Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die wichtigsten Dramen von Ödön von Horváth sind ein Muss für alle Leser, die an sozialen und politischen Themen interessiert sind. Seine Werke bieten nicht nur eine fesselnde Lektüre, sondern regen auch zum Nachdenken über die menschliche Natur und die Gesellschaft an. Durch die Darstellung von Konflikten und moralischen Dilemmas in seinen Dramen, fordert von Horvath den Leser heraus, eigene Überzeugungen zu hinterfragen und moralische Entscheidungen zu treffen. Diese Sammlung von Dramen ist ein eindringliches Zeugnis für die menschliche Condition und bleibt auch heute noch relevant und inspirierend.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 1225
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Books
Mord in der Mohrengasse
Zur schönen Aussicht
Die Bergbahn
Sladek der schwarze Reichswehrmann
Rund um den Kongreß
Italienische Nacht
Geschichten aus dem Wiener Wald
Kasimir und Karoline
Die Unbekannte aus der Seine
Hin und Her
Mit dem Kopf durch die Wand
Don Juan kommt aus dem Krieg
Figaro lässt sich scheiden
Pompeji
Ein Dorf ohne Männer
Der jüngste Tag
Inhaltsverzeichnis
Personen
Erster Akt
Zweiter Akt
Dritter Akt
Inhaltsverzeichnis
HERBERT MÜLLER
ILSE KLAMUSCHKE
MUTTER KLAMUSCHKE
MATHILDE KLAMUSCHKE
PAUL KLAMUSCHKE
WENZEL KLAMUSCHKE
DREI DIRNEN
EIN VERWACHSENER
DIE ALTMODISCHE
EIN POLIZIST
EIN EISENBAHNER
SEIN WEIB
EIN SECHZEHNJÄHRIGER
SIMON KOHN
ZWEI POLIZISTEN
BARGÄSTE
EIN KOMMISSAR
POLIZISTEN
ZWEI DETEKTIVE
Spielt innerhalb zwölf Stunden.
Inhaltsverzeichnis
Bürgerliches Wohnzimmer. Im Hintergrunde zwei Türen: die rechts führt in ein kleines Vorzimmer und ist sie offen wird die Haustüre sichtbar. Links über einem runden Tische die Lampe. Rechts ein Fenster neben einem Sofa. An den Wänden Familienfotografien in goldenen Rahmen. Spätnachmittag.
Herbert Müller am Fenster, wartet; erblickt auf dem Tische einen Teller Backwerk; fixiert ihn; nähert sich ihm; lauscht – steckt sich rasch ein Stück in den Mund, kaut. Ilse Klamuschke achtzehnjährig altklug; tritt durch die linke Türe ein.
Müller schluckt.
ILSE
Sogleich kommt Mama. Sogleich.
MÜLLER
verlegen, nur um etwas zu sagen: Ilse. Ich dachte mir eben wieder: in zwei Jahren.
ILSE
unterbricht ihn: Man soll nie Pläne machen.
MÜLLER
Man muß Pläne machen! Freilich: ob selbe Körperlichkeit annehmen steht in einem besonderen Kapitel. Ilse verbeißt ein Lachen. Denkt an das Backwerk. Warum lachst du?
ILSE
Sei nicht böse, bitte. Nur: unlängst fiel mir auf wie häufig du das Wort »Kapitel« gebrauchst. Hör ich es nun, muß ich lachen.
MÜLLER
atmet unterdrückt erleichtert auf: Folglich erscheine ich dir häufig lächerlich. Danke.
ILSE
Aber!
MÜLLER
gereizt: Folglich ist ein Kapitel für sich, daß – Er stockt da. Ilse ihn erschrocken anstarrend. Lächelt. Hast es nicht gehört?
ILSE
Was?
MÜLLER
Das Wort.
ILSE
Nein.
MÜLLER
innig und eitel: Ilselein. Siehst du: Mann soll der Mann sein und die Frau überhört ihr eigenes Lachen und –
ILSE
gereizt: Quatsch! Ich hab es doch gehört!
MÜLLER
Was?
ILSE
Das Wort. Wähle nun: lachen oder lügen? Müller starrt sie an.
MUTTER KLAMUSCHKE
tritt durch die linke Türe ein: Es freut mich Sie endlich begrüßen zu können, Herr Müller. Meine Tochter hat mir vieles über Sie erzählt und ich habe Sie also bereits gekannt eh ich Sie sah. Müller verbeugt sich und lächelt überlegen.Mutter setzt sich und bietet ihm Platz an.Müller setzt sich.Stille. Seit mein Mann starb ist es still bei uns geworden, obwohl mein Sohn mit seiner Frau zu uns zog. Sie kennen ja meinen Sohn? Früher: vom Schwimmverein. Das ist nun auch vorbei. Er ist den ganzen Tag über in der Bank beschäftigt. Wir eigentlich warten nur auf ihn. Stille. Ich hörte Sie arbeiten an einem wissenschaftlichen Werke –
MÜLLER
Oh.
MUTTER
Sie tanzen wohl gerne?
MÜLLER
Manchmal. Wichtig. Ich behandle gegenwärtig auf Grund intuitiver Beobachtungen das Ketzer- und Hexenwesen mit besonderer Berücksichtigung der Schwangerschaft. Seit frühester Kindheit reizt mich nämlich das Verbrecherische irgendwie. Es dämmert stark.Ilse dreht das Licht an.Mutter starrt ihn an. Es ist sehr interessant. Mutter nickt.
MÜLLER
weicht ihrem Blicke aus, betrachtet seine Schuhspitzen; dann die Lampe.
MUTTER
erhebt sich: Sie müssen mich entschuldigen. Es ist sehr interessant. Doch: wenn Ilse noch essen will bevor Sie tanzen gehen –
MÜLLER
verabschiedet sich: Versteht sich! Dann: in einer guten Stunde hole ich Fräulein Ilse ab. Gnädigste!
ILSE
begleitet ihn ins Vorzimmer; schließt die Türe. Mutter allein; denkt nach, nickt, murmelt; setzt sich.
MUTTER KLAMUSCHKE
ist schwanger im siebenten Monat; tritt von linksher ein; leise: Ist er fort?
MUTTER
erhebt sich wie geweckt: Ja.
MATHILDE
Wo nur Paul so lange bleibt?
MUTTER
Monatsende, Abschluß: das gibt Arbeit. – Hast du die Kartoffeln schon geschält?
MATHILDE
Alle Kartoffeln?! Ilse soll doch auch –
ILSE
ist wieder eingetreten; unterbricht sie: Ich tu schon! Tu schon.
MATHILDE
Aber nichts Richtiges! Bücher lesen und so!
ILSE
Du Kuh!
MUTTER
Schweigt! Der Müller hört das noch ins Treppenhaus! Stille.
ILSE
Ich zieh mich jetzt um.
MATHILDE
Und ich soll die Kartoffeln schälen.
ILSE
Ach, du Aschenbrödel!
MATHILDE
reißt sich die Schürze vom Leibe: Eher verhunger ich!
ILSE
Einmal geht man aus.
MUTTER
Zieh dich nur um. Ilse ab durch die linke Türe.
MATHILDE
Was ist denn dieser Müller für ein Mensch?
MUTTER
Er scheint recht klug zu sein.
MATHILDE
Klüger als Ilse?
MUTTER
ruhig: Sag: kannst du klagen, daß ich mein eigenes Kind besser behandle?
MATHILDE
boshaft: Welches Kind?
MUTTER
starrt sie an: Bist ein schlechter Mensch, Thilde.
MATHILDE
Vielleicht bin ich einer geworden. Gewesen bin ichs nicht. Doch, wenn man sieht – und ständig diese Leichenhausmiene seit das Kind unterwegs –
MUTTER
unterbricht sie: Das ist nicht wahr!
MATHILDE
Doch, das ist wahr. Niemand kennt Rücksicht: muß genau so kochen, räumen, schuften –
MUTTER
Wer übernahm die Führung meines Hauses?
MATHILDE
Nie wollt ich dich verdrängen.
MUTTER
Aber du hast es getan.
MATHILDE
Glaub: auch ich könnt mich beklagen.
MUTTER
Dann nörgle nicht! Sondern tus!
MATHILDE
Nein. Es ist ja zwecklos: er ist den ganzen Tag über in der Bank – und ich hätte die Hölle.
MUTTER
Die haben wir alle.
PAUL KLAMUSCHKE
tritt in Hut und Mantel verstört von rechtsher ein; läßt die Vorzimmertüre offen.
MATHILDE
Endlich! – Was ist dir denn?
PAUL
zur Mutter: leise: Er steht drunten.
MUTTER
Wer? Begreift, verstummt; dann leise: Hast ihn gesprochen?
PAUL
barsch: Nein, das weißt du! – Nur gesehen: unten am Gitter. Schien zu überlegen ob er uns beehren soll.
MATHILDE
Daß er immer wieder kommt!
PAUL
Als hätten wir Geld! Als hätt er uns noch zuwenig bestohlen!
MATHILDE
Still!
Die Drei lauschen. Stille; dann ertönt kurz die Glocke.
MUTTER
Laßt mich allein.
PAUL
unterdrückt: Aber gib ihm nichts!
MUTTER
nickt nein: Mathilde: die Kartoffeln.
MATHILDE
Nein. Ich werde Wurst aufschneiden. Ab mit Paul nach links.
MUTTER
allein; geht langsam durch das Vorzimmer und öffnet die Haustüre.
WENZEL KLAMUSCHKE
verwahrlost; tritt ohne Gruß an ihr vorbei in das Wohnzimmer; geht umher; bleibt manchmal vor einem Gegenstande stehen und lächelt.
MUTTER
folgte ihm mit den Blicken: Was willst du?
WENZEL
Ja –
MUTTER
Geld hab ich keins.
Wenzel fixiert sie. Stille.
WENZEL
Schäm dich nicht.
MUTTER
Meinst du ich schämte mich vor dir?
WENZEL
Ach so. Er geht wieder umher. Vor mir darf man sich ja nicht schämen. Bin ja ein Dieb. Hab vom fremden Tellerchen gegessen. Und – Freilich, freilich. Aber dieser Tisch! Am Sonntag gab es Rostbraten mit Endiviensalat. Oder Endiviensalat mit Rostbraten. Und dann stritt man sich dort um den Eckplatz am Sofa. Einer schrie, einer gab nach und las Lokalnachrichten: immer wieder. Jeden Tag. – Eine soll mir sogar ähnlich sehen wurde behauptet.
MUTTER
Bist nur gekommen um wieder weh zu tun?
WENZEL
sachlich: Nein. Ich wollte auch nie weh tun. Jedoch es ist mein Fehler, daß ich laut denke und tue. Bin nämlich der verlorene Sohn, nur möcht ich wissen wer mich verloren hat.
MUTTER
Wie gerne du dich reden hörst.
WENZEL
Ja: wenn man unverstanden bleibt.
MUTTER
Boshaft wie immer.
WENZEL
Nein: dumm.
Mutter horcht auf. Stille.
MUTTER
leise: Wenzel –
WENZEL
unterbricht sie: Jetzt geh ich.
MUTTER
schlägt um: So geh! Wir haben doch nichts miteinander gemein.
WENZEL
Glaubst du?
Stille.
MUTTER
Was willst du noch hier?
WENZEL
sieht um sich: Wollte nur sehen – wie es euch geht. Er grinst.
MUTTER
starrt ihn an: Jetzt wird mir bange.
WENZEL
leise: Es ist nichts geschehen. Nichts. – Ich ging nur vorbei – Er geht an die Haustüre und öffnet sie; überlegt einen Augenblick, schlägt die Türe von innen zu und bleibt während des Folgenden im Vorzimmer stehen von Niemandem bemerkt. Paul von linksher.
MUTTER
dumpf: Wieder gehorcht.
PAUL
Ja. Er hätte dich auch wieder schlagen – Er stockt da.
ILSE
in einem billigen Ballkleid eintritt; zur Mutter: Da: bitte: den Knopf krieg ich nicht zu.
MUTTER
knöpft ihr am Rücken einen Knopf zu. Ruft. Mathilde! Das Essen!
MATHILDE
tritt eben mit Schüssel und Tellern ein: Zu Befehl, gnädiges Fräulein! Zu Befehl! Sie deckt den Tisch. Alle setzen sich um ihn und essen. Wenzel hinter der rechten Türe, sieht ihnen eine kleine Weile zu; geht dann indem er die Haustüre geräuschlos öffnet und schließt. Die Vier essen.
Inhaltsverzeichnis
Mohrengasse. Von links nach rechts: Ein geschlossener Laden mit Schildaufschrift: Diamanten. Gold. Simon Kohn. Kauf. Verkauf. Eine schmale Hoteltüre, die in einen matt erleuchteten Korridor mündet. Vor dem ersten Stocke halbkreisförmig trübelektrische Buchstaben: Hotel. Eine Bar. Hinter der schmutzigen Fensterscheibe, auf der ein altes Plakat klebt, geigt ein Schatten. Man hört aber keine Musik. Es ist Nacht und still.
Drei Dirnen, zwei rechts, eine links vor dem Laden; horchen.
ERSTE
Klopf nochmal.
ZWEITE
klopft an den Laden.
EIN VERWACHSENER
tritt aus der Bar und läßt die Türe offen; gedämpft Musik: Wie lange –
ERSTE
unterbricht ihn: Pst! Schließ die Türe!
Verwachsener schließt sie und horcht. Stille.
ZWEITE
Niemand. Er ist nicht zuhause.
VERWACHSENER
Wie lange wollt ihr noch warten? Versetzt. Ich sags.
ZWEITE
nähert sich den anderen: Das tat er noch nie. Der alte Schuft!
DRITTE
Vielleicht ist etwas geschehen.
ERSTE
Was denn?
DRITTE
Man kann nie wissen.
ZWEITE
Pah!
Stille.
ERSTE
Ich weiß nur: hab kalte Füße und kann kaum mehr stehen. Und nun kommt so nichts mehr.
VERWACHSENER
sieht auf die Uhr: Was Richtiges sicher nicht.
ZWEITE
Still! Es kommt wer.
Verwachsener verschwindet in der Bar. Die Drei stellen sich bereit, verstellen die Gasse. Die Altmodische gekleidet nach der Mode vor fünfundzwanzig Jahren und dichtverschleiert; kommt von links und bleibt vor der Hoteltüre stehen. Die Drei beobachteten sie, sehen sich nun an – Eine seufzt boshaft – kichern und eilen in die Bar. Ein Polizist erscheint rechts und sieht sich um. Die Altmodische klebt regungslos an der Wand.
POLIZIST
erblickt sie; hält langsam auf sie zu; leise: Ihre Papiere. Seit wann sind Sie hier?
ALTMODISCHE
kramt geziert umständlich ihren Ausweis hervor; gefällig: Seit heute, mein Herr.
POLIZIST
gutmütig: Sie sollen sich aber nicht so auffallend anziehen. Das ist verboten.
ALTMODISCHE
Auffallend?! Ein einfaches Straßenkleid!
POLIZIST
lächelt: Aus Urgroßmutters Zeiten.
ALTMODISCHE
Ich habe kein anderes.
POLIZIST
Das gibt es doch gar nicht! Er blickt in ihre Papiere. Der Schein. Stimmt. Er blättert; mechanisch. Gestern entlassen? Aus welcher Strafanstalt?
ALTMODISCHE
Sankt Lazarus.
Polizist horcht auf; liest. Altmodische wird unruhig. Wenzel von rechts; will nach links; erblickt den Polizisten, zögert und bleibt vor dem alten Plakate am Barfenster stehen, als würd er lesen.
POLIZIST
spricht nun noch leiser: Also: zweiundzwanzig Jahre waren Sie dort. Und: weshalb?
ALTMODISCHE
Das muß ich nicht sagen. Bin begnadigt.
POLIZIST
Das tut nichts zur Sache! Ich muß wissen wen ich im Revier habe.
ALTMODISCHE
tonlos: Aufforderung zum Mord.
POLIZIST
Den Schleier. Lüften. Altmodische hebt ihn, ein maskenhaft leeres Antlitz umrahmen grauweiße Haare. Weicht etwas zurück; vergleicht rasch. Es ist schon gut. Und: die Vorschrift kennen Sie ja. Er geht an Wenzel vorbei nach rechts ab. Wenzel ohne Blick für die Altmodische langsam nach links ab. Altmodische allein; lehnt den Kopf an die Wand und wimmert; verstummt und horcht; rafft sich verschleiert empor. Ein Eisenbahner von linksher mit seinem Weibe.
WEIB
leise: Ich weiß du liebst mich nicht mehr.
EISENBAHNER
blickt nach der Altmodischen: Quatsch doch nicht immer solch Zeug!
WEIB
dumpf: Es ist schon so. Wirst schon sehen –
EISENBAHNER
lächelt: Willst mich vergiften? Dummes Ding – Wart, hol nur Zigaretten. Ab in die Bar.
Weib sieht sich scheu um. Altmodische glotzt sie an. Wenzel kommt langsam wieder von linksher. Weib rasch an die Bartüre; will hinein, doch –
EISENBAHNER
tritt soeben heraus; Zigarette im Mundwinkel. Was hast du denn schon wieder?
WEIB
Angst. Komm – Laß mich nur nicht allein.
EISENBAHNER
Ja, wer das könnte.
WEIB
Will auch nichts mehr sagen.
EISENBAHNER
gähnt: Bin auch müde. Der ewige Dienst – Ab mit ihr nach rechts. Wenzel steht nun wieder vor dem Plakate.
ALTMODISCHE
nähert sich ihm: Pst! Hören Sie –
WENZEL
unterbricht sie: Nein.
Stille.
ALTMODISCHE
Wollen Sie kein liebes Frauchen?
Wenzel schweigt. Neben ihm; liest laut das Plakat. Wohltätigkeitsfest. Unter dem Protektorate Ihrer Hoheit. Tombola und Tanzturnier. Bazar. Montag am zweiten – Das war doch schon.
WENZEL
Ja.
ALTMODISCHE
Und trotzdem lernen Sies auswendig?
WENZEL
Ja.
ALTMODISCHE
Nein. Sie schauen in den Spiegel. Das soll man nie in der Finsternis: man wird verrückt oder sieht den Satanas neben sich.
WENZEL
Ich sehe Sie.
ALTMODISCHE
Und ich Sie. Wir gehören zusammen.
WENZEL
Jawohl.
ALTMODISCHE
Also: wollen wir nichts unternehmen?
WENZEL
Ich hab kein Geld.
ALTMODISCHE
Ich noch weniger. Das Leben ist zu teuer für die kleinen Frauen.
WENZEL
wendet sich ihr zu: Hören Sie: Sie werden sich doch etwas erspart haben: in zweiundzwanzig Jahren.
ALTMODISCHE
prallt zurück: Woher wissen Sie das?
WENZEL
Zufällig. Zuvor. Verzeihen Sie mir, daß ich es hörte.
ALTMODISCHE
Nichts wissen Sie!
WENZEL
Wieso?
ALTMODISCHE
Du kannst umsonst! Wann du willst – nur wissen Sie nichts! Wissen Sie nichts!
Wenzel lacht irr. Ein Sechzehnjähriger blaß hochaufgeschossen; erscheint links und bleibt unschlüssig stehen.
WENZEL
zum Sechzehnjährigen: Nach Ihnen! Umsonst –
ALTMODISCHE
Bist verrückt?!
WENZEL
Herr! kauen Sie nicht an den Fingernägeln! Spucken Sie aus und treten Sie näher! Es kostet nur das Zimmer!
ALTMODISCHE
zischt: Ich bete für dich.
WENZEL
Nur Wohltätigkeit! Unter meinem Protektorate!
ALTMODISCHE
zum Sechzehnjährigen: Komm! So komm! Es ist doch umsonst! Ab ins Hotel. Sechzehnjähriger folgt ihr verschüchtert.
WENZEL
Fahrwohl! Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar. Sentimental und mit Pickeln im Gesicht. Gute alte Zeit! Der Tisch, der Tisch – ich werde verrückt, verrückt! Er preßt die Stirne an das Barfenster. Siehst du den Satanas? Nur dich selbst! Kein Teufel, da kein lieber Gott! Nur zwei Augen, Nase, Mund, eine Stirne, niemals zwei, ein Hut um sechsfünfzig und die Gnade nur selten von der Wahrheit besucht zu werden. Das ist alles. Oder nichts. Bist erkannt du Dreck! Erkannt! – Doch ich will nicht mit Trauerfahnen jubilieren.
Ein Hotelfenster wird hell. Sieht empor. Hm. Jetzt betritt er das Zimmer. Kostet zwei Mark. Teuer. Und billig. Jetzt zieht sie den Vorhang vor – bald leckt das Mysterium hündisch vier Sohlen. Und unerschöpflich strömt die Latrine der Ewigkeit über die Planetensysteme. Wir sind der Dung. Wie seelisch unser Tun blüht! Er lächelt irr; starrt dann vor sich hin. Alles ist hohl und leer. Die Häuser riechen nach Leichen und Sauerkraut. Man sollte sich selber erbrechen können. – Alles ist tot.
Stille; dann geht er langsam an den Laden und liest. Diamanten. Gold. Kauf. Verkauf. Simon Kohn – Kennt ihr Simon Kohn? Der tat nur kaufen und verkaufen: Splitter und Staub aus Afrika. Und tat es unters Kopfkissen und überall glitzerte das Falsche. Die Imitation – Er spricht unterdrückt in den Laden hinein. Herr Kohn. Lassen Sie mit sich reden. Ruhig reden. Ich irrte. Reden, Herr Kohn! Wollte ja alles anders, immer alles anders! Wollte doch nur einbrechen, den Schmuck stehlen, ich schwöre: wollte nur stehlen! Hören Sie mich? Stehen Sie doch wieder auf, liegen ja unterm Pult! Setzen Sie sich wieder! Und nehmen Sie Stock und Hut! Stehen Sie auf, auf – Er trommelt an den Laden.
SIMON KOHN
mit Hut und Rohrstöckchen; erscheint links und tippt mit dem Stöckchen auf Wenzels Schulter. Fährt um. Herr Kohn!
KOHN
Leise, junger Mann, leise. Wir vertragen den Lärm nicht. – Sie haben sich geirrt? Haben die Imitation mitgenommen?
WENZEL
reicht ihm ein Schmuckkassettchen: Hier –
KOHN
unbeweglich: Sie wollen mir den Schmuck zurückbringen?
WENZEL
Nehmen Sie! Nehmen Sie!
KOHN
Die Imitation? Sie schlugen um den echten zu und wollen es mit dem falschen wieder ungeschehen machen? Hihihi.
WENZEL
Sie sind ja wieder –
KOHN
unterbricht ihn: Immer! Und überall! Hier, im Bett, am Tisch – aber auch: unterm Pult! Ich schlürfe durch die Lüfte, obs windstill ist oder braust, und bade mitten im Meere. Und bin dabei doch unterm Pult!
WENZEL
Herr Kohn: verflucht sei das Weibsbild.
KOHN
unterbricht ihn: Das interessiert mich nicht!
WENZEL
Aber mich! Denn sie war es, die mich tun ließ, was sie nie getan hätte. Nie tun wollte: wie ich! Und doppelt büß ich, da ich weder bereuen kann, weil ich nichts zu bereuen habe, noch Opfer bin, da Jene für die ich mich opfere selbst geopfert werden. Sie liebt mich nämlich.
KOHN
lächelt: Was Sie nicht sagen.
WENZEL
Es ist nur die Reihenfolge. Sehe so klar, daß mir die Sprache schwindet – Lachen Sie nur, lachen Sie! Wenn man nur lieben könnte! Irgendetwas. Fratzen! Masken! Orchester ohne Ton! Unecht wie Ihr Schmuck!
KOHN
toternst: Nur, daß Simon Kohn unterm Pulte liegt bleibt echt. Sehen Sie: wies klafft? Echt. Er lüftet den Hut.
WENZEL
starrt ihn an: Schlagen Sie zu Simon Kohn.
KOHN
hebt langsam das Stöckchen: Echt! Echt! – Haben Sie Angst? Hihihi! Er läßt das Stöckchen sinken und sticht schäkernd nach ihm. Angst hat er! Angst! Um den Trug! um das Hohle! um den Dung! um die Nase! die Augen – Hihihi! die Kreatur! Soll ich die Polizei holen? Hihihi – Reihenfolge, junger Mann! Mein Kamel ist bereits durchs Nadelöhr – Hihihi! die Kreatur! Er verschwindet.
Zwei Polizisten erscheinen rechts; wechseln unhörbar Worte; halten auf Wenzel zu.
ERSTER
Können Sie sich ausweisen?
Im Hotelzimmer erlischt das Licht. Die Zwei sehen empor.
WENZEL
Ich stehe nur so hier. Nur so.
ERSTER
Was taten Sie hier am Laden: zuvor?
WENZEL
Nichts.
ZWEITER
Aber wir haben beobachtet – Er stockt, da eben der Sechzehnjährige aus dem Hotel tritt; rasch ab nach rechts. Altmodische aus dem Hotel; erblickt die Polizisten; erschrickt; will zurück.
ERSTER
Halt! Sie bleiben!
ZWEITER
Sie haben Jugendliche angelockt!
Wenzel ab nach links.
ALTMODISCHE
in größter Angst: Ich habe niemanden angelockt!
Zweiter lacht.
ERSTER
Schreien Sie nicht! Kommen Sie! Gehen wir!
ALTMODISCHE
Nein!!
ERSTER
ergreift ihren Arm : Nein? Was erlauben Sie sich?!
ALTMODISCHE
schreit : Ihr sollt mich nicht wieder! Laßt mich doch, laßt –
Alle Gäste treten auf den Lärm hin aus der Bar.
ZWEITER
Halten Sie Ihr Maul!
ALTMODISCHE
Zweiundzwanzig Jahre! Ihr habt mich schon einmal begraben! Zweiundzwanzig, zweiundzwanzig! Sie schlägt um sich, verliert Hut und Schleier.
Alle weichen etwas zurück.
ZWEITER
Das ist Widerstand!
ALTMODISCHE
Begrabt mich! Verscharrt mich!
Zweiter führt sie nach rechts ab.
Einige folgen den beiden.
ERSTE DIRNE
Immer das gleiche: Kleine hängen, Große –
POLIZIST
unterbricht sie: Das verbiet ich mir! Wir tun unsere Pflicht!
Alle murmeln.
DRITTE DIRNE
Dann schauen Sie mal nach: da drüben: beim Kohn.
Stille.
POLIZIST
Was wollen Sie damit sagen?
VERWACHSENER
zur Dritten; gereizt : Was weißt denn du?
DRITTE
Nichts! Aber er hat uns noch nie versetzt. Klopft man gibt er keine Antwort. Und er ist doch immer zuhause.
Polizist tritt an den Laden .
Ein leiser Wind hebt an .
VERWACHSENER
Das kommt über uns.
Polizist klopft an den Laden.
Alle horchen.
Stille.
POLIZIST
zur Dritten; leise : Wo ist denn der Eingang?
DRITTE
Hinten: um die Ecke.
Polizist ab.
VERWACHSENER
Aas! Mußt quatschen!
DRITTE
Es ist doch etwas geschehen!
VERWACHSENER
Eben deshalb! Eine Türe wird eingedrückt. Alle lauschen. Zur Dritten. Komm!
POLIZIST
kommt wieder; bleich, ernst; zur Dritten: Halt! Was wissen Sie über den Fall?
DRITTE
Über welchen Fall?
POLIZIST
Sie sagten doch – Er pfeift Alarm. Alle ziehen sich etwas zurück. Dritte will sich unauffällig entfernen. Sie bleiben!
VERWACHSENER
zur Dritten: Hörst es?
POLIZIST
zum Verwachsenen: Und Sie auch. Er pfeift nochmals.
DRITTE
Was ist denn geschehen?!
POLIZIST
Mord.
Polizisten darunter ein Kommissar eilen herbei. Polizist berichtet unhörbar dem Kommissar. Verwachsener horcht.
KOMMISSAR
zum Polizisten indem er die Dritte und den Verwachsenen fixiert: Also: das Schloß war beschädigt? Und ausgekannt muß er sich haben – Sie warten hier! Er begibt sich mit einem Polizisten um die Ecke in den Laden.
ZWEITE DIRNE
zum Polizisten: Herr, jetzt fällt mir ein: sah hier einen herumlungern –
POLIZIST
Richtig! Er sieht sich forschend um. Nicht mehr da.
Im Laden wird das Licht angezündet. Alle treten hin und spähen durch Ritzen hinein, murmeln; verstummen. Totenstille.
SIMON KOHN
kommt langsam von links; unterdrückt zum Polizisten: Sehen Sie nicht hin! Er sieht her. Dort drüben: unterm Haustor. Dort steht einer –
POLIZIST
schielt vorsichtig nach links: Aha. Er winkt unauffällig einem Polizisten und eilt mit ihm plötzlich nach links ab. Man hört »Halt!« rufen. Alle starren nach der Richtung. Man hört Laufen und Rufen; dann wie einer stolpert, zur Erde sinkt und festgehalten wird. – Das Licht im Laden erlischt.
Inhaltsverzeichnis
Das bürgerliche Wohnzimmer. Die Türe rechts ist geöffnet. Sturmnacht.
Ilse tritt durch die Haustüre ein und wendet sich auf der Schwelle Müller zu, der im erleuchteten Treppenhause steht.
ILSE
leise: Daß du mich bis herauf begleitest war doch unnötig. Geh nun bitte.
MÜLLER
leise: Wann sehen wir uns wieder?
ILSE
Ich dachte du wolltest mich nicht mehr sehen.
MÜLLER
Quatsch! Wenn du –
ILSE
Schrei doch nicht so! Sie lauscht in die Wohnung; der Wind wimmert; dumpf. Einmal geht man aus.
MÜLLER
Ilse. Vergib, wenn ich grob und ungeduldig war. Aber deine Ansichten –
ILSE
unterbricht ihn: Ich habe ja gar keine Ansichten.
MÜLLER
Du hast sogar vortreffliche, jedoch auch –
ILSE
unterbricht ihn wieder: Jetzt schweig endlich! Und geh, geh –
MÜLLER
Nein.
ILSE
Ich schließ die Türe. Müller stemmt sich dagegen. Ich schrei.
MÜLLER
ergreift ihr Handgelenk: Schrei.
ILSE
Herbert laß mich, au! Tust weh! Bitte, ich – Müller tritt ein; schließt die Türe, Finsternis; umarmt sie. Nein! Nicht – Stille.
Atemlos. Jetzt geh. Bitte.
MÜLLER
Nur zwei Minuten. Alles schläft. Niemand kommt.
ILSE
Das kann niemand wissen, du – Stille; unten schlägt der Wind eine Türe zu.
MÜLLER
Du. Heut Abend. Ich fühle so, wenn wir uns quälen: haben eine Seele –
ILSE
Nimm die Hand fort, nicht – oh! Die Hausglocke ertönt. Die zwei fahren auseinander.Schreit unterdrückt auf. Jesus Maria!
MÜLLER
Vielleicht ein Telegramm.
ILSE
Wir bekommen nie ein Telegramm. Still, geh – es ist wer im Zimmer!
In der Ecke links im Hintergrunde fällt ein Stuhl um; jemand röchelt; es läutet nochmals kräftiger. Müller öffnet rasch die Haustüre und prallt zurück. Draußen stehen der Kommissar und zwei Detektive. Paul tritt verschlafen in Hemd und Hose durch die linke Türe ein.
KOMMISSAR
zu Müller: Sie bleiben!
MÜLLER
Aber –
KOMMISSAR
drängt ihn zurück: Kein Aber! Licht! Paul dreht das Licht im Vorzimmer an. Die anderen erblicken ihn. Polizei. Wer ist Herr Paul Klamuschke?
PAUL
Ich.
MÜLLER
zu Paul: Hatte Fräulein Ilse nur nachhause begleitet.
KOMMISSAR
grinst; zu Müller: Sie heißen?
MÜLLER
Herbert Müller. Student.
PAUL
begreift nicht: Ja: aber was soll das?
KOMMISSAR
Wir suchen Ihren Bruder.
PAUL
Herr, ich habe keinen Bruder!
KOMMISSAR
Das sind doch nur Wörter!
PAUL
Es sind nicht nur Wörter! Doch bleiben wir sachlich.
KOMMISSAR
Gut! Wenzel Klamuschke steht im Verdachte einen Raubmord verbrochen zu haben. Sie hatten ihn bereits gefaßt, aber er entkam den beiden Agenten. Mathilde erscheint in der Türe links. Sie verstehen: unsere Pflicht ist nachforschen. Überall. Also auch hier.
PAUL
Bitte. Er dreht das Licht im Wohnzimmer an, in der Ecke links im Hintergrunde mit Hosenträgern an einem Hacken erhängt Wenzels Leichnam; am Boden ein umgeworfener Stuhl.
MATHILDE
gellend: Herrgott! Alle starr – Dann schneiden die beiden Detektive die Leiche ab und betten sie auf das Sofa.
KOMMISSAR
Da: Wenzel Klamuschke.
ILSE
zu Müller: Das halt ich nicht aus! Er sah mich an, komm! Ein Polizist hünenhaft; erscheint in der Haustüre.
KOMMISSAR
Niemand verläßt die Wohnung!
MATHILDE
ist anderswo; tonlos: Er kommt wieder, er kommt wieder –
PAUL
Thilde!
EIN DETEKTIV
hat die Leiche untersucht: Tot.
KOMMISSAR
Verständigen Sie 57 8 12. Rasch! Detektiv ab. Zu Paul. Sie wußten, daß er hier war.
PAUL
Nein.
KOMMISSAR
Wer öffnete dann? Paul zuckt die Achseln. Es riecht nach Mitwissen. Wir führen strenge Untersuchung. Der Tod des Täters kann keinen Beteiligten begnadigen.
MATHILDE
Daß immer so viele mitgestraft werden –
KOMMISSAR
Nur die Schuldigen! Paul grinst.
MÜLLER
Herr Kommissar, darf ich nun gehen? Hatte ja Fräulein Klamuschke nur nachhause begleitet.
KOMMISSAR
Nein. Muß erst sehen – Er denkt nach; notiert.
MUTTER
erscheint in der Türe links, erblickt Wenzel; nickt und starrt vor sich hin.
PAUL
zum Kommissar: Meine Mutter.
Stille.
KOMMISSAR
zur Mutter; leise: Sie ließen ihn ein.
MUTTER
als müsse sie sich besinnen: Ja: konnte nicht einschlafen. Hörte läuten. Immer läuten. Viele, viele Glocken: als wären Dämme durchbrochen oder Feuer – und er sagte die Nacht sei neblig und kalt und ob er am Sofa da schlafen dürfe.
KOMMISSAR
Wissen Sie etwas –
MUTTER
unterbricht ihn: Man kann alles wissen. Hat zwar Augen, Ohren, Kopf, Herz – kann aber alles wissen. Sie lächelt irr.
MATHILDE
Mutter, hast du den Verstand verloren?!
MUTTER
lacht: Aber Thilde! Sie erblickt wieder Wenzel, ernst, leise. Er rührt sich nicht, rührt sich gar nicht – sagt mir: ist er tot?!
Stille.
Sagt mirs doch. Bitte –
KOMMISSAR
Er hat sich selbst gerichtet.
MUTTER
langsam: Sich selbst – freilich: man kann tun was man will. Hat Arme, Beine, Kopf – kann tun was man will. Zum Kommissar. Sehen Sie das Sofa? Es lehnt noch an derselben Wand. Still! Treten Sie beiseite: die Nebel ballen sich im All. Bitte beiseite: er will ja auf mich zu. Es ist erst März, doch der Sturm schlägt die Türen zu und hier innen wirds wohlig und warm. Wird schon werden. Seine Brust wölbt sich mir entgegen, doch sehen Sie: die Fotografie: seine Mutter, dort im Rahmen! Hängt über uns und lächelt, daß man das Zahnfleisch sieht – Hilfe! Hilfe! Das Gesetz! – er will es Ilse oder Wenzel taufen. Hören Sie das Sofa knarren? Es kommt über mich: weicher als mein Bett! Sie wimmert.
Kommissar verbeugt sich vor Paul, will ab. Halt! Hören Sie Herr Polizei! Ich wußt es: alles. Versprechen Sie mir: lassen Sie ihn nie mehr los! Riegeln Sie fest zu! Er kann nämlich nicht anders. Ist verflucht –
KOMMISSAR
geht mit der Polizei, indem er Müller winkt, der sich ebenfalls entfernen will. Guten Tag, Herr Müller!
Müller stutzt; verbeugt sich verlegen; rasch ab. Stille.
Lächelt. Jetzt kommt der Prozeß.
MATHILDE
Mutter!
MUTTER
Bin nicht deine Mutter!
PAUL
zur Mutter: Beruhige dich.
MUTTER
Schweig! Hast nicht mitzureden! Wer mein Kind verleumdete soll das Maul halten! Es ist nicht wahr, daß er den Kanari damals verbrannte! Nicht wahr, Ilse, du weißt es?
PAUL
Fragst du die, deren Ring er stahl?
MATHILDE
Paul! Denk an mich!
MUTTER
schrill: Ilse wars! Ilse!
ILSE
Lüge!
MUTTER
Dann war es Paul!
PAUL
Meinst vielleicht auch: ich morde?
MUTTER
Dir trau ichs zu!
PAUL
grinst: Ihm freilich nicht!
MATHILDE
Still, es liegt ja ein Toter im Zimmer –
ILSE
Sie ist verrückt.
MUTTER
Wer: sie?! Beschimpft ihr mich wieder? Immer wieder! Hinaus aus meiner Wohnung! Hinaus mit euch, ihr Pack! Hinaus!
Stille.
Weinerlich. Gott, jetzt vergaß ichs wieder: hab ja keine Wohnung mehr. Alles wurd mir genommen – Kinder, meine Kinder, warum folgt ihr mir nie? Wenn der Vater nur noch lebte –
PAUL
Wär es anders gekommen.
MUTTER
schlägt plötzlich um: Ja: Du hättest kuschen müssen!
PAUL
Und du auch.
MUTTER
Lüg doch nicht immer! Was weißt denn schon du?
PAUL
Nur was ich sah.
MUTTER
Was du nicht sahst, darauf kommt es an. Weißt du denn wie er war, da du noch nicht warst? Weißt du, wir haben uns oft im Café getroffen. Man soll gar nicht darüber reden – du hättest ihn nicht wiedererkannt: er hat mich auf Händen getragen. Jaja, Vater war ein kräftiger Mann. Aber seit er damals so über Nacht alles verlor – da mußt ich ihn tragen. Hab schon viel getragen. Zuviel. Hab euch getragen, zuerst im Bauch, dann am Buckel – doch bevor ich zusammenbreche, werf ich euch ab! Hört ihr? Ab! Will keine Kinder, bin keine Mutter! Will frei sein! Werf euch ab! Ilse, nimm den Finger aus der Nase! Und – wenn er, dieser Klamuschke kommt, so sagt ihm, ich, das Fräulein, bin bereits im Unterholz und will in den windstillen Wald. Sie verbeugt sich. Empfehle mich, meine Herrschaften! Ihr Hunde! Brüllt, flennt, heult – ich höre nichts! Nichts! Glotzt doch nicht so dämlich! Ab durch die linke Türe.
MATHILDE
setzt sich.
ILSE
hält plötzlich auf die Haustüre zu.
PAUL
Wohin?
ILSE
Fort.
PAUL
Zum Müller?
Ilse schweigt, lauert. Hast recht. Ilse ab. Stille.
MATHILDE
Es gibt keine Gerechtigkeit.
PAUL
Wie gerne du dich quälst.
MATHILDE
Ich weiß, daß du unempfindlich bist.
PAUL
Was heißt das?
MATHILDE
verwirrt: Gott, was hab ich nur wieder gesagt?! Paul! Es ist zu furchtbar, Alles! Wollte ja etwas anderes –
PAUL
unterbricht sie: Nein. Das wolltest du nicht.
MATHILDE
Schweig! Sonst seh ich es noch ein! Oh, was soll man denn nur tun?
PAUL
Auf den Arzt warten.
MATHILDE
weint: Himmel –
PAUL
Laß das! Der liebe Gott spielt Skat im himmlischen Bilderbuch und hört uns nicht, wenn es überhaupt so etwas gibt!
MATHILDE
Ich bin aus anderem Holz. Spürs, wenn man mich schlägt.
PAUL
Ich auch. Aber das Martyrium reizt mich nicht. Ich weiß: manchmal hassest du mich, genau wie sie, weil ich aus dem Unabänderlichen nie mein Gefühlskapital erhöhe. Doch ich leide weder wegen gleicher Eltern noch laß ich mich für fremde Taten bestrafen.
MATHILDE
Aber das ist ja gar nicht wahr!
PAUL
Es muß wahr sein! Sonst gehen wir unter.
Der Morgen graut. Mathilde setzt sich. Paul tritt ans Fenster.
MATHILDE
sieht nach dem Fenster, nach Paul; fröstelt: Ein neuer Tag. Mich friert.
PAUL
Mich auch.
Stille.
MATHILDE
Wir müssen uns anziehen.
PAUL
Oder ins Bett legen.
Stille.
MATHILDE
starrt auf Wenzel; dumpf vor sich hin: Er kommt wieder, er kommt wieder – Sie sieht sich scheu um und lauscht; springt dann plötzlich empor und eilt wimmernd auf Paul zu. Du, ich hab solch Angst: um das, das kommen wird – Paul schließt sie in seine Arme.
Inhaltsverzeichnis
Personen
Erster Akt
Zweiter Akt
Dritter Akt
Inhaltsverzeichnis
KARL
MÜLLER
STRASSER
EMANUEL, Freiherr von Stetten
ADA, Freifrau von Stetten
CHRISTINE
Zeit: Ungefähr zwölf Stunden
Inhaltsverzeichnis
Halle des Hotels zur schönen Aussicht.
Dies Hotel zur schönen Aussicht liegt am Rande eines mitteleuropäischen Dorfes, das Dank seiner geographischen Lage einigen Fremdenverkehr hat. Saison Juli-August. Zimmer mit voller Verpflegung sechs Mark. Die übrige Zeit sieht nur durch Zufall einen Gast.
Es ist drei Uhr Nachmittag und die Sonne scheint. Im Monat März. Links Portierloge. Rechts Glastüre mit Aufschrift: Speisesaal. Im Hintergrunde führt eine Treppe nach oben und eine breite weit offene Türe ins Freie. Am Horizont Berge. Im Vordergrund ein kleiner Tisch und zwei Rohrstühle. In der Ecke eine vergilbte Palme. Eine mächtige alte Karte von Europa hängt an der Wand. Alles verstaubt und verwahrlost.
Max in Hemdsärmeln; sein Kellnerfrack liegt neben ihm auf dem Pulte der Portierloge; er liest Zeitung, frißt Brot und schlürft aus einer großen Tasse Kaffee.
Im Zimmer über der Halle spielt ein Grammophon Südseeweisen.
KARL
in lederner Chauffeuruniform, erscheint in der Türe im Hintergrund; fixiert Max; tritt langsam auf ihn zu und beugt sich über das Pult: Guten Morgen, Liebling.
MAX
Gute Nacht, Liebling.
KARL
Kannst du es erraten, was ich jetzt am liebsten tun würde?
MAX
Nein. Und dann interessiert es mich auch nicht.
KARL
Aber mich. Du hast dein Ehrenwort gebrochen.
MAX
Interessiert mich nicht.
KARL
Du hast mich bestohlen. Du Hund.
MAX
Es interessiert mich nicht. Mein Herr.
KARL
Du bist eine korrupte Kreatur.
MAX
Sie haben ja den Südpol entdeckt! Man gratuliert.
KARL
Oh, bitte! Diese gewaltige Entdeckung ist nicht mein Verdienst, sondern ist bereits gerichtsnotorisch protokolliert!
MAX
Brüll nicht! Er lauscht. Es gibt doch auch Fehlurteile.
KARL
grinst: Freispruch.
MAX
Und Justizmord.
KARL
finster: Das auch.
Schweigen.
MAX
Apropos korrupte Kreatur: Baronin lassen sagen, der Chauffeur solle warten.
KARL
So? – Was mich das Frauenzimmer neuerdings warten läßt!
MAX
Was sich liebt, das läßt sich warten. Und apropos Justizmord: ich habe einmal läuten hören, daß du damals, als du noch hübsch und knusprig warst, vor 1914, ich glaube in Portugal –
KARL
scharf: Was war in Portugal?
MAX
Du warst doch in Portugal?
KARL
Ja.
Schweigen.
Was ist mit Portugal?
MAX
Du warst doch auch mal Kaufmann, vor 1914 – in Portugal?
KARL
Ja. Und?
MAX
Stimmt.
KARL
Was stimmt?
MAX
In Portugal gibt es korrupte Charaktere, sehr korrupte – besonders vor 1914 gab es dort außerordentlich korrupte Charaktere. Da konnte man keinen ungestraft an sein Ehrenwort erinnern.
KARL
Was soll das?
MAX
Es ist schon mancher bestraft worden, in Portugal. So um die Ecke – bestraft.
KARL
Wer?
MAX
Zum Beispiel: Jener – Er stockt.
KARL
Wer jener?
MAX
Was weiß ich!
KARL
brüllt: Heraus damit!
MAX
Verzeihung! – Ich dachte, jener hätte sich nur verletzt, leicht verletzt, oberflächlich verletzt, ich dachte, du hättest jenen nur niedergeschlagen, leicht, oberflächlich niedergeschlagen, gewissermaßen k. o. – und jener hätte sich dann wieder erholt, hätte blühender ausgesehen wie je zuvor, aber jener ist verschieden, inzwischen – so ganz von allein verschieden –
KARL
finster: Ganz von allein. Hörst du?
MAX
schluckt: Ganz von allein. Gut. Lassen wir den Spiritismus.
Im Zimmer über der Halle fällt ein Stuhl um. Karl, Max starren empor. Das Grammophon bricht plötzlich ab.
MÜLLER
erscheint in der Eingangstüre; hält auf der Schwelle: Na guten Tag! Mein Name ist Müller, Vertreter der Firma Hergt und Sohn. Ich will mal Direktor Strasser sprechen.
MAX
Herr Direktor ist leider im Augenblick –
MÜLLER
unterbricht ihn: Nanana! Wann kommt denn der Augenblick, in dem man bezahlt wird? Wann denkt man denn hier, die Rechnung zu begleichen? Oder wird hier geglaubt, die Schulden werden erlassen, wie?
MAX
Da ich nur Kellner bin, kann ich diese Fragen nicht beantworten. Ich kann nur sagen, daß ich den Eindruck habe, als würde es uns sehr schwerfallen zu bezahlen. Wir haben seit fünf Monaten nur einen einzigen Gast, eine alte Dame, die sich hierher zurückzog, um still leben zu können.
Im Zimmer über der Halle lacht eine Frau kreischend; das Grammophon ertönt wieder.
MÜLLER
lauscht: Nur ein Gast?
MAX
Leider.
MÜLLER
grinst: Nur Mut, junger Mann! Nur Mut! Die Masse macht es nicht! Qualität ist Trumpf! Einer zählt für zwanzig, einer zahlt für zwanzig, wenn er eine Persönlichkeit ist!
Wieder fällt im Zimmer über der Halle ein Stuhl um; und dann hüpft jemand hin und her, daß alles erzittert.
Toll! – Still leben. Und zurückgezogen. Mit wem hat sie sich denn zurückgezogen? Er wiehert.
MAX
Mit dem Kaiser von China.
MÜLLER
Nanana, Kellner! – Seit wann ist unser Freund und Meister Direktor Strasser, Besitzer dieses Etablissements, Kaiser von China, Sohn des Himmels? – Na denn auf Wiedersehen! Ab.
Strasser mit schiefsitzender Krawatte und zerwühlter Frisur; steigt langsam die Treppen herab; hält auf der letzten Stufe und ordnet Krawatte und Frisur.
Das Grammophon verstummt: schläft ein.
KARL
hatte sich gesetzt; erblickt Strasser: Na endlich!
STRASSER
Der nächste.
Karl erhebt sich und ordnet sich die Uniform.
Baronin dürften sogleich erscheinen. Baronin ziehen sich nur an.
KARL
Haben Baronin mit Stühlen jongliert?
STRASSER
Baronin tanzten.
KARL
Menuett!
STRASSER
Wie ein Roß. Er erblickt Max. Mensch! Wie siehst du wieder aus?
MAX
Wie?
STRASSER
Zieh dir doch den Frack an! Das will Kellner sein!
MAX
Erstens: will ich ja gar nicht Kellner, und zweitens: eigentlich bin ich ja –
STRASSER
unterbricht ihn: Laß das! Erstens, zweitens, drittens: du bist Kellner! Daß du ursprünglich Plakate entworfen, Kunstgewerbler oder dergleichen Schnee warst, geht uns hier nichts an! Erwähne ich denn mein Vorleben?
MAX
Im eigenen Interesse? Kaum!
STRASSER
Kehre ich jemals den Offizier hervor? Betone ich jemals, daß ich eine Hoffnung, ja mehr als das, eine Erfüllung der europäischen Filmindustrie war? Daß ich ein Bonvivant, einmalig!
MAX
Aber der Bonvivant hat Pech gehabt.
STRASSER
Ich verbitte mir das! Das ist ja alles nicht wahr! Das sind gemeine Verleumdungen! Das war schon lange vorher! Der Bonvivant hat sich dieses Hotel gekauft, weil seine Augen die Jupiterlampen nicht ertragen konnten!
MAX
Wird gesagt.
STRASSER
Halt dein Maul! Und Schluß! Jetzt bist du Kellner! Verstanden?! Ob du noch vor einem Jahre Autos verschoben hast –
MAX
unterbricht ihn: Mit dir!
STRASSER
Mit mir. – Ja, was soll denn das?
MAX
Ich meinte nur.
STRASSER
Der Zeigefinger hat mir nicht gefallen, der Zeigefinger!
MAX
Der? – Das war ja gar nicht der Zeigefinger, nur der kleine Finger. Der kleinste Finger.
STRASSER
Jetzt hast du dir den Frack anzuziehen. Was sollen denn die Gäste denken?
MAX
Es kommen keine Gäste. Höchstens Vertreter. Ab und zu.
STRASSER
War einer da?
MAX
Ja. Ein Herr Müller.
STRASSER
Ich bin nicht zu sprechen.
MAX
Er wird wiederkommen. Pinke, Pinke!
STRASSER
Zieh dir den Frack an.
MAX
Nein. Ich schwitze.
KARL
gehässig: Im März?
MAX
Gott, auch im März kann es einem heiß werden, im August werden wir vielleicht frieren.
KARL
Vielleicht!
MAX
Vielleicht sicher sogar.
STRASSER
Also kriegen wir dann überhaupt keine Saison mehr?
MAX
Möglich. Die Erdachse soll sich ja verschoben haben.
STRASSER
Woher weißt du denn das?
MAX
Ich beschäftige mich doch mit Astrologie.
STRASSER
Du sollst dir den Frack anziehen.
Max folgt zögernd; zieht sich unter allerhand Faxen langsam den Frack an und lächelt gelangweilt.
Die Sonne verschwindet hinter einer Wolke.
Schüttelt sich und schlägt rasch den Kragen hoch. Brrr! Jetzt friert es mich. Er tritt vor das Pult; er ist barfuß. Ich muß mir nur noch die Schuhe holen. Ab in den Speisesaal. Die Sonne scheint wieder.
KARL
sieht Max nach: Ein geborener Verbrecher.
STRASSER
Die Alte behauptet, er hätte eine reine Seele.
KARL
Aber dreckige Füße.
STRASSER
geht auf und ab; lacht vor sich hin: Die Erdachse, die Erdachse – Diese Erdachse! Er bleibt vor der Landkarte stehen. Europa. Europa.
KARL
Man müßte fort.
MAX
kommt aus dem Speisesaal; er ist noch immer barfuß: Hat vielleicht jemand meine Schuhe gesehen? – Hat niemand meine Schuhe gesehen? – Ich kann meine Schuhe nirgends finden –
EMANUEL FREIHERR VON STETTEN
ein zierlicher Lebegreis mit Trauerflor, tritt rasch durch die Eingangstüre; betupft sich mit einem Spitzentaschentuch nervös die Stirne: Bin ich hier richtig? Bin ich hier richtig? Hotel zur schönen Aussicht, wie? Ja? – Melden Sie mich Baronin Stetten. Da! Er übergibt seine Karte Karl, der ihm am nächsten steht. Karl reicht sie, ohne sie eines Blickes zu würdigen, Strasser.
MAX
im Hintergrund: Wer ist denn?
Stille.
Wer ist denn?
EMANUEL
Nun – wird man es noch erleben können? Bewegung, bitte! Bewegung!
KARL
Sie werden es auch noch erleben. Die kommt gleich runter.
EMANUEL
Wer ›die‹?
MAX
Wer ist denn?
EMANUEL
empört: Zustände!
STRASSER
Herr Baron!
MAX
entsetzt:Was ist der?!
STRASSER
verbeugt sich: Im Moment! Ada Freifrau von Stetten ein aufgebügeltes, verdorrtes weibliches Wesen mit Torschlußpanik; steigt in einem rosa Kleidchen, Automantel und Mütze, in der Hand eine Reitgerte, feierlich die Stufen herab; erblickt Emanuel; bleibt angewurzelt.
Emanuel verbeugt sich tief.
ADA
Ach! – Welch charmanter Besuch.
EMANUEL
Ich kann es dir nachfühlen, daß dich mein unerwartetes Auftauchen seltsam berührt.
ADA
Das war deine Stimme. – Ich glaubte schon, ich sähe Gespenster.
EMANUEL
Man darf wohl noch hoffen. Er tritt zu ihr und küßt ihre Hand. Zehn Minuten. Nur zehn Minuten, bitte.
ADA
zu Karl: Herkules! Wir fahren in fünf Minuten.
Stille.
EMANUEL
Also fünf Minuten. – Ich bitte, dich unter vier Augen sprechen zu dürfen. Nur fünf Minuten. Strasser, Karl, Max machen Miene sich zu entfernen.
ADA
Hiergeblieben! Hiergeblieben!
Stille.
EMANUEL
Schwester. Ich kann es durchaus begreifen, daß du mich haßt. Aber diese Grausamkeit – ich hätte es nie für möglich gehalten, daß du die primitivsten Gesetze gesellschaftlichen Verkehrs –
ADA
unterbricht ihn: Kritik?! Dicht vor ihm. Unterstehe dich, unterstehe dich nicht noch einmal – Man sagt zwar, daß sich Zwillinge gut verstehen, sozusagen: lieben, aber in unserem speziellen Falle, Herr Zwillingsbruder, stimmt das nicht. Es stimmt etwas nicht. Ja ja!
EMANUEL
Wir sind alle verrückt!
ADA
Ich bin nicht verrückt. Hörst du? Ich will nicht verrückt sein! Ich denke nicht daran, dir diesen Gefallen zu erweisen! – Du hast dich schon einmal zum Anwalt gewisser Individuen erniedrigt. Ich bin nicht verrückt – ich lasse mich nicht unter Kuratel – Kusch! Gewisse Individuen wollten mich nämlich unter Kuratel – Sie erblickt den Trauerflor an seinem Arme; stockt; grinst und berührt ihn mit der Gerte. Diese Familie – Ich trage keinen Trauerflor. Keinen. Ich bin nicht stolz auf Gespenster – War es eine fröhliche Leiche?
EMANUEL
Laß die Toten, wenn ich bitten darf.
ADA
Es gibt keine Toten. Wir Menschen haben eine unsterbliche Seele. Sie schminkt sich die Lippen.
EMANUEL
Ich weiß, daß du religiös bist.
ADA
zuckt zusammen; fixiert ihn mißtrauisch: Du findest ein Wort der Anerkennung, du? Jetzt wird man sich hüten müssen – Heraus mit der Hinterlist! Was willst du? Sprich! So sprich!
Stille.
EMANUEL
Es geht um ein Menschenleben. – Du allein sollst richten, ob dieser Mensch die nächsten zwölf Stunden überleben darf, oder ob er sich Punkt fünf Uhr früh selbst guillotinieren muß. Um was ich dich bitte, ist eine solch lächerliche Geringfügigkeit, verglichen mit eines Menschen Leben, daß – Ada, es dreht sich um ein Menschenleben. Ohne mein Verschulden hat mich das Schicksal in eine vernichtende Situation hineinmanövriert. Gestern abend wurde im Klub gespielt, wie immer. Karten. Gott, man spielt ja nicht, um zu gewinnen, aber trotzdem kann man verlieren! Ich verlor, verlor, verlor – das Blatt wandte sich gegen mich, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich spielte bis fünf Uhr früh, mit ganzer Kraft bemüht wiedergutzumachen, doch wen die Götter vernichten wollen, dem nützt der gute Wille nichts. Ich verlor, bis fünf Uhr früh. – Nun bist du meine letzte Hoffnung. Du kannst mich begnadigen. Nur du. Ich bin hierhergestürzt – bis ich nur diese Station auf dem Fahrplan fand! – Es ist meine vorletzte Station.
ADA
Möglich.
Stille.
Wieviel hast du denn verloren?
EMANUEL
Siebentausend.
ADA
Und das kannst du nicht?
EMANUEL
Passé.
ADA
Und du, du wolltest mich unter Kuratel?
EMANUEL
Nicht ich!
ADA
Kusch!
Stille.
EMANUEL
Ada. Ich komme zu dir nicht nur als Mensch zum Mensch. Einst standen wir zwei ja fast, als wären wir gar nicht Schwester und Bruder – erinnerst du dich noch?
ADA
Ich will mich nicht erinnern.
EMANUEL
zieht einen Revolver: Ich habe mir meine Guillotine bereits besorgt –
ADA
Auch die Kugel?
EMANUEL
Wie du einen quälen kannst!
ADA
lacht ihn aus.
EMANUEL
steckt langsam den Revolver ein.
ADA
Langen drei?
EMANUEL
Was drei?
ADA
Dreitausend.
EMANUEL
entrüstet: Ich bin doch kein Hebräer!
ADA
Langen drei?
Stille.
Lächelt. Darf man den Herrn Baron einladen, über Nacht hierzubleiben? Du könntest es ja dann telegraphisch – wenn ich dir die drei bewilligt haben sollte – Strasser! Ein Zimmer! Ein Gast! Ein Gast!
EMANUEL
Du hast dich nicht verändert.
ADA
Keine Komplimente!
EMANUEL
Da du als Kind schon Tiere gequält hast, kann mich dein jetziges Benehmen keineswegs wundern – doch hoffe ich, daß du mich nicht zu Tode peinigst. Ada, es geht um sieben. Drei kosten mich den Kopf.
ADA
Diesen Kopf! – Strasser! Führe den Herrn Baron auf sein Zimmer!
STRASSER
Sonnenseitig?
ADA
Nur nicht Mond! Damit er nicht anfängt zu wandern!
EMANUEL
Ich darf wohl bitten, meine Gebrechen nicht derart vor dem Personal –
ADA
unterbricht ihn: Unter uns! Unter uns! Wir haben keine Geheimnisse! Du erlaubst, daß ich dich deinen Verwandten vorstelle: mein Bruder Emanuel, genannt Bubi. – Dein Schwager Direktor Strasser. Dein Schwager Karl, der wagemutigste Rennfahrer seit Ben Hur, fünf Kilometer in der Stunde –
KARL
Kilometer ist gut! Sehr gut!
ADA
grinst: Nicht? – Und dein Schwager Max!
MAX
Angenehm!
EMANUEL
erstarrt.
Stille.
ADA
schleicht zu Emanuel und küßt ihn auf das Ohr; grinst: Nicht weinen, Bubi, nicht weinen –
EMANUEL
unterdrückt: Es ist erschütternd!
ADA
lacht: Bubi! Bubi!
EMANUEL
Als Mensch möchte ich jetzt tot umfallen, aber als Kavalier muß ich mich degradieren lassen.
STRASSER
Darf ich bitten, Herr Baron!
Müller erscheint in der Eingangstüre.
Und Generaldirektor Müller, Präsident der Vereinigten Kalkwerke von Paneuropa!
MÜLLER
He?
STRASSER
Einen Augenblick, Herr Generaldirektor! Darf ich bitten, Herr Baron!
Stille.
EMANUEL
starr; lächelt sarkastisch und verbeugt sich steif: Zu freundlich! Er eilt die Treppen empor.
Strasser folgt ihm.
MÜLLER
Halt!
STRASSER
Im Augenblick, Herr Generaldirektor! Ab.
MÜLLER
Was bin ich?
ADA
zu Karl: Allons, Ben Hur!
KARL
Was man alles werden kann!
ADA
Wie du willst, Herkules!
Es dämmert.
MÜLLER
Was bin ich?
Ada zieht sich den Mantel aus und wieder an; pudert sich die Nase, schminkt sich die Lippen.
KARL
Laß das! Los! Die Sonne ist weg – du bist schon schön!
ADA
Wird es regnen?
KARL
Es wird Nacht.
ADA
So? Dann wollen wir nunmehr bis zur Kapelle – ich liebe diese Spätgotik. Zu Müller. Bleiben Herr Generaldirektor die Nacht über?
MÜLLER
verwirrt: Was für Nacht?
ADA
Charmant! Dies Kind im Manne – Au revoir, Herr Generaldirektor! Ab mit Karl.
MÜLLER
sieht ihr nach; zu Max: Wohin reiten denn die?
MAX
Die reitet nicht nur, die fährt auch. Automobil.
MÜLLER
Mit der Peitsche?
MAX
Auch das, Herr Generaldirektor. Er blickt suchend umher.
MÜLLER
Was bin ich?
MAX
Generaldirektor.
MÜLLER
Ich bin kein Generaldirektor! Ich bin Müller, Vertreter der Firma Hergt und Sohn –
MAX
unterbricht ihn: Aber bei Ihren Fähigkeiten könnten Sie jederzeit Generaldirektor sein!
Müller setzt sich.
Natürlich! Aber natürlich!
Stille.
MÜLLER
Bei meinen Fähigkeiten? – Natürlich! Er schnellt empor und eilt hin und her.
MAX
Wenn ich nur meine Schuhe finden könnte –
MÜLLER
Es wäre nur zu natürlich – Jederzeit! Fähigkeit, Begabung, Genie! Jederzeit! Aber, junger Mann, die Welt ist zu verlogen, sie will belogen sein! Glück müßte man haben, Glück!
MAX
Haben Sie nicht irgendwo, etwa, zufällig, ein Paar Schuhe gesehen?
MÜLLER
hält ruckartig: Was für Schuhe?
MAX
Schwarze Schuhe.
MÜLLER
Schwarze Schuhe?
MAX
Meine Schuhe.
MÜLLER
Was gehen mich Ihre Schuhe an? Laufen Sie nackt! Mit bloßen Sohlen!
MAX
Das tue ich ja!
MÜLLER
So passen Sie auf, daß Sie in keinen Reißnagel treten!
MAX
Man dankt für Ratschläge! Helfen Sie mir lieber die Schuhe suchen!
MÜLLER
Ich helfe keine Schuhe suchen!
MAX
Meine armen Zehen!
MÜLLER
Was gehen mich Ihre Schweißfüß an!
MAX
Schweißfüß?! Herr, das sind Zehen! Gepflegte Zehen! Polierte, rosige, zarte, zerbrechliche – das sind schon gar keine Zehen mehr, das sind Zehlein!
MÜLLER
brüllt: Halten Sie Ihr loses Maul! Woher will er wissen, was ich für Zehlein habe?!
MAX
Ich?
MÜLLER
Schluß! Ich möchte den Direktor Strasser! Aber sofort!
STRASSER
tritt aus dem Speisesaal rasch ein: Herr Generaldirektor!
MÜLLER
Ich bin kein Generaldirektor! Sie scheinen mich ja vergessen zu haben?
MAX
Wer das könnte!
MÜLLER
zu Strasser: Ich will Sie erinnern. Sie werden sich schon noch erinnern! Sie sollens nimmer vergessen! Garantiert!
STRASSER
Ach, Sie sind ja der Herr Müller! Ja, richtig! Der Müller von Hergt und Sohn – Ich habe Sie jetzt verwechselt. Verzeihen Sie, daß ich Sie mit meinem Freunde Generaldirektor Müller verwechselt habe. Aber diese Ähnlichkeit! Dasselbe markante Mienenspiel!
MAX
Natürlich! Aber natürlich!
MÜLLER
Finden Sie?
STRASSER
Frappant! Frappant! Stille.
MAX
Diese Schuhe – diese Schuhe – Bekümmert ab nach oben.
STRASSER
bietet Müller Platz an: Bitte –
MÜLLER
wehrt ab: Keine Konferenz! Selbst wenn ich Generaldirektor wäre, hier wird nicht geredet, hier wird bezahlt! Es dreht sich um jene sechs Kisten Sekt. Geliefert am siebzehnten Februar. Voriges Jahr.
STRASSER
Am fünfzehnten.
MÜLLER
Am sechzehnten! Bezahlen Sie, bezahlen Sie! Ja oder nein?
STRASSER
Nein.
Müller setzt sich und schlägt wütend die Beine über Kreuz. Strasser beugt sich über den Tisch. Nein. Er setzt sich. Aber ich bin selbstverständlich bereit, Möglichkeiten zu erwägen –
MÜLLER
unterbricht ihn: Ich lasse pfänden, Herr! Pfänden!
STRASSER
Defizit. Garantiert.
MÜLLER
Ich lasse alles beschlagnahmen!
STRASSER
»Alles«? Ein unsolider Begriff!
MÜLLER
Und dann erstatte ich Strafanzeige: wegen Betrug!
STRASSER
Ach! Sie wollen sich selbst stellen?
MÜLLER
Mich selbst? Was soll das? Wieso?
STRASSER
Ich kenne nämlich einen Generaldirektor, einen gewissen Müller, der verkauft auch Autos, so nebenbei – und hat auch so nebenbei einen gewissen Strasser betrogen – ›betrogen‹ ist dabei noch galant formuliert.
MÜLLER
Wann soll denn das gewesen sein?
STRASSER
Am dritten März. Voriges Jahr.
MÜLLER
Was war das für ein Wagen?
STRASSER
Ein rotbrauner –
MÜLLER
unterbricht ihn: Ach, der Kleine!
STRASSER
Klein oder nicht klein! Der Staatsanwalt kennt nur Pferdekräfte!
MÜLLER
Sie wollen erpressen?
STRASSER
Ich könnte erpressen, aber ich will zu anständig sein.
MÜLLER
Was verdienen Sie dabei?
STRASSER
Nichts. Nichtmal sechs Kisten Sekt. Ich bin so und so bankrott.
Draußen weht der Wind.
Der Sommer war verregnet. Zu Weihnachten blühte der Flieder. Zu Ostern fiel Schnee. Schlechter Schnee. Kein Wintersport, nur Grippe. Verseuchte Saison. Kaum ein Gast. Ich hänge hier zu sehr vom Wetter ab.
Der Regen klopft auf ein Dach.
Hören Sie?
MÜLLER
Was?
STRASSER
Wie es regnet. Pfingsten naht. Wieder verregnet.
Schweigen.
MÜLLER
Ich gratuliere. Sie haben ja einen außerordentlich vorteilhaften Vertrag mit dem lieben Gott. Solange Sie Grammophon spielen, scheint die Sonne – aber wie einer um sein Geld kommt, gibt es sogleich einen Wolkenbruch.
STRASSER
Also abgesehen vom lieben Gott: sehen Sie denn nicht, daß das Gras schon zur Türe hereinwächst? Die Kräuter?
MÜLLER
Was für Kräuter?
STRASSER
Mann, Müller! Sehen Sie doch nur diese ungeheure Verwahrlosung! Diese Einsturzgefahr! Man wagt ja kaum mehr Platz zu nehmen!
MÜLLER
Nanana! Der Stuhl unter ihm bricht zusammen; er stürzt zu Boden.
STRASSER
Es geht abwärts. Er zündet sich eine Zigarette an.
Schweigen.
MÜLLER
am Boden: Bankrott. Hm – Was verdienen Sie dabei? Er grinst.
STRASSER
Sie fallen vom Stuhl!
MÜLLER
Würde Ihnen so passen!
STRASSER
Sie können es sich anscheinend nicht mehr vorstellen, daß jemand wirklich zu Grunde gehen kann?
MÜLLER
lacht: Wirklich? Wirklich ›wirklich‹?
STRASSER
So wahr Sie jetzt am Boden kauern!
MÜLLER
gekränkt: Ich kauere nicht. Kauern tut ein Tier. Ich sitze. Man ist doch immerhin noch ein Mensch – Au! Was war das? Was ist das? – Ich kann nicht mehr auf – Au, ich glaube, jetzt ist etwas verrenkt – es wird doch nichts gebrochen, au! So helfen Sie mir doch!
STRASSER
geht auf und ab: Hernach! Zuerst das Geschäftliche –
MÜLLER
unterbricht ihn: Hernach, hernach!
STRASSER
Nein! Zuerst die Pflicht! Also: ich kann nicht bezahlen –
MÜLLER
unterbricht ihn: Ich kann nicht aufstehen!
STRASSER
Ich kann nicht bezahlen.
MÜLLER
Betrug! Betrug! Eine alte Ziege finanziert den Zirkus! Diese sinnliche Aristokratin! Ist ja bekannt, bekannt, stadtbekannt!
STRASSER
Ich halte nichts vom Geschwätz der Leute!
MÜLLER
Herr, ich bin unglücklich!
STRASSER
Ich kann Ihnen lediglich versichern, daß sobald es mir meine Lage gestatten wird, das heißt: bei günstiger Witterung, ich meine Schulden anfangen werde zu begleichen. Ratenweise, natürlich! Sonst müßte man sich ja sogleich aufhängen!
MÜLLER
Wollen Sie mich hier liegen lassen, wie einen überfahrenen Hund, ja?! Hilfe! Hilfe! Hilfe!!
STRASSER
stürzt sich auf ihn und hält ihm den Mund zu; brüllt: Ruhe! Ruhe! Ruhe!!
Stille.
Stützt ihn empor. Sammlung, Herr Müller! Sammlung! Solch ein ausgewachsenes Exemplar, und so brüllen – Wie kann man nur – wegen einer lumpigen Ratenzahlung!
MÜLLER
weinerlich: Au – meine Existenz – Strasser, ich habe das Gefühl, ich bin entzwei – ob ich mir etwas gebrochen habe? Sie können das gar nicht beurteilen, diese Ratenzahlung in Verbindung mit der Witterung – meine Existenz – nein, nein! Ich bin kein Hypochonder – und betrogen habe ich Sie auch nicht, das mit dem Auto, dem Kleinen – mit demselben Rechte könnte man ja sagen, ein jedes Geschäft – wenn ich mir nur nichts gebrochen habe –
STRASSER
sanft: Herr Müller. Ich werde Sie nun nach dem Speisesaal bringen – Sie werden mir Recht geben: sobald man etwas im Magen hat, fühlt man sich erleichtert.
Max tritt in schwarzen Schuhen aus dem Speisesaal; läßt die Türe offen und verbeugt sich tief mit einer Serviette über dem Arm.
MÜLLER
Und die Nacht über muß ich nun auch hier – Heut kann ich unmöglich weiter, so hinkend.
STRASSER
führt ihn in den Speisesaal: Ich habe ja auch Zimmer –
MÜLLER
seufzt: Nur kein Geld! Aber Sie haben ein goldenes Herz, Sie Schwein – Ab.
MAX
allein: Ich bin nur froh, daß ich endlich meine Schuhe wieder habe. Man ist ja sogleich ein anderer Mensch.
Christine einfach dunkel gekleidet; erscheint in der Eingangstüre.
MAX
formell. Sie wünschen?
CHRISTINE
Ich wollte nur fragen, ob ich Herrn Strasser sprechen könnte.
Strasser tritt aus dem Speisesaal.
MAX
leise: Es ist ein Frauenzimmer hier, das dich sprechen will.
STRASSER
ebenso: Mich? Wie sieht es denn aus?
MAX
Geschmacksache.
STRASSER
grinst: Dünn? Dick? Lang? Kurz? Stämmig?
MAX
Ich weiß nicht, was du darunter verstehst.
STRASSER
So laß mal sehen!
Max knipst das Licht an.
Strasser erblickt Christine, fährt zusammen, will schleunigst ab.
CHRISTINE
Strasser!
STRASSER
tut, als erblickte er sie erst jetzt: Christine! – Du? Kolossal! Ich hab dich jetzt gar nicht gesehen, auf Ehrenwort!
CHRISTINE
Lüg nicht.
Stille.
STRASSER
zu Max: Was lungern Sie hier herum, Kellner, als gäbe es nichts zu tun! Der Herr Generaldirektor wollen ja soupieren! Daß mir keine Klagen kommen!
MAX
ab in den Speisesaal: Hoi! Hoi!
Stille.
STRASSER
Christine. Dein plötzliches Erscheinen wirft die ganze Exposition über den Haufen –
CHRISTINE
Warum hast du meine Briefe nicht beantwortet?
STRASSER
Was für Briefe?
CHRISTINE
Alle können nicht verloren gegangen sein.
STRASSER
Doch! Doch! Die Post ist derart unzuverlässig –
CHRISTINE
unterbricht ihn: Lüg nicht.
Stille.
Betrachtet Strasser; sieht sich scheu um; eilt plötzlich auf ihn zu, ängstlich lächelnd, schlingt ihre Arme um seinen Hals und küßt ihn. Nein, nein! Das ist ja alles nicht wahr – alles nicht wahr, still! Wir reden ja nur aneinander vorbei. Verzeih mir. Bitte verzeihe, daß ich soeben sagte, du lügst – aber ich bin so ängstlich geworden, ich weiß doch, daß du nicht lügst, nie lügst, daß du nie die Unwahrheit sagst –
STRASSER
Einmal habe ich einen Brief erhalten –
CHRISTINE
küßt ihn rasch auf den Mund: Nein nein nein – Ich weiß ja, daß die Briefe verloren gegangen, alle Briefe, und dann habe ich sie auch vielleicht gar nicht abgesandt – es ist ja, als hätte ich sie gar nicht geschrieben, und die Post ist derart unzuverlässig – warum, warum gibst du mir denn keinen, keinen Kuß?
Strasser küßt sie.
Stille.
Ich habe dir geschrieben, daß mein zweiwöchentlicher Sommeraufenthalt, voriges Jahr, hier, nicht ohne Folgen für mich – für uns –
STRASSER
Du willst doch nicht sagen –
CHRISTINE
unterbricht ihn: Ja.
Stille.
Ja.
Sturm.
Es war eine harte Zeit. Ich wurde abgebaut, und wenn der liebe Gott mir nicht geholfen hätte, wäre ich untergegangen – ich weiß, du wärest zu mir geeilt, wenn du es auch nur geahnt hättest. Ich gehöre zu dir. Hier ist meine Heimat, in der Stadt friere ich nur. Ich werde dir die Wirtschaft führen – ich habe es dir gesagt, wie ich dich liebe, alles, deinen Körper, es wird mir immer kalt und heiß –
Emanuel kommt lautlos die Treppen herab.
Strasser hört ihn trotzdem, stößt Christine von sich.
EMANUEL
Pardon! – Pardon! Sind Baronin schon wieder zurück?
STRASSER
Nein.
EMANUEL
Noch nicht zurück? Bei diesem Wolkenbruch? Das ist ein Orkan! Man wird die Behörde verständigen müssen, es wird doch nichts geschehen. – Wo, wo läßt sich hier telefonieren?
STRASSER
deutet auf das Pult: Dort. Aber ob die Behörde Sie beruhigt, ist fraglich. Neulich hat sich ein Auto überschlagen, doch die Behörde –
EMANUEL
unterbricht ihn: Wie können Sie so reden?! Um Gottes Christi Willen! Er eilt an das Telefon.
Orkan.
CHRISTINE
leise: Was ist das für eine Baronin?
STRASSER
Ach!
Schweigen.
CHRISTINE
Ich habe gehört, daß hier eine Baronin wohnt –
Sie stockt.
STRASSER
So?
CHRISTINE
Du, der liebe Gott hat geholfen. Der liebe Gott – Ich habe nämlich – Sie stockt wieder.
STRASSER
Was?
CHRISTINE
Später. Später.
STRASSER
Was verstehst du unter ›lieber Gott‹?
CHRISTINE
Strasser. Gib mir dasselbe Zimmer –
STRASSER
Welches war denn nur das?
CHRISTINE
Du weißt es doch – Nummer elf.
STRASSER
Elf ist leider besetzt. Aber selbst, wenn es noch frei wäre, würdest du es wahrscheinlich nicht wiedererkennen, da wir es anders eingerichtet haben.
CHRISTINE
Schöner?
STRASSER
Vorteilhafter.
CHRISTINE
ergreift seine Hand: Gib mir irgendein Zimmer – Komm! Sie steigt mit Strasser die Treppen empor.
EMANUEL
allein; am Telefon: Keine Verbindung. Grotesk! Grotesk! Er hängt ein; geht nervös hin und her. Dieser Orkan! Es wird doch nichts geschehen sein – Jedes Auto überschlägt sich ja nicht, man sollte es nicht für möglich halten –
Max kommt aus dem Speisesaal.
Ober! Wieso kann es möglich sein, daß man keine Verbindung bekommt? Ach, ich meine: am Telefon.
MAX
Weil das Telefon verdorben ist.
EMANUEL
So gehört es repariert.
MAX
Gott, das ist schon seit Wochen in Unordnung – Er sieht sich suchend um. Sagen Sie: haben Sie nicht irgendwo eine Speisekarte gesehen?
EMANUEL
Ich?!
MAX
Der Herr Generaldirektor wollen nämlich frühstücken.
EMANUEL
Zustände!
KARL
tritt ohne Gruß ein; sieht sich verstört um; lallt: Den Strasser brauche ich, den Strasser – Wo kann ich einen Strasser haben? Aber nicht zu teuer – ein Stück Strasser brauche ich –
Emanuel, Max starren ihn entgeistert an.
Karl plärrt plötzlich los. Ja, heiliges Dromedar, hat euch denn alle der Schlag gerührt, ihr Bolschewisten!
EMANUEL
knickt in den Knien ein: Bolschewist?!
KARL
zu Max: Du Mandrill! Wo steckt der Strasser, wo?!
MAX
Herr Gorilla, es ist mir leider nicht bekannt, wo die hochwohllöbliche Direktion sich derzeit herumtreiben.
KARL
Da muß sie her! Die muß her! Her muß sie! Daher! Hierher! Daher, hopp! Er rülpst.
MAX
Ach, du bist wieder betrunken?
KARL
Ha?
EMANUEL
zittert: Empörend!
MAX
zu Karl: Du bist verstört.
KARL
Nichts ist unmöglich. Er rülpst und wankt.
EMANUEL
Empörend! Also das ist empörend! Ein berauschter Lenker im Orkan! Zuchthaus! Jawohl: Zuchthaus! – Jetzt wage ich nicht mehr konsequent zu denken –
MAX
Wenn ich nur wüßte, wo die Speisekarte –
KARL
Baronin liegen in der Karosse und betonen, nicht aussteigen zu können, bis der Strasser kommt. Sie bilden sich nämlich ein, daß die Direktion sie auf den Händen herauftragen müßte.
EMANUEL
Was bedeutet das?
KARL
Wir sind umgekippt.
EMANUEL
Um Gottes Christi Willen! Mein Kopf! – Chauffeur! Ist sie verletzt!? Leicht? Schwer?
KARL
Baronin sind besoffen. – Oder habt ihr euch etwa eingebildet, wir fahren im Orkan zur Scheißkapelle?!
MAX
zu Emanuel: Wie kann man auch nur!
KARL
Wir haben nur unsere Gaumen benetzt, den Schlund, die Schlünde – im roten Aar, im bleichen Bock, weiß der Satan wo! Aber die verträgt ja nichts, deine Schwester ist, was Alkohol anbelangt, eine Fehlgeburt! Nach dem vierten Glas hat sie schon gesungen, und dann hat sie die Kotflügel vollgespien – du, die kann singen!
Aus der Ferne tönt Adas Stimme, falsch und kreischend, ein sentimentaler Gassenhauer.
Emanuel hält die Hand vor die Augen.
Max hält sich die Ohren zu.