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Ist Manuel schuldig? Klick! Die Handschellen schnappen zu, Manu wird aus dem Gerichtssaal geführt und seine Mutter ringt mit den Tränen. In einer Arrestzelle muss Manuel, 16, das Urteil des Richters abwarten. Dabei hat er doch gar nichts verbrochen. Er wollte nur einer coolen Gruppe angehören. Einmal nicht der Klassen-Loser sein. Wie konnte der Besuch im Stadion mit seinen neuen Freunden so schnell eskalieren? Manu fängt an, kritisch über seine Zeit bei den "Wölfen" nachzudenken. Randalierende Fans, zerbrochene Scheiben, ein Verletzter! Fritz Fassbinder entlarvt die Gefahren und Konsequenzen der Radikalisierung, während er gleichzeitig die menschliche Sehnsucht nach Veränderung und Freiheit hervorhebt. Die Wärme der Wölfe gibt einen spannenden und erschreckenden Einblick in die Szene rechtsradikaler Fußballfans und Hooligans und zeigt auf welche folgenschweren Auswirkungen sie auf das Leben der Jugendlichen haben kann.
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Seitenzahl: 175
Inhalt
Prolog
1. Kapitel – Die Frontlinie in …
2. Kapitel – Ich bin schon …
3. Kapitel – Das ist vielleicht …
4. Kapitel – Ich kenne die …
5. Kapitel – Ich halte mich …
6. Kapitel – In Svens Treppenhaus …
7. Kapitel – Ich versuche gleich, …
8. Kapitel – Ist das nicht …
9. Kapitel – Wäre heute ein …
10. Kapitel – Es gibt sie …
11. Kapitel – »Was ist denn …
12. Kapitel – Ich muss unbedingt …
13. Kapitel – Am liebsten wäre …
14. Kapitel – Was ist das …
15. Kapitel – Machs gut, Alter!, …
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PROLOG
Mam sitzt in der zweiten Reihe und kämpft mit den Tränen. Ich will ihr etwas zurufen, bringe aber keinen Ton heraus. Der Kloß im Hals lässt mich fast ersticken und mein Herz schlägt schon seit ich hier bin wie ein Presslufthammer.
»Abführen!«, hat der Richter gerade dem Mann in Polizeiuniform befohlen, der am Eingang steht. »Dann bekommen Sie schon mal einen Eindruck, was vielleicht auf Sie zukommt. Wir ziehen uns zur Beratung zurück.«
Sie legen mir Handschellen an. Meine Hände zittern. Der Schweiß auf meiner Stirn fühlt sich fast so kalt an wie das schwere Metall. Was hat er gesagt? Was vielleicht auf mich zukommt? Mir ist übel und in meinem Kopf geht’s zu wie auf einer Achterbahn.
Ich schiele zu Mam, traue mich aber nicht, ihr in die Augen zu sehen. Das Allerschlimmste ist passiert: Ihr Sohn wird in aller Öffentlichkeit abgeführt und eingesperrt. Sie sieht nicht gut aus. Ich seh’s ihr an, sie stirbt gerade tausend Tode. Und ich zweitausend.
»Keine Ahnung, wie das hier ausgeht«, höre ich Frau Fink, meine Verteidigerin, neben mir sagen. »Der Richter ist für seine eigenwilligen Urteile bekannt.«
Ich muss aufpassen, dass ich nicht stolpere. Meine Beine sind weich wie Butter, als mich der Uniformierte in die Arrestzelle des Amtsgerichts schiebt. »Handschellen bleiben dran, bis ich dich zur Urteilsverkündung wieder abhole«, sagt er noch. Das metallische Ratsch der zugestoßenen Zellentür lässt mich zusammenzucken.
Die Achterbahn nimmt wieder Fahrt auf. Ich halte mich an den Gitterstäben fest und sehe mich um: eine versiffte Pritsche in der Ecke und viele Schmierereien an der Wand. Es stinkt nach Pisse und in meinem Magen rumort es. In meinem Kopf auch. Eigenwillige Urteile …!?, kommt gerade hoch.
Ich wünschte, Mam wäre nicht mehr da, wenn der Richter das Urteil spricht, vor dem ich eine Scheißangst habe.
Drei Monate zuvor
1.
Die Frontlinie in unserem Klassenzimmer verlief in der Mitte. Vorne saßen die Mädchen mit den Schwächlingen, ganz hinten Kämpfer wie Hakim, Yassir oder Kemal und eine Reihe davor Kerle wie Mirko, Goran oder Vlado.
Die einzige Ausnahme im hinteren Bereich war Sven. Und das, obwohl er erst vor drei Monaten in die Klasse gekommen ist. Das muss man sich mal vorstellen, der Typ kommt am ersten Tag rein und setzt sich einfach auf Erkans Platz. Gut, Erkan braucht den Stuhl nicht mehr, er ist von der Schule geflogen. Aber das kann Sven nicht wissen. Das ist ungefähr so, als käme einer in die Wildnis und hätte die Wahl, zwischen hungrigen Löwen oder ängstlichen Antilopen Platz zu nehmen. Und Sven hat nicht einmal laut brüllen müssen, die Löwen haben offenbar auch so erkannt, dass er einer von ihnen ist.
Ich würde auch gerne im hinteren Bereich sitzen, hocke aber vorne in der zweiten Reihe bei den Antilopen. Von denen keiner einen Furz lassen kann, ohne dass es hinten bemerkt und kommentiert wird.
Caro sitzt drei Plätze neben mir. Leider. Ich hätte sie gerne vor mir im Blickfeld gehabt. So aber muss ich mir den Hals nach ihr verdrehen und anschließend noch die blöden Bemerkungen von hinten anhören. Nuri hockt auch noch dazwischen. Ich kann zwar einigermaßen über ihn hinwegsehen, weil er einen halben Kopf kleiner ist als ich, aber am liebsten hätte ich mit ihm getauscht. Da würde er vielleicht sogar mitmachen. Doch zum einen wäre so eine Aktion viel zu auffällig und zum anderen schielt er auch ganz gerne zu Caro rüber … wie fast jeder in der Klasse.
Ansonsten gibt es kaum jemand, zu dem man schielen könnte. Zu Lisa vielleicht noch, Caros Freundin, die neben ihr sitzt. Aber die war bis vor Kurzem noch vermint, weil sie einen festen Freund aus der Parallelklasse hatte. Was auch für jeden sichtbar auf ihrem Unterarm tätowiert war. Finn ist da vor zwei Wochen noch zu lesen gewesen, garniert mit einem roten Herz. Ist aber upgedatet worden. Jetzt steht Finnland an der Stelle und Lisa behauptet, dass sie dafür ihr Herz entdeckt hat, obwohl sie noch nie dort war. Wenn sie ehrlich wäre, hätte sie den Finn mit ist ein Arsch ergänzen müssen. Zumindest redet sie so in der Zwischenzeit über ihn.
Heute ist der einzige Tag in der Woche, an dem wir für zwei Schulstunden eine andere Sitzordnung haben. Der Fitzke lässt uns für den Geschichtsunterricht fast immer einen Stuhlkreis bauen, in dem er, wie ein Zirkusdirektor in der Manege, seine Reden schwingen kann. Da interessiert ihn auch das Gemaule nicht, weil wir vor und nach dem Unterricht Stühle und Bänke hin- und herschleppen müssen. »Etwas Bewegung schadet euch nicht«, meint er jedes Mal. Würde ihm bei seiner dicken Wampe zwar auch nicht schaden, aber ich habe kein Problem damit. Ganz im Gegenteil, ich versuche mich so zu platzieren, dass ich Caro gut sehen kann.
»Na, Manu, Caro wieder auf die Titten geglotzt«, tönt Kemal nach dem Fitzke-Unterricht plötzlich und grinst, während er mit mir einen Tisch in die hintere Ecke des Klassenzimmers trägt.
Spinnt der!? Was soll der Scheiß?
»Quatsch!« Ich sehe mich um und hoffe, dass Caro nicht in der Nähe ist.
Ist sie aber, verdammt. Sie steht keine zwei Meter neben mir, mit einem Stuhl in der Hand. Hat natürlich alles gehört und schaut ziemlich angepisst her. Hätte ich mich bloß gleich verdrückt!
»Gib’s doch zu!« Kemal schiebt mich mit dem Tisch an die Wand, dass ich mich nicht mehr regen kann.
»Spinnst du!? Und lass Caro aus dem Spiel!«
Ist aber klar, dass das nichts bringt. Und ich kann mir auch denken, warum. Gestern haben wir im Sportunterricht seit Langem wieder Fußball gespielt. Wird eigentlich kaum noch erlaubt, weil gefoult wird ohne Ende und es immer heiß hergeht. Da wird gekämpft wie im Krieg, keiner will verlieren. Jedenfalls ist Kemal, der’s nicht so hat mit dem Fußballspielen, von der gegnerischen Mannschaft ins Tor gestellt worden. Ich bin jetzt auch nicht gerade der Oberspitzenkicker, aber kurz vor Schluss, als es unentschieden stand, ist der Ball unverhofft zu mir gekommen und ich schaffte es irgendwie, die Kugel Richtung Tor abzufälschen. Nuri hatte den Fuß auch noch dran … und schon zischte der Ball durch Kemals Beine und landete hinter ihm in den Maschen. »Toll, durch die Hosenträger«, war noch der netteste Kommentar von seinen Mitspielern. Ich wollte anschließend sogar noch zu Kemal hin und ihm sagen, dass es einfach Glück oder vielmehr Pech gewesen war. Kam aber nicht mehr dazu, es ist unser Siegtreffer gewesen. Nuri und ich wurden gefeiert wie die Weltmeister, während Kemal von seinen Mitspielern nicht gerade gelobt wurde.
»Los, gib’s zu!« Kemal verstärkt den Druck, dass es wehtut.
Hat er einen an der Waffel, ich kann doch direkt neben Caro nicht zugeben, dass ich ihr auf die Titten geglotzt habe. Versuche, mich zu befreien, schaffe es aber nicht.
»Los, gib’s endlich zu!«
Verdammt, der lässt nicht locker und drückt mir die Tischplatte jetzt so fest gegen meine Oberschenkel, dass mir fast die Tränen kommen.
Der Fitzke ist schon weg und alle glotzen her. Keiner hilft mir, die meisten grinsen.
Aber wer soll mir hier schon helfen? Mein Freund Nuri, ein schmächtiger Libanese? Der gehört nicht unbedingt zum Superhelden-Kader. Er könnte höchstens meine Verletzungen versorgen. Nuri hat letzte Woche sein Schulpraktikum im Krankenhaus gemacht, weil er vielleicht Krankenpfleger werden will. Hätte er aber nicht erzählen sollen. Seitdem kommt jeder, der einen Kratzer hat, zu ihm angelatscht und verarscht ihn. Er würde mich aber heute ohnehin verbluten lassen oder sonst was – Nuri hat sich nämlich verpisst.
In dieser Klasse ist es wie im Dschungel, da gibt es keine Hilfe. Die Raubtiere, die hinten sitzen, brauchen keine, die helfen sich selber. Und die Vorderen sind halt die Opfer.
»Meinetwegen«, sage ich schließlich kleinlaut. Was soll ich machen? »Ich geb’s zu.«
»Geht doch!«, antwortet Kemal wie ein Polizeikommissar, der gerade das Geständnis eines Sexualverbrechers erzwungen hat. Dann lässt er los und ich kann endlich den Tisch von mir wegschieben.
Während ich mir die Oberschenkel reibe, sehe ich aus den Augenwinkeln, dass Caro immer noch ziemlich stinkig zu Kemal und mir herschaut. Ist ja auch kein Wunder, jetzt hat sich auch der Letzte aus der Klasse mit ihren Brüsten beschäftigt. Keine Ahnung, ob sie mehr wegen Kemal oder mehr wegen mir sauer ist.
Ja gut, ich habe ihr vorhin beim Fitzke schon mal auf den Pullover geschaut und mir auch ausgemalt, wie’s drunter aussieht. Bin aber garantiert nicht der Einzige gewesen. Wir haben zwar außer Caro und Lisa noch zwei weitere Mädchen in der Klasse, aber da gibt’s nicht viel zu sehen.
Doch da ist noch etwas anderes. Ich kann mir gut vorstellen, was Caro denkt. Das hat sie vor ein paar Tagen schon einmal angedeutet, als ich bei ihr abgeblitzt bin, nachdem ich sie gefragt habe, ob sie Lust hätte, mit mir ins Kino zu gehen. In den neusten Bad Boys. Ich weiß, dass sie auf Will Smith steht. Ich wäre ihr nicht bad genug, habe ich als Antwort bekommen. Caro hat dabei zwar gegrinst, war aber schon klar, was sie gemeint hat. Dass ich in der Klasse entweder hinten bei den Löwen sitzen muss oder mich zumindest nicht an die Wand drücken lassen darf.
Mir tun immer noch die Oberschenkel weh, und ich warte, bis endlich Lochi, unser Mathelehrer, der eigentlich Lochner heißt, zur letzten Unterrichtsstunde eintrifft.
Aber anstelle von Lochi kommt erst noch Nuri angelatscht, der von der ganzen Tischaktion nichts mitbekommen hat.
Löwe Kemal wird gleich unruhig, nimmt Witterung auf und hat ihn bereits im Visier.
»Da hat sich einer auf die Toilette abgeseilt«, blökt er in Richtung Nuri, als hätte er auf ihn gewartet. Sein Hunger auf Rache ist noch nicht gestillt. »Geh ich auch gleich hin. Willst du schon mal üben und mir den Arsch sauber machen?«
Es dauert etwas, bis alle kapiert haben, aber dann wird es still im Klassenzimmer. Ein paar grinsen. Nuri hätte Blödmännern wie Kemal nichts von seinem Praktikum erzählen sollen. Unsere Krankenschwester, heißt es seither.
Nuri zögert und weiß nicht, was er tun oder sagen soll. Er wird rot im Gesicht, die Augen schimmern bereits feucht und seine Lippen zittern. Kemal grinst … so wie schon vor ein paar Minuten bei mir.
Ich schaue noch einmal kurz zu Nuri und dann platzt es aus mir heraus: »Das übernehme ich«, höre ich mich zu Kemal sagen, »aber mit der Klobürste!«
Während die halbe Klasse lacht, wird mir heiß und kalt. Zwei, drei Löwen starren mich total erstaunt an. Hätten sie mir wahrscheinlich nicht zugetraut. Ich mir bis vor ein paar Minuten auch nicht. Weiß allerdings noch nicht, ob ich mich freuen soll, weil es mir vorkommt, als wäre gerade irgendetwas von mir abgefallen. Oder ob ich Schiss haben muss, dass mir Kemal nach der Stunde mit der Klobürste eins überzieht.
Zum Glück taucht Lochi in der Tür auf und macht sofort sein strenges Gesicht, damit wir schleunigst unsere Plätze einnehmen.
Während der Stunde geht mir alles noch hundertmal durch den Kopf, und ich versuche immer wieder, nach hinten zu schielen. Irgendwie habe ich das Gefühl, als hätte sich Kemals Blick wie ein Laserstrahl in meinen Rücken gebrannt. Nuri macht die ganze Zeit kaum eine Regung und schaut nur nach vorn.
Direkt nach dem Unterricht hängen ein paar Löwen noch grinsend bei Kemal rum. Kann mir schon denken, was da los ist. Da geht’s bestimmt um Caros Brüste oder um die Klobürste.
Gute Gelegenheit, sich sofort vom Acker zu machen. Nuri hat die gleiche Idee gehabt. Allerdings früher und schneller als ich, er ist schon weg.
In der Straßenbahn hole ich das Handy raus und schreibe: Kemal ist so ein Arschloch!
Aber Nuri antwortet nicht.
Als ich nach Hause komme, tut mir Nuri leid. Vielleicht meldet er sich noch. Denke aber eher nicht. Ich kenne ihn. Es gibt Dinge, über die er nicht gerne redet. Und was heute passiert ist, gehört definitiv dazu.
Und irgendwie fühle ich mich immer noch an die Wand gedrückt. Eigentlich habe ich mir bei Caro bis jetzt Chancen ausgerechnet. Wir wollen beide nach diesem neunten Schuljahr noch eins dranhängen, um die Mittlere Reife zu kriegen. Die meisten in der Klasse sind froh, wenn sie die Schule endlich hinter sich haben. Ich habe mich in der Zehnten schon neben Caro in der letzten Reihe sitzen sehen. Aber nach dem Desaster heute habe ich es bestimmt endgültig bei ihr verkackt.
Mam ist beim Arbeiten. Gute Gelegenheit, mal wieder eine Runde Doom zu spielen. Das muss jetzt sein.
Was war das? Die Wohnungstür? Mam!? Wie lange spiele ich schon?
»MANUEL!«
Verdammt, sie steht bereits in der Zimmertür. Schnell den Ton aus.
»Du kannst froh sein, dass sich oben die Schneiders noch nicht beschwert haben«, sagt sie jetzt zwar wieder in normaler Lautstärke, aber ziemlich gereizt. »Sonst hätten wir schon wieder Ärger an der Backe.«
Nein, nicht schon wieder. Ich weiß, was jetzt kommt.
»Da ist niemand da. Kein Stress«, sage ich und muss erst einmal durchschnaufen. Ist ein harter Fight gewesen.
»Die haben schon einmal die Polizei gerufen.«
»Weiß ich!« Wie oft reibt sie mir das noch unter die Nase?
»Dann weißt du auch, dass ich keine Lust habe, wegen diesem doofen Geballer …«
»War doch nicht meine Schuld«, falle ich ihr ins Wort. Ich kann’s echt nicht mehr hören. »Wenn die Schneiders so blöd sind und das nicht von echten Schüssen unterscheiden können.«
»Seither denkt das halbe Haus, du hättest Ärger mit der Polizei.«
»Denken sie nicht. Weil du das jedem schon hundert Mal erklärt hast.«
Für Mam gibt es nichts Schlimmeres als Probleme mit der Polizei. Sie würde einen Blutsturz kriegen, wenn die Bullen noch einmal hier auftauchten. Und wenn’s nur wegen eines kaputten Rücklichts an meinem Fahrrad oder so was wäre.
Da ist Paps total anders. Leider ist er kurz vor der Polizei-Aktion ausgezogen. Der hätte keine Angst vor den Schneiders gehabt. Paps hat vor niemand Angst. Er wäre anstelle von Mam hochgegangen, hätte sich aber nicht ewig entschuldigt, sondern erst einmal die Schneiders zurechtgestutzt.
Ich nehme mir vor, ihn bald wieder zu besuchen, und ärgere mich, dass ich sein Angebot, jederzeit zu kommen, erst zwei Mal angenommen habe. »Werde bloß nicht so wie deine Mutter«, hat er gemeint, als ich ihm erzählt habe, wie Mam vor den Schneiders kuscht.
Seither sind einige Wochen vergangen und ich merke, wie Paps fehlt. Weil ich langsam wirklich wie meine Mutter werde. Nein, weil ich immer schon wie Mam bin und jetzt gar keine Chance mehr habe, wie Paps zu werden. Er ist ja nicht mehr da.
Dabei weiß ich nicht mal richtig, warum sich die beiden getrennt haben. Klar haben sie immer wieder mal Streit gehabt. Manchmal frage ich mich, wieso die zwei überhaupt zusammengekommen sind, so unterschiedlich, wie die sind. Mam ist der totale Schisser und Paps genau das Gegenteil. Hat ihm allerdings auch schon das eine oder andere Mal ziemlichen Ärger eingebracht.
Vielleicht haben sie anfangs gedacht, das wäre eine gute Kombination. Ist es ja eigentlich auch.
Einmal habe ich gehört, wie Mam zu Paps gesagt hat: »Manu wird noch wie du!«
Da hätte ich mich am liebsten eingemischt und geantwortet: Hoffentlich!
2.
Ich bin schon wach, als Mam zum Wecken kommt. Die halbe Nacht habe ich mich hin und her gewälzt und ich überlege gerade, ob ich heute in die Schule gehen oder krank zu Hause bleiben soll.
Ja okay … so richtig krank bin ich nicht. Aber gut geht’s mir auch nicht wirklich. So ein öffentliches Auf-die-Titten-geglotzt-Geständnis vor der ganzen Klasse kann einen Tag später schon noch einmal aufgewärmt und zum Thema werden. Wäre extrem peinlich, und das will ich mir und vor allem Caro ersparen, der ich heute nicht unbedingt begegnen muss. Und Nuri ist es bestimmt auch lieber, wenn die Klobürsten-Aktion nicht noch einmal ausgegraben wird.
Ich werde heute nicht in die Schule gehen, beschließe ich, als ich in die Küche latsche.
Mam sitzt an unserem alten Holztisch, trinkt ihren Kaffee und blättert in einer Zeitschrift. Sieht ziemlich entspannt aus. Da ist es kein Problem, eine Entschuldigung zu bekommen. Ich werde erst einmal nichts frühstücken, das ist schon mal eine gute Basis. Magen/Darm funktioniert immer. Ich muss nur innerhalb kurzer Zeit zwei, drei Mal auf dem Klo hocken und etwas rumstöhnen. Am Schluss gibt’s noch die übliche Belehrung, nicht so viel Döner oder Ähnliches zu futtern, aber dann ist die Sache mit dem Daheimbleiben geritzt.
Und anschließend ist Wochenende und hoffentlich Gras über die Sache gewachsen.
Und so ist es dann auch. Ich weiß zwar noch nicht, wie hoch und wie dicht das Gras ist, aber heute gibt es wie jeden Montag erst einmal nur ein Gesprächsthema in der Klasse: der FC! Die Löwen hängen in einer Ecke und reden lautstark über den FC, der am Samstag haushoch verloren hat. Und diese Niederlage ist tausendmal wichtiger als meine. Zumindest wenn bei mir keine weitere dazukommt. Und für Nuri gilt im Prinzip das Gleiche. Doch wir müssen wachsam sein. Kemal steht zwar auch dabei, aber dem geht Fußball am Arsch vorbei. Und das macht ihn gefährlich.
»Alles klar?«, frage ich, als Nuri angeschlurft kommt. Scheint aber noch nicht ganz wach zu sein. Er hat sich die ganzen Tage nicht gemeldet. »Warst du am Wochenende bei deiner Verwandtschaft?«
Nuri hat mir mal von einem Cousin seiner Mutter erzählt, den sie hin und wieder besuchen und der irgendeinen Laden betreibt.
»Ich glaube, ich lass es«, antwortet Nuri nach einer gefühlten Ewigkeit.
»Was? Den Cousin deiner Mutter zu besuchen?«
»Nein, den Krankenpfleger.«
»Echt jetzt!?« Ich bin total überrascht … und finde es total scheiße, wenn er das wegen Kemal hinschmeißen würde. Allerdings habe ich mich auch schon gefragt, ob so eine Krankenpfleger-Ausbildung eine besonders gute Idee ist. Für mich wär’s nichts.
»Wegen Kemal?«
»Keine Ahnung …«
»Was machst du stattdessen?«
»Ich könnte beim Cousin meiner Mutter arbeiten.«
»Und was?«
»Irgendwas mit Import/Export.«
Import/Export, ist das ein richtiger Beruf, frage ich mich zwar, lasse es dann aber gut sein, ich kenne den Laden ja nicht. »Das kannst du dir ja noch überlegen.«
In den nächsten Tagen ist die Sache auch kein großes Thema mehr. Zumal Kemal und die anderen Löwen Nuri in Ruhe lassen.
Auch beim Auflösen von Fitzkes Stuhlkreis, bei dem ich mich dieses Mal zurückhalten will, sieht es ziemlich entspannt aus. Kemal schleicht zwar um einen Tisch herum, er scheint aber keine Lust auf irgendwelche blöden Spielchen zu haben. Ich bin fast schon dabei, mich in die Pause zu verdrücken, als ich hinter mir »Los, fass an!« höre.
Die Stimme kenne ich doch. Und weil sich das gar nicht so schlecht anhört, drehe ich mich um.
Hat sie mich gemeint?
Hat sie! Caro schaut tatsächlich zu mir. Ihre linke Hand ist bereits an der Tischkante und mit der rechten deutet sie aufs andere Ende. Gilt eindeutig mir. Ich sehe mich schnell um. Alle sind irgendwie beschäftigt, keine Gefahr also, sich wieder einen blöden Kommentar einzuhandeln.
»Jetzt mach schon! Und keine Angst, ich drücke dich nicht gegen die Wand«, setzt Caro nach und grinst.
»Warum hast du dich nicht gewehrt?«, fragt sie, während wir den Tisch an seinen alten Platz tragen. Mist, ich habe gedacht, die Sache wäre längst vergessen. Was hätte ich denn tun sollen? »Du hättest es wenigstens versuchen können«, kommt dann gleich hinterher, als könnte sie Gedanken lesen.
»Es ging zu schnell«, versuche ich, mich zu verteidigen. »Als Kemal mich an der Wand hatte, war’s zu spät.«
Ist ja auch so gewesen. Zumindest fast. Dass ich tatsächlich noch etwas anderes im Kopf hatte, nämlich Caro, und deshalb vielleicht zu spät reagiert habe, erzähle ich lieber nicht.
»Kemal ist so ein Blödmann!«, sagt Caro jetzt.
Da hat sie recht, dem fallen nur solche bekackten Aktionen ein.
»Ich fand’s aber toll, dass du gesagt hast, er solle mich aus dem Spiel lassen.«
Und ich find’s toll, dass sie das jetzt erwähnt. Und weil das gerade alles so toll ist, werde ich gleich todesmutig: »Ich geh heute noch ins Kino«, sage ich. Bad Boys läuft den letzten Tag.« Stimmt tatsächlich, und ich hätte es nie im Leben erwähnt, wenn das gerade nicht so gut laufen würde.
»Ich weiß«, antwortet Caro. Und es sieht aus, als würde sie gerade darüber nachdenken. Mir wird gleich ganz warm. »Sollte ich mir eigentlich nicht entgehen lassen«, sagt sie dann. »Vielleicht können wir uns ja etwas abschauen.«
Ist klar, was sie meint, auch wenn das wir eher an mich geht. Ist mir aber egal.