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Ausgerechnet an ihrem ersten Schultag nach den Sommerferien gerät die Tagträumerin Emilie Sophie Bela in eine Verfolgungsjagd zu einem geheimnisvollen Portal. Kurz vor dem Ziel scheitert Emilie, doch längst hat sie ihre magische Gabe wiederentdeckt und stürzt sich in eine vergessene Welt voller Legenden, Drachen und Geheimnisse. Plötzlich steht nicht nur das Leben ihrer vierbeinigen Freunde auf dem Spiel, sondern auch die Zukunft dieser fremden und doch so vertrauten Welt.
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Seitenzahl: 385
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Sei du selbst die Veränderung,
die du dir wünschst für diese Welt.
~ Mahatma Gandhi ~
Für Merlin, Lotta, Luna,
Mika, Barny, Bijou, Bazalt und Lilly.
Ihr habt mich gelehrt, mit dem Herzen zu sehen.
1. Zusammenkunft
2. Verschlafen
3. Durchstarten
4. Zusammenstoß
5. Entkommen
6. Finnian
7. Jacob
8. Der weise Rat
9. Schule
10. Zickenkrieg
11. Vorahnungen
12. Stimmen im Kopf
13. Verschwunden
14. Reiseantritt
15. Sorgenvoll
16. Zirkus
17. Camina
18. Ausreißer
19. Vermisst
20. Verfolgt
21. Verhext
22. Fremde
23. Der Wolf
24. Entscheidung
25. Bewusstlos
26. Am nächsten Morgen
27. Ausgestoßen
28. Eifersucht
29. Pizza
30. Erwacht
31. Kinderlieder
32. Falscher Ort
33. Fieberwahn
34. Begegnung
35. Das Nest
36. Überfall
37. Sjark
38. Gescheitert
39. Befreiungsschlag
40. Wiedersehen
41. Feuer
42. Drachen
43. Planänderung
44. Aufbruch
45. Verlassenes Dorf
46. Eröffnungsrede
47. Schweinestall
48. Schattenarmee
49. Vergangenheit
50. Ungleicher Kampf
51. Entkommen
52. Zeltstadt
53. Ausbruch
54. Gestrandet
55. Tagebuch
56. Tödlicher Biss
57. R’ha
58. Chaos
59. Zweiter Versuch
60. Schwarze Flut
61. Der Tagesspiegel
62. Das Geheimnis
63. Verhandlungen
64. Mondlicht
65. Rettung
66. Überraschung
67. Kontakt
68. Vereint
69. Nachwuchs
70. Königin
Tír erwachte. Die ersten Sonnenstrahlen brachen durch den Morgennebel und tauchten das Land in warmes Licht. Der Atem der Nacht lag noch über An’Shanar. Seit Jahrhunderten wachte die Festungsanlage hoch oben am Landbruch über das alte Königreich, das sich unterhalb der Steilklippen bis zum Horizont erstreckte.
General Rangulf Gray stand auf der Aussichtsplattform und ließ seinen Blick über das weite Tal unter ihm schweifen. Aus der schäumenden Gischt der Wasserfälle entsprang ein Fluss, der sich sanft durch das Land schlängelte. Vereinzelt ragten uralte Baumriesen wie Wachtürme aus längst vergangenen Zeiten durch den Nebel empor. Im Osten verschwand der letzte der drei Monde hinter pastellfarbenen Wolken und machte Platz für einen neuen Tag.
Vor der rot glühenden Scheibe am Himmel tauchte ein winziger Punkt auf, der sich schnell dem Landbruch näherte. Wenig später kreiste ein Silberreiher majestätisch über An’ Shanar, landete lautlos und wandelte dabei innerhalb eines Augenaufschlags seine Form zu einem alten Mann. Er wischte ein paar Federn von seinem Umhang und strich sein weißes Haar glatt. Der gewundene Holzstab in seiner anderen Hand setzte mit einem Klacken auf dem Steinboden auf.
Rangulf breitete die Arme aus. »Gwydion, mein alter Freund. Wie war deine Reise?«
Der Druide erwiderte die Umarmung. »Gerne komme ich zur Geburtsstätte des Flusses zurück. Der unvergessliche Blick auf das alte Königreich zieht mich auf ewig in seinen Bann.« Seine Augen verdunkelten sich und er sah Rangulf streng an. »Dieses Mal jedoch komme ich in einer dringenden Angelegenheit. Bedrohliche Schatten liegen über dem Land. Wir müssen schnell handeln.« Mit seiner freien Hand klopfte er Rangulf auf die Schulter, während sich seine Gesichtszüge wieder entspannten. »Aber nicht vor dem Frühstück. Ich habe einen Bärenhunger.«
Lachend überquerten die beiden die Aussichtsterrassen in Richtung Empfangshaus.
»Sind die anderen schon eingetroffen?«, fragte Gwydion.
»Meister Runar ist bereits gestern angekommen. Viska die Weise ließ ausrichten, dass sie sich möglicherweise verspätet.« Rangulf hob resigniert die Schultern. »Die anderen erwarten wir im Laufe des Vormittags.«
»Viska … noch immer die Alte.« Gwydion schmunzelte. »Dennoch versammeln wir uns am besten unverzüglich im Großen Saal. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Sie betraten das runde Steingebäude. Die Morgensonne strahlte durch die raumhohen Fenster und verlieh dem Empfangsraum eine behagliche Atmosphäre. Misstrauisch blickte Gwydion zu den Wachen an den Ausgängen. Noch durfte er seine Vermutungen nicht preisgeben.
»In Tír tauchen überall Horden von Schatten auf. Das Land lebt in Angst.«
Rangulf sah ihn fragend an. »Die schwarzen Kreaturen werden in letzter Zeit zahlreicher, das ist wahr«, erwiderte er. Seit der Spaltung der Welten waren die Schatten eine Plage für das Land. Alle wussten das. Sollte das der Grund für Gwydions überraschende Einladung sein? Die Weisen des Landes hatten sich seit der Schlacht um die Drei Türme nicht mehr auf An’Shanar versammelt.
Die beiden erreichten schweigend das Hauptgebäude und eilten über den Korridor. Rangulf öffnete die schweren Flügeltüren zum Großen Saal und schloss sie sorgsam, nachdem sie eingetreten waren. Gwydions Blick schweifte über die prachtvoll verzierten Wände zu dem ovalen Verhandlungstisch in der Mitte des Raumes, an dem er in seinem langen Leben als Magier und Berater schon unzählige Debatten geführt hatte. Er ließ sich auf einem der gepolsterten Stühle nieder, lehnte seinen Stab gegen die Tischkante und betrachtete die kunstvoll verzierte Platte. Ineinander verschlungene Ornamente, Pflanzen und Tiere verliefen spiralförmig von einer Sonne nach außen, ein Symbol für die Fülle des Lebens auf Tír. Rangulf wartete geduldig vor einem der Fenster.
»Ich beobachte den Nachthimmel seit vielen Monaten«, begann der Druide.
»Und was sagen die Sterne?« Der General trat erwartungsvoll an den Tisch.
»Nicht den Sternen, sondern den Bahnen der Monde bin ich gefolgt.« Gwydion machte eine Pause und sprach mit leiser Stimme weiter. »Ich glaube, eine Zusammenkunft steht uns bevor.«
Rangulf schüttelte den Kopf. »Das wäre unseren Astrologen längst aufgefallen.« Er stützte sich auf eine Stuhllehne und bemerkte Gwydions starren Gesichtsausdruck. »Du bist dir ganz sicher?«, fragte er nach einer Weile beunruhigt.
Der Druide lehnte sich nach hinten und verschränkte die Arme.
»Nein, deshalb hoffe ich auf die Hilfe des Alten Rates. Selbst ich kenne die Überlieferungen nur in Bruchstücken. Liege ich mit meinen Vermutungen jedoch richtig, stehen uns große Aufgaben bevor.« Wieder machte er eine Pause.
»Meine Berechnungen ergaben nicht irgendeine Konstellation der Monde, Rangulf. Ich spreche von Dreimond!«
Rangulf Gray ließ sich auf den Stuhl sinken, ohne den Blick von Gwydion abzuwenden. Was hatte der Druide da gerade gesagt? Rangulf kannte die Legenden seit seiner Kindheit, aber nach all den Jahren des Widerstands gegen die Schatten glaubte er nicht mehr daran, dass sie sich jemals erfüllen würden. Sollte Gwydion jedoch recht haben, würde das Land nach Generationen ohne Herrscher wieder einen König krönen. Rangulfs Hand umklammerte den Griff seines Schwertes, als wolle sie mit dem Stahl verschmelzen. Ein neuer König würde dem Land nicht nur den sehnsüchtig erwarteten Frieden bringen, sondern die Welten wieder vereinen.
Gwydion erhob sich und griff nach seinem Stab. »Sollten sich die Zeichen am Nachthimmel bewahrheiten, haben wir bis zu seiner Ankunft noch jede Menge Vorbereitungen zu treffen, Rangulf.«
»Der neue König?«, fragte der General heiser. »Wann wird er eintreffen?«
»Ich hätte dich früher informiert, hätte ich es selbst früher erkannt.«
»Wann, Gwydion?«
»Bereits heute, mein Freund.«
Die Stimme ihrer Mutter klang wie aus einer fernen Welt. Emilie Sophie Bela? Die verworrenen Traumbilder verblassten. Furchterregende Drachen zerfielen in Nebelschwaden, fremdartige Landschaften lösten sich auf und dunkle Schatten verschwanden im Licht der ersten Strahlen der Morgensonne, die in ihr Zimmer fielen. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn.
»Bist du schon im Bad? Ich muss heute pünktlich in der Agentur sein. Du weißt doch, der Termin mit den Leuten von der Bank.«
Emilies Gedanken waren noch immer vernebelt von dem Traum, der sie in den letzten Nächten so oft verfolgt hatte. »Ja, Mama. Bin so gut wie fertig.« Welche Leute von der Bank?
»Du bist übrigens auch spät dran. Die Sommerferien sind vorbei. Schon vergessen?«
Mit einem Auge blinzelte Emilie über das Kopfkissen. Die grünen Leuchtziffern des Radioweckers zeigten 07:22 an. Sie hatte vergessen, die Weckfunktion zu aktivieren und prompt verschlafen. Und das am ersten Schultag.
Schwungvoll warf sie die Decke zur Seite und sprang aus dem Bett, trat auf den flauschigen, hellgrauen Plüschbauch von Nelly, verlor das Gleichgewicht und rutschte von der Bettkante. Während der Elefant trötend über den Boden glitt und gegen den Schrank prallte, landete Emilie mit dem Hintern zwischen einem Berg von Kuscheltieren, die im ganzen Zimmer verstreut auf dem Boden herumlagen. Ein stechender Schmerz fuhr ihr durch den Rücken. Sie presste die Lippen zusammen, setzte sich vorsichtig wieder auf die Bettkante, atmete durch und strich sich mit den Fingern durchs Haar. Okay Emi, dachte sie, zweiter Versuch ins neue Schuljahr.
Nach der Katzenwäsche eilte sie an dem leerstehenden Gästezimmer vorbei, in dem Jasmin bei ihrem einzigen Besuch im letzten Jahr übernachtet hatte, warf einen kurzen Blick durch den Türspalt und fragte sich, was ihre Schwester in Schweden wohl gerade machte. Zurück in ihrem Zimmer, holte Emilie frische Wollsocken aus der untersten Schublade des Kleiderschranks, schnappte sich die Leggings von der Stuhllehne und griff nach einem T-Shirt aus dem Wäschekorb mit den frisch gewaschenen Kleidungsstücken, die sie längst in den Schrank hätte einräumen sollen.
»Hast du meinen Pullover gesehen, Mama?«, rief sie nach unten und kramte dabei ihre Schultasche hinter dem Schreibtisch hervor. Ihre Großmutter hatte die Tasche aus bunten Stoffresten genäht und ihr zur Einschulung geschenkt. Für sieben Jahre Dauereinsatz sah der Stoff noch annehmbar aus, auch wenn ihre Mutter meinte, Patchwork wäre inzwischen out. Emilies Hand tastete sich durch das Durcheinander in den Tiefen der Tasche, aber da sie während der letzten sechs Wochen nichts herausgenommen hatte, musste alles Wichtige noch drin sein. Sie schob ihr Handy in die Gesäßtasche und eilte aus dem Zimmer. Über dem Treppengeländer entdeckte sie ihren weinroten Lieblingspullover. Wie ist der denn da hingekommen?, dachte sie, zog ihn hastig über ihr T-Shirt und sprang die Stufen hinunter.
Auf dem Küchentisch stand bereits das Frühstück. Der Obstkorb, eine Flasche Milch und zwei Müslischalen, von denen eine schon benutzt war.
»Guten Morgen, mein Schatz.« Sarah Bela belegte gerade die Pausenbrote mit Salamischeiben, klappte sie zusammen und schob sie in eine Papiertüte. »Ausgeschlafen?«, fragte sie und sah ihre Tochter lächelnd an.
»Fühle mich großartig.« Emilie gähnte und ließ sich auf den Stuhl fallen. Sie kippte Milch über die Cornflakes und sah zur Wanduhr. Pünktlich zum Bus zu kommen, könnte knapp werden, aber ohne Frühstück würde sie nicht einmal bis zur ersten Pause durchhalten.
»Ich muss gleich los zur Agentur. Diese Woche wird es noch mal spannend.« Ihre Mutter stopfte die Papiertüte mit den Broten und einen Apfel in die Schultasche und verschwand im Flur. »Übrigens … ins neue Schuljahr sollte man nicht verspätet starten. Sowas zieht sich durch bis zum Ende«, rief sie, während sie die Treppe nach oben eilte. Genervt löffelte Emilie ihr Müsli.
»Ich treffe mich heute Vormittag mit Ben und ein paar anderen. Wegen der Imagekampagne«, fuhr Sarah fort. Benjamin der Banker hatte ein Auge auf ihre Mutter geworfen und sie gleich beim ersten Meeting zum Essen eingeladen. Seitdem schrieben sie sich wie verliebte Teenager jeden Tag übers Handy und verabredeten sich zu irgendwelchen Arbeitstreffen. Emilie hatte keine Ahnung, an welchem Projekt ihre Mutter gerade arbeitete, aber es musste etwas echt Wichtiges sein.
»Danach gehe ich mit ihm zum Italiener in die Altstadt.« Sarah polterte in High Heels die Holztreppe wieder hinunter, stellte sich hinter ihre Tochter und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ben hat uns zu Alberto eingeladen. Er würde sich riesig freuen, dich auch endlich kennenzulernen.«
Emilie rührte mit dem Löffel in der Schüssel. Nach allem, was sie über diesen Benjamin gehört hatte, mochte sie ihn nicht. Und sie wollte ihn auf gar keinen Fall kennenlernen. Sie war noch nicht bereit für einen zweiten Papa. Ihr erster fehlte ihr und der Gedanke an den Morgen, an dem er mit ihrer großen Schwester an der Hand aus dem Haus gegangen war, tat noch immer weh.
Ihre Mutter beugte sich an ihr Ohr. »Und du würdest mir damit eine Freude machen«, flüsterte sie. Als keine Antwort kam, setzte sie sich an den Tisch. Emilie starrte weiter auf die Cornflakes, spürte aber den Blick ihrer Mutter auf sich.
»Die Dinge ändern sich eben manchmal und wir müssen einfach damit klarkommen.«
Die Trennung ihrer Eltern war jetzt zwei Jahre her. Seitdem hatte Emilie nur an Geburtstagen und Weihnachten mit ihrem Vater und Jasmin telefoniert. Warum musste Stockholm auch so weit weg sein? Sie vermisse die beiden, hatte sie ihm beim letzten Gespräch an seinem Geburtstag gesagt und er hatte ihr versprochen, sie in den Sommerferien zu besuchen. Na ja, die Ferien waren jetzt vorbei. Nein, Emilie brauchte nicht noch jemanden, der sie im Stich ließ. Dieser Benjamin war wie ihr Vater, arbeitete den ganzen Tag und lief in spießigen Anzügen herum. Jünger als ihre Mutter war er auch noch. Sie wollte einfach nur ihren Papa zurück. Andererseits, wog sie ab, hatte Alberto die beste Calzone in der Stadt. Bei Pizza konnte sie einfach nicht nein sagen und gab sich widerwillig geschlagen.
»Okay«, sagte Emilie und ihre Mutter lächelte. »Aber du brauchst mich nicht abzuholen. Ich komme direkt nach der Schule ins Restaurant.«
»Klar.« Sarah nickte und gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn. »Ich muss jetzt los. Wir sehen uns später. Pass auf dich auf und viel Spaß in der Achten.«
Emilie stellte die Schüssel in die Spüle, schnappte sich ihre Schultasche und den Haustürschlüssel und griff an der Garderobe nach ihrer Jeansjacke. Während sie die Hofeinfahrt hinunterrannte, ging sie in Gedanken die Abfahrtszeiten der Buslinie durch, zog schwungvoll das Tor zur Straße auf und drehte sich elegant hindurch, damit die Tasche nicht wieder am Türgriff hängen blieb. Zu spät hörte sie das Klappern von Hufen, als sie auf den Bürgersteig sprang. Etwas Schweres, Flauschiges rammte in ihren Bauch. Sie wurde herumgeschleudert, verlor das Gleichgewicht, hörte ein helles Wiehern und fiel mit dem Rücken auf die Straße. Nicht schon wieder das Handy, dachte sie kurz bei dem knirschenden Geräusch, dann schlug sie mit dem Kopf auf den Asphalt und alles wurde schwarz.
Emilie öffnete die Augen und blinzelte vorsichtig in den Himmel. Über ihr schwankten die Zweige der Kastanienallee, ihr Kopf dröhnte und ihr Handgelenk schmerzte. Als sie sich vorsichtig aufsetzte, zuckte ein stechender Schmerz durch ihren Unterarm, aber vor Überraschung vergaß sie zu schreien. Vor ihr stand ein kleines Pferd. Ein Pony mit großen, dunklen Augen. Sein Fell leuchtete rotbraun in der Morgensonne. Die Brust war nass und verklebt und die Nüstern bewegten sich im Takt mit dem runden Bauch, der sich schnell ausdehnte und wieder zusammenzog.
Emilie stand benommen auf, rieb sich das Handgelenk und ließ dabei das Pony nicht aus den Augen. Auch das kleine Pferd verfolgte jede ihrer Bewegungen. Sie strich sich mit den Fingern durch die Haare, bemerkte ihre roten Fingerkuppen und sank zurück auf die Knie.
»Bitte kein Loch im Kopf«, dachte sie laut und sah auf die Ponynase direkt vor sich. Ihr wurde schwindelig und ihr Blick verlor sich in den schwarzen Augen, in die sie hineinzufallen schien. Die Geräusche um sie herum verstummten, die Straße, die Bäume und die Autos verschwanden.
Emilie fand sich in einer Galaxie aus Milliarden funkelnder Sterne wieder. Erinnerungen aus ihrer Kindheit tauchten als lebendige Bilder überall um sie herum auf und veränderten sich. Sie sah sich durch den Garten ihrer Großeltern laufen. An der Wäscheleine hingen Papiergirlanden und bunte Luftballons. Es war Jasmins elfter Geburtstag. Alle saßen an einem langen Tisch, aßen Kuchen und lachten. Ihre große Schwester hielt mit leuchtenden Augen ein Hundebaby auf dem Arm. Autoreifen quietschten. Emilie drehte sich um. Neue Bilder blitzen in ihrer Vorstellung auf. Sie sah sich am Straßenrand sitzen und den kleinen, leblosen Körper in ihren Armen halten. Verzweifelt wartete sie auf die goldenen Lichtfäden, die schon so viele gebrochene Beinchen und Flügel geheilt hatten. Doch ihre Hände blieben leer.
Ein neues Bild erschien und die Kälte von damals kroch wieder durch ihren Körper. Ihr Vater nahm ihr das Hündchen aus den Händen. Sie sah ihre Mutter, die Jasmin tröstete, und sah sich selbst in den Schoß ihrer Großmutter fallen. Manchmal kommen wir zu spät, hörte sie Omas Stimme sagen. Dann können auch unsere Kräfte das Rad des Lebens nicht mehr anhalten. Emilie spürte, wie Großmutters Hände sie behutsam an sich drückten. Sie vergrub ihr Gesicht in den langen, silbergrauen Haaren und weinte. Sie wusste, sie hatte das heilende Licht, ihre besondere Gabe, verloren. Jetzt war sie so normal wie ihre Eltern, ihre Schwester, wie alle anderen. Sie sah sich selbst als sechsjähriges Mädchen und erinnerte sich an ihren Schwur. Ich will nie wieder ein Tier zum Freund haben, sagte sie und hörte gleichzeitig ihre eigenen Worte von damals. Zu tief saß die Angst, ihre kleinen Freunde noch einmal zu verlieren.
Die Bilder in ihrem Kopf verblassten. Die Kastanienallee und die parkenden Autos tauchten wieder auf und verdrängten die Erinnerungen. Emilie blinzelte. Tränen liefen über ihre Wangen und ihr Herz pochte laut. Ein schrilles Wiehern holte sie zurück in die Realität. Das Pony trat unruhig auf der Stelle und schüttelte die Mähne. Es stand noch immer vor ihr auf der Straße.
»Was war das denn gerade?«, fragte sie sich und sah dabei das Pony an. Benommen stand sie auf und klopfte sich den Schmutz von der Jacke. Etwas Seltsames war gerade mit ihr geschehen. Die Erinnerungen, die sie so lange Zeit verdrängt hatte, waren plötzlich wieder lebendig.
Das Pony scharrte mit den Hufen. Ein Lastwagen bog am Ende der Straße ein, näherte sich und hielt kurz vor ihnen an. Ein Mann mit Doppelkinn und aufgedunsenem Gesicht steckte seinen kahlen Kopf durch das Beifahrerfenster.
»Hey, Kleine, halte den Gaul gut fest! Das ist meiner!« Er stemmte sich gegen die Tür, die sich widerwillig öffnete und quetschte sich nach draußen. Emilies Blick flog über die verblassten Buchstaben auf dem dunkelblauen Kastenaufbau. Lebende Tiere & Schlachtvieh stand da.
Ein Schauer kroch ihr über den Rücken. Der fette Glatzkopf kam auf sie zu.
»Schön stehenbleiben, hörst du?« Ein paar Meter vor ihr wurde er langsamer. In seiner Hand hielt er ein zusammengerolltes Seil und eine Peitsche. »Wir werden dich schon wieder einfangen«, fluchte er.
Das Pony tänzelte nervös auf der Stelle.
Lauf, Pony!, dachte Emilie und sah zu dem Mann, dann wieder zu dem Pony. Lebende Tiere & Schlachtvieh.
»Jetzt lauf schon!«, schrie sie plötzlich und schlug dem Pony mit der flachen Hand auf das Hinterteil. Das Pony wieherte, trat nach hinten aus und galoppierte davon. Der Kopf des Dicken lief knallrot an. Der andere Mann ließ den Motor des Lastwagens aufheulen und eine schwarze Rauchwolke blies aus dem Auspuff. Emilie schnappte sich ihre Schultasche aus dem Rinnstein, griff nach ihrem Handy und rannte dem Pony hinterher.
Emilie blieb stehen und stützte sich keuchend auf den Knien ab. Was mache ich hier eigentlich? Sollen diese Typen ihr Pferd doch wieder einfangen. Was geht mich das an?
Bremsen quietschten.
»Verfluchte Göre«, schimpfte der Fahrer aus dem Führerhaus, als der Lastwagen hinter ihr zum Stehen kam. Auch das Pony blieb stehen und wartete.
Aber die Aufschrift auf dem Lastwagen … Emilie war hinund hergerissen. Nein, auf keinen Fall durfte sie zulassen, dass ihm irgendetwas angetan wurde. Sie musste dem kleinen Pferd helfen. Der Fahrer trat aufs Gaspedal. Der Motor heulte auf. Emilie sah dem Pony hinterher, wie es die Straße überquerte, und rannte los.
Zwischen den beiden Häusern da vorne führt ein Weg zum Park, da können sie dir nicht folgen, dachte sie und sah erstaunt, wie das Pony einen Haken schlug und in den Weg einbog. Emilie sprang zwischen den parkenden Autos hindurch, überquerte die Straße und verschwand ebenfalls zwischen den Häusern.
Der Fußweg führte entlang eines schmalen Grabens zwischen Hinterhöfen, durch den sich ein kleines Rinnsal schlängelte.
»Warte«, keuchte sie. Die kleinen, flauschigen Ohren drehten sich nach hinten.
»Ich kann bei dem Tempo nicht mithalten.«
Das Pony blieb stehen. Wieder sahen sie sich in die Augen.
»Du verstehst jedes Wort, stimmt’s?«
Das Pony schnaubte kräftig und schüttelte die Mähne.
»War das ein Ja?« Emilie lächelte. »Was mache ich nur mit dir? Ich traue diesen Typen auch nicht, aber ich muss in die Schule und bin schon echt spät dran.« Sie überlegte. »Wenn du erst einmal aus der Stadt raus bist, dann werden sie dich auch nicht mehr finden.« Ein helles Wiehern schallte durch die Hinterhöfe. »Gleich da vorne ist eine Haltestelle.« Sie zeigte über das Pony hinweg. »Linie 8 fährt bis zum Stadtrand.« Eine geniale Idee, dachte sie. »Ich stecke dich einfach in die Straßenbahn!«
»Bleibt endlich stehen, ihr Bastarde.« Der Dicke schleppte sich fluchend um die Ecke.
»Los, komm!«, rief Emilie.
Sie erreichten die Hauptstraße. Eine endlose Autoschlange schob sich stadteinwärts und auf der gegenüberliegenden Fahrbahn aus der Stadt heraus. Dazwischen verliefen die Gleise der Straßenbahn. Gegenüber lag der Stadtpark.
Emilie griff fest in die Mähne des Ponys. Jetzt bloß keinen Fehler machen, dachte sie mit zusammengepressten Lippen und zog das kleine Pferd bis zum Fußgängerüberweg hinter sich her. Sie hielt Abstand und bemühte sich, niemanden anzusehen, spürte aber die Blicke der anderen auf sich.
»Das ist aber ein schönes Tier«, sprach eine ältere Dame sie an. »Ist das dein Pony?«
»Nein, äh, ja …«, stotterte Emilie und spürte, wie ihre Ohren heiß wurden.
»Ist es nicht gefährlich, ein Pferd durch die Stadt zu führen? Ich meine, ohne ein Halfter?«
Wo hätte ich denn ein Halfter herbekommen sollen?, dachte Emilie, schüttelte verlegen den Kopf und hoffte, dass die Ampel endlich umschalten würde. Eine elegant gekleidete Dame hinter der Alten nuschelte mürrisch etwas von unvernünftig und man sollte die Eltern verklagen. Endlich leuchtete das grüne Männchen auf und die Menschen strömten auf die Straße. Das Pony blieb stehen.
»Hier ist nicht der richtige Ort, um ein Pferd auszuführen«, sagte die ältere Frau, nachdem sie sich noch einmal umgedreht hatte. »Pferde lieben die Freiheit. Auch kleine Pferde. Du solltest es schnell von hier fortbringen.« Mit erhobenem Zeigefinger tappste sie auf die Fahrbahn.
Danke, bin gerade dabei, dachte Emilie und lächelte genervt.
»Wir müssen jetzt da rüber«, flüsterte sie und zog an der Mähne, aber das Pony blieb stur.
Auf der anderen Straßenseite kam ein blauer Lastwagen ruckartig zum Stehen. An der Seitenwand waren die Umrisse von einem Schwein, einer Kuh und einem Pferd in einer einzigen, geschwungenen Linie aufgemalt.
»Wir kriegen dich ja doch«, schrie der Fahrer durch das offene Fenster, stieß wütend die Tür auf und sprang auf die Straße. Gleichzeitig tauchte der Glatzkopf von hinten zwischen den Passanten auf. Die Fußgängerampel wechselte auf Rot. Das Pony sprang wiehernd auf die Fahrbahn. Emilie rannte hinterher, schlug mit ausgestreckten Armen auf eine Motorhaube, die plötzlich vor ihr war, und blickte in die aufgerissenen Augen der Frau hinter dem Steuer. Auf der anderen Seite hupte jemand hinter dem Tiertransporter.
Der Fahrer des Lastwagens stieg fluchend zurück ins Führerhaus, während der Dicke den Fußgängerüberweg erreichte. Im nächsten Augenblick kam die Straßenbahn und versperrte die Sicht auf die gegenüberliegende Fahrbahn. Emilie sah die rotbraune Mähne zwischen den Passanten auf dem Bahnsteig, rempelte gegen einen Mann mit Aktenkoffer und sprang hinter zwei Jungs mit Skateboards in die Straßenbahn, kurz bevor sich die Türen mit einem lauten Zischen hinter ihr schlossen. Der Dicke schlug mit den Fäusten von außen dagegen.
Wo ist es? Panisch sah sie sich um, sprang zur anderen Fensterseite und entdeckte das Pony zwischen den Autos. Die Stirn an die Fensterscheibe gepresst, verfolgte sie das kleine Pferd, bis die Bahn um die Kurve bog und sie es aus den Augen verlor.
Finnian MacArren galoppierte über harten Asphalt, weichen Rasen und Kieswege, die unter seinen Hufen piksten. Er wich geschickt kleinen und großen Menschen aus, die überall herumstanden, und folgte den Fahrgeräuschen der Bahn, in die das Mädchen eingestiegen war, denn er war sich sicher, sie würde zurückkommen und ihm helfen. Und er brauchte dringend ihre Hilfe, wenn er seine Verfolger abschütteln und sein Ziel erreichen wollte.
Seine kurzen Beine schmerzten von der langen Strecke, die er heute Morgen bereits zurückgelegt hatte. Lauf!, hatte die alte Stute gerufen, bevor sie ihn von der Rampe gestoßen hatte, die in den Transporter führte. Mögest du die Welt verwandeln, hörte er sie noch sagen und Sieh niemals zurück! Dann entdeckte er das offen stehende Tor und galoppierte hindurch, ohne sich noch einmal umzudrehen. Seitdem war er auf der Flucht.
Während er durch den Park galoppierte, tauchten in seinen Gedanken die Geschichten über den alten Baum wieder auf, die sich die großen Pferde im Gestüt erzählten. Ob er ihn finden würde, diesen magischen Baum, von dem er so oft gehört hatte und der ihn wieder nach Hause bringen konnte? Finnian hatte keine Erinnerung mehr an die Zeit, bevor er als Fohlen aufgewachsen war, aber er spürte, dass diese Stallungen nicht sein wahres Zuhause waren.
Der Zusammenstoß mit dem Mädchen konnte kein Zufall gewesen sein. Zufälle gab es keine, schon gar nicht in dieser Welt. Er war bis hierher gekommen, jetzt durfte er auf keinen Fall aufgeben. Zu groß war die Hoffnung, in seine Welt zurückkehren zu können.
Hinter der hohen Parkmauer kam die Bahn mit schrill quietschenden Rädern zum Stehen. Türen zischten, Menschen sprangen heraus. Finnians feine Ohren nahmen jedes Detail wahr. Jetzt musste er schnell einen Weg finden, um auf die andere Seite zu gelangen. Er durfte das Mädchen auf keinen Fall verlieren.
Wie kann man nur so blöd sein? Wer kommt auf die bescheuerte Idee, mit einem Pferd Straßenbahn zu fahren? Emilie drängte sich an den anderen Fahrgästen vorbei zur Tür. War ja klar, dass ihr Plan schiefgehen musste. Aber falls das Pony noch im Park war, hatte sie eine Chance, es wiederzufinden. Und was, wenn diese Typen auch schon dort waren? Nein, es musste einfach noch da sein.
Sie sprang auf die Straße und spürte eine Stoßstange vor ihren Beinen. Der Fahrer schlug fluchend mit beiden Händen auf sein Lenkrad. Ohne auf ihn zu achten, rannte sie weiter und erreichte den Eingang zum Stadtpark.
Emilie blickte zu den beiden verwitterten Steinfiguren hinauf, während sie durch das Tor ging. Die finsteren Drachen sahen wachsam von ihren hohen Podesten auf sie herab. Vor ihr schob ein älterer Mann mühsam seinen Rollator über den Kiesweg und auf der Bank gegenüber schaukelte eine Frau einen Kinderwagen, in dem ein Baby schrie. Überall im Park standen Drachenskulpturen und starrten versteinert vor sich hin. Einige der Drachen waren dick und rund, mit freundlichen Kulleraugen, andere fies und drahtig wie Fischgräten. Aber nirgendwo ein Pony.
Zwischen den Bäumen sprudelte die Wasserfontäne des Teiches. Vielleicht hat es Durst?, dachte Emilie und überquerte schnell den Rasen, doch auf halber Strecke zögerte sie. Irgendetwas fühlte sich nicht richtig an, so als würde jemand beim Topfschlagen kalt rufen. Sie sah sich um.
Plötzlich blitzte eine rotbraune Mähne in ihren Gedanken auf. Das sind nur die Nachwirkungen von dem Schlag auf den Asphalt, beruhigte sie sich, tastete vorsichtig ihren Hinterkopf ab und stellte erleichtert fest, dass die Wunde nicht mehr blutete. Ihr Blick fiel auf die Parkmauer. Konnte es nicht sein, dass …?
Emilie lief zu den Sträuchern, die entlang der Mauer standen und verschwand im dichten Blätterwerk. Der vom Park aus unsichtbare Pfad zwischen der Steinmauer und den Sträuchern war überraschend breit. Sie hörte auf ihr Bauchgefühl und steuerte auf den Haupteingang zu. Ihr Herz hüpfte, als sie endlich ein kleines Pferd hinter einem Mauervorsprung stehen sah. Das Pony begrüßte sie mit schrillem Wiehern.
»Ich bin auch froh, dass du noch da bist. Ich war gerade ziemlich in Panik.« Die Kirchturmglocken läuteten. Mit jedem Schlag verpuffte Emilies Wiedersehensfreude ein bisschen mehr. »Das achte Schuljahr beginnt gerade ohne mich. Wie soll ich das nur Frau Zimmermann erklären?« Ihre Mitschüler hielten sie ohnehin schon für schräg, aber die Geschichte mit dem Pony durfte sie absolut niemandem erzählen. Nicht mal ihrer besten Freundin Anna. Muss ja auch keiner wissen, entschied sie, stand auf und klopfte das Laub von der Jacke.
»Ich muss jetzt echt los.« Sie strich mit der Hand durch die weiche Mähne. Hätte sie doch nur mehr Zeit. »Aber hier kann ich dich auch nicht lassen. Diese Kerle werden dich finden.«Es musste doch einen Weg geben, das Pony aus der Stadt zu bringen, ohne dabei entdeckt zu werden.
»Na komm, wir müssen erst mal aus dem Park raus. Opa hatte in ausweglosen Situationen immer gesagt: Ändere deinen Plan, aber niemals dein Ziel.« Emilie griff in die Mähne und zog das Pony neben sich her. Sie wusste zwar nicht, was sie vorhatte, aber ihr würde bestimmt noch etwas Besseres einfallen, als Straßenbahn zu fahren.
Sie durchquerten den Park, gingen in einem weiten Bogen an den Kindern vorbei, die vom Teichufer aus kichernd mit den Fingern auf sie zeigten, und erreichten die gegenüberliegende Parkmauer. Verborgen unter dichtem Efeu, der wie ein ausgefranster Teppich von der Steinmauer herabhing, befand sich ein Ausgang. Emilie öffnete die grüne Holztür einen Spalt, steckte den Kopf hindurch und ließ ihren Blick über die parkenden Autos schweifen.
»Niemand zu sehen«, flüsterte sie, drückte die Tür vollständig auf und schnalzte zweimal mit der Zunge. Das Pony folgte ihr mit einem Sprung nach draußen. Um auf Augenhöhe mit ihm zu sein, ging Emilie in die Hocke.
»Falls diese Typen uns am Haupteingang abfangen wollten, werden sie dort lange warten müssen. Wir gehen jetzt erst mal zur Schule. Ich habe zwar noch keine Idee, wo ich dich verstecke, aber nach dem Unterricht bringe ich dich aus der Stadt raus. Diese Kerle werden dich auf keinen Fall bekommen, das verspreche ich dir. Klingt nach einem guten Plan, was meinst du?«
»Klingt nach gar keinem Plan.«
Erschrocken riss Emilie den Kopf herum und sprang auf. Das Pony wich ein paar Schritte zurück und stieß mit dem Hinterteil gegen die Holztür. Zwischen zwei parkenden Autos kniete jemand vor einem Motorrad. Auf dem Boden lagen eine ausgerollte Werkzeugtasche und ein paar Schraubenschlüssel. »Hätte ich doch den Haupteingang genommen«, fluchte sie leise vor sich hin. Emilie kannte diesen Kerl. Warum musste sie Jack ausgerechnet jetzt begegnen? Eigentlich hieß er Jacob Sörensen und war der Adoptivsohn des Hausmeisters ihrer Schule, trieb sich ständig auf dem Schulgelände herum und erledigte irgendwelche Aushilfsarbeiten. Die Schüler aus den höheren Klassen nannten ihn Jack the Ripper. Die Gerüchteküche brodelte um diesen Außenseiter. Er soll angeblich streunende Hunde getötet haben und vor einigen Jahren für das spurlose Verschwinden einer Schülerin verantwortlich gewesen sein. Niemand in der Schule traute ihm über den Weg oder mochte Jacob, außer Anna. Sie fand, das ganze Gerede sei nur erfunden und die Sache mit dem verschwundenen Mädchen hatte sich auch aufgeklärt, denn die Familie war Hals über Kopf in eine andere Stadt gezogen und hatte nur vergessen, in der Schule Bescheid zu geben. Anna konnte sich schon immer für merkwürdige Typen begeistern. Emilie räusperte sich.
»Hi, Jack … Jacob.«
»Hej.«
»Du bist nicht in der Schule?«
»Das könnte ich dich auch fragen«, sagte Jacob, legte den Schlüssel weg und wischte sich die ölverschmierten Hände ab.
Emilie wurde nervös. Hoffentlich hört mich jemand, wenn ich um Hilfe schreien muss, dachte sie und vergewisserte sich, dass das Pony noch hinter ihr stand.
»Dein Pferd?«, fragte Jacob mit einem Blick auf das Pony.
»Lange Geschichte.« Die ich dir besser nicht erzähle, dachte Emilie. »Du hast mitgehört, was ich gesagt habe?«
»Du hast es uns ja deutlich erklärt, dem Pferd und mir.«
Jacob grinste.
»Wieso lauerst du mir auch auf?«, platzte es aus ihr heraus.
»Hey, ich lauere niemandem auf. Ich war zuerst da.« Er verstaute das Werkzeug in der Tasche und rollte sie zusammen. Dann stand er auf, rubbelte die Hände an dem fleckigen Lappen ab und kam auf Emilie zu. Sie hielt den Atem an und ballte die Hände zu Fäusten, doch er ging an ihr vorbei, kniete sich vor das Pony und hielt ihm seine Hand vor die Nüstern.
»Ich frage nicht, wo du ihn gefunden hast, aber sein Besitzer wird ihn vermissen, meinst du nicht?« Jacob sah Emilie an, während er das Pony hinter den Ohren kraulte.
Warum sagt er ›er‹? Ist das ein … Sie legte den Kopf schief.
»Wieso gibst du ihn nicht einfach wieder zurück?«
»Geht nicht, weil … ich muss los.« Ihre Knie schlotterten. »Du verrätst mich nicht, okay?«
»Bestimmt nicht. Wen interessiert schon, ob du mit einem Pferd spazieren gehst?« Jacob schwang sich auf sein Motorrad.
»Danke«, sagte sie erleichtert. »Ich heiße übrigens Emilie.«
Jacob lächelte, trat ein paar Mal auf den Anlasser und drehte am Gasgriff, bis das quälende Stottern des Motors in ein gleichmäßiges Dröhnen überging. »Viel Glück bei deiner Mission, Emilie.« Er setzte seinen Helm auf und drehte sich noch einmal um. »Wieso versteckst du deinen kleinen Freund nicht in den alten Lagerschuppen hinter der Turnhalle?«, schlug er vor und fuhr los.
Emilie sah ihm gedankenverloren hinterher. Was meint er mit ›bei meiner Mission‹? Hm, die Lagerschuppen. Wieso eigentlich nicht?
Die verlassenen Baracken hinter der Schule waren tatsächlich ein ideales Versteck. Erschrocken zog sie ihren Arm weg, als etwas Nasses über ihre Hand leckte. Das Pony schmatzte. Emilie verzog das Gesicht, doch irgendwie fühlte sich die warme Zunge angenehm an. »Du bist also ein Junge?«, fragte sie und warf einen verstohlenen Blick zwischen seine Hinterbeine.
Was hat er zu dir gesagt?« Die junge Wächterin hatte Mühe, mit ihrem Bruder Schritt zu halten, während sie durch die Korridore liefen. Cenh folgte den beiden schweigend.
»Nur, dass wir in den Großen Saal kommen sollen. Es gäbe wichtige Neuigkeiten.«
»Wir werden nie in den Großen Saal gerufen, da treffen sich nur die wirklich wichtigen Leute! Sonst hat er nichts gesagt?«
»Wieso wartest du nicht einfach, bis wir dort sind, Joy? Rangulf wird uns schon einweihen.« Eloy und Cenh eilten den Treppenaufgang hinauf. Als sie in den Hauptkorridor einbiegen wollten, zischte ein großer Vogel an ihnen vorbei. Joy erschrak, Eloy wich zurück und blickte vorsichtig um die Ecke. Eine Eule?
Vor dem Großen Saal bremste der Nachtvogel mit flatternden Flügelschlägen ab und verwandelte sich bei der Landung in eine menschliche Gestalt. Zögernd näherten sich die jungen Wächter.
»Zauberin Viska, wie schön Euch wiederzusehen«, rief Eloy und verneigte sich vor der Druidin, die sich über die förmliche Anrede sichtlich freute. Bevor sie eintrat, strich sie mit den Fingern durch ihr wildes Haar und zog ihre Robe glatt.
Die drei folgten der alten Frau in den Saal. Joy grüßte die Wachen an der Eingangstür und legte ihren Kopf dicht an Eloys Ohr. »Die Weisen des Landes waren sich bei solchen Zusammenkünften noch nie einig«, flüsterte sie ihm zu. »Ich dachte nur, dass Rangulf dir bei eurer Unterredung etwas anvertraut hat, was gleich hier drinnen nicht zur Sprache kommen wird.«
Eloy zog eine Augenbraue hoch und schüttelte den Kopf.
»Hätte ja sein können.« Joy lächelte.
Rangulf Gray, der am Tischende stand und durch die Fenster auf die Terrassen blickte, drehte sich um und begrüßte die neuen Teilnehmer der Runde.
»Viska, wie schön, dass du so kurzfristig kommen konntest. Hattest du eine angenehme Reise?«
Die alte Druidin hustete und klopfte ein paar Federn aus ihrer Robe, während sie auf einem der freien Stühle Platz nahm. »Lasst euch nicht unterbrechen, ich finde schon ins Thema hinein«, winkte sie ab.
Joy zählte fast zwanzig Männer und Frauen, die sich um den ovalen Tisch versammelt hatten. Außer Rangulf waren Cenh, sie und ihr Bruder die Einzigen im Raum, die keine Druiden waren und noch dazu die Jüngsten. Als Joy den alten Mann mit dem silbernen Haar erblickte, lief sie strahlend auf ihn zu.
»Joy, mein Engel.« Gwydion breitete die Arme aus und Joy warf sich auf ihn. »Nicht so stürmisch, junge Dame.« Der Druide lachte.
»Seit wann bist du hier? Wieso hast du uns nicht gesagt, dass du kommst?« Joy sprudelte vor Freude.
»Meister Gwydion, schön dich zu sehen.« Eloy verneigte sich vor dem Druiden.
»Eloy, mein großer Krieger!« Gwydion musterte den jungen Mann mit prüfendem Blick, dann verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Lächeln und Eloy warf sich ebenfalls in die Umarmung.
»Du erdrückst mich«, stöhnte Joy unter ihrem Bruder und stieß ihn weg. Eloy richtete sich auf.
»Ich hätte nicht damit gerechnet, dich so bald wiederzusehen.«
Auch Joy löste sich aus der Umarmung und setzte sich auf den Stuhl neben Gwydion.
»Jetzt sag schon, was führt dich zu uns?«
Der General trat unterdessen an den Tisch und räusperte sich. Das allgemeine Gemurmel verstummte und die Anwesenden nahmen ihre Plätze ein. Rangulf ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Alle Augen waren auf ihn gerichtet.
»Seid willkommen«, begann er.
»Wozu die überraschende Einladung nach An’Shanar, Gwydion?«
Verärgert sah Rangulf zu dem untersetzten Druiden hinüber, der ihn unterbrochen hatte.
»Ungeduldig wie eh und je«, murmelte Gwydion und rollte die Augen. »Gib ihm die Chance, uns willkommen zu heißen, Frode.«
Der Dicke lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Für einen kurzen Moment war es still.
»Warum sind die jungen Wächter hier?« Ein anderer Druide zeigte mit einem kurzen, knorrigen Gehstock über den Tisch. Die Teilnehmer verfielen in Gemurmel. Gwydion klopfte einige Male mit seinem Stab auf den Boden, bis die Diskussionen verebbten. Rangulf nickte ihm dankbar zu.
»Ich begrüße euch zu unserer Zusammenkunft und eröffne hiermit den Rat der Weisen. Joy, Cenh und Eloy sind drei unserer besten Späher. Wir haben sie in diese Runde gebeten, um uns über die aktuelle Situation zu informieren.«
»Wieso macht er das nicht selbst?«, flüsterte Joy ihrem Bruder zu, doch der wimmelte sie ab und erhob sich.
»Danke für die Ehre«, begann er. »Immer öfter hören wir von Übergriffen auf Dörfer und Siedlungen. Die Schatten formieren sich überall im Land. Sie werden immer zahlreicher. Unsere Patrouillen aus dem Süden berichten, dass sich die Zeltstadt ungewöhnlich schnell ausdehnt, seit sie …«
»Wir haben vom Süden nichts zu befürchten«, unterbrach ihn einer der Druiden auf der gegenüberliegenden Tischseite. »Die Zeltstadt ist ein riesiger Jahrmarkt, von dort droht keine Gefahr. Die Händler hätten längst Alarm geschlagen, wenn dort dunkle Kreaturen eingefallen wären. Und was die Übergriffe angeht … An’Shanar ist sicher. Die Schatten werden diese Bastion niemals einnehmen.«
»Was ist mit der Königsstadt südlich der Ebenen?«, warf Gwydion ein und ein Raunen ging durch den Saal. Dieses Mal klopfte Reik der Berater mit seinem Stab auf den Boden, um für Ruhe zu sorgen.
»Die Königsstadt ist unbewohnt. Wer sollte Interesse an diesem verlassenen Ort haben, Gwydion?«
»Die Stadt beherbergt das gesammelte Wissen des Landes seit Anbeginn der Zeit.« Gwydion sah in die Runde. »Die Bibliothek in den Händen von Schergen könnte für die freie Welt gefährlich werden.«
Reik wies die Bedenken des Druiden mit einer schroffen Handbewegung zurück. »Was sollten diese körperlosen Geschöpfe mit dem toten Wissen des Königshauses anfangen?«
»Wissen ohne Weisheit stellt immer eine Bedrohung dar«, erwiderte Gwydion. »Aber ungeachtet der unzähligen Bücher birgt die Bibliothek angeblich noch einen weiteren Schatz.«
»Niemand weiß, wo dieser Kristall aufbewahrt wird, geschweige denn, ob er überhaupt existiert«, entgegnete Reik aufbrausend.
»Und niemand behauptet das Gegenteil«, sagte Viska mit einem neckischen Lächeln in Reiks Richtung.
»Die Flammen der Stadtmauern schützen die Bibliothek von R’ha seit Jahrhunderten und keine Armee wird sie jemals unerlaubt überwinden«, rief Frode mit rotem Kopf dazwischen. Diskussionen loderten auf.
Eloy zog die Stirn in Falten. »Von was reden die da?«, flüsterte er seiner Schwester zu.
»Hab ich es nicht gesagt? Die schlagen sich gleich gegenseitig die Köpfe ein.« Joy lachte.
Rangulf unterbrach das Durcheinander. »Gibt es irgendwelche Vorfälle an den Portalen?«, fragte er mit fester Stimme in den Saal hinein.
Cenh meldete sich zu Wort. »Bislang nicht. Wir erwarten die Späher aus den östlichen Gebieten spätestens morgen. Dann haben wir einen vollständigen Bericht.«
Der General nickte anerkennend und Cenh verneigte sich. Gwydion erhob sich von seinem Stuhl. »Jeder von euch kennt die Erzählungen von Tír. Wir alle geben sie von Generation zu Generation weiter und damit die Hoffnung auf die Wiederkehr des Königshauses.«
Reik sah den Druiden fragend an. »Du sprichst von der alten Legende? Verschone uns mit deinen Spinnereien. Das sind Märchen! Wir benötigen jetzt einen Schlachtplan, um die Schatten aus dem Land zu drängen. Du hast gehört, was die jungen Späher berichtet haben.«
Gwydion fuhr unbeirrt fort. »Seit einiger Zeit beobachte ich den Lauf der Monde. Mir scheint, uns steht ein großes Ereignis bevor. Ich sage euch, nach all der Zeit des Wartens besteht vage Hoffnung auf die Rückkehr des Königs.«
Es wurde totenstill. Verwirrt, sprachlos, entsetzt sahen die Teilnehmer des Rates Gwydion an.
»Deshalb habe ich euch hierher gebeten«, sagte er in die Stille hinein. »Noch sind die Zeichen widersprüchlich, doch gemeinsam können wir sie deuten. Wir müssen vorbereitet sein, sollte sich die alte Legende erfüllen. Ich wünschte nur, uns bliebe mehr Zeit.«
Viska die Weise rollte die Augen und kicherte. Dann zeigte sie mit ausgestrecktem Finger auf jeden einzelnen in der Runde. »Kein Krieger beendete je einen Krieg. Schatten verschwinden nicht durch noch mehr Dunkelheit.«
Die Druiden sahen sich fragend an.
»Was willst du uns damit sagen, Viska?«
»Ihr habt Gwydion gehört«, antwortete die alte Frau.
»Und ihr habt Reik gehört.« Wieder kicherte sie.
»Was hört ihr auf diese verrückte Alte?«, brauste einer der Druiden auf.
»Pssst!«, unterbrach ihn Viska. Lange Sekunden verstrichen, bevor sie weitersprach. »Ihr alle habt die Worte gehört, doch haben auch eure Herzen sie vernommen?«
Gwydion ließ seinen Blick über die Gesichter schweifen. Alle horchten in sich hinein und einer nach dem anderen schien die tiefe Weisheit in Viskas Worten zu erkennen.
Es lief fast zu perfekt. Jacobs Idee war richtig gut. Die verlassenen Lagerschuppen hinter der Turnhalle boten ein ideales Versteck, wenn man zwischen den Schulstunden immer mal wieder schnell nach einem gestohlenen Pferd sehen musste, um seine Nerven unter Kontrolle zu halten. Emilie hatte die aneinandergereihten Lagerräume ohne weitere Zwischenfälle erreicht und sich spontan für den zweiten Schuppen entschieden. Das Pony lief beinahe von selbst hinein. Nachdem sie die Tür verriegelt und ins Schulgebäude gehuscht war, hastete sie die Treppe hinauf, nahm dabei zwei Stufen auf einmal und erreichte ihr Klassenzimmer im ersten Stock. Sie atmete tief durch und klopfte an die Tür.
»Ja, bitte?«
Sie öffnete und trat ein. Ihre Klassenlehrerin, Frau Zimmermann, stand mit einem Stück Kreide in der Hand an der Tafel.
»Du bist spät. Alles okay?«
Emilie nickte und spürte, wie sie zwanzig Augenpaare anglotzten.
»Ich … äh … habe mich verspätet.«
Alle lachten. Frau Zimmermann sah auf die Wanduhr und nickte. »In der Tat, Emilie. Wir reden nach der Stunde. Bitte wieder Ruhe hier.«
Sie drehte sich zur Tafel und schrieb weiter. Die anderen beugten sich kichernd über ihre Hefte, während Emilie so unsichtbar wie möglich zu ihrem Tisch schlich, den sie mit Anna teilte.
»Wo bleibst du denn?«, flüsterte ihre beste Freundin und sah sie vorwurfsvoll an. »Aber erst mal hey!«
Kaum hatte sie sich gesetzt, fiel ihr Anna um den Hals und drückte sie herzlich. Emilie legte ebenfalls ihren Arm um Anna und versuchte mit der anderen Hand, ihre Tasche abzustellen.
»Hast du während der Ferien auch mal geduscht?« Anna rümpfte die Nase.
Emilie legte Heft und Füller auf den Tisch.
»Du riechst nach Bundesjugendspielen und Zirkus.«
»Ich hab den Bus verpasst und bin gelaufen«, flüsterte Emilie und roch an ihrem Pulli. Sie stank tatsächlich nach Pferd.
»Ich hab dir den ganzen Morgen Nachrichten gesendet.« Anna lehnte sich nach hinten. Ihre Stimme klang besorgt, hatte aber einen leicht vorwurfsvollen Unterton. Emilie legte wortlos ihr Handy auf den Tisch. Anna tastete vorsichtig mit den Fingerspitzen über die Splitter des zerbrochenen Displays.
»Oh nein, wie hast du das denn geschafft?«
»Ich bin auf Nelly ausgerutscht«, sagte Emilie, was nicht unbedingt gelogen, aber auch nicht die ganze Wahrheit war.
»Mein Stoffelefant« ergänzte sie, als Anna sie fragend ansah.
»Du gibst deinen Stofftieren immer noch Namen?«
»Jeder gibt seinen Tieren Namen.«
Anna verdrehte die Augen und sah sie skeptisch an.
»Du bist vierzehn, Emi. Okay, was ist wirklich passiert?«
Sollte sie Anna von ihrer Rettungsaktion erzählen? Besser noch nicht, entschied sie. Je weniger davon wussten, umso sicherer war das Pony.
»Ich war spät dran, hab den Bus verpasst und bin auf dem Bordstein ausgerutscht.«
»Du bist von einem Bürgersteig gefallen? Hattest du irgendwelche Medikamente in deinem Frühstück?«
»Was haben die Damen auf den hinteren Rängen so Wichtiges zu besprechen?« Frau Zimmermanns Stimme schallte durch das Klassenzimmer. Schnell steckten die beiden ihre Nasen in die Hefte. Verstohlen warf Emilie einen Blick zur Fensterreihe. Erik beobachtete sie breit grinsend.
»Der hat vorhin schon nach dir gefragt«, flüsterte Anna.
»Ich will’s gar nicht wissen«, antwortete Emilie und blies genervt eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht.
Die Stunde zog sich wie Kaugummi zwischen den Zehen. Emilie musste pausenlos an das Pony denken und konnte sich nicht auf den Unterricht konzentrieren. Anna holte sie immer wieder mit leichten Ellbogenhieben in die Realität zurück, wenn Frau Zimmermann mal wieder mit Emilies geistesabwesendem Körper sprach. Anna hatte sie schon unzählige Male gerettet. Sie war mit ihren Eltern im selben Jahr in die Stadt gezogen, in dem auch Emilie mit ihrer Mutter hierhergekommen war, und so wurden sie als die beiden Neuen in der Klasse behandelt, was sich bis heute nicht geändert hatte. Anna war superintelligent und neugierig. Ihr Leben war durchorganisiert. Sie hatte einfach alles unter Kontrolle. Ganz im Gegensatz zu Emilie. Wenn etwas schiefging, dann bei ihr. Dabei konnte sie für die meisten Pannen gar nichts. Sie passierten einfach, so als würde sie Probleme magisch anziehen. Aber das Tollste an Anna war, dass sie so unglaublich liebenswert war. Obwohl sie wegen ihrer vielen Projekte ständig beschäftigt war, trafen sich die beiden fast täglich. Anna war wie ein Schutzengel, den sie auch brauchte, seit Emilies Vater nach Stockholm durchgebrannt war und sie mit ihrer Mutter alleine gelassen hatte.
Die Schulglocke läutete. Die Klasse sprang auf und rannte in die Pause, während Emilie mit hängenden Schultern zum Lehrerpult schlurfte. Anna zwinkerte ihr aufmunternd zu und verschwand als Letzte durch die Tür.
»Also, was war heute Morgen los?« Frau Zimmermann schlug das Klassenbuch auf. Emilie suchte nach einer glaubwürdigen Geschichte ohne Pony und Verfolgungsjagd.
»Ich bin auf den Kopf gefallen und habe den Schulbus verpasst.« Klang nicht sehr überzeugend, dachte sie. »Auf der Bordsteinkante in unserer Straße, habe ein Auto übersehen«, ergänzte sie schnell und griff sich an den Hinterkopf. Die Beule war abgeschwollen. Auch die Schrammen an der Hand waren verschwunden und ihr Handgelenk fühlte sich an wie neu. Sie hatte bisher gar nicht bemerkt, dass ihre Wunden verheilt waren.
Frau Zimmermann sah sie skeptisch an. »So schlimm sieht es ja nicht aus. Hast du noch Schmerzen?«
Emilie schüttelte den Kopf. »Ich hatte wohl Glück«, nuschelte sie und spürte, wie ihre Ohren heiß wurden. Sie nimmt mir die Geschichte nicht ab.