzel-Vertrag unterschrieben hat oder nicht, ist fast nebensächlich, weil er jahrzehntelang als zuverlässiger Diener der Diktatur galt“ (Focus Heft 23/2008, S. 5). Nach dieser Denkweise von Herrn Markwort wäre die Mehrheit der ehemaligen DDR-Bevölkerung schuldig, weil sie als „zuverlässiger Diener der Diktatur“ den Systemerhalt über vier Jahrzehnte ermöglichte, seit 25 Jahren aber neue Chancen sucht.

Bestseller-Autor Roger Willemsen sagt im Interview: „Und lügen zu können, gehört zur Kernkompetenz eines Politikers. Er muss permanent lügen“ (Der Tagesspiegel, 19.08.07, S. S1).

„Die Lüge ist erlaubt, Politiker dürfen lügen, Ärzte dürfen lügen (wenn es dem Patienten hilft), Geistliche dürfen ihre Gemeinden belügen und Journalisten – ach, reden wir nicht drüber. Die Lüge ist die akzeptierte Anarchie in einer geordneten Welt, Jahrhunderte ... haben ihr so wenig anhaben können wie 60 Jahre Grundgesetz“ (Jost Müller-Neuhof, tagesspiegel.de, 22.01.12).

„In Zeiten allgemeinen Betrugs ist das Aussprechen der Wahrheit ein Akt der Revolution“ (George Orwell).

Die CDU/CSU/FDP/SPD/GRÜNEN-Politiker wollen uns weismachen, sie hätten die weltweite Bankenkrise nicht kommen sehen und es gibt für die heutige Krise angeblich „... keine Lehrbücher“ (Ex-Vorsitzender der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker)? Das ist dummes Geschwätz, denn durch die Liberalisierungen des Bankensektors hat die Politik eigenhändig Brandbeschleuniger geworfen. 1929 schrieb Erich Kästner den „Hymnus auf die Bankiers“ (aus ›Lärm im Spiegel‹, 1929, lieferbar bei Atrium Verlag Zürich). Was würde der Literat wohl heute sagen? Hat Juncker das nicht gelesen?

Hymnus auf die Bankiers

Der kann sich freuen, der die nicht kennt!

Ihr fragt noch immer: Wen?

Sie borgen sich Geld für fünf Prozent

und leihen es weiter zu zehn.

Sie haben noch nie mit der Wimper gezuckt.

Ihr Herz stand noch niemals still.

Die Differenzen sind ihr Produkt.

(Das kann man verstehn, wie man will.)

Ihr Appetit ist bodenlos.

Sie fressen Gott und die Welt.

Sie säen nicht. Sie ernten bloß.

Sie schwängern ihr eignes Geld.

Sie sind die Hexer in Person

und zaubern aus hohler Hand.

Sie machen Geld am Telefon

und Petroleum aus Sand.

Das Geld wird flüssig. Das Geld wird knapp.

Sie machen das ganz nach Bedarf.

Und schneiden den anderen die Hälse ab.

Papier ist manchmal scharf.

Sie glauben den Regeln der Regeldetri

und glauben nicht recht an Gott.

Sie haben nur eine Sympathie.

Sie lieben das Geld. Und das Geld liebt sie.

(Doch einmal macht jeder Bankrott!)

Anmerkung:

Die Konsumenten sind die linke Hand des gesellschaftlichen

Organismus, die Produzenten sind die rechte Hand.

Die Bankiers sind die Heimlichkeiten zwischen den beiden.

Lobbyismus auf dem Vormarsch

In der Bundesrepublik ist der richtungsweisende Einfluss von Lobbyisten ein Faktum. Die Konzerne schaffen sich mit ihrer Hilfe einen direkten Zugang zur Politik. Schätzungsweise 5000 Lobbyisten sind in Berliner Kanzleien, PR-Agenturen und Unternehmen tätig. Sie umschwirren die Abgeordneten wie Schmeißfliegen, um sie für ihre Interessen zu gewinnen, bleiben für die Öffentlichkeit aber zumeist unsichtbar. Bei vielen umfangreichen Gesetzesvorlagen, wie z.B. der Gesundheitsreform, werden außerparlamentarische Expertengremien mit dem Erarbeiten beauftragt. Im Zuge der Bankenrettung haben die Banker spätere Gesetzesvorlagen gleich selber verfasst. „Am aggressivsten ist die Pharmalobby. Und gar nicht so selten finden sich die Formulierungen der Interessenvertreter eins zu eins in Gesetzesvorlagen wieder“ (Rainer Woratschka, Der Tagesspiegel, 2.01.10, S. 2).

Die Abgeordneten bekommen mehrhundertseitige Vorlagen manchmal erst kurz vor dem Verabschieden im Bundestag auf den Tisch geknallt, ihr Einfluss ist in solchen Fällen gleich null und beschränkt sich aufs artige Händchen heben. Ende 2011, nur wenige Stunden vor der Abstimmung zum EU-Rettungsschirm EFSF im Bundestag interviewten Mitarbeiter des ARD-Politmagazins ›monitor‹ einige Abgeordnete: Die meisten von ihnen wussten nicht, mit wieviel Geld der deutsche Staat dabei ist. Dennoch stimmten sie am selben Tag mit „Ja“. Es ist unfassbar: „Die Bundesregierung handelt mit der Bankenbranche ein Konzept aus, das dem Staat im Extremfall eine halbe Billion Euro kosten könnte, und es wird so mühelos zum Gesetz, als handelte es sich um die nachrangige Änderung des Abgabenrechts. Während sonst eine Milliarde hin oder her Koalitionskrisen auslöst, stellt hier das Prinzip Pi mal Daumen alle [außer die Linkspartei und wenige Abweichler, d. A.] zufrieden“ (Moritz Döbler, Der Tagesspiegel, 18.10.08, S. 1). Am 29. Juni 2012 haben der Bundestag und der Bundesrat jeweils mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit auch dem Dauerrettungsschirm ESM ihren Segen erteilt.

Die beiden Bush-Regierungen machten es vor: Hier saßen die Lobbyisten der Ölindustrie gleich persönlich im Weißen Haus und bestimmten, wohin die Reise ging. „Die Interessen der Bürger sind dabei ... auf der Strecke geblieben. Sie müssten ... von der Politik vertreten werden. Doch die hat ... ihre Hoheit über das eigene Handeln verloren. Die amerikanische Demokratie wurde von der Wirtschaft überwältigt – ein Schicksal, das ... Deutschland in zehn Jahren blühe, ...“ (Stefan Kaiser, Der Tagesspiegel, 11.02.08, S. 30).

Tipp zum Weiterlesen: ›Superkapitalismus. Wie die Wirtschaft unsere Demokratie untergräbt‹ von Robert Reich, Campus Verlag.

Wer einmal lügt ...

2003 hielt der damalige US-Außenminister Collin Powell vor der UN einen Anklagebericht zur Lage im Irak und „... hat seine Rede später eine ›Schande‹ genannt; ihm seien viele falsche Informationen hineingeschrieben worden“ (Christoph von Marschall, Der Tagesspiegel, 18.11.07, S. 2). Aber fast alle Staatsvertreter haben mitgespielt: „Als im Februar 2003 Collin Powell den Sicherheitsrat von einem Irak-Krieg überzeugen wollte, wurde das Bild vorher verhängt“ (Anna Kemper, Der Tagesspiegel, 22.04.07, S. S7). Bei diesem Bild im Vorraum des Sicherheitsrates der UN handelt es sich um eine Kopie des Picasso-Gemäldes ›Guernica‹, ein weltbekanntes Mahnmal für den Frieden: Guernica war die erste Stadt des Planeten Erde, die durch einen Luftangriff ausgelöscht wurde. Dabei testeten die Nazis am 26. April 1937 während des Spanischen Bürgerkriegs die Zerstörungskraft neuer Waffen.