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Eine Einführung - kurz und prägnant Diese kompakte Einführung in die Waldorfpädagogik hat sich seit Jahrzehnten bewährt - nicht zuletzt deshalb, weil der erfahrene Autor sie immer wieder aktualisiert hat, um gesellschaftliche Entwicklungen aufzugreifen und die neueste Fachliteratur zu berücksichtigen. So auch bei dieser gründlich überarbeiteten, ganz auf den letzten Stand gebrachten Neuauflage.
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Seitenzahl: 114
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JOHANNES KIERSCH
Eine Einführung in die Pädagogik Rudolf Steiners
Verlag Freies Geistesleben
Vorwort
1. Waldorfschulen in veränderter Weltlage
1.1 Begrenzte Freiheitsrechte im Bildungswesen
1.2 Der Staat als Freund und Helfer – im Dienst schulfremder Interessen
1.3 Aufklärung heute
2. Lernen in der Waldorfschule
2.1 Klassische Themen des Waldorf-Lehrplans
2.2 Welches Bild des Menschen liegt zugrunde?
2.3 Vom Fühlen aus erziehen und lehren
2.4 Gesundheit fördern
2.5 Wie organisiert sich eine Waldorfschule?
3. Bedenken und Einwände
4. Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft
5. Wie geht es weiter?
Anmerkungen
Kommentiertes Literaturverzeichnis
Einführende Darstellungen / Anthroposophische Bewegung / Werke Rudolf Steiners / Rudolf Steiners Leben / Memoiren / Das philosophische Werk / Grundlegende anthroposophische Schriften / Esoterik / Das künstlerische Werk / Die Soziallehre / Pädagogische Anthropologie / Die Wesensgliederlehre / Die Temperamente / Die Dreigliederung des Seelenlebens / Die Sinneslehre / Medienpädagogik / Rudolf Steiners Lehrerkurse / Vorschulerziehung / Pädagogik des Schulalters / Lehrplanfragen / Zu einzelnen Unterrichtsgebieten / Heilpädagogik / Schulorganisation / Rechtsfragen / Lehrerbildung / Geschichte der Waldorfpädagogik / Wissenschaftliche Diskussion / Rassismus- und Antisemitismus-Vorwürfe
In den letzten Jahren hat sich die Waldorfpädagogik weiter kräftig ausgebreitet. Es gibt jetzt weltweit über tausend Schulen, fast zweitausend Kindergärten und zahlreiche heilpädagogische Institutionen, die nach den Ideen Rudolf Steiners arbeiten.1 Zugleich hat sich die bunte Landschaft der Publikationen darüber in kurzer Zeit wie noch nie zuvor erweitert. Das bewährte kommentierte Literaturverzeichnis im Anhang dieses Buches wurde dementsprechend auf den neuesten Stand gebracht. Ich danke Edwin Hübner für hilfreiche Ratschläge.
Die hier vorgelegte aktualisierte Neufassung richtet sich an interessierte Eltern, aber auch an eine immer noch überwiegend skeptische Welt pädagogischer Experten, an neugierige Studenten und nicht zuletzt an Journalisten, denen an einer seriösen Berichterstattung über das rätselhafte Phänomen des Steinerschen Lebenswerks und seine praktischen Auswirkungen gelegen ist. Die gegenwärtige Weltlage bedroht freie pädagogische Initiativen mehr denn je. Darüber ist nachzudenken.
Bochum, im März 2022 Johannes Kiersch
Die Pädagogik der Waldorfschulen wird gegenwärtig, auf sehr ungewöhnliche Weise, kontrovers beurteilt. Auf den ersten Blick wahrgenommen, scheint sie nicht viel mehr zu sein als eine marginale Variante der allgemein bekannten «Reformpädagogik», wie sie sich aus vielerlei Impulsen einer umfassenden Lebensreform-Bewegung zu Beginn des vorigen Jahrhunderts besonders in Deutschland entwickelt hat. Mag Rudolf Steiner auch unter die Pioniere der Koedukation, des Einheitsschul-Gedankens, des exemplarischen Lernens nach dem Prinzip des Epochen-Unterrichts zu rechnen sein, mag er das Lernen mit allen Sinnen, das Lernen durch Kunst und durch praktische Arbeit als einer der ersten gegen den Widerstand der Tradition vertreten haben – das alles findet sich ähnlich auch bei seinen pädagogischen Nachbarn, bei Hermann Lietz, Maria Montessori, Célestin Freinet, in der deutschen Kunsterziehungs- und Arbeitsschulbewegung, in den sozialistischen Hamburger Lebensgemeinschaftsschulen der Weimarer Republik. Gibt es darüber hinaus signifikante Besonderheiten in der Pädagogik Steiners und seiner Nachfolger? Wer dieser Frage nachgeht, trifft auf diffuse Bilder, Klischee-Vorstellungen («Waldorfschüler lernen ihren Namen tanzen», «Waldorfschüler dürfen nicht Fußball spielen», «Waldorfschulen sind gut für die Fußkranken unseres Bildungssystems»), allerlei Vorurteile und Missverständnisse. Wer bei der Erziehungswissenschaft anfragt, bemerkt erstaunliche Informationsdefizite, Diskursblockaden, emotional aufgeheizte Debatten. Das alles gab es schon länger. Aber es erscheint jetzt durch gewisse Veränderungen der allgemeinen Weltlage in neuem Licht. Wir beginnen deshalb mit einem Blick auf die veränderten Rahmenbedingungen, unter denen die Waldorfpädagogik heute zu arbeiten hat.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Deutschland durch eine grundlegende Verfassungsreform eine Neuordnung aller gesellschaftlichen Verhältnisse eingeleitet. Das Grundgesetz befreite das Wirtschaftsleben von staatlichen Zwängen, gab Raum frei für unternehmerische Initiativen und ermöglichte dadurch einen überraschend erfolgreichen Wiederaufbau – und es sicherte im Bereich des Rechtslebens zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands die Grundrechte. Für das Schul- und Bildungswesen hingegen gab es solche Freiheiten nicht. Die nach dem Zusammenbruch von 1945 allgemein akzeptierte Notwendigkeit, ein irregeleitetes Volk von Grund auf neu zu erziehen und mit den Idealen aufgeklärter Demokratie bekanntzumachen, schien ein freies Geistesleben für Lehrer und Kinder, jedenfalls zunächst, nicht zuzulassen. So blieb das zentralistische System staatlicher Schulverwaltung, das sich seit der Bismarck-Zeit in Deutschland etabliert und während der nationalsozialistischen ebenso wie in der bolschewistischen Diktatur der Ostblockstaaten als systemkonform erwiesen hatte, weiter bestehen.
Glücklicherweise gestand das Grundgesetz den Schulen in freier Trägerschaft eine Existenznische zu. Nach Artikel 7 Abs. 4 sind sie zu genehmigen, wenn sie «in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen». Aber zugleich wurden diese Schulen mit wirksamen Reizworten von vornherein diskriminiert. Sie waren «privat» und nur ein «Ersatz» für die «öffentlichen» Einrichtungen des Regelsystems. Die hieran gebundenen Landesgesetze und Verwaltungsvorschriften haben dieses klimabildende Vokabular bis heute beibehalten. Zwar konnten die Schulen in freier Trägerschaft ihre bescheidenen Freiräume seither in einem anhaltenden juristischen Kleinkrieg erweitern und sichern. Umfassende Freiheit für das Bildungswesen haben sie damit aber nicht erreicht. Damit ist völlig in Vergessenheit geraten, dass die gegenwärtig immer noch anhaltende Verfestigung des Staatsschulmonopols eine vorübergehende historische Erscheinung und keineswegs selbstverständlich oder gottgewollt oder gar notwendig ist.
Artikel 7 Abs. 4 GG: Das Recht zur Errichtung von privaten Schulen wird gewährleistet. Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist.
Noch zur Goethezeit, als das staatliche Prüfungswesen zunächst in sehr lockerer Form zum ersten Mal institutionalisiert und – damals aus guten Gründen – zentrale Schulverwaltungen eingerichtet wurden, war eine lebhafte Diskussion darüber im Gang, wo die Grenzen der staatlichen Schulaufsicht oder Schulverwaltung zu liegen hätten. Führende Denker wie Wilhelm v. Humboldt und sein Mitarbeiter J.W. Süwern, Herbart, Schleiermacher, der viel zu wenig bekannte Karl Mager, später vor allem F.W. Dörpfeld, traten für weitgehende Selbstverwaltung und lokale Autonomie im Bildungswesen ein und wollten die Zentralorgane des Staates auf vorübergehende subsidiäre Notmaßnahmen beschränkt sehen. «Freiheit des Lehrers, Lehrfreiheit, Selbstständigkeit von Schule und Lehrer, kollegiale Schulleitung, Verselbstständigung der Schule nach dem Vorbild der Rechtspflege, begrenzte Zuständigkeit des Staates in Fragen innerer Schulangelegenheit sind Gesichtspunkte, die immer wiederauftauchen.»2 Unvergleichlich mehr Zutrauen in die Initiativkraft und Verantwortungsfähigkeit der einzelnen Bürger und ihrer nach örtlichen Bedingungen differenzierten Gemeinschaftseinrichtungen war damals gegeben als heute.
Und auch noch nach den beiden Weltkriegen gab es produktive Debatten. Das Staatsmonopol im Bildungsleben wurde angezweifelt. Man begann zu sehen, wie stark das gegenwärtige System staatlicher Schulverwaltung von den Denkformen des Absolutismus und den daraus hervorgegangenen sozialtechnischen Gewohnheiten bestimmt ist und wie es damit den Prinzipien eines freiheitlichen Rechtsstaates gerade da widerstreitet, wo es sich aufgeklärt-pragmatisch versteht und aufführt.3 Eine Untersuchung über das akademische Ausbildungswesen in seinem Verhältnis zur Laufbahnordnung im öffentlichen Dienst kam zu der entschiedenen Forderung einer «Entflechtung von universitärer Bildung und höherem öffentlichem Dienst als automatischem, privilegierendem Berechtigungsverbund»4. Lehrfreiheit für jeden Lehrer, wie sie nach allgemeiner Rechtsauffassung noch bis zur Münchener Staatsrechtslehrertagung von 1927 bestand, wurde wieder neu gefordert. Der erste umfassende Versuch, das Recht Freier Schulen von der Verfassung statt von der Verwaltungstradition her zu begründen,5 erbrachte das weit über den engeren Kreis des Privatschulwesens hinaus interessante Nebenergebnis einer genaueren Eingrenzung der Eingriffsrechte staatlicher Verwaltung im Schulwesen überhaupt. Damit wurden Vorschläge für die Förderung von Selbstverantwortung und mehr persönlicher Teilhabe der Lehrer, Eltern und Schüler im öffentlichen Schulwesen, wie sie der Deutsche Bildungsrat und der Deutsche Juristentag vorgelegt haben,6 entschieden unterstützt.
Das Recht der Freien Schulen entwickelte sich durch die besonderen, oft auffallend absurden Zwänge, gegen die es sich durchsetzen musste, zum Diskussionsfeld einer neuen Liberalität im Bildungswesen. So kam Johann Peter Vogel in seiner Untersuchung über Verfassungswille und Verwaltungswirklichkeit im Privatschulrecht zu dem Ergebnis: «Das Schulwesen, durch 150 Jahre deutscher Geschichte staatlich bestimmte und im Wesentlichen mit der Gesellschaft im Einverständnis befindliche geschlossene Anstalt, befindet sich heute in einer Krise, die ihre Wurzel in einer Organisationsform hat, die sich trotz gesellschaftlichen und verfassungsrechtlichen Wandels kaum geändert hat. Das von den gesellschaftlichen Bedürfnissen, pädagogischen Ideen und ökonomischen Zwängen viel abhängigere, aber auch flexiblere Schulwesen in freier Trägerschaft und sein verfassungsrechtlicher Ansatz der Vielfalt in Gleichwertigkeit lässt das Privatschulrecht zu einem Pilotrecht für das allgemeine Schulrecht werden.»7 Sehr wahrscheinlich ist die erstaunlich lebhafte Debatte über Autonomiefragen im öffentlichen Schulwesen, die sich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts vorübergehend entwickelt hat,8 von all dem mit vorbereitet und beträchtlich gefördert worden.
Könnte es sein, dass die lebhaften Debatten um die Sicherung der Grundrechte in den Jahren 2021/22, gegen Ende der Corona-Krise, der verlorengegangenen Freiheit im Schul- und Bildungswesen neue Spielräume eröffnet haben? Es sieht nicht danach aus. Freiheit ist ohne ein gewisses Risiko, ohne eigene Verantwortung nicht zu haben.9 Die Angst davor verstärkt die in Deutschland ohnehin verbreitete Neigung, zentrale Regelungen durch die Organe des Staates für unentbehrlich zu halten. In jeder größeren deutschen Stadt symbolisiert ein Bismarck-Turm zuverlässige Standfestigkeit. Die Autorität des Staates scheint Sicherheit und Schutz vor Existenzgefährdungen jeder Art zu bieten, und nicht ungern werden auch die Wohltaten in Anspruch genommen, die solche Gefährdungen mildern, obwohl vielen Menschen nicht entgeht, welche problematische Rolle ein profitorientierter Lobbyismus in den Parlamenten und noch mehr bei so mancher Behörde dabei spielt, besonders deutlich im Gesundheitswesen und in der Landwirtschaft. Auch wurden die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der unvermeidlich erscheinenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens in den Jahren der Pandemie drastisch verschärft, durch – mit den besten Absichten – bewusst inszenierte Wellen der Erzeugung von Angst, die noch immer nachwirken.10
Beschleunigt wird die dadurch in Gang gesetzte Entwicklung durch die atemberaubenden Fortschritte in der Informationstechnologie, die in den letzten Jahren eine Welle der Digitalisierung aller Lebensvorgänge ausgelöst haben. Sie wird im Bereich des Bildungswesens von vielen Experten als hilfreich und notwendig enthusiastisch begrüßt, obwohl ihre Auswirkungen auf die Praxis des Lehrens und Lernens kaum erforscht und in gar keiner Weise wissenschaftlich gesichert sind. Wir kommen darauf zurück.
Bedenken und Zweifel gegenüber dieser Entwicklung gewinnen an Boden, sind aber weit davon entfernt, etwas daran zu ändern. Ein Symptom dafür ist das im ersten Jahr der Pandemie veröffentlichte programmatische Werk von Klaus Schwab, dem Begründer des Weltwirtschaftsforums, The Great Reset11, das den Leser mit einer geballten Ladung vollkommen widersprüchlicher Detailinformationen konfrontiert und alle damit verknüpften Meinungen freundlich gelten zu lassen scheint, zugleich aber mit entwaffnender Selbstverständlichkeit die Botschaft verkündet: Wir, die kompetenten Lenker der globalisierten Wirtschaft, überschauen, was in dieser dramatischen Lage vorgeht, wir wissen, was euch erwartet, und ermuntern euch, dabei mitzuspielen. Als geeignetes Werkzeug für die Installation einer glücklichen Zukunft betrachtet das wegweisende Buch die zunehmende Automatisierung aller Arbeitsvorgänge und vor allem eine umfassende Digitalisierung des Lebens. Auf die Freiheit jedes einzelnen Menschen kommt es dabei nicht mehr an. Den Schulen bleibt die Aufgabe, den Nachwuchs nach den Bedürfnissen der globalisierten Wirtschaft auszuformen, nach dem Ideal des homo oeconomicus einer überholten, aber immer noch maßgebenden Strömung der Volkswirtschaftslehre.12 Es besteht kein Anlass, eine Verschwörung dahinter zu vermuten, aber die inzwischen weltweit ausgebreitete Waldorfschulbewegung wird Wege finden müssen, darauf zu antworten.
Seit wenigen Jahren erleben wir eine drastische Einschränkung des Spielraums für die individuelle Ermittlung von Wahrheit. Kinder, die sprechen lernen wollen und einen aufmerksamen Partner dafür suchen, schauen ratlos auf Menschen, die sich mit ihrem Smartphone unterhalten. Wenn sie älter werden, verbringen sie selbst viele Stunden am Tag mit inhaltsleeren digitalen Botschaften. Das beschauliche Verarbeiten rätselhafter eigener Wahrnehmungen im Gespräch, das neugierige Fragen nach dem Warum und Wozu der Dinge findet nur noch ausnahmsweise statt. Damit ist gefährdet, was sich die zivilisierte Menschheit, zunächst in Europa, durch Jahrhunderte an geistiger Selbstständigkeit errungen hat: das Ideal der vernünftigen Aufklärung. Der Philosoph Immanuel Kant hat es in einen berühmten Satz gefasst: «Sapere aude! – Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!» Im 18. Jahrhundert war dieses Wort ein Weckruf. Inzwischen scheint es angesichts der Fülle moderner Informationsmöglichkeiten überflüssig zu sein. Wir werden durch die Medien von früh bis spät umfassend mit allem nur denkbaren Wissen versorgt. Dies Wissen aber – abgesehen davon, dass es nicht leicht ist, sich in der Fülle des Angebots zurechtzufinden – ist vorgeprägt. Es ist vom Denkkollektiv des wissenschaftlichen Mainstreams in einem keineswegs neutralen Denkstil einseitig strukturiert worden, gemäß dem besonderen Begriff von Wissenschaft, der sich seit Galileo Galilei, René Descartes und Francis Bacon im westlichen Europa entwickelt und dann weltweit ausgebreitet hat.13 Der Philosoph und Arzt Thomas Fuchs spricht von einem «szientistischen» Menschenbild und sieht diese einseitige Art des Denkens durch drei Merkmale charakterisiert: durch Naturalismus, das Zurückführen von Subjektivität, Geist und Bewusstsein auf rein physikalische bzw. physiologische Vorgänge; durch Eliminierung des Lebendigen, die Deutung von Organismen als biologische Maschinen; und Funktionalismus, das Zurückführen von Bewusstseinsphänomenen auf Prozesse neuronaler Informationsverarbeitung. «Träfen diese miteinander verknüpften Annahmen zu», schreibt er, «dann wäre der Mensch in Form neuronaler Prozesse, genetischer Algorithmen und digitalisierter Verhaltensmuster, kurz, als Summe seiner Daten weit besser zu erfassen als durch hermeneutisches Verstehen, Selbstreflexion und Selbstbesinnung. Das ‹Erkenne dich selbst› des Orakels von Delphi wäre überholt – die Google-Algorithmen kennten uns besser.»14
Es ist nicht ganz einfach, zu zeigen, inwiefern der Lehrplan und die Methoden der Waldorfschule die Errungenschaften des damit charakterisierten szientistischen Denkstils durchaus berücksichtigen, schon allein wegen der unvermeidlichen staatlichen Prüfungen, und wie sie zugleich entschieden davon abweichen. Verdeutlicht sei das hier zunächst mit einem Gedanken, den der Philosoph Ernst Cassirer 1929 im dritten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen formuliert hat. Er geht dort der Frage nach dem Ursprung des menschlichen Bewusstseins nach und gelangt zu dem Ergebnis, der Aufbau des Bewusstseins beginne mit dem Bilden von Beziehungen. Den gleichen Gedanken habe in seiner Allgemeinen Psychologie von 1912 Paul Natorp vertreten.15