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Von der Fehldiagnose bis zur Therapie: Wie man trotz ständiger Rückenschmerzen und einem Dutzend anderer altersbedingter Verfallserscheinungen das Lachen nicht verlernt! »Hat der Orthopäde keine Zeit, geh ich zum Urologen. Oder Proktologen. Egal, helfen tut eh nix und niemand, am Ende gewinnt immer die Bandscheibe.« Jetzt kann John Doyle endlich mitreden, wenn es um körperliche Beschwerden geht. Denn er hat jetzt auch »Rücken«, genauer: »Bandscheibe«. Mit viel (Galgen-) Humor erzählt er von seinem Leidensweg, den er mit Millionen von Deutschen teilt: Von der Fehldiagnose (»Was? Das ist ein Tumor?«) über Akupunktursitzungen bis hin zum Handauflegen. John Doyle will seine Rückenschmerzen endlich wieder loswerden – koste es, was es wolle!
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Seitenzahl: 297
John Doyle
Die Welt ist eine Bandscheibe
FISCHER E-Books
Klar weiß ich, dass die Welt keine Scheibe ist. Die Welt, also unsere Erde, ist eine Kugel, eine wahnsinnig träge Kugel. Sie braucht einen ganzen Tag, um sich einmal um sich selbst zu drehen. Selbst mit kaputter Bandscheibe und einem Dutzend anderer Beeinträchtigungen bin ich schneller.
Also, die Welt ist eine Kugel. Keine Scheibe.
Aber es gibt nicht nur diese eine Welt. Es gibt auch meine Welt, die John-Doyle-Welt. Und die ist eine Scheibe, eine platte Scheibe. Eine Bandscheibe eben. Dabei wusste ich vor drei Jahren noch nicht einmal, dass ich so etwas besitze, geschweige denn, dass sie Schmerzen verursachen darf. Heute ist meine Bandscheibe und alles, was sich sonst in meinem Körper an Beschwerden versteckt – und bei mir ist verdammt viel Platz, um etwas zu verstecken –, meine Welt geworden.
Meine Bandscheibe und ihre knochigen, nervigen und muskulären Freunde haben mich zum professionellen Patienten gemacht. Inzwischen weiß ich, dass es nicht nur Allgemeinmediziner und Zahnärzte gibt, nein, es gibt unfassbar viele verschiedene Ärzte – für jede Körperregion einen. So wie es nicht nur den 911er und den Carrera gibt, nein, Porsche stellt Dutzende verschiedene Modelle her, bis hin zum Viertürer für meinen Orthopäden. Abgesehen von meinem ganz jungen Knochendoktor. Der fährt Boxter, aber er steht ja auch erst am Anfang seiner Karriere.
Aber das ist nur ein Aspekt der neuen John-Doyle-Welt. Seit ich in so engem Kontakt mit meiner Bandscheibe stehe, hat sich mein Leben in jeder Hinsicht verändert. Zum Beispiel habe ich jetzt viel mehr deutsche Freunde. In der Vor-Bandscheiben-Zeit wurde ich immer nur als Ami wahrgenommen:
»Also, John, durch das G8er-Abitur ist meine Tochter nur noch gestresst. Was sagst du als Amerikaner dazu?«
»Die Griechen machen den Euro kaputt. Was sagst du als Amerikaner dazu?«
»John, der Liter Sprit wird von Tag zu Tag teurer. Was sagst du als Amerikaner dazu?«
Ja, was sage ich dazu? Ich weiß genau, was ich als John ohne nationalen Bezug dazu sagen würde:
»Scheiße!«
»Scheiße!«
»Scheiße!«
Aber von mir – als Amerikaner – erwartet man andere Antworten. Man erwartet eine amerikanische Sicht auf die Dinge. Sozusagen die Welt aus der Sicht eines waffentragenden und burgermampfenden Geographie-Legasthenikers:
»Hä? Schule?«
»Einmarschieren!«
»Wir haben keine Liter, wir haben Gallonen!«
Jetzt aber, mit Bandscheiben- und verwandten Schmerzen, habe ich ein Thema, bei dem ich endlich mitreden kann. Denn Schmerzen sind etwas Globales; da fallen alle nationalen Schranken. Gegen die Bandscheibe hilft kein Einmarschieren, kein Handelsembargo und auch keine Predator-Drohne; der Bandscheibe ist es nämlich egal, ob sie über einem deutschen, amerikanischen oder kanadischen Arsch sitzt (Obwohl? Beim kanadischen bin ich mir nicht so sicher …). Wie gesagt, jetzt red ich mit.
»Hi, John, wie geht’s dir?«
»Nicht so gut, meine Bandscheibe … und der Schmerz strahlt voll in den Nacken!«
»Wem sagst du das? Heute Morgen bin ich kaum aus dem Bett gekommen … Kennst du das? Das Gefühl, als ob dir einer mit einer Nadel voll in den zweiten Lendenwirbel sticht?«
»Aua, ja, das kenn ich, das kenn ich gut! Gestern ist mir der zweite Wirbel glatt rausgesprungen. Musste sofort zum Chiropraktiker.«
»Oh! Echt? Zu welchem kriechst du denn?«
»Gestern war ich in einer Praxis am Rhein. Heute weiß ich noch nicht. Mal schauen, was weh tut.«
Ja, ich bin perfekt im Schmerzenhaben. Deshalb suchen meine neuen deutschen Freunde stets meine Nähe. Ich kenne jeden Schmerz. Ich will hier ja nicht angeben, aber tatsächlich bin ich der König der Schmerzen, der Meister aller altersbedingten Verfallserscheinungen! Ich bin John Doyle, der PATIENT unter den Patienten! Selbst meine Bandscheibe redet mit mir.
»Hallo, John, schon wach? Wie wäre es mit einem kleinen Spielchen? Du versuchst aufzustehen, und ich hau dir voll eine rein!«
Das tut sie dann auch, die Bandscheibe. Und meine Frau sagt: »Steh endlich auf, John, stell dich nicht so an!«
Und ich sage: »Ich kann nicht, es tut so höllisch weh!«
Und die Arzthelferin am Telefon sagt: »Wenn es sehr weh tut, dann kommen Sie in drei Wochen vorbei.«
Und mein Sohn sagt: »Ich krieg noch Taschengeld!«
Und dann gehe ich zum Arzt. Aber weil der Orthopäde keine Zeit hat, gehe ich zum Urologen. Oder zum Proktologen. Oder zum Gefäßchirurgen. Egal, helfen tut eh nichts. Am Ende gewinnt immer die Bandscheibe.
Denn die ist die Welt.
Als ich das erste Mal mit dem Begriff »Bandscheibe« konfrontiert wurde, dachte ich das, was Amerikaner in solchen Situationen immer zuerst denken: What the fuck is a ›Bandscheibe‹? Ich weiß, was eine »Band« (Lautschrift: BÄND) ist, und ich kenne »Scheiben«. Aber was ist eine »Bändscheibe«?
Anfangs dachte ich, das hätte was mit Musik zu tun. Band gleich Musikgruppe, Scheibe gleich Platte oder CD. Und offensichtlich hatten die Deutschen eine Kombination aus beidem erfunden. Die ›Bändscheibe‹ – ein spezieller Tonträger nur für Musikgruppen.
Aber nein, Bandscheibe ist etwas im Körper, auch in meinem amerikanischen Body.
Die Deutschen kennen sich natürlich mit so etwas aus, so wie meine Comedy-Kollegen etwa: »Weißt du, was eine Bandscheibe ist?«, frage ich, und alle antworten: »Ja klar, wer nicht?«
Dann traue ich mich nicht weiterzufragen. Wenn ich mich mit Taxifahrern unterhalte, wissen auch sie Bescheid. Oder ich frage einen dreijährigen Jungen auf dem Spielplatz:
»Na, Kleiner, magst du Schokolade?«
Nein, das frage ich natürlich nicht, vielmehr frage ich: »Na, junger Mann, weißt du denn schon, was eine Bandscheibe ist?«, und er antwortet wie aus der ›Bushmaster‹ geschossen: »Ja, klar, du nicht, Onkel?«
Und dann erklärt mir der Zwerg, dass der Mensch 23 Bandscheiben hat, als Scharnier für die 24 Wirbel …
Es würde mich nicht überraschen, wenn das Wort »Bandscheibe« das erste Wort wäre, das deutsche Kleinkinder vor sich hinplappern. Nicht »Mama«, nicht »Papa« oder »Klimakatastrophe«, sondern »Bandscheibe«.
»Hör mal, Schatz! Ich glaube, unser kleiner Hendrik-Markus hat gerade etwas gesagt. Wahnsinn! Sein erstes Wort. Aber ich habe es nicht genau verstanden. Verstehst du, was er da sagt?«
»Ich glaube, er hat ›Bandscheibe‹ gesagt.«
»Bandscheibe? Wie toll!«
Dicke Ami-Kids sagen so etwas nicht. Ihr erstes Wort ist nicht Bandscheibe, sie sagen ganz normale Sachen. So etwas wie »Mom«, »Dad«, »Wii« oder »X-Box«.
Es gibt mindestens zwei Gründe, warum viele Deutsche so ein riesiges Allgemeinwissen haben, warum sie immer auf dem neuesten Wissensstand sind:
Sie schauen »Die Sendung mit der Maus«.
Menschen wie Dr. med. Eckart von Hirschhausen, die die Nagetiersendungen ins Abendprogramm transferieren.
So etwas gibt es in Amerika nicht. Da gibt es »SpongeBob« und die »Oprah Winfrey Show«. Ami-Kids und das, was aus ihnen später mal wird, kennen sich mit der Unterwasserwelt minderbemittelter Schwämme aus und wissen – Oprah sei Dank –, wer in Amerika arm ist, wer unschuldig angeschossen wurde und deshalb bald ein neues Haus bekommen wird. Während das durchschnittliche amerikanische Kind bei »SpongeBob« sieht, wie ein Schwamm und eine Garnele Fastfood fressen, erklärt »Die Sendung mit der Maus« dem deutschen Kind, wie ein Kühlschrank mittels FCKW gesundes Essen frisch hält. Oder eben auch, wie eine Bandscheibe funktioniert. Sollte das deutsche Kind es über die Jahre vergessen haben, dann kommt eben 30 Jahre später Dr. Eckart und erklärt es noch einmal. Und alle freuen sich, dass sie ihr Wissen über die Funktion der Bandscheibe wieder auffrischen können.
Jedes Mal, wenn ich die »Sendung mit der Maus« sehe – und das tue ich zur Förderung meiner Integration ständig –, denke ich: ›Mensch, John, wie hilfreich wäre es gewesen, wenn du das gewusst hättest, als die Schmerzen anfingen.‹
Die Sendung mit der Maus hätte mir alles genau erklärt:
»Das ist der John. Der John hat Bandscheiben. Dazu hat er auch noch Wirbel. Lenden-, Brust- und Halswirbel. Die Bandscheiben sitzen zwischen den Wirbeln, damit die nicht aneinanderreiben und dann dem John schrecklich weh tun. Aber Johns Bandscheiben sind nicht in Ordnung. Sie drücken gegen die Nerven, die auch im Rücken sind, und deshalb hat John Rückenschmerzen, und dann macht er ein dummes Gesicht. Der John ist nicht glücklich.«
Tatsächlich habe ich sogar einmal von der »Sendung mit der Maus« geträumt und dass meine Rückenprobleme in der Sendung besprochen wurden. Ein Albtraum mit Maus und Elefant: Im Traum sitze ich vor dem Fernseher mit einer kleinen Tüte Chips »Mexican Style«. Zuerst kommt ein Cartoon. In dem liegt der Elefant auf dem Rücken und kann nicht mehr aufstehen. Die Maus holt einen Luftballon, legt ihn unter den Elefanten und pustet ihn auf. Zack, steht der Elefant wieder. Dann kommt der Filmbeitrag: »Das ist John. John ist Amerikaner. John ist dick. Viele Amerikaner sind dick. Und deshalb ist John auch so dick.« Ich werde kurz wach und denke: What the fuck …?, dann träume ich weiter: »John hat Bandscheibenprobleme. Seine Rückenwirbel sind ganz steif, seine Bandscheiben sind ganz trocken, und das alles nur, weil er so dick ist.«
Jetzt ist es aber mal gut mit dem dauernden »John ist zu dick«, denke ich, aber schon träume ich die Sendung weiter: »Das hier ist eine gesunde Bandscheibe, und das ist Johns Bandscheibe. Seine sieht so aus, weil er immer faul wie eine fette Sau in der Gegend rumliegt und sich mit Chips vollstopft.«
Mir fallen alle frittierten Kartoffelscheiben aus dem Mund. Für einen Augenblick will ich die Tüte beiseitelegen, aber dann geht der Traum von einer Sendung weiter. Nun hat meine Frau ihren großen Auftritt:
»Das ist Johns Frau Marita. Sie ist nicht so dick wie John. Sie ist Deutsche. Eigentlich sogar Ostdeutsche, die hatten nicht so viel zu essen. Deshalb hat Marita auch keine Probleme mit ihrer Bandscheibe. Sie bewegt sich viel, achtet auf ihr Gewicht und macht sich keinen Stress. Das heißt: Sie versucht, möglichst wenig Kontakt zu John zu haben.
Und das ist Johns und Maritas Sohn Quentin. Quentin hat auch keine Probleme mit der Bandscheibe. Warum? Weil er regelmäßig Sport macht und nicht dick ist – im Gegensatz zu seinem fetten Papa.«
Dann wache ich auf, schweißgebadet. Den Tag verbringe ich bei meinen Lieblingsärzten und höre mir die Erwachsenen-Version von »John ist zu dick«, »John bewegt sich zu wenig« und »John ernährt sich falsch« an. Am Nachmittag folgt die Familienversion: Meine Frau Marita und mein Sohn Quentin – die Vorbildbandscheiben – reden auf mich ein:
»Warst du im Fitnessstudio?«, fragt meine Frau. Bevor ich antworten kann, mischt sich der Pubertierende ein.
»Mama, das fragst du den Dicken doch jeden Tag, und jeden Tag kriegst du dieselbe Antwort.«
Der Dicke hat dann die Schnauze voll und setzt sich mit seiner Chipstüte aufs Sofa. Er schaltet mittels Infrarot-Fernbedienung die Glotze an, und da erscheint ER auf dem Full-HD-Screen: Dr. med. Eckart von Hirschhausen, schlank und rank und mit schickem Halstüchlein. Das mit dem »schlank und rank« bezieht sich auf den Anfang seiner TV-Karriere. Inzwischen – und das weiß ich zu schätzen – trainiert er sich mein Gewichtslevel an. Egal, auf jeden Fall legt er sofort los.
»So, nun kommen wir zum Thema Rücken, genauer: zur Bandscheibe. Schaut mal auf den Monitor da. Was seht ihr da? Genau, das ist der fette John …«
Ein neuer Schmerz ist da. Irgendwo hinten ist er. Dauerhaft, mit kleinen Stichen zwischendurch. Inzwischen kenne ich meine Schmerzen. Jeden einzelnen. Manche sind örtlich begrenzt. Ein eingeklemmter Nerv hier, ein verrutschtes Bandscheibchen da. Mal schmerzt die Hüfte rechts, mal links, dann macht sich wieder der Nacken bemerkbar.
Meine Schmerzen sind alles Individuen mit eigenem Charakter. Manche pieksen und stechen spontan, andere wiederum verteilen sich großflächig, sind nicht so stark wie die Piekser und Stecher, dafür aber konstanter in ihrem Wirken.
Ich hab meinen Schmerzen sogar Namen gegeben. Zum Beispiel heißt mein Nackenschmerz, also der spontan stechende, nicht der permanente, Brenda Lee, wie meine ehemalige Geographie-Lehrerin Brenda Lee Jones. Sie hatte die Eigenart, träumende Schüler mit einem kurzen, aber heftigen Griff in den Nacken in die Realität des Schulalltags zurückzuholen. Diesen Karategriff verstärkte sie mit einem markerschütternden Schrei: »WAKE UP, DOYLE!«
Wie jede vernünftige Lehrerin war Brenda Lee Jones eine Sadistin. Ihr machte es sichtlich Freude, den etwas ungelenken rothaarigen Burschen zu kneifen, und ich gab ihr auch immer wieder Anlass, den Nackenkneifer anzuwenden. Ich bin mir sicher, dass ich ihr Lieblingsschüler war, so viel Freude hatte sie mit mir beziehungsweise meinem Nacken. Nachdem sie mich allerdings einige hundert Male auf diese Weise traktiert hatte, bat ich sie, mich beim nächsten Mal doch bitte woanders zu kneifen. Das Angebot nahm Brenda Lee gerne an, und zum »Nackenkneifer« kamen dann noch der »Unterarm-Hautzwirbler«, der »Zweifach-Rippenstoß« und schließlich als Krönung die von »unten nach oben durchgezogene Kopfnuss«. Aber ganz ehrlich: An den spontanen Schmerz des »Nackenkneifers« kamen ihre anderen Foltermethoden nicht heran. Er war in seiner Intensität unvergleichlich. Deshalb trägt mein spontaner Nackenschmerz nun den Namen »Brenda Lee«.
Aber heute fühlt sich der Schmerz anders an. Er ist zwar permanent da, traktiert mich aber auch immer wieder mit kleinen Spitzen oberhalb des vierten oder fünften Rückenwirbels, also irgendwo zwischen Schultern und Becken.
Das ist neu, diese Mischform aus Spontanität und Kontinuität. Ich weiß noch nicht, wie ich diesen neuen Schmerz nennen soll. Auf jeden Fall hat er einen großen Namen verdient. »Vlad Dracul« vielleicht oder »Vera int Veen«. Irgendetwas Großes und Böses auf jeden Fall. Unabhängig davon verdient ein so neuer und intensiver Schmerz auch einen neuen Orthopäden. Einen, mit dem ich noch nicht per Du bin.
Meine Wahl fiel auf Dr. med. H.H. Schröder. Ich kannte ihn nicht, und er wurde mir nicht als »der beste Orthopäde von allen« empfohlen. Da mir aber auch die »besten von allen Orthopäden« nicht helfen können, war es sowieso schnurz, wem ich von meinen Schmerzen erzählte. Warum also nicht Dr. med. H.H. Schröder?
Weil ich Privatpatient und damit auspressbar bin, bekam ich sofort einen Termin. Ich musste auch nicht im Wartezimmer sitzen und die »Bunte« lesen, sondern wurde gleich in einen Behandlungsraum geführt, um dann dort eine Stunde auf Dr. med. H.H. Schröder zu warten. Um die Wartezeit zu überbrücken, las ich ein wenig im »Pschyrembel – Klinisches Wörterbuch«, das Gesundheitslexikon der Ärzte.
Für einen Hypochonder, der ich zweifelsohne bin, ist dieses Buch so eine Art Bibel. Mehr Informationen über Krankheiten, die man alle noch bekommen kann, erhält man nirgendwo sonst. Leider betrat Dr. med. H.H. Schröder, gerade als ich mich mit dem Gedanken an eine »Perianalthrombose«, zu deutsch: Arschgeschwür, angefreundet hatte, den Raum. Typ Tennisspieler mit Kleinfamilie, also eher Cayenne- als 911er-Besitzer.
Bevor er etwas zu mir sagen konnte wie: »Was kann ich für Sie tun, Herr Dolly?«, war ich auch schon komplett ausgezogen.
»Herr Dolly, es reicht, wenn Sie sich obenrum freimachen. Oder schmerzt es auch im Schritt?«
Er lachte, ich wurde rot und zog die Hose wieder an. Dann begann das übliche Abtasten mit kurzen Foltereinlagen – also drücken, wo es besonders weh tut –, und es folgte das übliche Statement: »Herr Dolly, Ihr Schmerz ist undefinierbar.«
»Undefinierbar« ist für einen Orthopäden das, was »Mutter« für einen Psychologen ist oder die »Spannungen im Gewebe« für den Osteopathen. Er könnte auch sagen:
»Herr Dolly, ich habe keinen blassen Schimmer, was das für Schmerzen sind und wo die herkommen könnten! Ich hab zwar Medizin studiert und behandele seit Jahren Patienten wegen solcher Schmerzen, aber fragen Sie mich nicht, warum!«
Stattdessen sagte er: »Der Schmerz ist undefinierbar.«
Und im Anschluss wurde dann wie immer eine Therapie verschrieben. Egal, um was für einen Schmerz es sich handelt und wo auch immer die Ursache sitzt: Zuerst gibt es eine Spritze, dann Krankengymnastik und was sonst noch von der Kasse bezahlt wird. Und das ist bei einer Privatkasse viel.
Aber diesmal will ich nicht »undefinierbar« bleiben.
Ich verwickelte Dr. med. H.H. Schröder in ein Gespräch über die mögliche Ursache für meinen neuen Schmerz. Er nickte interessiert und erzählte mir daraufhin von seinem neuen Speedboat. Nein, quatsch, natürlich hörte er mir aufmerksam zu.
»Vielleicht kommt das vom zu langen Sitzen. Ich hab in den letzten Wochen fast jeden Tag auf einem weichen Sessel in einer Ami-Kaffeebude gesessen und mich ohne Unterbrechung über mein Notebook gebeugt.«
Eigentlich ist es ja eher peinlich, sich nur durch pures Sitzen zu verletzen. Ich meine im Vergleich zu Bungeejumping oder Fallschirmspringen, aber ich wollte bei der Wahrheit bleiben. Und die hieß nun einmal: Durch Sitzen verletzt.
Er fand das mit dem Sitzen nicht außergewöhnlich, vielmehr hörte er mir gar nicht zu und antwortete mit einem typischen Orthopäden-Satz: »Herr Dolly, Sie müssen ein wenig kürzertreten.«
»Kürzertreten«? Wie konnte ich »kürzertreten«? Ich hatte doch nur gesessen! Was kam als Nächstes: »Passen Sie höllisch auf beim Rumliegen!«?
Nein, so einfach, so ohne Fachbegriffe, kam er mir nicht davon. Schließlich bin ich Profi-Patient und habe alle Folgen von »Dr. House« gesehen. Dazu noch »Scrubs«, »Emergency Room«, »Grey’s Anatomy«, »Private Practice« und natürlich »Der Bergdoktor.«
»Also, ich tippe auf HWS«, schleuderte ich ihm entgegen, »oder vielleicht BWS?« Und endlich hatte ich ihn aus der Reserve gelockt: »Herr Dolly, das Problem könnte auch in der LWS, in der Lendenwirbelsäule liegen. Definitiv aber haben Sie eine Fehlhaltung, und die wird natürlich durch stundenlanges Herumsitzen nicht besser. Das Sitzen, Herr Dolly, ist sozusagen eine Kollektivstrafe der zivilisierten Menschheit. Der Mensch ist nicht fürs Sitzen gemacht! Eigentlich ist er seiner Entwicklungsgeschichte nach sogar eher ein Vierbeiner.«
Ach, was.
Dann gab er mir die üblichen Überweisungen für Krankengymnastik, Massage und Physiotherapie.
»Und, Herr Dolly, ganz wichtig: Nicht so viel sitzen! Nicht so viel sitzen! Sitzen ist Gift für den Rücken.«
Auf dem Weg nach Hause erwischte ich den letzten freien Platz in der Straßenbahn: »Okay, John, morgen fängst du mit dem Nichtsitzen an. Heute sitzt du noch mal und – leidest.«
Aber es stimmt schon: Laut Statistik verbringt der Durchschnittsdeutsche 11 bis 14 Stunden am Tag im Sitzen. Die anderen acht Stunden schläft er, und in den restlichen zwei sucht er nach einem Sitzplatz. Das muss man sich mal vorstellen: 14STUNDEN SITZEN! Wir sitzen im Bus, in der Bahn, im Auto, im Gefängnis (in den USA jedenfalls). Wir sitzen im Stau, im Café, im Wartezimmer und – im Vergleich zu früher – viel zu viel auf dem Klo. Seit dem Verbot des »Im-Stehen-Pinkelns« sogar noch mehr.
Das mit dem Klo stimmt übrigens tatsächlich. Es gibt eine Studie (Wahnsinn, wofür es nicht alles Studien gibt), die besagt, dass ein heute achtzigjähriger Mann am Ende seines Lebens circa 300 Tage auf der Kloschüssel verbracht hat. Nicht am Stück, aber zusammengezählt 300 Tage. Aber hallo!
Und das gilt wie gesagt nur für die heute Achtzigjährigen. Wer heute 20 ist, wird in 60 Jahren bis zu 1200 Tage auf dem Klo gesessen haben. Nicht, weil das finale Prozedere des Verdauungsprozesses heute länger dauert als früher, nein. Es liegt daran, dass der moderne Mensch mit Smartphone oder Tablet-Computer auf die Toilette geht. Das verlängert die Sitzzeit um das Vierfache. Bekloppt!
Ich bin übrigens auch so ein Smartphone-User wie viele meiner Bekannten. Wir haben alle Rückenprobleme, nicht nur, weil wir zu viel Zeit vor dem Rechner verbringen, sondern weil wir auch noch auf der Toilette aufs Smartphone oder aufs Tablet starren: den Oberkörper vorgebeugt, die Ellenbogen auf den Oberschenkeln und das Smartphone auf Kniehöhe, damit der Rücken auch wirklich schön gekrümmt ist.
Tatsächlich gehe ich ohne technische Hilfsmittel nicht mehr aufs Klo. Früher war es die Tageszeitung, die dann auch irgendwann ausgelesen war, aber heute? Das World Wide Web kennt kein Ende: E-Mails checken und beantworten. SMS oder WhatsApp lesen, schreiben und dann weiter zu Facebook und/oder Twitter. Statusmeldung: »Bin gerade auf Klo. ☺.« Und Facebook fragt: »Dürfen wir Ihren aktuellen Standort anzeigen?«
»Klar, warum nicht? Hab ja nichts zu verbergen, sitze ja nur auf’m Klo.« Dann meldet sich ein Facebook-Freund.
»Was machst du gerade?«
»Bin auf Facebook.«
»Bist du wirklich auf’m Klo?«
»Klar.«
»Ich auch.«
»LOL.«
Dann checke ich die Wettervorhersage im WEB und stelle fest: »O nein, es regnet!«
Ich könnte natürlich aus dem Fenster gucken, aber hey: Warum hab ich denn die passende App? Danach suche ich mal kurz nach billigen Flügen in die USA, sehe, dass Reiner Calmund noch immer nicht abgenommen hat, checke die Staumeldungen und bin froh, dass ich auf’m Klo sitze und nicht im Stau.
Ach ja, noch einen schnellen Blick auf SPON, Spiegel online: Es geht um Griechenlands wirtschaftlichen Niedergang …
Schnell zurück auf die Airlineseite: Flüge nach Griechenland müssten ja nun billiger sein … Und während ich das alles tue, merke ich, dass meine Beine langsam taub werden … Das muss die Bandscheibe sein! Jetzt schmerzt auch noch die Schulter, und im Nacken meldet sich »Brenda Lee«. Plötzlich höre ich heftiges Klopfen.
»Mach schnell! Ich muss auch mal.«
»Moment noch, muss nur noch ein paar Überweisungen machen!«
Früher bin ich nie aufs Klo gegangen, um Überweisungen zu machen. Früher bin ich zur Bank gegangen. Also analog, so mit dem ganzen Körper. Das hat meiner Bandscheibe offenbar nichts ausgemacht. Auf jeden Fall hatte ich damals noch keinen Kontakt, sprich Ärger mit ihr. Heute heißt es nicht mehr: »Ist das Bad frei?« Nein, bevor ich aufs Klo gehe, frage ich: »Ist das W-LAN an?«
Das Bathroom-Home-Banking hat meine tägliche Sitzzeit enorm verlängert, und daher weiß ich nun, was eine Bandscheibe ist und dass sie höllisch weh tun kann.
Aber das wird sich ab heute ändern. Ich werde in Zukunft nicht mehr so viel Zeit auf der Toilette verbringen. Ich lasse mich doch nicht zum Sklaven des WWW machen! Kein Surfen mehr auf der Kloschüssel! Wenn ich wissen will, wie das Wetter ist, gucke ich wieder aus dem Fenster.
Ich, John Doyle, bin mein eigener Herr!
Ich bin wie Ritter Rost. Kennen Sie Ritter Rost? Es ist eine Figur aus einem Kinderbuch, das mein Sohn gelesen hat. Zu einer Zeit, als Taschengeld für ihn noch kein Kinderrecht war, das man durch dauerndes Genörgel einklagen kann.
Also, Ritter Rost ist ein lustiger Metallknabe, der quietschend und knirschend allerhand Abenteuer erlebt, Drachen besiegt und Prinzessinnen befreit. Ich besiege zwar keine Drachen und befreie auch keine Prinzessinnen, aber immerhin knirsche und quietsche ich wie er.
Genauer gesagt knirschen und quietschen meine Gelenke. Zum Beispiel die Knie. Als würden die Knochenenden von Ober- und Unterschenkel Rost ansetzen, sobald ich mal länger als eine Minute in einer Position verharre. Und dann lässt der Rost zusammenwachsen, was nicht zusammengehört. Wenn ich aufstehen will, steht mein Knie nicht mit auf. Es knirscht, tut weh und sagt: »Sitzen bleiben, John! Du schaffst es doch nicht!«
Ich stehe dann trotzdem auf, weil ich von meinem Knie keine Befehle annehme – es reicht ja, wenn ich meiner Frau und meinem Sohn gehorchen muss.
Während des Aufstehens knackt es, und ich brauche zwei schmerzhafte Minuten, um den Rost zu lockern und das Bein samt Knie und Schenkel in Funktion zu versetzen. Also ungefähr um das zu tun, was man »Laufen« nennt.
Das mit der rostbedingten Steifheit passiert mir aber nicht nur mit dem Knie. Das geht mir mit jedem Gelenk so. Besonders gerne roste ich morgens ein. Kein Wunder, in den Stunden besinnungs- und bewegungslosen Schlafs haben die Knochen genug Zeit, Rost anzusetzen, und der Rost hat genug Zeit, sich mit anderen rostigen Stellen zu verbinden.
Ich wache also morgens auf, und mein Nacken ist steif und tut weh. Meine Schultern auch. Und weil wir gerade dabei sind, ist eigentlich mein ganzer Rücken steif und unbeweglich, und der Nacken grüßt mit Brenda-Lee-Schmerzen. Ich will mich trotzdem aufrichten, geht aber nicht: Ich bin bereits komplett eingerostet. Meine Frau bemerkt meine Bemühungen. Immerhin. Sie hätte auch auf »tot« tippen können.
»Was ist los, John, hast du nicht gut geschlafen?«
Zu den üblichen Schmerzen kommen nun auch noch Kopfschmerzen.
»Nein«, sage ich, »ich weiß nicht … irgendwie … bin ich so … steif.«
Sie lächelt ihr grausames Ehefrauenlächeln: »Na, das ist doch mal eine gute Nachricht«, und steht auf. Ich bleibe noch ein wenig liegen. Ich hasse es, wenn meine Frau Witze reißt, schließlich bin ich der Komiker in der Familie. Ich stell mich ja auch nicht hin und versuche, unseren Sohn zu erziehen …
Irgendwann schaffte ich es dann doch. Ich trennte die eingerosteten Knochenenden voneinander, stand auf und ließ mich von meinen nun wieder halbwegs funktionsfähigen Gelenken zum Arzt geleiten. Da die Schmerzen nicht das Ausmaß meiner sonstigen Leiden annahmen, also nicht vergleichbar waren mit dem, was zum Beispiel die Bandscheibe meistens anstellte, ging ich nicht zu einem meiner Orthopäden, sondern zu einem meiner circa 15 Hausärzte.
Dr. Hagen Glas heißt der Mann. Ein netter, lustiger Allgemeinmediziner, dessen Job es ist, den Patienten zuzuhören, um sie dann zu einem Facharzt zu schicken. Aber diesmal nicht. Denn gegen Steifheit, so meine naive Vorstellung, half bestimmt eine Art Schmiermittel oder so. Wie bei einem Fahrrad. Wenn’s quietscht, ein Tröpfchen Öl hier, ein Tröpfchen Öl dort, und das Ding läuft wieder rund.
»Mein lieber Herr Doyle, was haben Sie auf dem Herzen?«
»Auf dem Herzen?« Einen kurzen Moment lang meldete sich mein innerer Hypochonder, und ich überlegte mir, ob man mir die Herzkrankheit schon ansah (die ich definitiv nicht hatte). Dann schaltete ich den inneren Hypochonder wieder ab.
»Auf dem Herzen hab ich nix. Es sind eher meine Gelenke. Ich bin völlig steif.« Der Doktor grinste das fiese Ehefraugrinsen.
»Freuen Sie sich, Herr Doyle, manche brauchen Tabletten dafür!« Ich grinste ein bisschen mit ihm, weil ich ein höfliches Opfer war, dann schwieg ich wieder. Das wiederum machte ihn verlegen, und er riss sich zusammen und stieß ein Verlegenheitsräuspern aus: »Ähm … wo sind Sie denn … steif?«
»Eigentlich überall. Heute Morgen am Nacken und an den Schultern. Es ist, als würden meine Gelenke über Nacht einrosten.«
»Ja, Herr Doyle, so falsch liegen Sie da gar nicht. Es fehlt tatsächlich ein Schmiermittel, also Gelenkschmiere. Die nimmt im Alter ab. Um das aufzufangen, sollte man sehr viel trinken. Trinken Sie genug?«
»Ich weiß nicht … wie viel ist genug … sechs Kölsch am Abend?«
»Nein, kein Kölsch, ich meine Wasser! Kölsch, also Alkohol, entzieht dem Körper sogar Flüssigkeit. Alkohol gaukelt dem Gehirn vor, es gebe zu viel Flüssigkeit im Körper, und man scheidet zu viel aus. Am Ende holt sich die Leber das Wasser dann aus dem Gehirn … daher kommen übrigens auch die Kopfschmerzen nach zu viel Alkoholgenuss, weil die Leber dem Hirn das Wasser klaut. Auf jeden Fall, Herr Doyle, müssen Sie viel Wasser trinken. Drei Liter täglich, mindestens.«
»Geht das auch mit Kaffee?«
»Theoretisch ja, aber das geht dann auf die Pumpe. Am besten ist schon Wasser, einfach nur Wasser. Sie werden sehen, Ihren Gelenken geht es dann besser.«
Ich war ein guter Patient und vertraute meinem Arzt. Also besorgte ich mir eine Kiste Wasser, schleppte sie in den Fahrstuhl und dann in die Wohnung. Damit hatte ich auch mein tägliches Sportprogramm absolviert. Jetzt musste ich das Zeug nur noch trinken. Weil ich mich jedoch mit Wasser nicht so gut auskannte und mir der Unterschied zwischen »still«, »natürlich«, »medium« und »classic« bis dato ziemlich scheißegal war, hatte ich »classic« genommen. Ein Fehler. Nach den ersten zwei Gläsern wurde mein Körper zu einer tektonischen Zeitbombe, gleich einem Vulkan kurz vor dem großen Ausbruch: Es kam zu leichten Vorbeben und kleineren Voraberuptionen: »URPS!«, sagte ich, und mein Sohn antwortete: »Gesundheit! Erzähl mehr von zu Hause.«
Bei uns zu Hause in New Jersey wurde nicht gerülpst. Wir haben allerdings auch kein Mineralwasser getrunken, bei uns kam das Wasser aus der Leitung.
Also stellte ich nach den ersten Eruptionen auf Leitungswasser um. Ich trank und trank und trank. Nach einem Liter musste ich mal. Dringend. Allerdings besetzte gerade der Pubertierende die Toilette.
»Quentin, könntest du dich bitte beeilen! Ich muss Wasser ablassen.«
»Moment, bin gleich fertig!«
Ich wartete einen Moment. Der Moment verging, und die Toilette war immer noch besetzt: »Quentin! Bitte! Es ist dringend!«
»Ja, ja, ja, mach ja schon. Was musst du auch so viel Wasser saufen.«
»Das hat mir der Arzt verschrieben!«
»Wie? Wasser auf Rezept? Ist das linksdrehendes Wasser, oder was?«
»Lieber Quentin, es ist doch wohl sch…egal, was das für ein Wasser ist. Meine Blase drückt einfach. Komm jetzt da raus!«
Und dann endlich ging die Tür auf und mein grinsender Sohn an mir vorbei.
»Na, dann mal los, Papa, erleichtere dich. Ich würde mich an deiner Stelle vorher und nachher auf die Waage stellen. Dann haste auch mal ein Erfolgserlebnis.«
Eigentlich schade, dass Kinder zu schlagen gesellschaftlich geächtet ist.
Aber ich ließ mir das Wassertrinken von einem fünfzehnjährigen Halbamerikaner nicht vermiesen. Ein paar Stunden und eineinhalb Liter später schlenderte ich durch Karstadt, und – ruck, zuck – war ich auf der Kundentoilette. Irgendwie war ich erleichtert, dass hier noch eine Klofrau mit kleinem Tellerchen saß. Toiletten auf den Autobahnraststätten machen mir immer Angst. Wie reinigen sich diese Toiletten – ohne Wasser, ohne Chemie, ohne alles? Zauberwerk? Ultraschall? Wird die Flüssigkeit vielleicht mittels Mikrowelle so hoch erhitzt, dass sie sich verflüchtigt und wir nun alle gasförmigen Urin einatmen? Nein, ich stehe auf konventionelle Klofrauen, die gelangweilt hinter ihren Tischen sitzen und auf ihr Münztellerchen starren. Wie bei Karstadt.
Ich erledigte mein Geschäft, legte 50 Cent auf das Tellerchen und war zufrieden.
Und nach zehn Minuten wieder da.
Die Frau starrte mich an, überlegte, ob sie mich schon mal gesehen hatte, und richtete dann ihren Blick wieder aufs Tellerchen, wo dann auch prompt meine nächsten 50 Cent landeten.
Zwanzig Minuten später war ich wieder da.
Ich ging an ihr vorbei, grüßte kurz, und sie starrte mich an. Jetzt hatte sie mich – den fleißigsten Wasserlasser auf Gottes Erden – wiedererkannt. Ich tat so, als wäre ich nicht ich, und ging in den Raum mit den vielen Keramikschüsseln. Während ich meinen Körper um das überschüssige »Schmiermittel« erleichterte, spürte ich auf einmal einen Blick in meinem Rücken. Es war kein Kölner, der seine Chancen, bei mir zu landen, abwägte, sondern die Klofrau. Sie tat, als hätte sie etwas wahnsinnig Wichtiges zu erledigen, was keinen Aufschub vertragen konnte, was unbedingt in diesem Moment getan werden musste und nicht etwa 20 Sekunden später. Klar, die Dame wollte kontrollieren, was ich da anstellte. Ich, der Mann, der innerhalb von 30 Minuten dreimal auf ihrer Toilette erschien. Ganz sicher unterstellte sie mir irgendwelche dunklen Absichten. Sekunden später ist alles Wasser zurück im natürlichen Kreislauf. Ich ging zur Klofrau, legte ihr 50 Cent auf das Tellerchen.
»’tschuldigung, ich muss so viel Wasser trinken – vom Arzt verordnet.«
Kunstpause. Blicktausch. Finaler Hieb.
»Weil ich immer steif bin!«
Okay, den Krieg mit der Klofrau habe ich gewonnen. Ansonsten war das tägliche Drei-Liter-Trinken eine Qual. Erst einmal schmeckt Wasser nicht wie Bier. Nicht einmal wie Kaffee. Es schmeckt wie Wasser, also irgendwie gar nicht. Und dann musste ich tatsächlich immer und immer wieder auf die Toilette. Egal wo, ich musste. Ich kannte bald jede öffentliche Toilette in Köln, und ich sage: Man muss nicht jede kennen. Ich kannte dann auch bald die meisten Toiletten in anderen Städten. Ich fuhr mit meiner Frau zum Beispiel nach Paris. Sie schaute sich den Louvre, die Zuckerbäckerkirche, den Montmartre an, und ich? Ich schaute mir die Pariser Toiletten an. Während meine Frau mit »Oh«, »fantastique«, »manifique« nur so um sich warf, dachte ich: Hey, cool, Automatikspülung – und das mitten in Paris!
Aber der Herr Doktor ließ trotzdem nicht locker.
»Herr Doyle, wenn Sie Ihre Schmerzen in den Griff kriegen wollen, schlage ich vor, dass Sie weitermachen mit dem Wassertrinken. Dann werden Ihre Bandscheiben schön befeuchtet, Ihre Gelenke werden geschmeidiger, und Ihr Wohlbefinden wird sich insgesamt steigern.«
»Das hört sich gut an, Herr Doktor. Dafür geht man doch gerne bis zu siebenhundertmal täglich aufs Klo. Ich freu mich jetzt schon auf den nächsten Besuch.«
»Und die Toilettenfrau bei Karstadt bestimmt auch, Herr Doyle.«
Stimmt. Inzwischen bin ich mit der Klofrau per Du. Gisela heißt sie. Eine total nette Frau. Ich krieg jetzt sogar Rabatt. Zehnmal Pinkeln, einmal frei.
Die Welt ist nicht nur eine Bandscheibe, sie ist auch im schnellen Wandel. Man geht abends ins Bett, und am nächsten Morgen wacht man auf – und plötzlich ist alles ganz anders. Nehmen wir als Beispiel mal die FDP: Abends noch eine Partei, am nächsten Tag nur noch eine Steuerberatersammlungsbewegung. Oder der 1. FC Köln: Abends noch ein Profifußballclub, am nächsten Morgen nur noch eine Ansammlung Kölsch trinkender Schnauzbartträger. Obwohl? Das war der Verein am Abend zuvor auch schon, aber mit ein paar Kölsch trinkt man sich die verlotterte Bande halt schön. Oder der Mensch im Zimmer nebenan: Abends noch dein Sohn, am nächsten Morgen ein fremder Mann, der dich um Geld anbettelt. In einer Nacht kann viel passieren. Wie neulich …
Ich stand auf und – hatte plötzlich Brüste. Nicht dass ich grundsätzlich etwas gegen Brüste hätte! Im Gegenteil: Ich liebe Brüste, vorausgesetzt, sie sind an einer Frau angebracht. Aber am eigenen Körper? Das muss nicht sein!
»Marita«, rief ich nach meiner Gattin mit der Bitte um Mitgefühl, »ich habe Brüste!«
»In der Kommode oben rechts sind die BHs. Nimm die, die ich nach der Geburt getragen hab.«
Danke.
»Hast du mir nicht zugehört? Marita: Ich! Habe! Brüste!«
»Ich auch. Zwei sogar.«
Nochmals danke. Ein Gesicht lugte hinter dem Türrahmen hervor. Könnte mein Sohn gewesen sein, war mir aber nicht sicher.
»Mama, Papa hat wirklich Titten!«
Kein Zweifel, es war mein Sohn.
»Quentin, man sagt nicht ›Titten‹. Das ist vulgär.«
»Wieso, Mama? Papa sagt doch auch dauernd Titten.«
»Papa ist Comedian. Der darf das.«
»Geil, ein Comedian mit Titten!«
»›Geil‹ sagt man auch nicht.«
Ein Comedian mit Titten. Warum eigentlich nicht? Anke Engelke hat ja auch welche. Den Gedanken will ich jetzt allerdings nicht vertiefen …
Ich ließ meine ehemals liebsten Angehörigen mit ihren Sprachproblemen allein und ging ins Badezimmer. Von vorne betrachtet war alles halb so schlimm. Der Optimist in mir – der Ami – sagte: »Sei froh, John, wenigstens hast du keine Hängebrüste!« Das ist nett gemeint vom Ami, aber ich lebte in der deutschen Realität, und da waren »Möpse« entweder Hunde oder weibliche Weichteile.