Die Vermissten von Tanger - James Leyden - E-Book

Die Vermissten von Tanger E-Book

James Leyden

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Beschreibung

Verhängnisvolles Tanger

Karim Belkacems bester Freund und Kollege Abdou ist spurlos verschwunden. Die Aufzeichnung einer Überwachungskamera zeigt ihn zuletzt bei der Inspektion eines Containers am Hafen von Tanger. Also reist Karim in die weiße Stadt am Meer und begibt sich auf die Suche. Doch schon bald hat er mehr Fragen als Antworten. Den Kollegen vor Ort kann er nicht trauen. Auch die Hafenarbeiter scheinen mehr zu wissen, als sie zugeben. Schließlich wendet er sich an die einzige Person, die ihm jetzt noch helfen kann – seine Adoptivschwester Ayesha, die sich als Kadettin an der Polizeiakademie ausbilden lässt. War Abdou womöglich kurz davor, ein Verbrechen aufzudecken, das noch viel größer ist, als Karim je ahnen konnte?

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Seitenzahl: 472

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ZUMBUCH

Immer wieder schaut sich Karim die Aufnahmen der Überwachungskamera an. Dort ist sein Freund Abdou ganz deutlich zwischen den Containern am Hafen Tanger-Med zu erkennen. Doch im nächsten Moment ist er wie vom Erdboden verschluckt. Dass er einen Unfall gehabt haben soll, kann Karim nicht glauben. Gemeinsam wollten sie einem Kartell das Handwerk legen, das gefälschte Medikamente aus China importiert. Karim ist klar: wenn er Abdou finden will, muss er seine Heimat Marrakesch verlassen und nach Tanger reisen. Irgendwo zwischen den farbenprächtigen Basaren, den verschlungenen Gassen der Altstadt und dem tiefblauen Meer muss die Erklärung für Abdous Verschwinden liegen. Den Kollegen vor Ort kann er jedoch nicht trauen. Schließlich wendet er sich an die einzige Person, die ihm jetzt noch helfen kann – seine Adoptivschwester Ayesha, die sich gerade als Kadettin an der Polizeiakademie ausbilden lässt.

ZUMAUTOR

James von Leyden wuchs in Durham auf und studierte Philosophie und Moderne Sprachen in Oxford. Er arbeitete dreißig Jahre lang als Werbetexter. 1985 reiste er zum ersten Mal nach Marokko und verliebte sich sofort in das Land – eine Liebe, die bis heute anhält. Mit seiner Familie lebt er abwechselnd in Lewes, East Sussex und im marokkanischen Qualidia.

James von Leyden

Die Vermissten

von Tanger

Ein Marokko-Krimi

Aus dem Englischen

von Jens Plassmann

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe Last Boat from Tangier erschien erstmals 2020 bei Constable, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 05/2021

Copyright © 2020 by James von Leyden

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Thomas Brill

Umschlaggestaltung: Anke Koopmann | Designomicon

unter Verwendung von Hector Melendez Ramirez/iStock und © pierivb/iStock

Abbildung Innenklappen: © Tanya Kukarkina/shutterstock, © Anton_Ivanov/shutterstock, © Rafal Cichawa/shutterstock, © Pierre-Yves Babelon/shutterstock,

© Eduardo Lopez/shutterstock, © Olena Z/shutterstock/© James von Leyden

Karten: [>>]  [>>] © mapz.com · Map Data: OpenStreetMap (ODbL)

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27732-1V002

www.heyne.de

  

Für Czarina

Prolog

Es war ein 40-Fuß-Container. Von dort, wo Abdou stand, unterschied er sich in nichts von den Tausenden Containern, die täglich in den Häfen Marokkos abgefertigt wurden. Allerdings waren solche Schiffscontainer in gewisser Weise wie Leichen vor der Autopsie. Man konnte sie von außen genau untersuchen, konnte Tests durchführen und Röntgenaufnahmen anfertigen, aber bevor man sie tatsächlich öffnete, wusste man nie, welche Geheimnisse sie bargen.

Bei seiner Ankunft vor zwei Wochen schien der Auftrag noch reine Routine. Immerhin hatte Abdou schon diverse Hafenbehörden darin unterstützt, die eigenen Kontrollmaßnahmen zu verbessern. Doch diesmal war alles anders. Hier lag ein Verbrechen vor – ein Verbrechen von solch schockierenden Ausmaßen, dass es dem König zu Ohren kommen, einen internationalen Skandal auslösen und eine Änderung der Regierungspolitik zur Folge haben würde. Aus diesem Grund war es umso ärgerlicher, dass er die Finger von dem Container lassen musste. Was blieb ihm anderes übrig? Der Container war ohne jede Papiere unterwegs. Kein Frachtbrief, kein abwickelnder Agent, kein Adressat, nicht einmal ein Siegel an den Türen. Hafen und Schiffseigner würden den Container einfach als Ausreißer abtun, als diesen einen Container unter einer Million, der durch die Maschen des Systems geschlüpft war. Es mochte ihm noch so heftige Bauchschmerzen verursachen, aber wenn Abdou die wahren Übeltäter schnappen wollte, musste er warten.

Karim gegenüber hatte er nichts von alledem erwähnt. Zum einen aus Sicherheitsgründen, denn sowohl sein Handy als auch seine E-Mail-Adresse waren gehackt worden. Aber es gab noch einen weiteren Grund, denn sobald Karim und seine Vorgesetzten erfuhren, was los war, würde man ihm die Leitung der Ermittlungen entziehen. Schließlich war er gerade erst zum Lieutenant befördert worden. Es war Karim gewesen, der vor zwei Jahren die landesweite Operation gegen den Schmuggelhandel ins Leben gerufen hatte. Und Karim leitete auch die Koordinierung und die Pressekonferenzen. Aber diesen Fall hier hatte Karim ihm übertragen, und Abdou wollte unbedingt unter Beweis stellen, dass er der Sache ohne fremde Hilfe gewachsen war.

Kalter Wind fegte vom Hafen her, brachte die Lichtmasten zum Klappern und blähte die Planen im Palettenlager. Abdou hauchte in die Hände und dehnte die Finger. Wie spät war es? 17:35 Uhr. Er hatte für halb acht ein Treffen mit dem Polizeichef verabredet.

In diesem Moment nahm er etwas aus den Augenwinkeln wahr – ein Huschen oder einen Schatten. Doch als er die lange Reihe Container hinuntersah, war da nur trostlos verwaister Asphalt, der sich weit bis zum Grundstückszaun erstreckte. Er spitzte die Ohren, hörte aber lediglich das Rumpeln der Tieflader und das ferne Zusammenstoßen von Metall auf Metall. Wahrscheinlich bloß eine Möwe. Dutzende davon segelten hier herum, obwohl ihm völlig schleierhaft war, welche schmackhaften Dinge sie in einem Containerterminal zu finden hofften.

Es geschah alles blitzschnell. Ein kräftiger Arm schleuderte ihn gegen die Stahltür, gefolgt von gebellten Worten in einer Sprache, die er nicht verstand. Auf dem Rücken liegend starrte er zu den Gesichtern hoch. Zwei davon erkannte er. Ein herrliches Gefühl der Zufriedenheit erfasste ihn – wie eine sanfte Meereswelle, die über ihn schwappte. Dann nichts.

1

Drei Tage später

Auf dem Sportplatz der Akademie absolvierten die Polizeischüler ihre Sporteinheit. Es war Freitagvormittag, und als Abschluss vor der Mittagspause stand der 400-Meter-Lauf auf dem Programm. In den roten Trainingsanzügen der Kommissaranwärter waren neben den männlichen Läufern auch zwei junge Frauen unterwegs, von denen die eine – eine kleine, drahtige – sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem Führenden lieferte. Auf der Zielgeraden schob sie sich an ihm vorbei. Ihre Beine waren bleischwer, und die Lunge kämpfte hart um jedes Quäntchen Sauerstoff, aber sie hatte schon früher gegen Jungs gewonnen, wenn sie durch enge, vollgestellte Gassen um die Wette gerannt waren, mit weit schärferen Kurven, weniger Platz und einem Untergrund aus losem Kopfsteinpflaster, in den alle paar Schritte tückische Abflussrohre ragten … Sie flog über die Ziellinie, und der Ausbilder drückte auf seine Stoppuhr.

»Einundfünfzig-vier, Talal! Einundfünfzig-sieben, Hakimi!«

Der Zweitplatzierte, der seine Haare wie alle männlichen Kadetten extrem kurz geschoren trug, blieb stehen, stützte die Hände auf die Knie und japste nach Luft.

Die junge Frau mit den dunklen, wachen Augen und der Narbe über dem linken Ohr trat neben ihn.

»Guter Lauf«, brachte sie schnaufend heraus.

Anstelle einer Antwort spuckte der Mann nur auf den Boden und stakste davon.

»Mach dir nichts draus, Ayesha«, sagte ihre Mitschülerin, die gerade von der Laufbahn stieg. Nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, rief sie Hakimis kleiner werdender Gestalt hinterher: »Manche Leute können sich eben noch immer nicht mit der Tatsache anfreunden, dass die Akademie Frauen aufnimmt!«

Ayesha Talal und Salma Mernissi waren beide einundzwanzig und Zimmerkameradinnen im Institut Royale de Police in Kenitra. Während Salma sich mit ihrem Handtuch den Schweiß aus dem Gesicht wischte, trank Ayesha einen großen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Der Ausbilder, ein durchtrainierter junger Mann, dessen eigentlich hübsche Züge von einer gebrochenen Nase leicht verunstaltet wurden, kam zu ihnen herüber. Er hob die Jacke von Ayeshas Trainingsanzug vom Boden und reichte sie ihr lächelnd.

»Gut gemacht.«

Prompt bedachte Salma ihre Freundin beim Weggehen mit vielsagenden Blicken. Ayesha lachte laut auf. »Was?«, rief sie und ließ ihre Jacke in Richtung Salma schnellen.

Prustend und tuschelnd überquerten die beiden jungen Frauen den Exerzierplatz, vorbei an in Reih und Glied marschierenden Kadetten.

»Bleibst du noch zum Mittagessen?«, fragte Salma schließlich.

»Nein. Nur kurz duschen, dann bin ich weg. Ich habe meiner Mutter versprochen, um sieben zu Hause zu sein. Die Nachbarin macht Couscous.«

»Vergiss nicht, dass wir am Montag unseren Kurs zum Verhalten bei Critical Incidents haben.«

»Ich nehme meine Aufzeichnungen mit«, versprach Ayesha. »Was nicht heißt, dass ich reinschaue.«

»Ich werde dich direkt nach deiner Rückkehr abfragen!«, warnte Salma und hob drohend den Zeigefinger. »Keine Ausreden!«

Ihre Stimmen hallten durch die Eingangshalle des Wohnheims. Die Unterkünfte der Frauen lagen in einem eigenen Flügel des modernen, dreistöckigen Gebäudes. Am Ende eines langen Flurs schloss Salma die Tür zu ihrem Zimmer auf. Der kleine Raum bot Platz für das Nötigste: zwei Einzelbetten, Schränke an deren Fußenden, dazwischen ein Schreibtisch. Salma löste ihren Pferdeschwanz und warf sich aufs Bett, während Ayesha sich duschen und umziehen ging. Ein paar Minuten später kehrte sie in einem schwarzen Hosenanzug zurück und holte ihre kleine Reisetasche aus dem Schrank.

»Wenn du dich beeilst, bekommst du noch eine Ausgeherlaubnis fürs Wochenende«, schlug sie ihrer Freundin vor.

»Ich muss meine Hausarbeit zu Ende schreiben. Ein andermal, inschallah.«

Ayesha schenkte ihrer Mitbewohnerin einen bewundernden Blick. Ihr fehlte Salmas Talent zum Lernen. Dennoch waren ihre Noten fast so gut wie die von Salma, was nicht zuletzt davon zeugte, dass die königliche Akademie den Leistungen auf dem Hindernisparcours oder dem Schießstand ebenso viel Bedeutung beimaß wie denen in der Klasse oder im Labor.

Sobald der Gebetsruf erklang, mischte sich Ayesha unter die zahlreichen Kadetten, die – wie sie – in schwarzer Ausgehuniform mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte Richtung Eingangstor strömten, wo sie in der Wache einer nach dem anderen ihre Telefone abholten. Was Handys betraf, so galten strikte Regeln. Gleich in seiner Begrüßungsansprache am ersten Tag hatte ihnen der Schulleiter erklärt, dass sie hier waren, um Polizisten im gehobenen Dienst zu werden, und nicht, um ständig ihren Facebook-Status zu checken. Die Mitnahme von Handys auf das Schulgelände war daher strengstens verboten. Bei Ankunft mussten alle Geräte am Eingang abgegeben werden, und beim Verlassen des Instituts konnte man sie dort gegen Unterschrift wieder abholen. Da ihr Leben gewöhnlich von sechs Uhr morgens bis zehn Uhr abends komplett durchorganisiert war, überraschte es wenig, dass die jungen Leute jetzt beim Abschied ausgelassen lachten und herumalberten, sofern sie nicht schon mit ihren Liebsten telefonierten.

Ayesha stellte sich an den Straßenrand und hob den Arm. Ein petit taxi hielt vor ihr.

»Zum Bahnhof«, sagte sie beim Einsteigen.

Ayeshas Puls beschleunigte sich noch immer, wenn sie allein ein Taxi nahm. Aber der Fahrer, ein junger Mann in einer grünen djellaba, machte einen ganz sympathischen Eindruck, und die Koranrezitationen, die aus seinem Radio drangen, wirkten ebenfalls beruhigend.

*

Wie viele Berufstätige und Studierende im Land kamen Karim Belkacem und seine Schwester Khadija zum Mittagessen nach Hause. Für Karim bedeutete das eine fünfzehnminütige Fahrt mit dem Roller vom Kommissariat in der Nähe des Djemaa el Fna bis zum Riad der Familie am nördlichen Ende der Medina. Es war ein warmer Frühlingstag, und hoch über ihm sausten und schrien die Mauersegler, als Karim sein moto abstellte. Er trat in den Innenhof des Riad und schaute zur Brüstung im ersten Stock, als würde er etwas suchen. Dann warf er seine Jacke über den stillgelegten Springbrunnen, schlüpfte aus den Schuhen und ging in den salon.

Der Raum war lang und schmal mit einer hohen Decke. Auf einem Regal stand ein 46-Zoll-Fernseher. Nachdem er seine Mutter und seine Schwester begrüßt hatte, nahm Karim an dem niedrigen Tisch Platz, stippte die Finger in den Couscous und wandte seine Aufmerksamkeit dem Fernseher zu, den seine Mutter Lalla Fatima kurz nach dem Tod von Karims Vater gekauft hatte. Seitdem lief während der Mahlzeiten ständig irgendein Sender – eine Ablenkung, die sein Vater gewiss niemals erlaubt hätte, wie Karim amüsiert dachte. Khadija sah sich gern die Morgenmagazine an, bevor sie zur Arbeit ging, und verpasste zum Mittag- und Abendessen nie ihre Soaps.

Karim und Khadija besaßen beide die schmal geschnittenen Nasen und die grünen, mandelförmigen Augen der Amazigh vom südmarokkanischen Berbervolk der Chleuh. Abgesehen von den hübschen Gesichtszügen waren die Geschwister jedoch grundverschieden. Beruflich etwa hatte Khadija keinerlei Ambitionen. Ihr genügte es, als Sekretärin in einer Anwaltskanzlei ein bescheidenes Gehalt zu verdienen. Früher einmal hatte sie all ihre Anstrengungen darauf verwandt, einen reichen Ehemann zu finden. Aber seit vor etwa zwei Jahren ihre Verlobung kurz vor der Hochzeit geplatzt war, achtete sie nicht mehr groß auf ihr Äußeres. So hatten die Wangenknochen jede Kontur verloren, und die weiten Jogginghosen, die sie nun gerne trug, dienten nicht zuletzt dazu, angesetzte Pfunde zu kaschieren.

»Khadija!«, rief Lalla Fatima scharf. »Dein Bruder ist da!«

Mit einem schweren Seufzer wechselte Khadija auf den Nachrichtensender. Nachrichten waren das Einzige, was Karim sich anschaute. So gebannt, wie Khadija ihre Soaps verfolgte, verfolgte er Al Jazeera. Karim war der Meinung, dass jeder gute Polizist wissen sollte, was in der Welt gerade passierte. Wie sonst sollte er den Sinn hinter einem neuen Erlass der Regierung begreifen oder verstehen, wie Arbeitslosigkeit jemanden zum Diebstahl treiben konnte?

An diesem Freitagmittag berichtete der Nachrichtenkanal über einen Massenansturm auf die Grenze bei Ceuta, zu dem es in der vergangenen Nacht gekommen war. Die Aufnahmen waren nur schwer erträglich. Afrikanische Geflüchtete aus Ländern südlich der Sahara versuchten, einen sechs Meter hohen und mit NATO-Draht gesicherten Zaun zu erklimmen, während marokkanische Polizisten sie immer wieder herunterrissen. Auf spanischer Seite schoss die Guardia Civil Wasser aus Hochdruckschläuchen, um die Eindringlinge zurückzuschlagen. Ein junger Afrikaner mit Wollmütze und triefend nasser khakifarbener Jacke hatte es über das Bollwerk geschafft. Jetzt rannte er Haken schlagend umher und machte Siegeszeichen in Richtung der Kameras, während Beamte der Guardia Civil ihn verfolgten.

»Warum freut der sich so?«, fragte Lalla Fatima. »Die werden ihn gleich schnappen, das ist mal sicher.«

»Ceuta gehört zu Europa«, erklärte Karim, bevor er sich den nächsten Mundvoll Couscous gönnte. »Sobald ein Geflüchteter es nach Ceuta schafft, kann er Asyl beantragen. Dann kann er überallhin in Europa, kann sich einen Job suchen und seine Familie nachholen.«

»Ha! Habt ihr das gesehen?« Khadija deutete mit dem Finger auf den Bildschirm. »Der Schwarze da, der runtergefallen ist? Jetzt verpassen die Polizisten ihm eine Abreibung!«

Lalla Fatima betrachtete angewidert die Szene. »Der Mann blutet ja schon am Kopf! So etwas ertrag ich nicht!« Sie griff nach der Fernbedienung.

»Bleti! Moment mal!« Karim hob die flache Hand, um sie davon abzuhalten. Er war zugleich fasziniert und abgestoßen von dem, was er sah. Der Einsatz war aus dem Ruder gelaufen. Die Polizisten prügelten mit ihren Schlagstöcken auf jeden Afrikaner, der vom Zaun zurückstürzte. Ein derart aggressives Vorgehen warf ein schlechtes Licht auf die gesamte Sûreté. Es unterschied sich zudem auf höchst unvorteilhafte Weise von dem deutlich disziplinierteren Ansatz, den die spanische Guardia Civil demonstrierte.

Lalla Fatima legte die Fernbedienung aus der Hand. »Woher stammen denn all diese Geflüchteten, Karim?«

Karim kannte zwar Berichte von offiziellen Staatsbesuchen, die König Mohammed VI. in anderen afrikanischen Hauptstädten zeigten, dennoch verschwammen für ihn jenseits von Niger alle Ländernamen. »Keine Ahnung«, murmelte er nur.

»Mit den Afaraqa ist das anders als mit den Syrern«, verkündete Khadija. »Die Syrer haben einen Grund für ihre Flucht. In ihrem Land herrscht Krieg. Die Afaraqa dagegen wollen bloß schicke Autos und Häuser – all das Zeug, das sie im Fernsehen sehen. Sie sollten einfach zu Hause bleiben und sich einen Job besorgen!«

»Schh! Ich versuche zuzuhören.«

Khadija ließ nicht locker: »Habt ihr die Schwarzen gesehen, die an den Kreuzungen betteln? Die Frauen mit Babys auf dem Rücken? Ich geb denen nie etwas. Schließlich haben wir unsere eigenen Bettler, um die wir uns kümmern müssen.«

»Wann hast du denn das letzte Mal einem Bettler Geld gegeben?«

Mit einem genervten Aufstöhnen stellte Karim den Fernseher etwas lauter. Fast hätte er jetzt sogar das Klingeln des Telefons im Innenhof übertönt. Aber es klingelte beharrlich genug, bis Khadija aufstand, um abzuheben. Ein paar Minuten später kehrte sie zurück.

»Es war Ayesha. Sie kommt am Wochenende nach Marrakesch.«

Lalla Fatimas Gesicht leuchtete auf. »Gott sei gedankt!«

»Sie besucht uns Sonntagmorgen, inschallah.«

»Mit Lalla Hanane?«

Khadija schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, wie gebrechlich Hanane geworden ist.«

Lalla Hanane war Ayeshas leibliche Mutter. Sie hatte Ayesha während einer Cholera-Epidemie in einem abgelegenen Bergdorf auf die Welt gebracht. Da ihr Mann damals ohne Arbeit war und sie noch zwei weitere Kinder durchbringen mussten, hatte Hanane sich gezwungen gesehen, Ayesha fortzugeben. So adoptierten die Belkacems das kleine Mädchen und zogen es gemeinsam mit ihren eigenen Kindern auf. Erst mit zwanzig lernte Ayesha ihre Mutter kennen, die – gar nicht weit entfernt von den Belkacems – mittlerweile allein wohnte. Seitdem erfüllte Ayesha ihre Aufgaben als Tochter mit großem Pflichtgefühl. Regelmäßig kehrte sie von der Polizeiakademie nach Hause zurück, erledigte bei ihrer Mutter die Hausarbeit und leistete ihr Gesellschaft. Mehr als alles andere aber genoss sie die Besuche bei den Belkacems, wo es sich einfach entspannen und zwanglos plaudern ließ wie zu alten Zeiten. Ich habe zwei Mütter, hatte sie Salma gesagt. Bei Lalla Hanane kann ich Tochter sein, bei Lalla Fatima ganz ich selbst.

Karim war viel zu gefangen von den Fernsehbildern, um der familiären Neuigkeit Beachtung zu schenken. Erst als er sich wieder für die Arbeit fertig machte und Khadija sich brummend darüber beschwerte, ihre geliebte türkische Soap verpasst zu haben, wurde ihm bewusst, dass Ayesha zu Besuch kam.

*

Auf der Rückfahrt ins Kommissariat dachte Karim mit gemischten Gefühlen an das bevorstehende Wiedersehen mit Ayesha. Einerseits freute er sich darauf, sie zu treffen, andererseits fürchtete er sich auch davor. Neu war dieser Zwiespalt für ihn nicht.

Schon als Vierjähriger war Karim von der Ankunft der kleinen Ayesha im Haus der Belkacems regelrecht verzückt gewesen. Während er seine etwa gleichaltrige Schwester ignorierte, klimperte er mit Spielzeug vor Ayeshas Nase herum oder sang ihr Lieder vor. Ihre wilde Entschlossenheit, laufen zu können, und die Selbstverständlichkeit, mit der sie die Treppen bewältigte, verblüfften ihn. Als er sich später mit den Jungs aus der Nachbarschaft herumzutreiben begann, brachte er Ayesha einfach mit. Zu Anfang missfiel das den anderen, aber mit der Zeit lernten sie, Ayeshas Furchtlosigkeit und ihre unentwegte Bereitschaft zu irgendwelchem Unfug zu respektieren. Stets war sie diejenige, die kein noch so hohes Risiko scheute und am Ende den meisten Ärger bekam. Einmal etwa zogen die Jungs am Markttag abwechselnd los, um an den Ständen Mandarinen zu klauen, und als Ayesha in der Menge verschwand, kehrte sie kurz darauf mit einer riesigen Wassermelone zurück, unter deren Gewicht sie fast zusammengebrochen wäre. Sie tat so etwas nicht, um die anderen Jungs zu beeindrucken. Sie tat es für Karim.

Als Karim sechzehn war und Ayesha dreizehn, durchlief ihre Beziehung eine Veränderung. Jetzt trafen sie sich eher allein nach der Schule, tauschten die letzten Neuigkeiten aus, alberten herum und vertrauten einander Träume, Beobachtungen, Gefühle und Geheimnisse an. Manche dieser Treffen fanden auf dem nahe gelegenen Flohmarkt am Bab el-Khemis statt, andere im heimischen Riad auf dem Dach, das sie zu ihrem ganz persönlichen Refugium gemacht hatten. Hier berichtete Karim von seinem Tag, während Ayesha die Wäsche aufhängte. Hier half er ihr bei den Hausarbeiten, oder sie lagen zusammen auf einer ausrangierten Matratze – Ayesha mit dem Kopf auf Karims Brust – und redeten davon, wie sie später zusammenleben würden.

Ayesha und Karim betrachteten einander als Cousin und Cousine. In den Augen des Islam jedoch waren sie Bruder und Schwester. Jede Intimität, jede Nähe war verboten, was Karim permanente Qualen verursachte. Er ging fort auf die Polizeiakademie und knüpfte Beziehungen zu anderen Frauen. Auch Ayesha wechselte erst ins Haus ihrer Mutter und später auf die Polizeiakademie. Aber gelegentliche Begegnungen ließen sich natürlich nicht vermeiden, und jedes Mal, wenn es dazu kam, war da diese Anziehungskraft, dieser Sog, der es Karim schwer machte, sich auf sonst etwas oder sonst jemanden zu konzentrieren. Eines Tages würde Ayesha einen anderen heiraten, und bis dahin – hatte Karim entschieden – war es das Beste, Begegnungen mit ihr nach Möglichkeit zu vermeiden.

Bei seiner Ankunft am Kommissariat stieß er zuerst auf den Parkwächter Bouchaïb, der mit einem breiten Grinsen auf seiner Krücke lehnte.

»Nur noch drei Stunden bis zum Spiel, Herr Karim!«

»Welches Spiel?«

»Raja gegen Wydad. Wird bestimmt knapp, aber ich denke, Raja gewinnt! Letzte Woche haben sie Tunis geschlagen!«

Karim interessierte sich nicht für Fußball und machte daraus auch keinen Hehl. Er stieg über die Außentreppe zu dem Büro hinauf, das er sich mit zwei Kollegen teilte. Einer war der ihm unterstellte Abdou, mit dem zusammen er seit achtzehn Monaten die Ermittlungen zu gefälschten Medikamenten leitete – in der Regel minderwertige Imitate lebenswichtiger Arzneimittel, die von Patienten gekauft wurden, die sich die Originale nicht leisten konnten. Der andere Kollege war Noureddine, ihr erfahrener Vorgesetzter, der wie ein strenger Onkel über die beiden jungen Lieutenants wachte. Als Karim den Raum betrat, traf er dort zu seiner Überraschung Noureddine im Gespräch mit dem leitenden Superintendenten an.

»Salamu alaikum!«

»Die Polizei von Tanger hat mich gerade angerufen«, erwiderte der Chef der préfecture nur in ernstem Ton.

Karim nickte vorsichtig. Im Rahmen ihrer Ermittlungen hatte er Abdou damit beauftragt, die örtlichen Kräfte im Hafen von Tanger-Med zu unterstützen.

»Abdou wird vermisst.«

Alarmglocken läuteten in Karims Schädel. Die chinesischen Kartelle, von denen die Medikamentenfälschungen stammten, waren bekannt für ihr brutales Vorgehen. Viele hatten ihre Aktivitäten vom Drogenschmuggel auf gefälschte Arzneimittel verlagert, weil die Risiken hier geringer und die Profitmargen höher waren.

»Wie lange schon?«

»Drei Tage.«

»Sein Handy …?«

»Nicht erreichbar.«

An diesem Punkt mischte Noureddine sich ein: »Morgen ist Samstag. Sollte Abdou sich auch in den nächsten vierundzwanzig Stunden nicht melden, nimmst du den Nachtzug nach Tanger.«

*

Am Samstagmorgen näherte sich ein junger Schwarzer dem südöstlichen Eingang zu Tangers Medina. Hier am Bab Dar Dbagh, dem Tor zur Gerberei, war der perfekte Platz, um seine Waren anzubieten. Die Stelle lag etwas erhöht mit Blick über den Hafen. Hier störte man niemanden, es gab einen Mauervorsprung, auf den man sich setzen konnte, und ein Aufseher ließ ihn eine nahe gelegene Toilette umsonst benutzen. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass keine Polizeistreife unterwegs war, holte er zwanzig Sonnenbrillen aus seiner Adidas-Tasche und arrangierte sie mit ausgeklappten Bügeln in zwei akkuraten Reihen vor sich auf dem Boden. Es folgten fünf zusammenschiebbare Regenschirme, die er neben den Brillen platzierte. Ob Regen, ob Sonnenschein, er würde Umsatz machen.

Unglücklicherweise war es heute weder sonnig noch regnerisch. Es war einer dieser kühlen Frühlingstage in Tanger, an denen die Sonne nur mit Mühe die massigen Wolkenschichten durchdrang. In den ersten zwei Stunden kamen nur wenige Menschen vorbei. Mit der Fähre anreisende Touristen hatten im Grunde zwei Möglichkeiten, in die Medina aufzusteigen: entweder durch das Hafentor oder durch das Tor zur Gerberei. Heute schienen alle das Hafentor zu nehmen. Joseph machte das nichts aus. Er genoss den Ausblick auf den Hafen, beobachtete einen Gendarmen, der am Kai aus seinem Wachhäuschen trat, sich eine Zigarette anzündete und auf sein Handy sah. Auf dem Boulevard schlenderte ein Pärchen Arm in Arm und blieb dann stehen, um sich die Plakatwände von der neuen Marina anzusehen. Zwischen der Marina und dem Tor zur Gerberei erstreckte sich ein großer Parkplatz, auf dem zwei Männer damit beschäftigt waren, Autos zu waschen. Bei den vielen Hundert Autofahrern, die diesen Parkplatz täglich benutzten, kamen die Männer mit der Arbeit kaum hinterher. Vor ein paar Wochen hatte ein besonders ungeduldiger Fahrer sogar Joseph darum gebeten, ihm den Peugeot 305 an der Standpumpe mit einem alten Schwamm zu waschen. Joseph hatte den Wagen von oben bis unten auf Hochglanz gebracht, aber für all seine Anstrengungen am Ende bloß ein hämisches Beslama, azzi! geerntet. Tschüss, Nigger*!

Da hatte der Verkauf von Brillen und Schirmen den Vorteil, dass niemand ihn übers Ohr hauen konnte. Er allein entschied, was er verkaufte und wie viel er dafür verlangte. Dabei bevorzugte er billige Dinge, die jeder haben wollte und die er in Sekundenschnelle aufsammeln konnte, sollte die Polizei auftauchen.

Sobald die Sonne durchbrach, erwärmte sich die Luft, und der Betrieb auf der Straße wuchs an. Joseph legte noch fünf Reihen Sonnenbrillen aus: Ray-Ban, Giorgio Armani, Gucci, Cartier. Um drei traf die Fähre aus Tarifa ein. Kurz darauf spazierten ein paar Gruppen von Tagestouristen vorbei. Eine junge Spanierin hielt an und kaufte eine Ray-Ban für zwei Euro.

Draußen auf dem Meer konnte er die weißen Linien der sich brechenden Wellen ausmachen. Joseph kannte inzwischen sämtliche Stimmungen, die das Meer annahm: die spiegelglatte Oberfläche an einem ruhigen Abend genauso wie das metallische Glitzern, das einen Wetterumschwung ankündigte. Er fragte sich, was wohl aus seinem Nachbarn geworden war, der das Camp vor einer Woche verlassen hatte. Er hatte versprochen, Joseph eine Nachricht zu schicken. Vielleicht war sein Telefon nass geworden. Handys vertrugen kein Salzwasser, das wusste hier jeder. Selbst wenn man die Dinger in drei Lagen Plastik wickelte – kaum gerieten sie in Kontakt mit Meerwasser, schon konnte alles Mögliche passieren. Joseph griff in seine Tasche und spürte die beruhigenden Umrisse seines Samsung. Am Morgen war er damit im Einkaufszentrum gewesen und hatte es zehn Minuten aufladen können, bevor ein Mitarbeiter der Security ihn verscheuchte.

Da war die Fähre, die zurück nach Tarifa fuhr. Tarifa klang nach einem hübschen Ort. Lange Sandstrände und schicke Restaurants. Vielleicht saß sein Nachbar aus dem Camp ja gerade in einem davon und grinste über beide Backen.

*

Ein Gutes hatte es, am Samstag den Nachtzug nach Tanger nehmen zu müssen: Es gab Karim eine Entschuldigung, Ayesha aus dem Weg zu gehen. Der Zug war voll, und ein schreiender Säugling wollte keine Ruhe geben. Aber immerhin hatte er einen Sitzplatz, und das Deckenlicht war nicht allzu grell. Im Laufe der Nacht kühlte es im Wagen immer stärker ab, sodass er sein Jackett anzog. Der schnarchenden alten Frau ihm gegenüber baumelte ein Speicheltropfen von der Unterlippe.

Da er keinen Schlaf fand, spielte Karim auf seinem Handy. Abdou vertrieb sich die Zeit am liebsten mit Rätselheften, und Karim ärgerte sich, am Bahnhof nicht an den Kauf eines Sudoku-Buchs gedacht zu haben. Als ihm die Augen zu schmerzen begannen, schaute er aus dem Fenster. Sie durchquerten gerade die Doukkala-Ebene – kilometerlang im Mondlicht schimmernde Weizenfelder, unterbrochen von verschlafenen Weilern.

Karims Gedanken wanderten zurück zu der Zeit vor achtzehn Monaten, als Abdou und er den Handel mit gefälschten Medikamenten aufgedeckt hatten. Sie waren auf Antibiotika gestoßen, auf Schmerzmittel, Herz- und Krebspräparate – durchweg hochpreisige Pharmaka, die sich nur Besserverdienende leisten konnten –, die in chinesischen Fabriken nachgeahmt und containerweise in den Maghreb verschifft wurden. In vielen Fällen enthielten diese gefälschten Arzneien nichts anderes als Glukose. Manchmal waren sie aber auch mit gesundheitsschädlichen Stoffen wie Rattengift verschnitten.

Unter normalen Umständen hätte Karim den Auftrag in Tanger selbst übernommen. Weil er Abdou aber von einer früheren Aktion in Agadir ausgeschlossen hatte und ihm einen Gefallen zu schulden glaubte, hatte er ihm den Job übertragen. So ein Abstecher an die Nordküste wäre sicherlich eine spannende Erfahrung, hatte er ihm gesagt. Immerhin handelte es sich bei Tanger-Med um den größten und modernsten Hafen Marokkos. Hier konnte Abdou sich mit den neuesten Scanning- und Logistikmethoden vertraut machen. Er würde den Kollegen in Tanger mit seinen Kenntnissen weiterhelfen, was im Gegenzug deren Kooperationsbereitschaft bei künftigen Fällen fördern sollte.

Erst als er am Freitagnachmittag über Abdous Verschwinden informiert worden war, hatte Karim sich etwas genauer mit der Situation in Tanger-Med beschäftigt. Seit 2011 hatte die Beschlagnahmung gefälschter Medikamente kontinuierlich zugenommen. Dann, vor etwa sechs Monaten, war die Trefferquote abrupt eingebrochen. Im Dezember – dem letzten Monat, für den Daten vorlagen – war keine einzige Ladung mehr konfisziert worden. Heroin, Waffen und andere Schmuggelware entdeckten die Behörden zwar weiterhin, aber keine gefälschten Arzneimittel mehr.

Karim hoffte, dass es für Abdous Verschwinden eine einfache Erklärung gab. Vielleicht operierte er vorübergehend undercover, um Sicherheitsabläufe zu untersuchen. Mit etwas Glück von oben würde Abdou am Montagmorgen im Polizeipräsidium auf ihn warten und sich mit breitem Grinsen nach dem neuesten Klatsch aus dem Kommissariat in Marrakesch erkundigen.

»Qahwa?« Die alte Frau ihm gegenüber hielt fragend eine Thermoskanne und einen Kaffeebecher hoch.

»Ja, danke«, sagte Karim. Der Kaffee schmeckte süß und milchig.

»Dar Bayda? Fahren Sie nach Casablanca?« Die Haut der Frau war zerklüftet wie eine Walnuss. Eine graue Haarsträhne ragte unter ihrem Kopftuch hervor.

»Tanger.«

»Tanja?«, wiederholte die Frau, die leicht zusammengeschreckt war.

»Ja.«

»Ihr erster Besuch?«

Karim nickte.

Die alte Frau beugte sich vor und reckte warnend ihren knochigen Zeigefinger in die Höhe. »Eine schöne Stadt. Aber gefährlich!«

Karim lachte.

Die Frau trank von ihrem Kaffee und blickte ihn schweigend an.

»Keine Sorge, a lalla. Ich bin Kriminalpolizist und war schon überall im Maghreb.«

»Tanger ist nicht wie der Maghreb.«

»Wie meinen Sie das?«

Die Frau starrte ihn erneut minutenlang an, bevor sie sagte: »Da gehen Menschen verloren.«

Karim lachte laut auf, aber dann wurde ihm bewusst, dass er aus genau diesem Grund nach Tanger fuhr, und sein Lachen erstarb. Die Frau schloss die Augen und war wenig später mit der Thermoskanne in der Hand eingeschlafen.

*

Am Sonntagvormittag war Ayesha bei den Belkacems und spielte mit Safi, dem Äffchen der Familie. Safi hatte schon ein abenteuerliches Leben hinter sich. Als Jungtier hatte er seinem Besitzer auf dem Djemaa el Fna beträchtliche Einnahmen beschert, indem er Touristen auf den Schultern herumturnte. Da es ihn mit der Zeit aber mehr reizte, an Ohrringen zu ziehen, als für Fotos zu posieren, wurde Safi an einen Franzosen verkauft, der ihn seiner Freundin zum Geschenk machte. Bei der fiel er schon bald in Ungnade, und der Affe flüchtete genau in dem Moment, in dem er fortgeschafft werden sollte. Kurz darauf tauchte er eines Abends auf dem Dach der Belkacems auf, wo Ayesha ihn sofort adoptierte. Die Familie gab ihm den Namen Safi – »es reicht« –, weil er ständig irgendwelchen Unfug anstellte. Safi, komm runter da! Safi, gib mir die Fernbedienung wieder! Safi, Finger weg vom Vogelfutter! Karim hatte aus ein paar Latten einen Käfig für ihn gezimmert, aber Safi zog es vor, sich zum Dach hochzuhangeln und das Geschehen von oben zu verfolgen. Als Ayesha auszog, um bei Lalla Hanane zu wohnen, ging die Verantwortung für Safi auf Khadija über, der diese Aufgabe gar nicht gefiel.

»Ich habe ihm zum Naschen etwas gekochtes Hühnchen mitgebracht«, sagte Ayesha und nahm eine Frischhaltedose aus ihrer Tasche.

»Das hättest du dir sparen können«, schoss Khadija zurück. »Er bekommt jeden Abend die Reste.«

»Er öffnet sogar die Mülltonne und frisst die Schalen vom Gemüse«, seufzte Lalla Fatima. »Nicht mehr lange, und er bringt es fertig, die Kühlschranktür zu öffnen.«

Ayesha lachte laut auf, holte Safi von ihrer Schulter und setzte ihn sich auf den Schoß. »Du bist ein cleverer kleiner Racker, was?« Sie rieb ihm zärtlich mit der Nase über die Stirn. »Wenn ich mit der Akademie fertig bin, kommst du zu mir und kannst bei mir leben, so Gott will. Bis dahin bist du gefälligst ein braver Junge und ärgerst Khadija nicht!« Sie schaute sich im Innenhof um. »Wo ist Karim?«

»In Tanger.«

»Was macht er denn da?«

»Nach Abdou suchen. Der arme Junge ist verschwunden.«

Ayesha kannte Abdou gut. Früher hatte er häufig mit ihnen im Riad zu Abend gegessen. Unlängst, auf dem Rückweg von einem Sommerausflug ins Ourika-Tal, wo Abdous Familie lebte, hatte Lalla Fatima gesagt, dass Abdou doch eine feine Partie für Ayesha wäre – eine Bemerkung, über die Ayesha lachen musste, während Karim sich auf die Lippe biss und anschließend rasch das Thema wechselte.

»Ist er im Rahmen von Operation MEDIHA dorthin?«

»Operation ME-was?«

»Du weißt schon, diese Ermittlungen zu gefälschten Medikamenten, die Karim in Zusammenarbeit mit der gendarmerie und den Zollbehörden auf den Weg gebracht hat.«

»Ja, genau deswegen. Der arme Junge. Aber Karim ist überzeugt davon, dass er ihn findet, inschallah.«

Trotz der Zuversicht von Lalla Fatima konnte Ayesha sich lebhaft vorstellen, wie beunruhigt Karim sein musste. Wenn ein Kollege verschwand, war das immer ein Grund zu größter Besorgnis, und Abdou war nicht irgendein Kollege, sondern der Mensch, dem Karim neben Lalla Fatima und Ayesha am nächsten stand. Umso ärgerlicher war es, dass Karim bereits nach Tanger abgereist war. Sie hätten sonst gemeinsam den Zug bis Kenitra nehmen und den Fall besprechen können.

»Nun erzähl mal, Ayesha«, rief Lalla Fatima. »Welche tollen Sachen bringen sie euch denn auf der Akademie bei?«

»Mima, was für eine Frage! Man könnte denken, Karim wäre nicht auf dieselbe Schule gegangen!«

»Ja, aber du bist eine Frau! Sag noch mal, wie viele weibliche Auszubildende es da gibt.«

»Fünf.«

»Und wie viele Männer?«

»Neunhundert«, antwortete Ayesha lachend.

»Fünf Frauen und neunhundert Männer! Stell sich das einer vor!«

»Hör auf, Mima«, erklärte Khadija, der das Theater, das ihre Mutter um Ayesha veranstaltete, überhaupt nicht passte. Eigentlich sollte sie jetzt diejenige sein, die bloß zu Besuch in den Riad kam, in den Armen ihr Erstgeborenes, das sie stolz herumzeigte. Keine Sekunde lang hätte sie sich vor zwei Jahren vorstellen können, heute noch immer bei ihrer Mutter zu wohnen und stattdessen einen Affen zu versorgen!

»Und Salma?«, erkundigte sich Lalla Fatima. »Was macht sie am Wochenende?«

»Büffelt für die Prüfungen.«

»Ich hoffe, du büffelst auch genug.«

»Ich habe Supernoten in Selbstverteidigung. Und am Freitag habe ich ein 400-Meter-Rennen gewonnen – gegen achtzehn Männer!«

»Lalla Hanane ist bestimmt stolz auch dich!«

»Stolz ist sie schon. Aber ich fehle ihr eben sehr, wenn ich an der Akademie bin. Sie erträgt es nicht, wenn ich fort bin.« Ayesha warf einen Blick auf die Uhr. »Ich kann auch nicht lange bleiben.«

»Die arme Frau! Sie hat so schrecklich gelitten. Kein Wunder, dass sie sich jetzt so an dich klammert.«

»Wo wir gerade dabei sind«, fuhr Ayesha fort. »Sie hat einen Brief von Abderrahim bekommen und darauf gewartet, dass ich ihn ihr vorlese.«

Bei der Wiedervereinigung mit ihrer leiblichen Familie hatte Ayesha unter anderem erfahren, dass sie einen älteren Bruder besaß: Abderrahim. Er verbüßte gerade eine dreijährige Haftstrafe in einem Hochsicherheitsgefängnis wegen Zugehörigkeit zu einer verbotenen islamistischen Organisation.

»Seinem Brief zufolge ist er in der Küche beschäftigt, wo er irgendwelche Hilfsdienste verrichtet. Von den anderen Gefangenen hält er sich eher fern.«

»Was für Männer sitzen denn dort ein?«

»Gottlose Menschen, wie Abderrahim es formuliert. Aber er isst regelmäßig und sagt, dass er bei guter gesundheitlicher Verfassung ist.«

»Alhamdulillah!«

»Er macht auch eine Weiterbildung zum Stuckateur.«

»Als Stuckateur kann ich mir Abderrahim so gar nicht vorstellen!«, kommentierte Khadija barsch. Sie kannte Abderrahim noch aus der Zeit vor seiner Haftstrafe und hatte ihn als steifen jungen Mann mit langem Bart in Erinnerung, der stets islamische Gewänder trug.

»Kennt er schon sein Entlassungsdatum?«

»Ma ereftch«, antwortete Ayesha achselzuckend und schob Safi vom Schoß. »Keine Ahnung.«

»Du solltest ihm etwas zu essen vorbeibringen, Ayesha«, riet Lalla Fatima. »Mach ihm eine Tajine oder ein paar leckere kefta briouates.«

»Mima, ich hab den ganzen Tag Schule! Da kann ich nicht einfach in die Küche gehen und zu kochen anfangen!«

»Wie ich gehört habe, muss das Essen im Gefängnis miserabel sein«, bemerkte Khadija und verzog angewidert den Mund.

»Dann bring ihm wenigstens etwas frisches Obst.«

Obwohl sie nickte und inschallah murmelte, hatte Ayesha keineswegs die Absicht, Abderrahim zu besuchen. Einen verurteilten Straftäter zum Bruder zu haben war eine beschämende Sache, vor allem für eine angehende Polizistin. In der Akademie hatte Ayesha ihren Bruder mit keinem Wort erwähnt, nicht einmal Salma gegenüber, und dabei sollte es auch bleiben.

Sie hörten, wie Porzellan klirrend zerbrach. Sofort schoss Khadija von ihrem Platz hoch und schrie: »Safi! Raus aus der Küche!«

*

Karim spürte die salzige Meeresluft schon in der Nase, bevor der Zug in Tanger hielt.

Im Bahnhof suchte er zuerst den Gebetsraum an der Rückseite des Gebäudes auf und verrichtete gemeinsam mit ein paar Bahnangestellten und Bauarbeitern das Gebet zur Morgendämmerung. Anschließend frühstückte er in einer von Gerüsten umstellten Snackbar. Als er endlich nach draußen trat, war die Sonne bereits aufgegangen. Blinzelnd schaute er sich um. Er war zum ersten Mal in Tanger und brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Der alte Bahnhof wurde gerade durch einen neuen, um ein Vielfaches größeren ersetzt. Auf der anderen Straßenseite überragte ein mächtiger Kran ein halb fertiggestelltes Hochhaus. Genau wie Marrakesch schien Tanger von einer regelrechten Bauwut erfasst.

Die Medina, in der Abdous Hotel lag, war knapp fünf Kilometer entfernt, aber angesichts des schönen Wetters und der zehnstündigen Bahnfahrt, die er in den Knochen hatte, beschloss Karim zu laufen. Er folgte der Straße Richtung Strand, und da sah er es auch schon: das Mittelmeer. Ein blaugrauer Streifen jenseits einer weit geschwungenen Sandfläche. Karim überquerte einen Boulevard, an dem sich moderne Hotels und Apartmenthäuser aneinanderreihten, zog seine Schuhe aus und ging barfuß über den Strand, vorbei an Fußball spielenden Jungs und nicht mehr ganz so jungen Joggern in Trainingsanzügen. Als wenig später das Wasser Karims Füße umspülte, war es so kalt, dass ihm der Atem stockte.

Er setzte sich auf seine Reisetasche und kramte sein Fernglas heraus. Über die unruhigen Wellen der Straße von Gibraltar hinweg erkannte er grüne Hügel, Windräder, Häuser, eine Kirche, einen Jachthafen und einen Fährterminal: Europa – und das so dicht, als könnte er den Arm ausstrecken und es berühren. Abgesehen von der Kirche war der Anblick enttäuschend gewöhnlich. Im Grunde kaum anders als von Salé über den Fluss nach Rabat und so gar nicht wie die Entdeckung eines anderen Kontinents. Ein lang gestrecktes Frachtschiff, auf dessen Deck sich Container stapelten, bewegte sich gemächlich durch das Sehfeld seines Fernglases.

Was für ein friedliches Plätzchen. Das sanfte Schwappen der Wellen, die nackten Füße im Sand vergraben, die wärmende Sonne im Rücken – so saß Karim da, beobachtete die Schiffe und überlegte, wohin sie wohl fuhren. Erst nach einer Stunde stand er wieder auf und ging zurück zur Straße. An der Ampel begegnete er dem ersten Geflüchteten. Eine junge Afrikanerin, die einen Säugling in einem umgebundenen Tuch trug, lief im Zickzack durch die Autoreihen.

Karim gab ihr, was er an Münzgeld in der Hosentasche hatte, und stieg zur Medina hinauf. Die Touristenläden verkauften den üblichen Ramsch: Teppiche, Ledertaschen, grellbunte Keramik. Da er Marokkaner war, schenkten die Besitzer Karim keinerlei Beachtung und schauten an ihm vorbei nach Kundschaft. Unmittelbar vor der Kuppe des Hügels warf er einen kurz Blick in einen Fischmarkt. Die mächtige Halle war erfüllt von den Rufen der Händler und dem klatschenden Geräusch von Fisch auf Stein.

Karim wechselte die Straßenseite, bog rechts ab, kam an einem Tor vorbei, hinter dem sich – einem Schild zufolge – der Cimetière Juif befand, und folgte dann den Mauern der Medina hinunter Richtung Meer. Am Fuß des Hügels angekommen, wurde ihm klar, dass er im Kreis gelaufen war. An der Straßenecke sah er einen Afrikaner, der Sonnenbrillen verkaufte, und spielte kurz mit dem Gedanken, ihn nach dem Weg zu fragen, erkundigte sich dann aber doch lieber in einem Lebensmittelgeschäft.

»Das Fuentes?«, erwiderte der Ladenbesitzer. »Da kann ich Ihnen ein besseres Hotel nennen.«

Er begann, die alternative Unterkunft mit so viel Begeisterung anzupreisen, dass Karim vermutete, dass ihm jede erfolgreiche Vermittlung eine Provision einbrachte. Da Karim dennoch auf dem Fuentes beharrte, streckte der Mann den Arm aus und erklärte: »Die Stufen da hoch, immer der Gasse folgen, dann sehen Sie es schon an der Ecke.«

Ein paar Minuten später erreichte Karim einen kleinen Platz, der so schmal war, dass es wirkte, als hätte ein Riese die Häuserzeilen zusammengeschoben. Einem Straßenschild zufolge war dies der Souk al Dakhel, der Petit Socco. Marokkaner und Europäer saßen an den Tischen der Cafés und beobachteten den endlos vorbeiziehenden Strom aus Lastenträgern in blauen Arbeitskitteln, Touristen mit Rucksäcken vor der Brust, Arbeitern in Warnwesten, vornübergebeugt laufenden Gestalten in djellabas, Kindern, die Papiertaschentücher verkauften, und eleganten Frauen in modischen Regenmänteln. Karims Nase registrierte den Duft von Minze und den süßlichen Geruch von Kief. Links von ihm prangte auf der Seitenwand eines Gebäudes der Schriftzug Hotel Fuentes.

Innen wirkte das Hotel düster und bedrückend. Die stuckverzierten Decken und die bogenförmigen Durchgänge mit dem abblätternden Putz machten den Eindruck einer ehemals luxuriösen, aber mittlerweile heruntergekommenen Bleibe. Karim stieg die mit einem Absatz unterbrochene Treppe zum Café im ersten Stock hinauf und stieß an dessen Schwelle auf einen Empfangstresen, über dem ein verblichenes Werbeposter der Stadt hing. Dahinter saß ein Hotelangestellter in Gesellschaft eines Mannes mit schläfrigem Blick und schmuddeliger djellaba. In der Annahme, dass dies die Rezeption für das Hotel war, erkundigte sich Karim, ob noch ein Zimmer zu haben sei.

»Ja, mein Herr!«, rief der Empfangschef und sprang auf. »Sogar mit Waschbecken!«

»Wie viel?«

»Vierzig Dirham.«

»Für ein Einzelzimmer?«

»Einzelzimmer … ts, ts, ts«, wiederholte der Empfangschef in halb herablassendem, halb nachsichtigem Ton, als hätte er einen Einfaltspinsel vom Land vor sich, der keine Ahnung hatte, wie die Dinge in der Großstadt so liefen. »Nein, sidi. Im Mehrbettzimmer. Ein Einzelzimmer werden Sie in Tanger nirgends für vierzig Dirham finden.«

Karim ließ den Blick kurz durch das Café wandern. Es war ein großer Raum mit viereckigen Säulen, einem Balkon und einem Spiegel an der Stirnseite. Einige Männer saßen vor dem Fernseher oder unterhielten sich rauchend bei Minztee.

»Shahal d-lilat?«, fragte der Empfangschef. »Wie viele Nächte?«

»Vier, vielleicht mehr.«

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Im Augenblick ist nicht viel los, daher gebe ich Ihnen für den Preis ein eigenes Zimmer. Na, wie klingt das?«

Karim drehte sich zurück zu ihm. »Vierzig Dirham ist noch immer viel Geld.«

Der Mann mit den hängenden Augenlidern bemerkte Karims Akzent und mischte sich in das Gespräch ein: »Wisch nta Marrakschi? Sind Sie aus Marrakesch?«

»Ja.«

»Hier wohnt noch jemand aus Marrakesch.«

Karim wurde hellhörig. »Ja, ein Freund von mir.«

»Ihr Freund hat sich seit fünf Tagen nicht mehr sehen lassen«, meinte der Empfangschef erregt. »Er ist am Dienstag fortgegangen und seitdem … walu, nichts!«

»Seine Mutter ist erkrankt«, improvisierte Karim.

»Ihr Freund schuldet mir zweihundertneunzig Dirham!«

»Keine Sorge. Wenn er zurückkommt, wird er Ihnen das Geld geben. In der Zwischenzeit zieh ich einfach bei ihm mit ein.«

Das Zimmer im zweiten Stock hatte eine hohe Decke und ausgeblichene gelbe Bodenfliesen. Drei Einzelbetten standen entlang der Wände. Es gab ein Waschbecken mit fließend Wasser, einen wackligen Kleiderschrank und eine zweiflügelige Balkontür. Die auf einem der Betten ordentlich gestapelten Kleidungsstücke stammten von Abdou, das erkannte Karim sofort. Er trat ans Waschbecken und streifte mit dem Finger über einen Riss in der Keramik.

»Wie viel, sagten Sie, kostet das Zimmer?«

»Vierzig«, antwortete der Empfangschef erschöpft.

»Ich gebe Ihnen dreißig. Hier haben Sie zwei Nächte im Voraus. Und wenn mein Freund nicht zurückkommt, übernehme ich auch seine Rechnung, einverstanden? Wakha?«

Sobald Karim allein im Zimmer war, kniete er sich neben Abdous Bett und zog dessen Reisetasche darunter hervor. Sie besaß die gleiche Größe und Farbe wie seine eigene. Im Innern fand er weitere Kleidungsstücke, einen Kulturbeutel, eine Wollmütze, eine Dose Hustenbonbons und ein Handy-Ladekabel. Von Abdous Notizbuch und seiner Pistole fehlte jede Spur.

Karim trat hinaus auf den Balkon, der unter seinem Gewicht erzitterte. Unter sich sah er auf die Köpfe der Passanten. Als er den Lautsprecheraufruf von der nahe gelegenen Moschee hörte, wusch er sich Gesicht und Arme, rieb sie trocken und breitete seinen Gebetsteppich zwischen den Betten aus.

*

Ayesha kehrte erst spät nach Kenitra zurück. In der Wache am Tor gab sie ihr Handy ab und unterschrieb im Eingangsbuch. Sie fand Salma in der Präsenzbibliothek, wo diese am Computer arbeitete.

»Einen kleinen Moment noch«, sagte Salma.

Ayesha durchstöberte die Bücherreihen, während sie wartete. Die Regalgänge liefen strahlenförmig von dem zentralen Arbeitsbereich mit seinen acht Tischen, dem Münzkopierer, zwei Lesesesseln und dem Zeitschriftenständer mit alten Ausgaben des Fachmagazins Police ab. Da die meisten Schüler lieber auf dem Zimmer lernten, wurde die Bibliothek nur wenig benutzt. Zu ihrer Überraschung entdeckte Ayesha unter den Büchern sogar das Sachgebiet »Steno und Schreibmaschine« – Themen, die längst aus dem Lehrplan gestrichen waren.

Gemeinsam überquerten die beiden Freundinnen kurz darauf den Exerzierplatz in Richtung Wohnheim.

»Wie war Marrakesch?«

»Anstrengend. Immerhin konnte ich eine Stunde im hammam einschieben.«

»Zusammen mit deiner Mutter?«

»Leider nicht, dafür ist sie zu schwach«, antwortete Ayesha mit einem Seufzer. »Sie weigert sich, vor die Tür zu gehen. Den ganzen Tag hockt sie zu Hause und hält meine Hand.«

»Gott schütze sie!«

»Erinnerst du dich noch an die Unterrichtseinheit über posttraumatische Belastungsstörung, die wir hatten? Vermutlich hat meine Mutter genau das.«

»Du solltest mit ihr zu einer tbiba«, schlug Salma vor.

»Einer Ärztin?«, wiederholte Ayesha skeptisch. »Was soll die helfen? Meinen Vater oder meine Schwester von den Toten wiedererwecken kann die auch nicht.«

Lalla Hanane hatte sich niemals von dem doppelten Schicksalsschlag erholt, den die Familie unmittelbar vor der Wiedervereinigung mit Ayesha erlitten hatte. Zwar waren die Talals in der Nachbarschaft nie besonders beliebt gewesen und waren unter dem patriarchalischen Regiment von Omar Talal weitgehend unter sich geblieben, aber selbst die Nachbarn mit den spitzesten Zungen mussten einräumen, dass keine Frau innerhalb eines einzigen Monats die grauenhafte Ermordung der Tochter und den raschen Verfall und Tod des Ehemanns durchleben sollte.

»Das einzig Gute war, dass es einen Brief von meinem Bruder gab.«

»Karim?«

»Nein, mein leiblicher Bruder.«

Salma blieb in der Eingangshalle stehen. »Von einem leiblichen Bruder hast du mir noch nie etwas erzählt!«

»Es ist … ein wenig unangenehm.« Zwei männliche Mitschüler kamen vorbei, und Ayesha senkte die Stimme. »Ich erkläre es dir später.«

»Jetzt hast du mich neugierig gemacht!«

»Bis zur Nachtruhe haben wir ja noch eine Stunde. Da können wir reden.«

»Erzähl sofort! Handelt es sich vielleicht um einen attraktiven Junggesellen mit hervorragenden beruflichen Aussichten, der gerade auf der Suche nach einer bildschönen, hochgebildeten Frau ist?«

»Äh … nicht wirklich«, antwortete Ayesha lachend.

*

Bei seiner Rückkehr ins Camp fiel Joseph ein unter den Bäumen geparkter Geländewagen auf. Dann bemerkte er zwischen den Zelten zwei Fremde – Marokkaner. Der größere trug einen Freizeitanzug von Lacoste und unterhielt sich mit Marie-Louise, einer jungen Frau aus Kinshasa. Sie schwenkte enthusiastisch die Arme, aber dann wachte ihr Baby auf, und sein Schreien drang aus dem Zelt. Babys gingen gar nicht, verrieten einen sofort. In einer ruhigen Nacht konnte man ein schreiendes Baby noch in zwei Kilometern Entfernung hören. Prompt gab der Lacoste-Mann seinem Begleiter ein Zeichen und zog mit ihm weiter zum nächsten Zelt.

Er würde sich schwertun, hier Kunden zu finden. Die Hälfte der Campbewohner war bereits fort, darunter auch Josephs Nachbar. Jetzt hatte sich Joseph unter dessen Plane am Eukalyptusbaum niedergelassen. Der Platz lag eigentlich gut, geschützt und nahe am Feuer, aber bei einem richtigen Wolkenbruch nutzte die Plane nichts, und die ersten fetten Tropfen konnte Joseph schon spüren. Rasch begann er damit, die an den Ästen über seinem Kopf aufgehängte Wäsche einzusammeln. Dabei rutschte der Ärmel seines Parkas so weit hoch, dass der in großen Buchstaben auf die Innenseite seines Unterarms tätowierte Name Joseph sichtbar wurde.

Mit einer kurzen Handbewegung entrollte er die Plastikabdeckung seines provisorischen Unterstands und schlenderte zum Feuer, wo Jean-François, sein Freund von der Elfenbeinküste, Reis und Milch in einer verbeulten Pfanne erhitzte. Der große Marokkaner traf gleichzeitig mit Joseph ein und hockte sich vor der Feuerstelle auf seine Fersen.

»Sprechen Englisch? Französisch?«

»Français«, antwortete Joseph.

»Mauvais temps«, sagte der Lacoste-Mann mit starkem Akzent. »Schlechtes Wetter. Auf der anderen Seite ist es besser.«

»Oui.«

»Dort brauchen sie Obstpflücker. Kräftige Männer.« Er drückte Josephs Bizeps. »Sechzig Euro am Tag.«

Er zeigte ihnen ein Foto, auf dem ein Fischerboot mit zwei Außenbordmotoren zu sehen war. Josephs Augen verengten sich. Ähnlich wie Zuhälter, die mit Bildern von wunderschönen Mädchen lockten, köderten auch Fluchthelfer die Leute häufig mit Fotos von leistungsstarken Booten, wenn sie in Wahrheit bloß ein halb demontiertes Wrack erwartete.

»Nur achttausend Dirham – einschließlich Rettungswesten.«

Joseph und Jean-François schüttelten die Köpfe. Im Feuer zischten die Regentropfen.

»C’est un très bon prix.«

Joseph schüttelte erneut den Kopf. Er besaß keine achttausend Dirham. Nicht einmal annähernd so viel.

Der Lacoste-Mann richtete sich auf. »Dann ein andermal, inschallah.«

Joseph verfolgte, wie die beiden Männer zu ihrem Jeep Cherokee zurückgingen. Dem Wagen nach zu urteilen, verdienten die beiden offenbar gutes Geld. Vielleicht stimmte ja doch, was sie über das Boot erzählt hatten.

»Hey!«, rief Joseph, der erst jetzt bemerkte, dass er das Foto noch in der Hand hielt. Er stand auf und schwenkte es in der Luft. »Vous l’avez oublié!«

Aber die beiden saßen bereits im Wagen, und der Lacoste-Mann drehte gerade den Zündschlüssel. Einen Sekundenbruchteil später erstrahlten die Bäume in gleißendem Weiß, und ein Explosionsknall wie von tausend abgefeuerten Pistolen erschütterte die Erde. Joseph wurde zu Boden geschleudert, und um ihn herum prasselte – vermischt mit den Regentropfen – ein Schauer aus Metallteilen herab. Als er den Kopf hob, schlugen fauchend die Flammen aus den Fenstern des Jeeps. Hinter dem Steuer saß ein schwarzer Leichnam, dessen Haut mit dem Lacoste-Anzug verschmolz.

2

Karim erwachte vom Plätschern des Regens. Er saß unter einer maroden Markise im Petit Socco, wo es ihm in den nuss-nuss tropfte – sein Lieblingskaffee aus halb Espresso und halb heißer Milch –, und ärgerte sich darüber, den Wecker an seinem Handy überhört zu haben. Rasch sprang er auf, um unten auf dem Boulevard vor der Medina ein Taxi heranzuwinken. Und während seine Schuhe noch in schnellem Rhythmus auf das nasse Pflaster platschten, überlegte er fieberhaft, womit er sein Zuspätkommen beim Commissioner am besten entschuldigte.

Das neue Zentrum von Tanger wirkte eher trist. Öde moderne Gebäude und geschmacklose Läden, deren Schaufenster mit Sale-Schildern tapeziert waren. Hinter einer katholischen Kirche setzte das Taxi ihn an einem großen Parkplatz ab, auf dem mit Schutzgittern ausgerüstete Mannschaftswagen standen. Karim passierte einen Wachposten, der eine Maschinenpistole trug, und wies sich bei der Anmeldung aus. Diese innerstädtische préfecture war weitaus eindrucksvoller als sein Kommissariat in Marrakesch und strahlte straff durchorganisierte Effizienz aus. Vorbei an Kollegen in Zivil, die ihm zu zweit oder dritt entgegenkamen, stieg Karim in den sechsten Stock hinauf und kam sich wie ein Kind am ersten Schultag vor. Er strich sich die nassen Haare glatt und richtete seine Krawatte.

»Ah, Lieutenant Belkacem. Merhaba, willkommen! Den hiesigen Schmugglern schlottern schon die Knie, haha!« Der Polizeichef war ein kräftig gebauter Vierzigjähriger, dessen dunkles Haar an den Schläfen ergraute. Er trug sein weißes Hemd mit offenem Kragen und einen elegant geschnittenen Anzug, womit er sich stark von den Kollegen in ihrer billigen Konfektionsware abhob. »Mein Name ist Sidi Mohammed Layachi«, fuhr er fort. »Aber jeder nennt mich Simo.«

Karim durchquerte hinter ihm ein Großraumbüro und bemerkte, wie die Männer aufschauten, als ihr Chef vorbeikam. »Sie sind hier ein berühmter Mann, müssen Sie wissen«, erklärte ihm Simo über die Schulter hinweg. »Sie haben das alles in Gang gebracht. Unsere Drogenabteilung hatte allein auf Kokain und Heroin geachtet, während direkt vor ihrer Nase gefälschtes Tramadol containerweise ins Land geschmuggelt wurde!«

»Ich … äh …«

»Wie war die Zugfahrt? Anstrengend vermutlich! Mit Hochgeschwindigkeitszügen soll man in ein paar Jahren nur noch zwei Stunden von Casablanca nach Tanger brauchen, heißt es!«

Simo bat Karim in ein weiträumiges, mit Glaswänden abgetrenntes Büro, in dem bereits ein Mann wartete. Karims Hoffnungen schossen in die Höhe und verpufften sofort wieder. Es war nicht Abdou. Der Mann, der dort an der Wand saß und den Blick starr zu Boden gesenkt hielt, war kleiner und älter. Der Commissioner steuerte einen Schreibtisch an, der doppelt so groß war wie jeder, den Karim bis dahin gesehen hatte, und deutete auf einen Stuhl. Karim hängte seine nasse Jacke über die Rückenlehne und nahm Platz. Von der Wand sah ein großes Fotoporträt des Königs auf sie herab.

»Kaffee?«, fragte Simo, hob den Hörer ab, brummte ein einziges Wort und lehnte sich dann wieder in seinem Stuhl zurück. »Der gute Abdou! So ein sympathischer Mensch. Wie traurig, dass plötzlich jede Spur von ihm fehlt. Aber wir wollen keine voreiligen Schlüsse ziehen. Vielleicht ist er bloß versehentlich in einem der Container eingeschlossen worden. In diesen Dingern kann man Wochen überleben. Und er wird ja erst seit fünf Tagen vermisst.«

»Sechs«, korrigierte Karim. Es war das erste Wort, das er sagte.

»Oh, das ist gar nichts«, entgegnete Simo und tat den Hinweis mit einer Handbewegung ab.

»Demnach haben Sie noch nicht herausgefunden, was ihm zugestoßen ist?«

»Was soll ich dazu sagen?«, antwortete der Polizeichef. »Wir haben den Hafen von oben bis unten abgesucht. Wir haben die Videoaufzeichnungen kontrolliert. Und Sie müssen schon entschuldigen, aber wir hatten in der Zwischenzeit auch noch andere Dinge zu tun – Studentendemonstrationen, eine Explosion in einem Gaswerk, ein Besuch des Königs …«

»Wann hat man ihn zuletzt gesehen?«

»Den König?«, fragte Simo und lachte. »Oder Abdou?«

»Abdou«, erwiderte Karim gereizt.

»Eine Kamera zeigt ihn am Dienstag gegen 17:40 Uhr in Terminal 1. Es gibt zwei Terminals in Tanger-Med. Er inspizierte offenbar ein Containerlager in Terminal 1. Erst sieht man ihn noch, und dann – schwupp! – ist er weg.« Der Polizeichef reichte ein Blatt Papier über den Schreibtisch. »Das ist eine Liste aller Schiffe, die während Abdous Aufenthalt in Tanger am Terminal festgemacht hatten, bis einschließlich zum Tag seines Verschwindens.«

Karim suchte die Liste nach einem ihm bekannten Schiffsnamen ab.

»Hicham hier war Abdous Fahrer«, erklärte Simo mit Blick auf den wartenden Mann weiter. »Erzählen Sie dem Lieutenant, was passiert ist.«

»Ja, sidi.« Der Mann brach immer wieder mitten im Satz ab und vermied jeden Blickkontakt mit Karim. »An diesem Tag habe ich Herrn Abdou nicht gefahren. Morgens um neun habe ich ihn wie gewöhnlich in Tanger-Med an der préfecture abgesetzt … das war … ähh … Dienstag … der 5. März … und ich habe ihm gesagt, dass ich ihn leider … ähh … an diesem Abend nicht abholen kann. Er sagte, kein Problem, dann würde er sich vor dem Gare Maritime ein Taxi nehmen.«

Die Tür ging auf, und eine Sekretärin brachte Kaffee. Karim fiel auf, dass nur zwei Tassen auf dem Tablett standen.

»Warum konnten Sie Herrn Abdou … ich meine, Lieutenant el-Mokhfi … nicht abholen?«, fragte Karim.

»Ich hatte einen Termin in der Schule meines Sohnes … er hat irgendwelchen Ärger. Ich habe Herrn Abdou von dem Termin erzählt … wir haben uns immer während der Fahrt unterhalten, und er sagte: ›Keine Bange, ich finde schon irgendwie zurück.‹«

»Hat er Ihnen gegenüber durchblicken lassen, wann das sein würde?«

»Nein, Herr Lieutenant.«

»Wir denken, dass er dabei war, leere Container zu kontrollieren«, unterbrach ihn Simo.

»Erzählen Sie mir etwas über die Schiffe, die zu diesem Zeitpunkt am Kai von Terminal 1 lagen.«

»Das waren zwei«, antwortete der Polizeichef. »Die MSCSanta Cruz wurde mit Renaults beladen, die nach Rotterdam gehen sollten. Und dann noch ein mittelgroßes Schiff namens COSCO Oceania, das unter der Flagge Panamas fährt und nach Abidjan unterwegs war. Wir haben beide überprüft. Nichts Verdächtiges.«

»Hätte Abdou auf eins dieser Schiffe kommen können?«

»Keiner kann ein Schiff ohne Erlaubnis des Kapitäns betreten«, verneinte Simo kopfschüttelnd.

»Warum hatte Abdou keine Begleitung?«

Simo drehte die Handflächen nach oben. »Eigentlich hätte jemand von der Hafenaufsicht oder dem Terminalbetreiber bei ihm sein sollen. Das war ein Versehen. Andererseits wollte Abdou auch lieber allein arbeiten. Das hat er immer wieder betont.«

»Irgendwelche Zeugen?«

»Natürlich waren Leute im Terminal – Fahrer, Kranführer, die Männer vom Sicherheitsdienst –, aber in der Stunde vor seinem Verschwinden hat ihn keiner mehr gesehen.«

Karim wandte sich an den Fahrer: »Hicham, haben Sie Lieutenant el-Mokhfi jeden Morgen von seinem Hotel abgeholt?«

»Ja. Das heißt … ich habe immer auf dem Parkplatz unterhalb des Hotels gewartet. Im Petit Socco sind Autos verboten.«

»Wie Sie sagten, hat er sich mit Ihnen unterhalten. Hat er erwähnt, woran er gerade arbeitet?«

»Nein, Lieutenant«, antwortete der Fahrer. »Da war er diskret … ganz wie ein anständiger Polizist es sein sollte.«

»Fragen wir doch mal Larbi«, schaltete Simo sich ein und stand auf. »Er ist der leitende Polizeioffizier in Tanger-Med. Trinken Sie Ihren Kaffee, wir brauchen eine Dreiviertelstunde da raus.«

Sie huschten im Laufschritt zum Wagen, um nicht pitschnass zu werden. Die wenigen Menschen auf der Straße trugen Schirme oder hatten sich in Hauseingängen untergestellt. Als sie wenig später auf der Schnellstraße an modernen Wohnblöcken vorbei die Stadt verließen, erkundigte sich Simo, wo Karim abgestiegen war.

»Im Fuentes?«, kommentierte er entrüstet. »Das ist doch eine miese Absteige! Vor fünf Jahren haben wir den Laden wegen Prostitution sogar mal dichtgemacht! Keine Adresse für einen Lieutenant der Polizei. Abdou habe ich das auch gesagt, aber er wollte nicht auf mich hören! Seid ihr Marrakschis alle so? Sie können bei mir wohnen. Ich habe ein hübsches Häuschen in Casabarata. Solange Sie in Tanger zu tun haben, sind Sie einfach mein Gast. Damit wäre das geklärt, und ich rufe nur rasch meine Frau an, um ihr zu sagen, dass wir Sie zum Abendessen bei uns haben.«

»Vielen Dank, aber ich bleibe lieber im Hotel.«

»Jetzt beleidigen Sie mich doch nicht! Welchen vernünftigen Grund könnte es dafür geben, ein Hotel vorzuziehen? Es sei denn, Sie wollen sich mit den Mädchen hier amüsieren. Vorsicht! Die Mädchen in Tanger sind hübsch, aber sie räumen Ihnen die Taschen leer!«

»Ich habe es nicht auf Mädchen abgesehen. Ich bin hier, um meinen Kollegen zu finden.«

»Wie Sie wünschen. Kima bghiti! Aber sagen Sie nachher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt!«

Die restliche Fahrt redeten die beiden Männer über Berufliches und ihre Familien. Schließlich unterquerte die Autobahn ein kilometerlanges Eisenbahnviadukt und beschrieb einen langen Bogen zum Meer, bis ein über die Straße reichendes Hinweisschild ihr Ziel ankündigte: Tanger-Med. Karim setzte sich auf, um besser sehen zu können. Vor ihm breiteten sich Industrieparks aus, dazu Anlegeplätze, Baustellen, Containerdepots, ein riesiges Geflecht aus Straßen, daneben Grünanlagen, moderne Bürokomplexe, eine lange Mole und zwölf der gigantischsten Kräne, die Karim je gesehen hatte.

Das war nicht bloß ein Hafen – das war eine Stadt!

*

Der Unterrichtsraum bestand aus zwei langen Tischreihen und einem Whiteboard. Zwanzig Kadetten saßen einander in Tarnhose mit Koppel und schwarzen Rollkragenpullovern gegenüber. Beim Eintritt des Ausbilders sprangen alle auf und nahmen Haltung an.