Die Wächter von Andalon - Mario Schenk - E-Book

Die Wächter von Andalon E-Book

Mario Schenk

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Beschreibung

Ein einzigartiger Mix aus verschiedensten Legenden und Mythen aus Religion und Geschichte. Nur die Weltenwanderin Iris ahnt, dass eine fremde Rasse, die vor Jahrtausenden das magische Inselkönigreich Andalon vernichtete, für das rätselhafte Massensterben weltweit verantwortlich ist. Die Kreaturen sammeln im Verborgenen ihre Kräfte, um diesmal die gesamte Menschenwelt an sich zu reißen. Allein den neun wiedergeborenen Wächtern Andalons kann es gelingen, sie aufzuhalten. Doch kaum jemand weiß um die wahren Geschehnisse damals und wie es gelang, die Invasion zu beenden. Susan ist eine dieser neuen Wächter. Die Bestimmung in Einklang mit der Schule, Familie und ihren Freund zu bekommen, stellt gerade für sie eine besondere Herausforderung dar. Sie betrifft dieser schier aussichtslose Kampf nämlich weitaus mehr, als sie zunächst befürchtet. Der Auftakt des Urban & High Fantasy Epos um die fünf Fragmente des Elfenkristalls.

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Von Magie und Unsterblichkeit

Fragment 1

Teil 1: Die Wächter von Andalon

Mit einem herzlichen Dank an

meine Betaleser

Michael Kühnl

Ruth Terasa-Kammerl

weitere Testleser

Sophie Rothkopf

Christina Schmalzbauer

Julia Gilch

Katrin Kroiß

Impressum

© 2019 - 2020 Mario Schenk, Lalling

Erweiterte Ausgabe: November 2020

(Erstausgabe: Mai 2019)

Autor: Mario Schenk

Umschlaggestaltung: Sören Meding

Lektorat, Korrektorat: Lisa Reim

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN:

978-3-347-17406-1 (Paperback)

978-3-347-15796-5 (Ebook)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.vmuu.de

www.marioschkah.de

Prolog

Eine Gestalt torkelte durch das Zwielicht des nach Feuer riechenden Schlachtfeldes. Die tiefschwarze Kutte war von Schmutz und Rissen übersät und die Kapuze hing in Fetzen über den Schultern. Angetrocknetes Blut von einer glitzernden Stirnwunde bedeckte die linke Gesichtshälfte. Die schwarzen Haare waren vom harten Kampf zerrüttet und angesengt.

Das Atmen fiel schwer, denn die Luft wurde von einem massiven Nebel aus Staub und Asche verdrängt.

Die benommene Frau mühte sich über das Trümmerfeld aus Fels- und Mauerresten. Nur noch wenige Leichen der Allianz zwischen Menschen und Elfen bedeckten den zerklüfteten Boden. Die Anzahl toter Feinde dagegen stieg.

Es herrschte eine gedrückte Stille, bestimmt von einem massiven Staubregen. Tonnen von Steinkörnern legten sich auf die Ruinen des Palastes und die Frau, die scheinbar orientierungslos ihren Weg suchte. Doch sie gelangte schließlich zu dem Ort, von dem sie weggeschleudert worden war.

Die bis eben angehaltene Hoffnung erstarb mit einem Mal.

Der Anblick der neun vor ihr liegenden, teils zerfledderten Körper trieb ihr Tränen in die Augen. Die Trauer stach ihr mitten ins Herz.

Ihr Blick fiel auf einen blütenweißen, nach oben spitz zulaufenden Kristallblock, auf dem sich der dunkle Staubregen nicht abzusetzen vermochte.

Unsäglicher Hass und unbändige Wut drangen immer deutlicher aus dem Inneren des Kristalls heraus. Den Wächtern musste es tatsächlich gelungen sein, die Herrscherin zu bannen.

Nur kurz dauerte die Erleichterung darüber an.

Eine stechende Kälte zog herauf. Begleitet von einer bläulichen Dunkelheit nahm sie das zerstörte Königreich schnell ein.

Eilig sammelte Iris die Kristallsplitter und Waffen der gemeuchelten Freunde auf.

Ein letztes Mal blickte sie auf die leblosen Hüllen ihrer teuren Gefährten. Sie wandte sich ab und löste sich nach wenigen Schritten in Luft auf, bevor sich die eisige Barriere um die menschenleere Insel schloss.

Kapitel 1 - Schreckliche Nacht

„Vielen vielen Dank, dass du noch gekommen bist. Ich hab mich sooooo gefreut.“

Susan rümpfte die Nase, als ihr Tina in der Begleitung einer Dunstwolke aus Cuba Libre um den Hals fiel. Nicht dass sie Alkohol selbst nichts abgewinnen konnte, aber sie war diesmal erst recht spät zu ihren Freundinnen gestoßen und lag daher im Pegel deutlich hinterher. – Ob sie nach einer üblichen Partytour auch so stark roch?

„Ist doch klar. Hat Spaß gemacht“, erwiderte sie und streichelte Tinas Rücken. „Schlaf gut.“

Tina trennte sich mit sehnsüchtigem Blick von ihr und nickte schwerfällig. „Du auch. Komm gut nach Hause.“ Susan drehte sich herum und setzte sich mit einem Lächeln über die Schulter in Bewegung. Dabei schüttelte sie in Gedanken den Kopf. Hatte Tina mehr als zwei Drinks, wurde sie immer so anhänglich. Susan störte das keineswegs. Es war nur schwer vorstellbar, dass Tina durch ein paar Cocktails oder Longdrinks oder Shots noch knuffiger werden konnte, als sie es ohnehin schon war.

Sie verließ das sterile Licht der Lampe am Eingang zu Tinas Wohnblock und atmete tief ein. Die Luft war immer noch stickig und schwül, trotz der späten Nacht. Susan strich sich durch die strohblonden Haare.

Na, das hat sich ja gelohnt, seufzte sie in sich hinein.

Es waren nur drei Stunden gewesen, doch die tropenfeuchte Luft des Stammclubs hatte die Glättarbeit an ihrem penibel frisierten Seitenscheitel zunichte gemacht. Verärgert betrachtete Susan die fransigen Spitzen. Elendiger Spliss.Sie überlegte schon lange, ob sie sich für die allwöchentlichen Clubbesuche womöglich ein schonenderes Haarstyling zulegen sollte.

Susan bog um die nächste Ecke und blieb ruckartig stehen. Einige Meter vor ihr standen außerhalb des Scheins der Straßenlaternen drei Männer zusammen. Einer der Kerle lehnte mit dem Rücken an einer kargen Hauswand und hielt eine Schnapsflasche in der Hand. Eine weitere lag zerbrochen am Boden. Die drei hatten ihre Unterhaltung eingestellt und blickten in Susans Richtung.

Ein Anflug von Unbehagen ließ Susans Kehle trocknen. Sie war schon oft diesen Weg allein nach Hause gegangen. Doch um diese Uhrzeit traf sie für gewöhnlich keine Menschenseele mehr an.

Susan schluckte mit einem Ziehen im Hals und ging weiter. Sie war eigentlich nie ängstlich gewesen oder für Vorurteile empfänglich. Die Gefahr lauerte nicht an jeder Ecke und Männer waren nicht alle nur schwanzgesteuert. Allerdings verbreiterte sich mit jedem Schritt das Grinsen der Kerle. So sehr Susan ihr langärmliges Kleid in Dunkelrot und Schwarz mochte, wünschte sie sich in diesem Moment, dass es doch nicht so eng anlag oder so viel Bein zeigte.

Die Kerle flüsterten miteinander. Susan verlangsamte das Tempo. Allmählich wurde ihr die ganze Sache doch nicht geheuer. Sie sollte vielleicht lieber umkehren.

Verdammt, Susan, sprach sie sich selbst Mut zu. Stell dich nicht so an.

Damit beschwichtigte sie ihren krampfenden Magen aber nur wenig. Ihre Kleinstadt war weit davon entfernt von Kriminellen überlaufen zu sein, aber man hörte hin und wieder andernorts von Situationen, die eine Kombination von Männern und Alkohol beinhalteten. Im Club konnte sie sich den teils ungehörigen Avancen ohne Probleme entziehen. Sie hatte genügend andere Leute um sich. Doch hier, im Schutze der Nacht, allein.

Susan wechselte mit weichen Knien auf die gegenüberliegende Straßenseite. Die laue Sommernacht und der noch immer heiße Asphalt trieben ihr Schweißperlen auf die Stirn. Jeden Schritt setzte sie die Absätze möglichst leise auf. Im selben Takt schlug ihr Herz so stark, dass sie es durch den gesamten Brustkorb spürte. Beachtet mich gar nicht. Ich bin gar nicht da. Die Augen starr auf den Boden gerichtet, ging sie zügig an dem Trio vorüber.

Susan atmete auf. Schien jeder Schritt bis dahin zäh, als würde sie durch eine Schicht Kaugummi laufen, fühlte sich das Aufsetzen ihrer Füße nun an, als würde sie zu einem Weitsprung ansetzen. Leicht und federnd, trotz der Schmerzen in den hochhackigen Schuhen. Wie sie es Woche für Woche überhaupt aushielt, in diesen Dingern zu stehen, geschweige denn zu gehen? Sie überlegte, die Schuhe auszuziehen, und barfuß weiter zu laufen, doch sie wollte ihre gute Strumpfhose nicht ruinieren.

Susan dachte an den früheren Abend zurück, bevor sie zu Tina gestoßen war, und lächelte bei dem Gedanken an ihren Freund. Sie kramte in der Handtasche nach ihrem Handy, um Chris eine Nachricht zu schreiben. Er war sicher über den Schulbüchern eingeschlafen.

Plötzlich schlang sich ein Arm um Susans Hüfte.

Sie schrie laut auf, doch eine Hand presste sich sofort auf ihren Mund.

Ein stämmiger Typ in einem Muskel-Shirt packte ihre Beine. Susan trat mehrere Male nach dem Kerl. Zwei, drei Mal konnte sie sich aus dem Griff befreien. Aber als der dritte zupackte, hatte sie keine Chance mehr.

Susan wehrte sich weiter und kreischte: „Lasst mich los!“

Doch die erstickten Schreie drangen kaum an der klebrigen Pranke auf ihrem Mund vorbei. Die Männer zerrten sie in den Schatten zweier Gebäude.

Ein Finger geriet zwischen Susans Lippen. Der scheußliche Geschmack der salzigen Haut verzog ihr das Gesicht.

Susan biss zu – jedoch ins Leere.

Immer weiter verschwanden sie im Dunkel der Hauswände. Tränen sammelten sich in Susans Augen, als die drei sie an eine Wand neben den Müllcontainern drückten. Schreckliche Angst zog in ihr herauf. Sie zitterte.

„Bitte nicht“, bettelte Susan durch die Handfläche hindurch.

„Keine Sorge. Es dauert nicht lang“, flüsterte ihr ein Typ mit auffällig schiefer Nase ins Ohr.

Er riss ihr das Kleid von den Schultern. Ein anderer zog den unteren Teil hoch bis über ihre Hüfte. Beide schnaubten gierig, während sich der dritte Kerl weiter darauf konzentrierte, Susans Mund mit seiner Hand zu verschließen.

Der Typ mit der schiefen Nase griff ihre linke Brust. Ein unbekanntes Gefühl von Ekel erfasste Susan. Ein Schaudern durchzog ihren ganzen Körper. Ihre nur noch wimmernden Hilferufe schienen niemanden zu erreichen.

Sie flehte um Chris’ Hilfe. Oder um die ihres Vaters. Irgendwer musste sie doch hiervor bewahren können.

Einer der Kerle zog ein Messer.

Susan erstarrte.

Was hat er damit vor?!

Unter Todesangst folgten ihre weit aufgerissenen Augen der Klinge. Das Messer zerschnitt Susans BH zwischen den Drahtbügeln und legte ihre Brüste frei. Eine kalte, feuchte Zunge zog über die nackte Haut.

Tränen stürzten Susan übers Gesicht. Sie schloss angewidert die Augen und versuchte in Gedanken dem Überfall zu entfliehen. Doch ein beißender Gestank aus altem Schweiß und schwerem Alkohol stieg ihr in die Nase und hielt ihr Bewusstsein wach.

Susan fühlte zwischen ihren Schenkeln eine Hand nach oben streichen, deren raue Haut sich in der dünnen Strumpfhose wie Schleifpapier verhakte. Lange Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in ihren Hintern. Die Männer geiferten vor Erregung, als sie die Strumpfhose samt Slip nach unten zerrten.

„Lasst das Mädchen in Ruhe!“, drang eine tiefe Stimme vom Anfang der Gasse her.

Schlagartig verschwanden mehrere Hände von Susans Körper. Nur ein Kerl hielt sie noch fest.

Susan öffnete die Augen. Durch die Tränen sah sie die verschwommene Silhouette eines breitschultrigen Mannes. Ein Hoffnungsschimmer durchzuckte Susans Gedanken.

Bitte hilf mir!

„Verpiss dich!“, schrie der Vergewaltiger in dem ärmellosen Shirt.

Nein! Bitte bleib hier!

Der Mann zeigte keine Reaktion.

„Wenn du Ärger willst …?!“, rief der andere mit dem Messer und drehte es auffällig in der Hand.

Ruf die Polizei!

Der Unbekannte blieb weiter regungslos stehen.

Im nächsten Moment stürzten die beiden Kerle auf den schwarzen Umriss zu.

Der Stämmige im Muskel-Shirt holte im Lauf zum Schlag aus.

Bevor er den Mann erreichen konnte, schnellte ihm dieser mit einem unnatürlich langen Schritt entgegen. Ein massiver Faustschlag mitten ins Gesicht stoppte den Angreifer, der benommen zu Boden ging.

Der Messerschwinger hielt inne. Er war wohl ebenso von dem kurzen Prozess überrascht wie Susan. Der schwarze Schatten wandte sich zu ihm. Gleich darauf schlug er dem Kerl die Waffe aus der Hand und trat ihm in den Magen. Der Entwaffnete krümmte sich, schnappte nach Luft und sackte bewusstlos zusammen.

Susan spürte Erleichterung in ihr aufkommen – und auch einen Hauch von Begeisterung. Ihre Rettung war in greifbarer Nähe.

Der verbliebene Typ löste den Griff von Susan, die mit dem Rücken an der Wand nach unten glitt. Er nahm die Arme nach oben und machte einen vorsichtigen Schritt auf den Mann zu. „Alles cool. Ich wollte das gar nicht.“

Er ging langsam seitwärts an der Mauer entlang und zog einen möglichst großen Bogen um den Retter, bis er schließlich kehrtmachte und davonspurtete.

Der Mann wandte den Kopf zu Susan. Kurz darauf bewegte er sich in ihre Richtung. Mit jedem behutsam gesetzten Schritt beruhigte sich Susans Herzschlag. Sie blickte mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Verunsicherung zu der Gestalt in einem langen schwarzen Umhang auf.

Bin ich wirklich in Sicherheit?

Die Panik war verflogen, aber Susan zitterte noch am ganzen Körper. Sie sammelte Kraft und tastete sich mit dem Rücken an der Wand empor. Sie rückte die Kleidung notdürftig zurecht und bedeckte mit verschränkten Armen und Händen die Brust.

Susan versuchte, in das Gesicht des Mannes zu blicken, doch der Kopf war von schwarzen Stoffstreifen umschlungen. Nur die Augen und ein paar dunkle Haarbüschel gab die Maske frei.

Ihr Retter blieb wenige Schritte vor Susan stehen.

„Habt keine Angst. Es ist vorbei“, beruhigte er sie mit seiner durch den Stoff gedämpften Stimme. „Geht es Euch gut? Wurdet Ihr verletzt?“

Susan schüttelte unbeholfen den Kopf. Sie wunderte sich über die altertümliche Art der Ansprache. Doch auch die befremdliche Kleidung störte seltsamerweise das aufkommende Gefühl von Geborgenheit nicht.

„Wo wohnt …“

Der Mann brach mitten in der Frage ab und presste die Hände an die Schläfen. Schwer atmend sank er auf die Knie.

Was hat er denn? Susan sah auf den dunklen Boden, doch ihr Blick wurde getrübt. Sie wischte sich die letzten Tränen aus den Augen, aber von dem Maskierten fehlte jede Spur. Um sie herum lagen nur noch ihre Peiniger.

Die Kerle rührten sich. Ihre Benommenheit würde nicht mehr lange anhalten.

Angst flutete erneut Susans Körper. Ihr Puls stieg.

Schnell weg hier! Susan tapste eilig an den Mistkerlen vorbei und sammelte ihre Schuhe vom Anfang der Gasse auf. Sie rannte, so schnell sie konnte barfuß die Straße entlang. Sie traute sich nicht, sich umzuwenden. Sie betete, dass die Kerle ihr nicht folgten.

Zwei Kreuzungen später erreichte Susan ihr Zuhause. Sie eilte zum Eingang, zog den Schlüssel hinter dem getöpferten Namensschild Conners hervor, öffnete und trat ein. Sie schloss leise die Türe und bemühte sich, ihre Atmung zu beruhigen. Keinesfalls wollte sie ihre Eltern wecken. – Oder sollte sie?

Susan wollte ihrer Mutter keine Sorgen machen.

Sie war nun in Sicherheit. Aber sie stand immer noch an derselben Stelle und überlegte.

Könnte sie doch einfach alles aus dem Gedächtnis löschen.

Schließlich begab sich Susan auf Zehenspitzen nach oben ins Badezimmer. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die kalte Wand. Die Fliesen reflektierten ihren Herzschlag und ließen ihren gesamten Körper erbeben.

Susans Blick fiel auf den Spiegel. Ihr Gesicht war geschwollen und von Wimperntusche verschmiert. Doch nicht der armselige Anblick, den sie bot, beschäftigte sie. Sie fühlte sich auf eine andere Art schmutzig.

Sie entledigte sich der Reste ihrer Kleidung und stieg in die Dusche. Unter dem nahezu brühend heißen Wasserschwall versuchte sie, all die ekligen Berührungen durch mehrere Waschgänge vom Leib zu schrubben.

Doch Susan empfand sich noch nicht sauber genug. Erneut kamen Tränen, während sie mit Nagelbürste und Waschlappen immer stärker und schneller rieb.

Verzweifelt ließ sie von ihrer rot gescheuerten Haut ab und kauerte sich unter dem fließenden Wasser weinend in der Duschwanne zusammen.

Kapitel 2 - Befremdlicher Samstag

Susan erwachte am späten Vormittag aus einem unruhigen Schlaf.

Das Sonnenlicht drang nur gedämpft durch die Vorhänge. Dennoch schmerzte es in den blinzelnden Augen.

Susan drehte sich vom Fenster weg und bemerkte ein unangenehmes Ziehen in nahezu allen Muskeln ihres Körpers.

Die Erinnerung an die vergangene Nacht schlug sofort auf sie ein und stürzte ihr Gemüt ins Bodenlose. Als läge ein tonnenschwerer Felsbrocken auf ihr, fesselten sie ihre Gedanken an die Matratze.

Sie starrte an die Decke. Die Bilder in ihrem Kopf wurden von Minute zu Minute lebendiger. Ihre Haut kribbelte und juckte. Der beißende Gestank der Kerle hatte sich in ihrer Nase festgesetzt und peitschte ihren Puls nach oben. Sie spürte die Zunge auf ihrer Haut.

Susan setzte sich ruckartig auf und strich sich übers Gesicht, als könnte sie die Erinnerungen wegwischen. Ihre pochenden Schläfen beruhigten sich allmählich, während sie überlegte, was sie als Nächstes unternehmen sollte.

Sollte sie es der Polizei melden? Sich doch ihren Eltern anvertrauen? – Sie wollte ihnen keinen Kummer bereiten. Und wie würde Chris darauf reagieren? Wie würde er sie nach diesem Vorfall sehen? Hatte sie das provoziert?

Nein, Schuld daran hatte sie sicher nicht. Dennoch hatte sie sich etwas vorzuwerfen:

Wäre ich bloß zu Hause geblieben! Hätte ich Tinas Einladung einfach ausgeschlagen. Der Abend verlief bis dahin doch perfekt.

Chris hatte sie zum Abendessen nach Hause eingeladen.

Bislang war sie den Eltern von nur zwei ihrer Verflossenen begegnet. Die letzteren schienen sich gar nicht für sie zu interessieren und beachteten sie kaum. Bei den anderen hatte es in der Wohnung gemüffelt. Es roch nach Katze. Dabei mochte Susan Katzen sogar sehr. Sie hatte sich immer eine gewünscht, aber ihr Vater war leider allergisch. Doch der Geruch bei ihrem Ex hatte weniger mit den drei Katzen an sich zu tun, als mit dem allgemeinen hygienischen Zustand der Wohnung.

Bei Chris’ Elternhaus dagegen gab es nichts auszusetzen. Zwar leider keine Katze, aber mit Frau und Herrn Berger verstand sie sich auf Anhieb. Sie begegneten Susan mit einem Lächeln und schienen überaus neugierig auf sie. Chris’ Mutter nahm sie sogar in den Arm. Über zwei Stunden brachten sie mit – zumal peinlichen – Geschichten aus Chris’ Kindertagen und Unterhaltungen über Susans Interessen zu. Frau Berger bedauerte, dass Susan das Klavierspielen aufgegeben hatte. Sie selbst spielte leidenschaftlich gerne Gitarre.

„Wegen Schule und dem Schwimmverein blieb leider keine Zeit mehr für die Musik.“ Dabei war das gelogen, aber es war eine gute Ausrede. Susan hatte schier das Interesse am Klavier verloren. Sie hätte lieber E-Gitarre gespielt, oder hätte gerne in einer Band gesungen. Aber ihr Gesangstalent war leider nicht vorhanden. Vielleicht konnte Frau Berger ihr irgendwann mal die Gitarre beibringen.

Nach dem Abendessen – es gab eine hervorragende Lasagne mit Spinateinlagen – begaben sich Susan und Chris in sein Zimmer. Eine Stunde schmiegten sie sich auf dem Bett aneinander und genossen wortlos die Stille und Nähe zueinander. Chris war vielleicht ihr dritter, oder vierter Freund. Weitere nur wenige Wochen oder gar Tage andauernde Beziehungen konnte man gar nicht als solche bezeichnen. Susan hatte einfach keinen Draht zu ihnen gefunden und hat sie schließlich wieder ziehen lassen. Oder war sie einfach zu wählerisch? Stefan jedenfalls sah man es bald an, dass er nur auf eine sexuelle Eroberung abzielte. Spätestens nachdem er begonnen hatte, sexy Fotos per Chat zu erbetteln war der Ofen aus.

Doch das mit Chris war anders. Ganz anders. Susan war es so, als würden sie sich schon ewig kennen. Zuerst war da nur diese Anziehung aus der Entfernung. Seine strahlend grünen Augen vermochten es auch noch quer über den Schulhof ihr Herz zu erreichen und ihre Haut zum Prickeln zu bringen. Dann die erste Berührung ihrer Hände – ihrer Lippen. Unvergleichbar, einzigartig – jedes einzelne Mal. Sie fühlte sich wie eine andere Person in seiner Gegenwart. Wie Romeo und Julia vielleicht, nur ohne dem tragischen Part.

Mit dem Kopf auf seiner Brust wiegten Chris’ ruhiger Atem und Herzschlag Susan fast in den Schlaf. Doch so sehr es beide schmerzte, hielten sie sich mit ein paar Minuten Verzug an den Plan.

Chris würde sich noch eine Stunde hinter die Schulbücher klemmen, alleine zu Bett gehen, um früh aufzustehen und auch den folgenden Tag mit Lernen zu verbringen. Die Abiturprüfung stand in wenigen Wochen an. Sein Ehrgeiz war dafür nicht zu bremsen. Und das wollte Susan auch auf keinen Fall. Stattdessen hätte sie sich langsam mal ein Beispiel an ihm nehmen sollen.

Bevor der gemeinsame Abend endete, gönnten sie sich einen ihrer magischen Küsse. Alles um Susan herum verschwand. Nur seine weichen Lippen waren auf ihren zu spüren. Die Spitze seiner Zunge, seine Fingerkuppen an ihrer Wange, die zum Hals entlang wanderten.

„Nun aber nach Hause mit dir“, weckte sie Chris aus dem himmlischen Gefühl. „Meine andere Freundin kommt bald.“

Susan schlug die Augen auf und blickte in sein neckisches Grinsen.

„Dann sag ihr einen lieben Gruß von mir. Ich hoffe, ihr Herpes ist nicht ganz so schlimm, wie alle sagen.“

Chris lachte auf und gab ihr einen Schmatz auf die Stirn, bevor sie sich vom Bett erhoben und er Susan zur Haustüre begleitete.

„Schreib mir, wenn du zu Hause bist. Pass auf dich auf.“

„Mach ich. Bis Montag dann in der Schule.“

Susan ging ein paar Schritte rückwärts. Chris stand im Türspalt und lächelte ihr hinterher. Sie strahlte zurück. Und das tat sich auch noch, als sie sich mehrere Straßen von seinem Haus entfernt hatte, bis sich die Müdigkeit einmischte. Sie gähnte, während sie ihr Handy aus der Hosentasche fischte, um es wieder auf erreichbar zu setzen. Beim ersten Blick seit Stunden auf das Handy verflog die einsetzende Bettschwere.

„Hey. Ich weiß ja nicht, wie lange du heute bei Chris bist. Aber wenn ihr mögt, ich bin mit Nicki und Mel im Soda. Würd mich freuen “

Susan grinste. Auf ein, zwei Cocktails mit den Mädels hatte sie schon noch Lust. Und Mel war auch dabei. Der Garant für Spaß mit dem hübschen Barkeeper und Free Shots. Letzteren verweigerte sich Susan aber spätestens nach der zweiten Runde. Sie wollte einen einigermaßen klaren Kopf behalten, um auf Tina aufzupassen, die Alkohol so gar nicht vertrug. Im Gegensatz zu ihr – zumindest ihrer eigenen Einschätzung nach. Außerdem hielt sie gern ihre offenen Getränke im Auge. Auch hier soll es vor zwei Monaten einen Fall mit K.O.-Tropfen gegeben haben.

Zu Hause angekommen legte sie eilig die Abendgarderobe an und unterzog ihre widerspenstigen Haare einer Glättkur, anstatt das eigene Bett zu beehren. Dieses lockte leider nicht genug.

Nun aber stellte es ein sicheres Rettungsboot dar. Susan verließ es nur, um die Toilette aufzusuchen. Dort behandelte sie ihr aufgedunsenes Gesicht mit kaltem Wasser und Feuchtigkeitscreme, bürstete die struppigen Haare grob aus, kämmte sie nach hinten und bündelte sie mit einem Gummiband. Zurück im Zimmer zog sie sich vor dem Wandspiegel neben der Türe aus, um ihren Körper zu begutachten.

Susan atmete erleichtert auf. Bis auf leichte Striemen an ihren Handgelenken und am Nacken erkannte sie keine gröberen Spuren des Überfalls.

Ihr Blick verharrte auf ihrem Gesicht im Spiegel. Ihre Augen wurden glasig, während sie ihre Gelenke rieb. Wie sie wohl aussehen würde, wenn der Maskierte nicht aufgetaucht wäre? Wenn die Kerle mit ihr fertig gewesen wären?

„Mittagessen!“

Susan zuckte zusammen. Der Ruf ihrer Mutter hatte ihre Gedanken wie eine Bungee-Seil aus der Gasse herauskatapultiert.

„Susan, bist du wach?!“

„Ja! Bin wach! Hab aber keinen Hunger!“ Abgesehen vom Appetit war sie auch noch nicht bereit, ihrer Mutter gegenüber zu treten und wollte sie vorerst auf Abstand halten.

Susan kleidete sich in ihre bequemste Hose und ein weites T-Shirt, verkroch sich unter die Decke und lenkte sich mit Musik von ihrem Notebook ab. Grundsätzlich hörte sie alles querbeet, bis auf Rap. Doch diesmal öffnete sie eine Playlist mit ausschließlich melancholischen Songs aus dem Rock und Pop Bereich, darunter Biffy Clyro und Keane.

Vielleicht schlief Susan kurz ein. Sie wusste es nicht. Mehr als ein paar Minuten konnten es nicht gewesen sein.

Wo war eigentlich ihr Handy? Sie streckte den Kopf unter der Decke hervor und hielt nach ihrer Handtasche Ausschau. Am Türhaken hing sie nicht.

Susan schaute durchs Zimmer, konnte sie aber nicht entdecken. Sie rollte zur Kante und blickte übergebeugt unter das Bett. Außer ihren zerrissenen Klamotten lag da aber nichts.

„Shit.“

Hatte ich sie überhaupt dabei, als ich zu Hause war?

Susan kämpfte sich aus der Rolle ihrer Decke und suchte im Badezimmer nebenan. Zurück in ihrem Zimmer schaute sie sich mit steigendem Puls nochmal genauer um.

Ach Kacke!

Susan atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen.

Es klingelte an der Haustür, doch Susan beachtete es nicht weiter.

OK. Bis zu der Begegnung mit den Typen hatte ich sie sicher noch.

Den Weg zurück in diese Gasse zu gehen war das letzte, was sie sich für heute hätte vornehmen wollen. Sollte sie Tina um ihre Begleitung bitten? Oder besser Chris? – Irgendeine Erklärung wäre aber dann fällig.

„Susan! Komm mal runter!“

Susan hielt den Atem an. Die Stimme ihrer Mutter klang ungewöhnlich ernst. Wer würde denn zu ihr wollen? Und vor allem wieso?

„Ja! Einen Moment!“, rief sie durch den Spalt der Zimmertüre und streifte ein langes Hemd von Chris über, um damit ihre Handgelenke zu verdecken.

Sie verließ das Zimmer und erkannte beim Hinabsteigen der Treppe zwei Polizisten im Türrahmen stehen, die ihr zusammen mit ihrer Mutter entgegensahen.

Was macht denn die Polizei hier? Sind die wegen dem Überfall hier?

Susans Herz pochte so stark, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Jeder Schritt wurde langsamer und zäher, als würde sie durch frischen Beton schreiten. Ihr war zum Heulen zumute, als sie in das Gesicht ihrer Mutter blickte.

Weiß sie es?

Die Polizistin streckte Susan nach einer knappen Begrüßung eine schwarz-rot getigerte Handtasche entgegen. „Ist das deine?“

Susans Augenbrauen zogen sich nach oben. „Ich – glaub schon“, brachte sie nach einem Anflug von Sprachlosigkeit hervor.

„Die Tasche wurde vor einer Stunde nicht weit von hier gefunden. Kannst du dir vorstellen, wie sie da hingekommen ist?“

Ihre Mutter redete auf Susan ein: „Bist du überfallen worden?“

„Nein!“, entgegnete Susan aus einem Reflex heraus, während ihre Mutter sie von oben bis unten musterte. „Die muss mir gestern im Soda gestohlen worden sein. Ich war mir nur nicht sicher. Ich hätte sie auch liegen lassen können oder Tina hätte sie mitgenommen.“

Was mach ich denn?!

Es fühlte sich so falsch an, doch in diesem Moment besser als die Wahrheit. Wäre es doch bloß die Wahrheit.

„Seid ihr denn nicht zusammen heim?“, fragte ihre Mutter.

„Schon, aber ich weiß halt nicht genau, was mit der Tasche war.“ Susan wollte sich nicht in Details verstricken. „Ich hab etwas mehr getrunken.“

„Magst du mal reinschauen und uns sagen, ob was fehlt?“, bat die Polizeibeamtin.

Susan sah die uniformierte Frau unsicher an, nahm die Tasche an sich und wühlte darin herum. Es fehlte nichts, sogar Geld und Handy waren noch da.

Die Polizistin übergab Susan eine Visitenkarte.

„Wenn du uns noch etwas mitzuteilen hast, oder sonst über irgendetwas reden willst, kannst du jederzeit anrufen.“

Susans Hände schwitzten. Sie nickte.

„Da wir keinen konkreten Hinweis auf einen Diebstahl haben, behandeln wir das Ganze vorerst als Fundanzeige.“

Die beiden Beamten verabschiedeten sich und wünschten einen guten Tag, worauf sich Susan und ihre Mutter bedankten. Die Anspannung in Susan löste sich. Es war überstanden. Fast.

Ina Conners schloss die Türe mit einem Lächeln, das auf der Stelle erstarb. Sie ging auf ihre Tochter zu, legte die Hände auf ihre Schultern und blickte ihr tief in die Augen. „Sag mir die Wahrheit, Susan. Ist gestern wirklich nichts anderes passiert? Geht’s dir wirklich gut?“

Susan gelang es nicht, dem Blick standzuhalten. Sie neigte den Kopf zur Seite und wich aus. „Nein, Mum. Wirklich nicht. Können wir das bitte sein lassen? Es war mein Fehler und es tut mir leid.“

Der letzte Satz blieb Susan fast im Hals stecken.

Ina schürzte die Lippen und ließ von ihr ab. „Na gut. Aber du weißt, dass du jederzeit mit mir reden kannst. Hörst du?“

„Ja. Aber da gibt’s nichts zu reden. Nur – bitte sag Dad nichts davon, ok? Ich will ihn nicht auch noch beunruhigen.“

Ina sah sie schief an, nickte aber nach kurzem Zögern.

„Danke.“ Susan umarmte ihre Mutter.

Die beiden lösten sich voneinander und lächelten einander zu, bevor Susan auf dem Absatz kehrtmachte und in ihr Zimmer lief. Sie schloss die Türe hinter sich, ließ sich mit dem Rücken dagegen fallen und rutschte auf den Boden. Sie atmete tief durch, legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke.

Susan hasste es, ihre Mutter zu belügen. Es tat weh, ihr Vertrauen so zu missbrauchen.

Bisher hatte sie ihr tatsächlich immer alles anvertrauen können, wie damals die Sache mit Stefan. Oder die Dummheit mit dem Joint.

Aber Susan hatte das Gefühl, dass es diesmal besser sei, mit der Situation alleine umzugehen. Nur so könne diese Angelegenheit schnell aus der Welt geschafft werden.

Ein gedämpfter Benachrichtigungston drang aus der Handtasche.

Chris hatte geschrieben. „Hallo, mein Stern. Wie geht’s dir? Warst du noch in der Stadt? Miss u “

Susan lächelte. Sie war so froh, ihn zu haben. Wie gerne läge sie jetzt in seinem Arm. Ohne ein Wort. Allein seine Nähe hätte alles wieder gut gemacht.

Sie atmete durch. „Bei mir alles klar soweit. Ja, waren wir, aber nur kurz. Wie lange hast du noch über den Büchern gebrütet? “

Wozu ihn einweihen? Ihn damit verrückt machen und vom Lernen abhalten? Es war doch eigentlich alles glimpflich ausgegangen. Ja, im Grunde genommen ist ihr doch gar nichts passiert. Kein Anlass, irgendwen damit zu behelligen. Sie sollte damit einfach abschließen. – Fürs erste zumindest.

Susan legte das Handy beiseite und zog die zerrissenen Klamotten unter dem Bett hervor. Ihr Blick verharrte nur einen Moment lang auf ihrem Lieblingskleid, das sie mit ihrer Mutter in München gekauft hatte. Ein teures Stück Stoff. Sie erinnerte sich noch an Tinas strahlende Augen, als sie es zum ersten Mal ausführte. Oder an Chris’ schwärmendes Lächeln. In diesem Kleid hatte er sie zum ersten Mal geküsst. Doch nun war es getränkt mit Erinnerungen von ekligen Berührungen.

Das Kleid wanderte ohne Reue zusammen mit der Unterwäsche in eine Plastiktüte, in die sie auch die entleerte Handtasche steckte und in der Hausmülltonne unter zwei darin liegenden Müllsäcken entsorgte. Nichts sollte sie mehr an die vergangene Nacht erinnern. Sie wollte wirklich damit abschließen. Doch es fiel schwer – gerade wegen der Schmerzen. Die Striemen brannten sogar noch mehr, als Susan sie mit Feuchtigkeitscreme und etwas Make-up überdeckte.

Während ihre Mutter im Keller die Wäsche machte, holte sie rasch das Mittagessen nach. Kartoffelgratin, bestreut mit Röstzwiebeln und Lauch. Nicht ihr Lieblingsgericht, aber es gab nichts aus Mutters Küche, das ihr nicht schmeckte. – Ausser Gemüsesuppe. Das wäre noch der Abschuss für diesen schon brechwürdigen Tag gewesen.

Zurück in ihrem Zimmer, brachte sie mit einem schwarzen Stift den Wandkalender auf den aktuellen Stand und schaltete den Fernseher ein. Oft schaute Susan nicht fern. Dafür war das Programm meistens zu öde. Nur ein paar wenige Comedy-Serien waren zu gebrauchen. Und eine solche hatte sie nun auch nötig. Doch sich richtig auf die Sendung zu konzentrieren schaffte sie nicht.

Ihre Gedanken, wie auch ihre Augen, wanderten immer wieder an dem Bildschirm vorbei. Erst eine Laufschrift am unteren Bildrand zog ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Im Anschluss an das laufende Programm unterbrechen wir für eine Nachrichten-Sondersendung mit den neuesten Informationen zu den unerklärlichen Todesfällen von tausenden Menschen weltweit. Die nachfolgende Sendung verschiebt sich daher um wenige Minuten. Wir bitten um ihr Verständnis.“

Unerklärliche Todesfälle? Susan las keine Zeitung, außer gelegentlich mal den Lokalteil. Aber das hier hörte sich danach an, als würde die ganze Schule am Montag darüber reden. Und Herr Rosenberger würde sich diese Gelegenheit sicher nicht entgehen lassen, ein Referat in politischer Bildung in Auftrag zu geben.

Für tragische Nachrichten hatte sie im Moment allerdings gar nichts übrig. Und so wechselte sie den Kanal beim Einsetzen der Titelmelodie der Nachrichtensendung mehrere Male, doch offenbar wurde auf jedem Sender das Programm unterbrochen. Schließlich schaltete sie den Fernseher aus.

Sie saß nur wenige Sekunden tatenlos auf dem Bett, da wollte wieder etwas in ihre Gedanken kriechen.

Susan strich sich mit den Händen übers Gesicht und sah sich nach einer weiteren Ablenkung um. Im Regal über dem Schreibtisch befanden sich zwei gerahmte Bilder. Das erste zeigte sie mit Tina im Skilager in der 7. Klasse. Beide lachten sie in die Kamera, so unbeschwert noch.

Das andere Foto stammte von einem der Familienurlaube. Als ihre Großeltern väterlicherseits noch lebten, besuchten sie sie einmal im Jahr in Schottland und unternahmen Reisen über die ganze britische Insel. Auf dem Foto standen sie zusammen vor den Steinkreisen von Stonehenge. Das war der letzte Ausflug mit Oma und Opa. Susan war vielleicht 7 oder 8. Eine freche Göre die mit ihren zerzausten Löckchen und Zahnlücken da breit in die Kamera grinste, und mit der Opa Francis immer schimpfen musste.

Susan wischte sich eine Träne aus dem Auge. – Sie musste an die frische Luft.

Susan kleidete sich in ihre Sportklamotten, setzte die Ohrhörer ein, startete die Lauf-App auf dem Handy und verstaute es in der Hüfttasche der Laufhose. Sie verließ das Haus, und begab sich auf ihre Laufstrecke im nahe gelegenen Park, die sie ein- bis zweimal pro Woche absolvierte.

Als sie vor zwei Jahren mit dem Training begann, hatte sie sich regelmäßig dazu zwingen müssen. Sie mochte das Laufen im Schulsport nicht, das immer auf der Tartanbahn stattfand. Das ständige, eintönige im Kreis Laufen, nur auf Kurzstrecken und Leistung bedacht. Doch der Fitnessgedanke hatte sie angetrieben und Susan fand Gefallen an der Abwechslung von Schotter- und Teerwegen entlang grünem Gras und bunten Blumenbeeten oder im Schatten der Bäume.

Bei nahezu wolkenlosem Himmel versprach auch diese Tour einen zumindest vorübergehenden Tapetenwechsel. Der Blick auf die stets zahlreich bevölkerten Grünflächen würde sie bestimmt auf andere Gedanken zu bringen. Die Leute suchten Entspannung, indem sie sich auf einer Decke räkelten oder die Beine in den See hielten. Auch die im Halbschatten gelegenen breiten Gehwege waren üblicherweise von anderen Joggern überlaufen.

Aber heute war die gesamte Anlage fast wie ausgestorben. Die Wiesen waren leer. Nur vereinzelte Leute gingen mit dem Hund spazieren oder befanden sich auf ihrer eigenen Lauftour. Susan nahm es ratlos zur Kenntnis und die Gelegenheit wahr, um sich auf einer der leeren Bänke am Ufer des Sees niederzulassen. Der Muskelkater machte sich immer stärker bemerkbar. Mit Musik eines Electronic House Podcasts in den Ohren starrte sie auf das Wasser und verlor sich ungewollt in ihren Gedanken.

So sehr sie sich bemühte es zu verdrängen, die Erinnerungen holten sie immer wieder ein und vergifteten ihren Verstand erneut. Aber auch ihr Retter kam ihr in den Sinn. Was hatte es mit der maskierten Gestalt auf sich? – Sie hätte sich bei ihm bedanken sollen. Wäre er nicht gewesen …

Die Sonne färbte den Horizont orange.

„Mist!“ Susan musste sich beeilen, um vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein. Alleine würde sie sich so schnell nicht wieder durch die Nacht wagen. Sie erhob sich von der Bank, streckte sich und stockte. Sie war die einzige Person im Park.

Die Laternen an den Parkwegen flackerten auf. Die langen Schatten der Bäume verbreiteten eine gespenstische Stimmung, als würde in der Dunkelheit etwas lauern. Ein Schauer lief über Susans Rücken.

Sie begab sich sofort in einen schnellen Laufschritt und steigerte die Geschwindigkeit unwillkürlich. Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. Sie spurtete auf das Ende des Parks zu, als wollte sie vor etwas flüchten. Nur wusste sie nicht wovor.

Nicht mehr weit, bis sie die Schatten des Parks hinter sich lassen konnte. Susan konzentrierte sich, atmete gleichmäßig, beschleunigte noch einmal ihre Schritte – und blieb dann abrupt stehen.

Aus den dichten Büschen sprang eine dunkle Gestalt.

Susans Kehle krampfte. Ihre Augen wurden weit.

Mit gewaltigen Sätzen kam das zweibeinige Wesen auf Susan zu. Es erinnerte an ein Skelett mit pechschwarzer, grau schimmernder Haut, die sich über die Knochen spannte. Lange, silbrig glänzende Zähne prangten aus dem entstellten Gesicht.

Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, sah Susan lediglich zu, wie eine hagere Hand nach ihr ausholte.

Hinter dem Wesen blitzte etwas im dämmernden Abendhimmel auf. Ein in pinkfarbenem Licht strahlender Kristallsplitter schnellte, wie aus einer Pistole geschossen, auf die Kreatur zu, die nur noch wenige Meter von Susan entfernt war. Der Splitter durchschlug die Schulter und hinterließ ein winziges Loch, jedoch ohne eine Wirkung zu erzielen.

Das kleine Objekt flog weiter auf Susan zu und bohrte sich in ihre Stirn. Sie verlor augenblicklich das Bewusstsein. Anstatt den Kopf zu durchdringen, riss die Wucht Susan von den Beinen, sodass die Kreatur mit der Hand, die auf ihre Brust zielte, ins Leere griff. Susans Stirnwunde leuchtete hell, als sie mit der Kreatur über sich durch die Luft flog. Susans Augen stießen auf. Gänzlich weiß erfassten sie das Gegenüber mit einem stechenden Blick.

In ihrer rechten Hand erschien aus dem Nichts ein Schwert. Augenblicklich schwang sie die weißglühende Klinge mit einer Längsrolle ihres Körpers durch die Luft und zerteilte das Wesen in zwei Hälften. Das Strahlen auf der Stirn erstarb und die Augen fielen wieder zu. Susan schlug auf dem Boden auf, schlitterte über den Schotter und blieb regungslos liegen.

Kapitel 3 - Bestimmung

Bilder von prachtvollen Parkanlagen zuckten durch Susans Kopf. Ein riesiger Palast inmitten blühender Wiesen. Gärten mit bekannten, als auch völlig fremd anmutenden Pflanzen. Eine glich einer Orchidee, besaß aber verschiedenfarbige Blüten an einem einzelnen Stängel. Die goldenen fünfzackigen Blätter eines rosafarbenen Busches erinnerten an Seesterne auf einer Portion Zuckerwatte.

Susan fand sich auf einer der Blumenwiesen einer Gruppe Personen in weißen, im seichten Wind flatternden Kleidern gegenüber. Sie standen lachend in einem Kreis zusammen und bemerkten Susan nicht.

Sie machte einen Schritt auf die Gruppe zu. Dabei spürte sie das Aufsetzen ihres Fußes nicht. Er glitt ohne Widerstand durch das hohe Gras. So unwirklich war dieser Ort.

Das muss ein Traum sein, stellte Susan auch durch das Fehlen ihres Muskelkaters und der Striemen an den Handgelenken zweifelsfrei fest, doch sie fühlte sich hellwach.

„Verzeihung?“, fragte sie vorsichtig in Richtung der Gruppe.

Eine blonde Frau drehte sich zu ihr.

Susan erschrak. Sie konnte keine Gesichtszüge erkennen. Dort, wo das Gesicht sitzen sollte, war nur ein verschwommener Fleck. Es wirkte wie eine überbelichtete Fotografie.

Die Frau mit geflochtenem Haar trat aus dem Kreis heraus und schwebte auf Susan zu.

„Es freut mich, dich kennenzulernen, Susan. Mein Name ist Celes.“ Ihre Stimme klang verzerrt, aber freundlich.

„Kennen wir uns?“, entgegnete Susan unsicher.

„Mitnichten“, antwortete Celes. „Vielmehr sollte es unmöglich sein, dass wir uns jemals gegenüberstehen. Doch diese Situation ließ es nicht vermeiden. Ich musste dich zu meiner Nachfolgerin erklären. Es tut mir wirklich schrecklich leid.“

Susan verstand kein Wort. „Zu was hast du mich erklärt?“

„Nur durch die Verbindung mit meinem Lebenssplitter konntest du den Angriff der Kreatur überleben. Dass du allerdings bei dem Aufschlag das Bewusstsein verlierst, war nicht vorherzusehen. Glücklicherweise gelang es mir während der Dauer der Verschmelzung, die Gefahr für unser Leben zu beseitigen. Doch damit bist du nun eine Wächterin von Andalon.“

Susan konnte sich vage an ein Wesen erinnern, das auf sie zugestürmt kam. Doch spielte ihre Wahrnehmung ihr da keinen Streich?

„Hat dieser Titel irgendwas zu bedeuten? Und was meinst du mit unser Leben?“, fragte Susan.

„Es mag dir sicher ebenso unglaublich anmuten wie mir: In dir wohnt mehr als nur eine Seele. Ich wurde in deinem Körper wiedergeboren und begleite dich, seit dem Beginn deiner Existenz. Aber erst der Kristallsplitter, der in deinen Kopf eindrang, bildet eine Brücke zwischen uns.“

Susan runzelte die Stirn. „Tut mir leid, aber kann es sein, dass hier irgendeine Verwechslung vorliegt? Du redest so, als wär das alles ganz normal. Allein schon dieser Ort …“

Susans Blick schweifte über die Umgebung. Welch wundervoller Traum das sein hätte können, wäre nicht dieses absurde Gespräch.

„Was du hier siehst, ist meine Heimat – bevor sie von einem unbekannten Feind vernichtet wurde. Schreckliche Kreaturen, wie die eine, die uns eben nach dem Leben trachtete. Meine Gefährten und ich verfügten über große Macht – körperliche, wie auch magische. Dennoch gelang es uns nicht, die Menschen von Andalon vor der schieren Übermacht der Gegner zu schützen. Wir kämpften bis zum letzten Atemzug, um zu verhindern, dass sie auch in andere Länder einfallen. Doch nun sind sie zurückgekehrt und setzen ihr Vorhaben fort.“

„Moment. Das heißt, dieselben Dinger sind jetzt für die Todesfälle auf der ganzen Welt verantwortlich?“

„Daran besteht nun kein Zweifel mehr. Daher müssen wir dem Treiben ein rasches Ende setzen, bevor die Kreaturen ihre volle Kraft entfalten.“

„Wir? Du meinst damit …?“

„Uns beide“, ergänzte Celes. „Wir haben einen Weg zu finden, gemeinsam und dauerhaft über deinen Körper zu bestimmen.“

„Nein, tut mir leid“, winkte Susan energisch ab. „Ich habe schon genug Probleme. Halt mich da bitte raus.“

Celes’ Stimme wurde eindringlicher: „Das ist ein Umstand, der sich nicht verhandeln lässt. Du kannst dich damit abfinden und daran wachsen. Oder du sträubst dich und siehst zu, wie ein geliebter Mensch nach dem anderen vor deinen Augen sein Leben verliert, obwohl du es hättest verhindern können. Wenn du dich darauf einlässt, erhältst du unvergleichbare Macht und damit die Möglichkeit, gegen Alles und Jeden zu bestehen. Kein Mensch wird dir mehr auch nur ein Haar krümmen können.“

Susan blickte in das unscharfe Gesicht und versuchte zu erkennen, ob bei diesen Worten mehr zwischen den Zeilen zu lesen war. Wieso betonte sie ausgerechnet, dass sie von keinem Menschen mehr bedroht werden könnte? Bei dem, was sie angegriffen hatte, handelte es sich bestimmt nicht um einen Menschen.

Wusste Celes davon? Hatte sie miterlebt, was Susan in der Gasse zugestoßen war, hatte aber nichts unternehmen können?

Susan durchdrangen Bilder von dem schrecklichen Ereignis am Vorabend. Sie hatte sich so hilf- und kraftlos gefühlt. Sie wünschte sich, die Stärke gehabt zu haben, um diese Scheißkerle in tausend Fetzen zu reißen.

„Ich will stark sein“, sagte Susan leise mehr zu sich selbst und senkte den Blick.

Celes legte die Hand auf Susans Schulter. „Du wirst stark sein. Stark, um nicht nur dich selbst, sondern auch jeden zu beschützen, der dir lieb und wichtig ist.“

Die Hand zog sich zurück. Celes wich davon, ohne sich umzuwenden. Sie erreichte rückwärts schwebend ihre Freunde und reihte sich in die lachende Gemeinschaft ein, als hätte das Gespräch mit Susan nie stattgefunden.

Susan selbst entfernte sich immer weiter und schneller von den Leuten, der Wiese und dem Palast, als würde ihre Figur von einem Spielbrett genommen.

Susan blinzelte in ihr dunkles Zimmer. Ihr Atem ging tief und ruhig. Sie genoss die Stille, aber sie war sich unsicher, was sie von diesem Traum halten sollte.

Moment.

Was machte sie überhaupt im Bett? Draußen war es bereits stockdunkel. Wie um alles in der Welt war sie nach Hause gekommen?

Susan schaltete die Nachttischlampe ein, als der gedämpfte Ruf ihrer Mutter aus dem Erdgeschoss die Ruhe durchbrach: „Susi! Telefon! Chris ist dran!“

Susans Gesichtszüge versteinerten. Hass kochte in ihr auf. Sie sprang aus dem Bett, stürzte zur Zimmertür und riss diese fast aus den Angeln. Sie machte einen Satz zur Treppe, krallte sich mit beiden Händen in das Geländer, beugte sich über und brüllte mit vor Wut brennender Stimme nach unten: „NENN! MICH! NICHT! SUSI!“

Schnaubend stieg sie die Treppe hinab. Ina stand mit einem verstohlenen Schmunzeln im Türrahmen zur Küche, das schnurlose Telefon von sich gestreckt. Susan nahm es wortlos entgegen und warf ihrer Mutter mit zusammengepressten Lippen einen drohenden Blick zu, bevor sie sich wegdrehte und zurück Richtung Treppe ging.

Susan verzweifelte daran, immer wieder von ihrer Mutter mit diesem verhassten Kurznamen aufgezogen zu werden. Niemand in der ganzen Schule wagte es mehr, sie seit ihren Kindertagen so zu nennen. Manchmal dachte sie, in ihr eine jüngere, streitsüchtige Schwester zu haben, statt einer erwachsenen, fürsorglichen Mutter.

Als Susan das Telefon ans Ohr führte – die letzte Wut und Anspannung verdrängend, um mit einer sanften Stimme Chris zu begrüßen – vernahm sie ihre Mutter ein weiteres Mal. „Du hast da was an der Stirn, Susi!“

Susan explodierte innerlich. Sie konnte den Drang, sämtliche im Flur stehenden Schuhe auf die Küchentüre, hinter die sich ihre Mutter in Sicherheit brachte, zu feuern, gerade noch unterdrücken. Sie würde sich bei anderer Gelegenheit dafür revanchieren.

„Sorry. Der Akku muss wohl leer sein“, entschuldigte sie sich bei Chris, während sie ihr Handy mit einer Hand aus der Hüfttasche holte und auf die Seitentasten drückte. „Hast du schon lang versucht, mich zu erreichen?“

„Ach was, gar nicht“, schauspielerte Chris, was Susan lächeln ließ. „Sollten zwanzig Anrufe in Abwesenheit drauf sein, wenn du es wieder einschaltest, dann stimmt sicher was mit deinem Handy nicht.“

Susans Lächeln wurde noch breiter. Sie schloss die Zimmertüre hinter sich, ließ sich aufs Bett fallen und genoss die Stimme ihres Liebsten. Auch wenn er die Tage sehr viel über den Abi-Stoff redete.

Sie wischte sich über die Stirn und spürte etwas Raues.

Was zum … – Ist das …?

Susans Herzschlag stieg an. Sie erhob sich vom Bett und bewegte sich mit starren Augen auf den Wandspiegel zu. Den Hörer noch am Ohr erkannte sie getrocknetes Blut auf der Haut.

„Liebling“, unterbrach Susan Chris in flachem Ton. „Kann ich dich zurückrufen?“

„Ähm, klar. Bis gleich.“

Susan legte das Telefon auf dem Schreibtisch ab, ohne den Blick vom Spiegel zu nehmen. Sie betastete den bröckelnden Fleck.

„Offenbar hast du dich gut von der Vereinigung erholt“, drang eine Frauenstimme an Susans Ohr.

Susan fuhr herum und sah mit weit aufgerissenen Augen eine Person in einer schwarzen Kutte und Kapuze im Zimmer stehen. Sie schreckte einen Schritt zurück, worauf der Spiegel splitterte. „Wer bist du?!“ Susans Herz raste. „Was machst du in meinem Zimmer?!“

„Mein Name ist Iris“, stellte sich der Eindringling vor. „Um den Spiegel tut es mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken. – Susi ist der Name, habe ich gehört?“

Susan verzog die Augenbrauen. Ihr Atem ging schnell. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Dem beschädigten Spiegel widmete sie nur einen beiläufigen Blick und der Verwendung ihres verhassten Spitznamens schenkte sie keinerlei weitere Beachtung. Sie wollte davonrennen, doch ihre Beine gehorchten nicht. Auch nach ihren Eltern um Hilfe zu rufen vermochte sie nicht. Zu sehr steckte die Angst in ihren Gliedern. Wie eine Ohnmacht, die nur ihren Körper befiel.

„Entschuldige bitte. Aber das konnte ich mir nicht verkneifen“, sprach die Person mit einem schuldbewussten Lächeln, das im Licht der Nachttischlampe nur zu erahnen war. „Ich habe dich bewusstlos im Park gefunden und nach Hause gebracht.“

Der Druck der Fingernägel, die sich in Susans Handflächen bohrten, ließ etwas nach. Ich? Bewusstlos im Park?

Susans Augen wurden glasig. Die Bilder von dem dunklen Wesen, das auf sie zugestürmt war, kamen ihr erneut in den Sinn.

Sie konzentrierte sich wieder auf den Gast. „Was ist da im Park geschehen?“ Zweifelsohne musste ihr Gegenüber etwas damit zu tun haben. Das Auftreten und die Kleidung waren sicher kein Zufall. „Wozu diese Aufmachung?“

„Dir gefällt mein Kleidungsstil nicht?“, antwortete die Gestalt mehr mit Belustigung in der Stimme als Enttäuschung. Sie nahm die Hände an die Kapuze und zog sie gemächlich nach hinten ab.

Susan hielt den Atem an. Sie blickte auf eine hübsche Frau von etwa 30 Jahren mit einem schmalen Gesicht, der pechschwarze Haare auf die Schultern fielen.

Susans Glieder entspannten sich. Auch wenn die weite Kutte die Körperform weitestgehend verschleierte, wirkte die Frau alles andere als kräftig. Auch das verhaltene Lächeln strahlte keine Bedrohung aus, sondern mehr ein freundliches Bemühen.

„Das im Park zu erklären fällt mir selbst schwer. Ich beschäftige mich damit, seit ich dich aufgelesen habe. Ich hatte die Hoffnung, dass du mehr Licht in die Sache bringen könntest.“

Susan Augen wurden weit. „Ich? Du meinst, das Gespräch, während ich bewusstlos war? Das war kein Traum?“

Iris schüttelte den Kopf. „Ich bin mir nicht sicher, was du damit meinst. Aber auch mich haben die letzten Stunden mehr als überrascht.“

Susan atmete tief durch. „Woher weißt du überhaupt, wo ich wohne? Und warst du die ganze Zeit hier im Zimmer?“

„Nein, ich stand auf dem Balkon“, antwortete Iris, worauf Susan zur verschlossenen Balkontüre blickte.

Die Frau kam der nächsten Frage zuvor. „Ich habe mich hereinteleportiert. Versperrte Türen bereiten mir keine Mühe. So konnte ich dich auch unbemerkt ins Haus bringen. Und deinen Wohnort hat mir der aufgezeichnete Laufweg auf deinem Handy verraten.“

Susan zog eine Augenbraue nach oben. Teleportation? Sollte sie das ernst nehmen, was die Frau da von sich gab? Oder war diese Begegnung immer noch ein Traum?

Susan betrachtete die Gestalt vor sich eindringlicher. Iris stand immer noch am selben Fleck. Bis auf einzelne gemächliche Gesten ihrer in den langen Ärmeln verborgenen Arme rührte sie sich keinen Zentimeter. Für Susans Geschmack strahlte sie angesichts der Situation eine zu starke Ruhe aus. Sie machte einen unwirklichen Eindruck. Doch ihr ruhiges Auftreten schien auf Susan abzufärben. Sie trat nicht länger auf der Stelle. Der Fluchtgedanke hatte sich ausgedünnt. An dessen Stelle traten aber immer mehr Fragen, die drohten, Susans Kopf zum Zerplatzen zu bringen.

Sie schloss für einen Moment die Augen und nahm eine Hand an die rechte Schläfe. „Und was hast du mit der ganzen Sache zu tun?“

Iris blickte sie immer noch mit demselben Lächeln an. Es wirkte jedoch nicht aufgesetzt. Susan meinte aber auch, einen Hauch von Sorge in ihren Augen erkennen zu können.

„Ich folgte dem Kristallsplitter, den ich bis vor Kurzem hütete und der sich jetzt offenbar in deiner Stirn befindet. Ich fand dich bewusstlos vor. Neben zwei Leichenteilen, die sich zersetzten und in Rauch auflösten.“

„Leichenteile? Das Ding wurde getötet? Von wem?“

„Nun. Dieses Schwert, das sich ebenfalls bis vor wenigen Stunden in meiner Obhut befand, lag in deinen Händen.“ Iris zog die Waffe unter ihrer Kutte hervor. „Deshalb bin ich davon ausgegangen, dass du dafür verantwortlich bist. Etwa nicht?“

Susan betrachtete die glänzende Waffe. Die gerade Klinge war nicht breiter als zwei Finger und reichte Susan vom Boden bis über die Hüfte. Die Oberfläche schimmerte in einem weißen Glanz wie frisch poliert und wirkte scharf wie eben erst geschliffen. Dabei bestand die Klinge sicher nicht aus Metall. Sie war nahezu durchsichtig und erinnerte mehr an Glas oder Diamant. Der lange, für zwei Hände gefertigte Griff war filigran mit pinkfarbenen Verzierungen, goldenen Ornamenten und kunstvollen Fräsungen überzogen.

Susan riss ihren Blick von dem Schwert los und konfrontierte Iris mit einer Gegenfrage. „Sagt dir der Name Celes etwas?“

Iris’ Gesichtszüge froren für einen Moment ein. „Allerdings kenne ich diesen Namen. Celes war eine sehr enge Freundin.“

„Sie ist nicht mehr am Leben, nehme ich an?“, hakte Susan nach, bevor Iris eine eigene Frage formulieren konnte.

„Ja. Und das schon seit langer Zeit.“

„Die anderen auch?“

„Wenn ich annehmen darf, dass du mit den anderen die restlichen Wächter meinst, dann muss ich auch das bejahen. Bist du ihnen im Traum begegnet? Das Gespräch, das du erwähnt hast?“

Susan nickte zögerlich. Etwas an Iris erinnerte sie an ihre Grundschullehrerin Frau Göhring. Da war ein Glanz in ihren Augen, der sie vollkommen einnahm. Nichts schien wichtiger, als dieser Moment ihrer Unterhaltung, gleichberechtigt, alles andere ausgeblendet, vollem Bemühens um Verständnis. „Celes sprach davon, dass sie in meinem Körper wiedergeboren wurde und dass der Kristallsplitter eine Verbindung zwischen ihr und mir herstellt.“

Iris’ Mundwinkel zogen sich nach oben. „Das ergibt Sinn.“

Susan blickte prüfend auf ihren ungebetenen Gast und versuchte zu ergründen, ob sie sich über sie lustig machte. Doch dazu fand sie keinen Anhalt.

„Was hat sie noch gesagt?“

Susan atmete ein. „Dass Feinde, die sie damals bekämpften, auferstanden sind und dass wir sie daran hindern müssen, die Menschheit zu vernichten, oder so ähnlich.“

„Noch etwas?“

Susan blickte nachdenklich an die Decke. „Nein, da war glaub ich nicht mehr.“

Iris drehte sich zur Seite. „Celes und die anderen Wächter lebten vor mehreren tausend Jahren in einem Reich namens Andalon. Ihnen gelang es, die Invasion der Finsternis zu stoppen, indem sie deren Herrscherin in einen mächtigen Kristall versiegelten, doch bezahlten sie für den Sieg mit ihrem Leben. Ich glaube, dass die Feinde nun einen Weg gefunden haben, ihre Herrscherin zu befreien. Sie rauben dazu den Menschen ihre Seelen – oder nenn es Energie, ihre Lebenskraft.“

Susans Magen zog sich zusammen. Sie mochte nicht, in welche Richtung sich die Unterhaltung entwickelte. Im Traum hatte sie sich Celes entziehen können. Bei der Person in ihrem Zimmer war das nicht so einfach. Nicht dass Iris einen unglaubwürdigen Eindruck machte, trotz der Umstände und der befremdlichen Kleidung. Susan nahm gerne alles Gehörte als gegeben auf. Doch was bedeutete das für sie?

„Verstehe ich das richtig, dass ich allein verhindern soll, dass noch mehr Leute umgebracht werden?“

„Nun, eventuell nicht ganz allein. Da Celes in dir wiedergeboren wurde, besteht die Möglichkeit, dass das auch bei den anderen Wächtern der Fall ist. Diese gilt es aber erst einmal aufzuspüren. Zusammen habt ihr sicherlich gute Chancen, die Kreaturen auszulöschen.“

Susans Stirn legte sich in Falten. „Auslöschen? Was verstehst du bitte unter auslöschen?“

„Vernichten. Du musst sie töten.“

„Töten?!“, schrie Susan auf und schüttelte den Kopf. „Ich?! Jemanden töten?! Das ist doch ein Witz. Ich töte doch niemanden!“

„Anhand der Häufigkeit und Anzahl an Todesopfern, die bisher bekannt sind, vermute ich nur wenige hundert Wesen. Damals hatten es die Wächter mit einer erheblich größeren Streitmacht zu tun.“

„Hunderte?!“, fragte Susan entsetzt. „Versteh ich dich richtig? Du verlangst von mir, Massenmord zu begehen? Zusammen mit einer Handvoll anderer Freaks mit zwei Seelen im Körper? Das kann doch nicht dein Ernst sein. Das ist eine Sache für die Regierung, das Militär. Aber nicht für mich. Sollen die sich darum kümmern.“

„Susan. Die Kreaturen führen einen Guerilla-Krieg, von dem die Bevölkerung und die Politik bisher nur die zerstörerischen Folgen kennen. Und sollte es ihnen gelingen ihre Herrscherin zu befreien, haben wir eine offene Invasion zu erwarten.“

„Dann sag das alles doch der Polizei. – Und diese angebliche Invasion einer antiken Streitmacht … Denkst du nicht, dass die gegen unsere heutigen Möglichkeiten etwas alt aussehen?“

Iris blickte Susan mit zusammengekniffenen Augen an. „Du weigerst dich also, deiner Bestimmung zu folgen?“

Susan wollte die Frage sofort bejahen. Doch dann kamen ihr Celes’ Worte in den Sinn:

Stark, um nicht nur dich selbst, sondern auch jeden zu beschützen, der dir lieb und wichtig ist.

Kapitel 4 - Trainingsbeginn

Iris gelang es ohne Mühe, Susan davon zu überzeugen, Chris – nebst ihren Freunden und Eltern – besser nicht in diese Angelegenheit einzuweihen.

„Bin ich denn verrückt und sag ihm so was? Wenn ich es selbst kaum glauben kann, was hier geschieht, wieso sollte es Chris? Der würde mich sofort in die Wüste schicken oder gar in die Klapse.“

Eine fremde Rasse, die sich in Rauch auflöste, wenn sie starb? Menschen, die sich mit wiedergeborenen Seelen den Körper teilten?

Nein. Sie konnte nicht erwarten, dass er das ohne weiteres glaubte.

Susan aber ließ sich trotz jeden Zweifels darauf ein. Der Ausblick auf unsägliche Kraft und magische Fähigkeiten machte sie nicht nur neugierig. Sie sehnte sich nach mehr Unabhängigkeit, weniger Furcht und potentielle Bedrohung. Die letzten zwei Tage hatten ihr deutlich vor Augen geführt, dass diese Welt gefährlicher sein konnte, als gedacht.

Auch ihr Gewissen regte sich. Sollte sie die Möglichkeit haben, auch nur die am geringsten geschätzte Freundin vor einem dieser Wesen zu bewahren, ohne sie natürlich zu töten: Es wäre die Einlassung wert.

Und so begann der folgende Tag früh für Susan. Ihr Wecker läutete um sieben Uhr. Sie drehte ihren Kopf mit dünnen Augenschlitzen zum Nachttisch und betrachtete die blinkenden Zahlen für einen Moment, bevor sie den Alarm abstellte. Wie konnte ich dazu nur zustimmen? An einem Sonntag!

Susan blieb noch kurz liegen. Sie spielte die gestrigen Ereignisse nochmal im Kopf durch. Erneut kamen Zweifel auf, ob das vielleicht nur Einbildung war. Aber wozu hätte sie denn dann den Wecker gestellt? Sie wischte ihre Bedenken bei Seite, um der Motivation Platz zu machen. Schließlich setzte sie sich auf und schlurfte ins Badezimmer nebenan.

Vor dem Spiegel betastete Susan ihre Stirn, wo sich gestern noch das angetrocknete Blut befand. Keine Spur einer Narbe war zu erkennen. Auch kein Schmerz ging davon aus. Wozu ich wohl im Stande bin mit diesem Splitter im Kopf?

Susan hätte es gerne gestern noch ausprobiert, doch Iris hatte sie auf diesen Vormittag vertröstet. Sie wollte dazu etwas vorbereiten. Von eigenen Versuchen riet sie ab. Nicht dass sie aus Versehen das Haus abfackelte. Also irgendwas mit Feuer muss es zu tun haben.

Etwas Ernüchterung zog in Susans Wissensdurst. Dass sie mit ihren neuen Fähigkeiten auch Schaden anrichten konnte, hatte sie nicht bedacht.

Bevor Iris eintraf, wollte sich Susan noch Recherchen widmen. Mit der Zahnbürste im Mund schaltete sie den Fernseher ein. Auf dem erstbesten Nachrichtensender lief bereits ein passender Bericht mit der Einblendung Wiederholung.

Drei Herren saßen in Anzug und Krawatte nebeneinander an einem langen Tisch, der mit einer Masse verschiedenfarbiger Mikrofone bepflastert war. Den Namensschildern zufolge stellten sich der Leiter der Sonderkommission des Bundeskriminalamts, der Bundesinnenminister und der Präsident des Robert-Koch-Instituts einer Reporterschar. Sie berichteten vom Ermittlungsstand der seit vier Tagen andauernden Reihe weltweiter Todesfälle, der auch mehrere tausend Bundesbürger zum Opfer gefallen waren.

„Aufgrund des hohen Ausmaßes und der Ausbreitung über das gesamte Bundesgebiet übernahm das Bundeskriminalamt gestern Abend die zentralen Ermittlungen. Bisher lässt sich weiterhin keine Todesursache benennen. Zwar wurden bei allen Fällen ähnliche Hautverletzungen festgestellt, allerdings sind diese keinesfalls lebensbedrohlicher Art. Alle toxikologischen Untersuchungen verliefen bislang negativ, sodass wir momentan nicht von einer Epidemie ausgehen. Da es sich aber längst um ein globales Phänomen handelt, stehen wir mit der WHO und anderen nationalen Sicherheitsbehörden, wie der Seuchenschutzbehörde der USA in engem Kontakt.“

Eine Reporterin stellte eine Zwischenfrage: „Es wurde auch von Zeugenaussagen berichtet, die von seltsamen Gestalten sprechen, die für den Tod der Menschen verantwortlich sein sollen. Was können sie dazu sagen?“

Der Leiter der Sonderkommission entgegnete: „Ich versichere ihnen, dass jedem Hinweis höchste Aufmerksamkeit gewidmet und entsprechend nachgegangen wird. Die verhältnismäßig wenigen Beobachtungen, von denen sie sprechen, müssen allerdings besonders geprüft und bewertet werden. Zu deren Wahrheitsgehalt und Sachdienlichkeit können wir aber bisher keine Stellung nehmen. Tatsache ist jedoch, dass bislang kein einziger Todesverlauf einer Person beobachtet werden konnte. Es ist nur festzuhalten, dass einzelne Menschen oder kleine Gruppen ein schneller Tod ohne vorherige Ankündigung ereilte, und zwar überwiegend an öffentlichen, aber abgelegenen oder spärlich besuchten Orten.“

„Was empfehlen sie der Bevölkerung? Kann man sich davor schützen, selbst Opfer zu werden?“, fragte ein weiterer Reporter.

Der Bundesinnenminister entgegnete sichtlich ratlos: „Da bisher weder krankheitsbedingte, noch kriminelle Ursachen gänzlich auszuschließen sind, empfehlen wir ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit in allen täglichen Lebensbereichen, ohne jedoch in Panik zu verfallen. Hamsterkäufe zum Beispiel sind keinesfalls notwendig. Nehmen sie nur abgepackte Getränke zu sich und Kochen sie Leitungswasser vorsichtshalber ab. Alle Wasserwerke werden innerhalb der nächsten 48 Stunden einer Generalvisite unterzogen. Verzehren Sie landwirtschaftliche Produkte oder auch Selbstangebautes und Gesammeltes wie Pilze immer ausreichend gesäubert und gegart. Über den Fortschritt aller getroffenen Maßnahmen informiert das Bundesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit auf einer Internetsonderseite.

Vermeiden Sie darüber hinaus nach Anbruch der Dunkelheit den Aufenthalt an menschenleeren Orten. Bleiben Sie außerhalb der eigenen vier Wände möglichst immer in Gesellschaft größerer Gruppen, achten aber bitte auf einen Sicherheitsabstand zueinander. Bitte halten sie Türen und Fenster ständig verschlossen. Stellen sie Klimaanlagen insbesondere in Bürogebäuden ab. Auch eine teilweise Verseuchung der Atemluft wird aktuell untersucht. Außerdem wurde eine spezielle Rufnummer eingerichtet, bei der sämtliche sachdienliche Hinweise der Bevölkerung direkt vom Bundeskriminalamt aufgenommen werden. Aber auch die herkömmliche Notrufnummer 110 steht Ihnen zur Verfügung.“

Der Bericht endete und ein Live-Reporter vor den Toren des Bundeskanzleramts war zu sehen. Dieser konnte allerdings mit keinen neuen Informationen dienen und wiederholte nur die eben gehörten Aussagen.

Das erklärt wohl den menschenleeren Park gestern.

Hätte sie die Sendung gestern doch besser nicht abgeschaltet. Welchen Ärger sie sich damit erspart hätte – oder sich noch ersparen hätte können.

Pünktlich um acht Uhr stand Iris in Susans Zimmer. „Guten Morgen.“

Susan fiel fast vom Schreibtischstuhl.

Iris schmunzelte. „Ganz schön schreckhaft bist du.“

Susan fing sich und atmete tief durch. „Von Klopfen hast du wohl noch nie was gehört.“

„Ich hätte auch an der Haustüre klingeln können.“

„Damit hatte ich eigentlich gerechnet. Wie es jeder normale Mensch erwarten würde. Allerdings …“ Susan blickte auf Iris’ Outfit. „Läufst du immer in dieser schwarzen Kutte rum?“

Iris betrachte sich selbst im gesplitterten Spiegel an der Wand. „Gibt es daran etwas auszusetzen?“

Susan schaute sie schief an. „Hast du denn nichts Unauffälligeres auf Lager?“

„Grundsätzlich nicht. Aber ich kann mich ja mal umschauen. Aber jetzt zum Training. Frischen wir als Erstes den Umgang mit Elementarmagie auf. Gehen wir ins Badezimmer und widmen uns der Beherrschung von Wasser.“

Susan atmete entschlossen durch und führte Iris nach nebenan.

„Meine Eltern haben ihr Schlafzimmer und ein eigenes Bad im Erdgeschoss. Wir sollten also ungestört sein, sofern wir nicht zu laut sind.“

„Das sollte kein Problem sein“, beruhigte Iris und stellte den Wasserhahn der Badewanne an. „Fangen wir mit etwas Leichtem an. Forme einen einfachen Fächer.“

„Einen Fächer aus Wasser formen?“, fragte Susan. „Und wie genau?“

„Allein durch deine Gedanken. Keine Zaubersprüche, Beschwörungsformeln oder Zauberstäbe. Ganz allein deine Vorstellungskraft ist entscheidend.“

„O-Kay“, antwortete Susan unsicher. Weil mein Vorstellungsvermögen ja so groß ist.

Susan erinnerte sich an eine Serie um den Zauberer Merlin. Da wurde mit Sprüchen gezaubert. Nur die höchste Stufe der Zauberei, die nur wenige erreichten, kam ohne gesprochene Worte aus. Aber das half Susan hier leider nicht weiter.

Sie blickte auf den Wasserstrahl und konzentrierte sich. Sie stellte sich einen Fächer vor. Zunächst einen kleinen Handfächer, wie man ihn auf einem Jahrmarkt gewinnen konnte. Dann einen größeren, einen schönen aus der japanischen Museumsausstellung, die sie mit der Schule letztes Jahr besucht hatte. Aber Auswirkungen zeigte das nicht einmal im Ansatz. Susans Blick wurde starr. Ihr Körper verkrampfte sich. Aber auch nach Minuten tat sich nichts.

„Du musst dich mehr konzentrieren!“, kam es ungeduldig von der Seite.

Susan fuhr herum. „Ach was! Ich soll mich konzentrieren? Einen besseren Rat hast du nicht zu bieten?“

„Nun gut. Machen wir es einfacher. Versuch erstmal den Wasserstrahl umzulenken. Egal wie. Bring ihn aus der Bahn.“

Susan atmete tief durch und umgriff mit beiden Händen den Rand der Badewanne. Sie erinnerte sich an den Physikunterricht zurück, wie der Lehrer einen Stab an einem Tuch rieb und die statische Aufladung den Wasserstrahl umlenkte.