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Geschworene Treue geht über alle anderen Bande hinaus. Als der junge Kjell seinem Jarl die Treue schwören soll, ist er hin- und hergerissen. Einerseits wünscht er sich nichts sehnlicher, als endlich ein richtiger Krieger zu werden und wie die anderen Wikinger in die Schlacht zu ziehen, Ruhm und Ehre zu erlangen. Andererseits ist er der Sohn des Fischers und fühlt sich seinem Vater verpflichtet. Als der Tag der Entscheidung naht, verlässt sich Kjell auf seine Kunst, mit Worten umzugehen, und schlägt dem Oberhaupt des Dorfes einen Pakt vor: Er wird an seiner Seite einen Sommer lang ins Gefecht ziehen und sich seinen Platz unter den Kriegern verdienen. Sollte er die Erwartungen des Jarls dabei nicht erfüllen, wird er für immer ein Fischer bleiben. Er ahnt nicht, dass dieser Schwur sein Verderben werden könnte. Denn der nächste Feldzug gilt ausgerechnet dem Nachbardorf, wo Kjell vor Kurzem einer jungen Wikingerin begegnet ist, die ihm nicht mehr aus dem Kopf geht. Wird er es schaffen, sowohl sie zu retten als auch seinen Treueschwur zu halten? Und wie grausam könnte die Rache eines Jarls ausfallen, wenn dieser sich hintergangen fühlt?
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Seitenzahl: 574
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Informationen zum Buch
Impressum
Widmung
Prolog
Teil 1 - DER JUNGE
Kapitel 1 - KJELL
Kapitel 2 - KJELL
Kapitel 3 - KJELL
Kapitel 4 - HLÍFA
Kapitel 5 - KJELL
Kapitel 6 - KJELL
Kapitel 7 - HLÍFA
Kapitel 8 - KJELL
Kapitel 9 - KJELL
Kapitel 10 - KJELL
Kapitel 11 - KJELL
Teil 2 - DER BESCHÜTZER
Kapitel 12 - KJELL
Kapitel 13 - HLÍFA
Kapitel 14 - KJELL
Kapitel 15 - KJELL
Kapitel 16 - KJELL
Kapitel 17 - OLVIR
Kapitel 18 - HLÍFA
Kapitel 19 - KJELL
Kapitel 20 - KJELL
Kapitel 21 - HLÍFA
Kapitel 22 - KJELL
Kapitel 23 - OLVIR
Kapitel 24 - HLÍFA
Kapitel 25 - KJELL
Kapitel 26 - HLÍFA
Kapitel 27 - KJELL
Kapitel 28 - OLVIR
Kapitel 29 - KJELL
Kapitel 30 - KJELL
Kapitel 31 - HLÍFA
Kapitel 32 - KJELL
Kapitel 33 - KJELL
Kapitel 34 - KJELL
Teil 3 - DER VERRÄTER
Kapitel 35 - KJELL
Kapitel 36 - OLVIR
Kapitel 37 - KJELL
Kapitel 38 - KJELL
Kapitel 39 - FINNBOGI
Kapitel 40 - KJELL
Epilog
Nachwort
Glossar
Smilla Johansson
Die Wikinger von Island
Verratene Treue
Fantasy
Die Wikinger von Vinland (Band 3): Umkämpfte Freiheit
Geschworene Treue geht über alle anderen Bande hinaus.
Als der junge Kjell seinem Jarl die Treue schwören soll, ist er hin- und hergerissen. Einerseits wünscht er sich nichts sehnlicher, als endlich ein richtiger Krieger zu werden und wie die anderen Wikinger in die Schlacht zu ziehen, Ruhm und Ehre zu erlangen. Andererseits ist er der Sohn des Fischers und fühlt sich seinem Vater verpflichtet. Als der Tag der Entscheidung naht, verlässt sich Kjell auf seine Kunst, mit Worten umzugehen, und schlägt dem Oberhaupt des Dorfes einen Pakt vor: Er wird an seiner Seite einen Sommer lang ins Gefecht ziehen und sich seinen Platz unter den Kriegern verdienen. Sollte er die Erwartungen des Jarls dabei nicht erfüllen, wird er für immer ein Fischer bleiben. Er ahnt nicht, dass dieser Schwur sein Verderben werden könnte. Denn der nächste Feldzug gilt ausgerechnet dem Nachbardorf, wo Kjell vor Kurzem einer jungen Wikingerin begegnet ist, die ihm nicht mehr aus dem Kopf geht. Wird er es schaffen, sowohl sie zu retten als auch seinen Treueschwur zu halten? Und wie grausam könnte die Rache eines Jarls ausfallen, wenn dieser sich hintergangen fühlt?
Die Autorin
Smilla Johansson, Jahrgang 1998, lebt mit ihrer Familie in der kleinen Stadt Bocholt an der niederländischen Grenze. Benannt nach der bekannten Ermittlerin aus Peter Høegs Kriminalroman Fräulein Smillas Gespür für Schnee hatte sie kaum eine andere Wahl, als sich in der Welt der Bücher zuhause zu fühlen. Ein besonderes Faible hat sie für historische Romane, Fantasy aller Art und Krimis.
www.sternensand-verlag.ch
1. Auflage, Oktober 2023
© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2023
Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski
Lektorat / Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Wolma Krefting
Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH
Satz: Sternensand Verlag GmbH
ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-281-6
ISBN (epub): 978-3-03896-282-3
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für all die Lieben, die nicht mehr bei uns sind.
Ihr seid niemals vergessen
Húsavík, Island, im Jahr 1006 n. Chr.
Grelle Blitze erhellten den schwarzen Nachthimmel und ohrenbetäubend laut grollte der Donner durch die Wolken. Thór ließ die Menschen erneut seine Wut spüren und schlug kräftig mit Mjölnir auf den Amboss. Der eiskalte Regen, der sich mittlerweile schon zu kleinen Kugeln geformt hatte, prasselte auf die wenigen Männer hinab, die es trotz des Sturms vor die Tür getrieben hatte.
Der fremde Jarl zog sich die Kapuze seines Umhangs noch tiefer ins Gesicht und hielt sich so nah wie möglich an den Hauswänden, während er seinen Weg durch das Dorf fortsetzte.
In den letzten Jahren, die er fern von dieser rauen Küste verbracht hatte, hatte er beinahe vergessen, wie grausam der Winter im Eisigen Land sein konnte. Dennoch gab es einen guten Grund für seine Rückkehr. So hoffte er zumindest. Für gewöhnlich konnte er sich auf seinen Thane verlassen, aber bei der Aufgabe, die er ihm nun übertragen hatte, schienen die Götter höchstselbst ihm die größten Steine in den Weg gelegt zu haben.
Wie sonst war es zu erklären, dass er immer noch auf einem irrigen Pfad wandelte? Nach fünf Jahren immer noch vergeblich suchte?
»Verfluchtes Weib«, grummelte er bei dem Gedanken an jene Frau, die ihm diesen Schlamassel eingebrockt hatte. Wenn dies jedoch die Geduldsprüfung darstellte, die ihm die Götter auferlegt hatten, würde er nicht nachgeben, bis er sein Ziel erreicht hatte. Bis er fand, wonach er suchte. Das war er seinem Bruder schuldig. Sie würden ihre Rache bekommen.
Triefend nass und durchgefroren erreichte er das Langhaus von Jarl Harbard, der ihnen die Gastfreundschaft erwies und für die Zeit ihres Aufenthalts im Eisigen Land Obdach gewährte.
Er stieß die Tür auf und ging schnell ins Gebäude hinein, das ihn mit warmer, nach Speis und Trank duftender Luft empfing. Das Feuer prasselte in der Mitte der Halle, war aber kaum zu sehen, da so viele Menschen sich darum drängten. Ganz Húsavík schien sich an diesem Abend hier versammelt zu haben.
Es kümmerte ihn jedoch nicht. Eigentlich war ihm der Trubel sogar ganz recht, so konnte er sich wenigstens in Ruhe mit seinem Gefolgsmann austauschen, ohne auf lauschende Ohren achten zu müssen.
Er zog sich die nasse Kapuze vom Kopf und bahnte sich auf der Suche nach seinem Krieger langsam einen Weg durch den Raum.
An einem Tisch, versteckt am anderen Ende der Halle, fand er ihn schließlich und ließ sich ächzend auf die Bank ihm gegenüber fallen. Sein Thane sah auf und als er seinen Herrn erkannte, langte er sogleich nach einem vollen Krug Met, den er schon bereitgestellt hatte. Dankend nahm der Jarl das Getränk entgegen, leerte es bis zur Hälfte in einem Zug und setzte das Gefäß hart auf dem Tisch ab.
»Ich hoffe, du bringst gute Neuigkeiten, Tjörvi.«
Für einen Moment hielt der Thane dem Blick seines Herrn stand, dann senkte er missmutig den Kopf. »Ich fürchte, ich muss Euch erneut vertrösten, mein Jarl«, gestand er leise, was allerdings nur den Zorn seines Gegenübers schürte.
»Pah! Vertrösten? Dass ich nicht lache. Enttäuschen ist wohl eher, was du sagen wolltest.« Verächtlich spuckte er zur Seite aus und beugte sich weiter über den Tisch. »Warum hast du mich überhaupt herkommen lassen, wenn du doch nur mit leeren Händen dastehst?«
Tjörvi schluckte hart. Schweiß stand ihm auf der Stirn, und dem Jarl entging nicht, wie dessen Blick panisch zu den Männern huschte, die ein paar Bänke weiter saßen und bereits misstrauisch zu ihnen hinübersahen.
Der Jarl grinste süffisant, als er das Unbehagen Tjörvis bemerkte. Gut so. Er sollte ruhig mitbekommen, dass seine Geduld allmählich erschöpft war.
»Wie schwer kann es wohl sein, einen flüchtigen Verräter zu finden? Vor allem, wenn er ein plärrendes Balg mit sich herumschleppt?«, zischte er und hieb mit der Faust auf den Tisch.
»Mein Herr …«, stotterte Tjörvi und wich ein Stück vor dem Zorn seines Jarls zurück. »Ich schwöre bei Oðin, ich war mir sicher, ihn hier gefunden zu haben, aber …«
»Was?«
»Er muss unsere Verfolgung wohl bemerkt haben.« Sämtliche Kälte, die der Sturm in den Körper des Jarls getrieben hatte, verschwand schlagartig, als die Worte seines Thane an seine Ohren drang. Hitze wallte in ihm auf und als er nun sprach, zitterte seine Stimme merklich vor unterdrückter Wut. »Falsch! Er hätte es nicht bemerkt, würdest du einmal das tun, was ich dir sage! Fünf Winter warte ich nun schon, dass irgendeiner von euch jämmerlichen Kreaturen mir bringt, wonach ich verlange.«
Langsam zog der Jarl seine Arme vom Tisch zurück und lehnte sich lässig auf der Bank nach hinten, wobei sein Blick allerdings unentwegt seinen Thane fixierte. Nur mit einer enormen Portion Selbstbeherrschung gelang es ihm, seiner Stimme wieder einen ruhigen, obgleich nicht weniger drohenden Ton zu verpassen.
»Vielleicht ist es an der Zeit, dass du in die Fußstapfen deines Vorgängers trittst, Tjörvi, und das Feld einem Mann überlässt, der mich nicht so maßlos enttäuschen wird. Du weißt noch, was mit Einar passiert ist, oder soll ich dich daran erinnern?«
Provozierend langsam nahm der Jarl seine Axt vom Gürtel und legte sie auf den Tisch zwischen sie.
Die Augen des Thane weiteten sich vor Schrecken und hektisch schüttelte er den Kopf. »Nein … das … das wird nicht nötig sein, mein Jarl. Ich versichere Euch …«, doch der Jarl unterbrach ihn harsch.
»Keine leeren Worte mehr, Tjörvi! Entweder du bringst mir den Verräter samt Balg bis zum nächsten Winter nach Hause oder ich finde jemanden, der es an deiner Stelle tut und nicht so gnadenlos scheitert wie du.«
Damit war alles gesagt. Ruckartig erhob sich der Jarl, steckte seine Axt zurück an den Gürtel und wandte sich, ohne auf eine Antwort zu warten, von seinem Gegenüber ab.
Kurz huschte sein Blick durch das volle Langhaus. Was er jetzt brauchte, war ein leichtes Mädchen, das ihn den Ärger über seinen unfähigen Thane vergessen ließ. Als er in der Menge eine geeignete Sklavin gefunden hatte, ging er zielstrebig auf sie zu, packte sie grob am Arm und zerrte sie mit sich zur Tür.
Hvallátur, Island, im Jahr 1008 n. Chr.
Gegenwart
Der Nebel hing in dicken Schwaden tief über dem stillen Wasser des Fjords. Mani zeigte sein makelloses Antlitz am Himmel und sein silbernes Licht brach sich leuchtend hell in den Wellen, die leise ans Ufer plätscherten.
So still wie das Wasser war es auch in den Gassen Hvalláturs, als der junge Mann die Tür zur Hütte seines Vaters sachte hinter sich zuzog und sich das Fuchsfell fest um die Schultern schnürte. Sein Atem formte gleichmäßige Wölkchen über seinem Kopf, die von einer lauen Brise aufgelöst wurden. Der ferne Ruf eines Nachtvogels erklang aus Richtung des spärlichen Waldes in seinem Rücken, doch Kjell widerstand dem Drang, sich umzudrehen.
Für gewöhnlich entdeckte er die leuchtenden Augen des Tieres ohnehin nicht.
Die Luft war kalt, brannte ihm unangenehm im Hals, was er als Sohn des einzigen Fischers im Dorf allerdings gewöhnt war. Der Winter war vorbei, die Eisschicht auf dem Fjord nur noch hauchdünn, und sämtliche Bewohner des Dorfes verlangten nach diesem harten Winter nach frischem Fisch. Selbst als Knirps, der einem erwachsenen Mann gerade mal bis zu den Knien reichte, war er an der Seite seines Vaters Alrík in dem kleinen Boot auf den Fjord hinausgerudert. Dies war seine Aufgabe gewesen, so lange er sich erinnern konnte, und obwohl Kjell insgeheim seit einigen Jahren andere Pläne für seine Zukunft hegte, hatte er noch nicht den richtigen Moment gefunden, sich aus seinem jetzigen Netz aus Verpflichtungen zu lösen.
Sein Vater war stolz auf ihn und ganz besonders auf seine Entwicklung, die ihn später einmal zu einem herausragenden Fischer machen würde. Alrík hatte es ihm noch nie offen gesagt, aber Kjell wusste bereits, dass er in die Fußstapfen seines Vaters treten sollte.
Wirklich verübeln konnte Kjell es ihm nicht. Fischer zu sein, derjenige, der dafür sorgte, dass alle genug zu essen hatten, war eine wichtige und ehrenvolle Aufgabe, allerdings war es nicht das, was Kjell sein Leben lang machen wollte. Nicht, wenn das hieß, nie näher an einen Kampf oder eine heldenhafte Tat heranzukommen als am Feuer des Langhauses des Jarls, wo sich die Krieger die haarsträubendsten Geschichten erzählten.
Wie sollte er sich einen heldenhaften und ruhmreichen Namen machen, wenn in den Methallen und in den bekannten Sagas nie auch nur ein einziger seiner Zunft auftrat? Für das Überleben der Menschen in den Erzählungen sorgten nicht die Handwerker, sondern die großen Krieger, die mit Brynja und Schwert gerüstet in die Schlacht zogen. Doch was konnte er daran schon ändern?
Seufzend und dieser verzweifelten Wunschgedanken müßig machte Kjell sich auf den Weg durch das frühmorgendliche Hvallátur, bis er die kleine Hütte direkt am Fjordufer erreichte. Hier lagerten während der Frostzeit die beiden Fischerboote und sämtliche Ausrüstung seiner Familie. Er entriegelte das weite Holztor, wodurch der Mond sein Licht ins Innere werfen konnte und er sich nicht darum bemühen musste, eine Fackel zu entzünden.
Kjell mochte die Dunkelheit. Besonders sobald er allein war. Im Finsteren hatte er nicht das Bedürfnis, sich einen Schatten zu suchen, mit dem er verschmelzen konnte, um dem Spott der anderen Jungen zu entgehen. Die Schatten verschwanden in der Düsternis ebenso wie er selbst, als er jetzt einige Netze und Reusen zusammensuchte und in eines der Bote warf. Zuletzt griff er nach seiner Angel.
Wenn sein Vater ihn schon in aller Frühe auf den Fjord hinausschickte, wollte Kjell die Zeit so gut wie möglich nutzen.
Unter voller körperlicher Anstrengung zog er das Ruderboot aus dem Schuppen und beförderte es mit einem kräftigen Ruck ins flache Wasser. Das Holz knirschte unangenehm auf dem kiesigen Untergrund, und Kjell atmete erleichtert auf, als es wieder verklang und er schnell hinterher sprang, die Riemen aufnahm und mit rhythmischen Zügen hinaus in die Bucht ruderte.
Mit jedem Schlag entfernte er sich weiter vom Ufer und sah zu, wie der Steg, an dem die Drachenboote lagen, langsam vom Nebel verschluckt wurde. Nur das sanfte Plätschern des Wassers begleitete ihn und er hielt erst inne, als er um sich herum nichts weiter sah als weißen Nebel.
Routiniert warf er die Netze aus und nahm anschließend seine Angel. So saß er da. Ruhig und schweigend und hing seinen Gedanken nach, die er nur dann zuließ, wenn niemand außer ihm und den Göttern selbst sie hören konnten.
Diese Atmosphäre der Stille war ihm allerdings nicht so lange vergönnt, wie er es sich erhofft hatte. Sobald die Nacht wich und auch der Nebel die Bucht und damit das Dorf freigab, erwachte seine Heimat zum Leben. Während Kjell die Schnur seiner Angel einholte – immerhin hatte er ein paar Fische fangen können –, beobachtete er aus dem Augenwinkel, wie ein zweites Boot zielstrebig auf ihn zuhielt.
Er brauchte nicht genauer hinzuschauen, um zu erkennen, wer da auf ihn zuruderte, kannte er den jungen Mann doch besser als sein eigenes Spiegelbild. Die langen, dunkelblonden Haare, die zu einem langen Zopf geflochten waren, die schmale Nase und der kleine Mund, der von ein paar einzelnen Bartstoppeln umgeben war. Lediglich in der Statur unterschied er sich von ihm, vor allem die breiten Schultern und die starke muskuläre Ausprägung der Arme waren ihm nicht zu eigen.
Innerlich seufzte Kjell laut auf, nicht mal hier konnte er seine Ruhe haben. Äußerlich allerdings gab er sich die größte Mühe, seinen Unmut zu verbergen.
»So früh schon auf dem Wasser, Bruder?«, rief der Mann zu ihm hinüber. Er war mittlerweile nah genug, dass Kjell sein feixendes Grinsen nur zu gut sehen konnte.
»Einer von uns muss schließlich tun, was Vater uns aufträgt, Olvir«, brummte Kjell, schaffte es gleichwohl nicht, die Verbitterung vollständig aus seiner Stimme zu verbannen. »Oder meinst du, die Freiheiten, die du dir nimmst, kommen von ganz allein?«
Olvir verzog den Mund und musterte Kjell einen Augenblick lang, dann zuckte er die Schultern. »Nun … ja.«
Kjell schnaubte und wandte sich von seinem Bruder ab. Er ließ sich auf der schmalen Ruderbank nieder und packte die Riemen.
Kommentarlos wollte er zum Rückzug ansetzen, doch Olvir versperrte ihm mit einem kräftigen Ruderschlag den Weg.
»Im Ernst, Kjell. Du hättest schon längst den Mut haben können, ihm zu sagen, dass du das hier nicht länger machen willst«, meinte er und deutete mit einer ausladenden Geste auf das Boot und die ausgeworfenen Netze drum herum.
Kjell schüttelte den Kopf. »Du hast nicht mitbekommen, wie enttäuscht Vater an dem Abend war, als du es ihm gesagt hast.«
»Nein, das habe ich nicht«, gestand Olvir nun weniger herablassend, und der Spott verschwand aus seinem Gesicht. »Trotzdem tut es mir nicht leid. Wir sind nicht auf dieser Welt, um das Leben unseres Vaters zu leben. Die Nornen haben für jeden von uns einen eigenen Faden gewoben, und es wird auch für dich Zeit, den von Vater loszulassen und deinen eigenen aufzunehmen, Kjell.«
»So weise wie Oðin selbst«, nuschelte Kjell kopfschüttelnd, sah dann doch wieder zu Olvir auf. »So einfach, wie du es darstellst, ist es nicht.«
»Für mich war es das«, widersprach sein Bruder und verschränkte die Arme vor dem Körper.
»Ja, weil du der Erste warst. Aber jetzt liegen Vaters ganze Erwartungen auf mir«, erwiderte er mit belegter Stimme.
Darauf wusste Olvir nichts zu sagen, doch Kjell erkannte an dem zerknirschten Gesichtsausdruck seines Bruders, dass er Olvir von seiner Überheblichkeit geheilt hatte – zumindest für den Moment.
»Es tut mir leid«, murmelte Olvir unvermittelt und in seinen Augen, die ebenso ungewöhnlich grün waren wie seine eigenen, erkannte Kjell pure Aufrichtigkeit. »Ich sollte mich bei dir bedanken, immerhin ziehst du das hier auch für mich weiter durch. Und wann immer du so weit bist, kannst du darauf zählen, dass ich dir ebenso den Rücken decken werde, wie du es nun für mich tust«, sagte Olvir und schlug sich zum Zeichen seiner Ehrlichkeit mit der Faust auf die gestählte Brust.
Kjell nickte dankend und wollte schon erleichtert aufatmen, als Olvir erneut das Wort ergriff.
»Schon gut, dafür sind wir schließlich Brüder.« Rasch winkte er ab und fand zu seinem Grinsen zurück. »Das war aber nicht der Grund, warum ich bis hierher zu dir gepaddelt bin.«
Neugierig horchte Kjell auf. Da war etwas in der Stimme seines Bruders, das er bisher nicht häufig gehört hatte, obgleich er es nicht genau benennen konnte. »So, warum dann?«
»Vater hat nach dir verlangt. Offenbar hat er uns etwas Wichtiges zu sagen«, meinte Olvir schulterzuckend.
Kjell stutzte und sogleich machte sich ein ungutes Gefühl in seiner Magengegend breit. Wenn sein Vater, dem nichts wichtiger war als eine gute Tagesausbeute in den Netzen, ihn von seiner morgendlichen Aufgabe zurückrief, mussten es zweifelsfrei sehr dringende Nachrichten sein.
»Mehr weißt du nicht darüber?«, hakte er vorsichtig nach, während Olvir die Blockade seines Bootes löste und Kjells Weg wieder freigab.
»Nein. Er sagte nur, dass es wichtig sei und uns beide betreffen würde«, erklärte Olvir, der nun ebenfalls begann, mit kräftigen Zügen sein Boot in Bewegung zu setzen.
»Und du findest das nicht merkwürdig?«, wollte Kjell der seltsamen Forderung seines Vaters auf den Grund gehen.
»Warum sollte ich? Hat er nicht ein Recht darauf, mit uns zu reden, wann immer es ihm beliebt?«
Kjell stöhnte genervt auf. »Du weißt genau, wie ich das gemeint habe.«
Olvir lachte laut und rempelte mit seinem Riemen gegen den Bug von Kjells Boot, sodass es arg ins Schwanken geriet. »Natürlich weiß ich, wie du das gemeint hast. Aber du musst endlich mal dein ständiges Misstrauen ablegen. Das hilft dir nicht weiter.«
»Ich weiß«, murmelte Kjell mehr zu sich selbst und wechselte dann schnell das Thema. Er hatte dieses Gespräch mit seinem Bruder schon viel zu oft geführt. »Na los! Wer zuletzt am Ufer ist, trägt den Fang nach Hause!«
Damit legte er sich sofort mit seinem vollen Gewicht in die Riemen, ohne auf eine Antwort oder gar Zustimmung seines Bruders zu warten. Er wusste auch so, dass Olvir jederzeit jedem Wettkampf sofort zustimmen würde, selbst wenn er kaum eine Chance auf den Sieg hatte.
Man sah es Kjell mit seiner durchschnittlichen Statur zwar nicht an, erst recht nicht, sobald er neben seinem deutlich muskulöseren Zwillingsbruder stand, aber die Tage, an denen Olvir ihn im Rudern geschlagen hatte, konnte Kjell an einer Hand abzählen.
Der Sieg war ihm also so gut wie gewiss.
Grummelnd stapfte Olvir schließlich hinter Kjell her, den Beutel mit den Fischen über der Schulter. Kjell konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Es gab nicht vieles, in dem er besser war als sein Bruder, und daher freute er sich nun umso mehr über diesen kleinen Sieg.
Noch mehr genoss er es, dass der Spott der anderen nicht ihn traf, als sie heute durchs Dorf gingen, sondern ausnahmsweise sein Bruder, der bei sämtlichen Leuten in Hvallátur hoch angesehen war, sich den höhnischen Bemerkungen ausgeliefert sah.
Für Olvir musste es schon reichlich bitter sein, unter den Augen der schaulustigen Kinder mit einem Sack frischer Fische durch die Gassen zu ziehen, wo er doch sonst nur mit dem Schwert in der Hand gesehen und auch genau dafür respektiert wurde.
Denn auch sie kannten all die Sagen über heldenhafte Krieger. Krieger, nicht Fischer.
Kjell hingegen schmunzelte in sich hinein und genoss die Ablenkung. Für heute war es nicht notwendig, dass er sich in den Schatten versteckte, bis sie die Hütte ihres Vaters erreichten.
Olvir nahm den Beutel von der Schulter und schüttete den Inhalt in einen großen Eimer, der mit Eis gefüllt war. So würden die Fische noch ein paar Stunden frisch bleiben. Zeit genug, um das Gespräch mit ihrem Vater Alrík hinter sich zu bringen.
Gemeinsam betraten sie die Hütte und fanden den Fischer im Hauptraum vor dem Feuer sitzend, die Füße auf die steinerne Umrandung gelegt, ein kaputtes Netz auf dem Schoß.
Als das Licht durch die offene Tür hereinfiel, sah er auf. »Ach Jungs, da seid ihr ja.«
Kjell war kurz davor, erleichtert aufzuatmen. Sein Vater machte nicht den Eindruck, dass etwas Besorgniserregendes oder Ungewöhnliches vorgefallen war, weswegen er sie beide zum Gespräch gerufen hatte. Das Zittern seiner Hände allerdings sprach eine andere Sprache.
»Was gibt's denn?«, fiel Olvir gleich mit der Tür ins Haus und zog sich einen Stuhl heran.
Kjell hingegen blieb neben dem Feuer stehen und lehnte sich an einen der zwei Stützpfeiler.
Innerlich war er noch zu unruhig, um sich zu setzen. Zuerst musste er wissen, was hier vor sich ging.
Alrík seufzte und legte das Fischernetz zur Seite. »Ich muss etwas mit euch beiden besprechen. Es betrifft eure Zukunft hier in Hvallátur.« Seine Stimme klang belegt und Kjells ungutes Gefühl bestätigte sich in dem Moment, da sich ihre Blicke trafen.
Trotzdem schwieg er. Er hatte geahnt, dass dieser Tag bald kommen würde, und so sehr er sich ihn auf der einen Seite herbeigesehnt hatte, so sehr fürchtete er ihn auf der anderen Seite.
»Willst du uns etwa verstoßen oder nur mich, weil ich deinem Weg nicht weiter folgen werde?«, fragte Olvir entsetzt. Offenbar hatte er nicht die gleichen offensichtlichen Schlüsse gezogen wie er.
Ein trauriges Lächeln legte sich auf Alríks Züge. Bedächtig schob er den Ärmel seines Hemdes hoch und zeigte ihnen seinen goldenen Armreif.
»Ich muss euch nicht erklären, was er bedeutet.« Er wandte sich an Kjell. »Was war das Erste, das Wichtigste, das ich euch beigebracht habe?«
»Geschworene Treue geht über alle anderen Bande hinaus«, antwortete Kjell prompt, zu oft hatte er diesen Satz von seinem Vater schon gehört.
Alrík nickte zufrieden. »Um diesen Schwur geht es.« Er drehte sich wieder Olvir zu. »Ihr beide seid nun erwachsene Männer, und Jarl Rókis Gesetze werden ab diesem Sommer auch für euch gelten.«
»Was willst du damit andeuten, Vater?«, fragte Kjell sichtlich beunruhigt, doch gleichzeitig sah er, wie Olvir triumphierend die Faust ballte und von seinem Stuhl aufsprang.
»Das heißt, wir dürfen Jarl Róki endlich unsere Treue und ewige Gefolgschaft schwören?«
Alrík nickte erneut.
Kjell entging der geknickte Ausdruck seines Vaters nicht und er verstand ihn nur zu gut. Dass sein Bruder geradezu wild entschlossen war, endlich in Jarl Rókis Reihen aufgenommen zu werden, wunderte ihn nicht. Schließlich hatte er schon vor drei Wintern dem Weg seines Vaters den Rücken gekehrt. Mehr als einmal war er mit Alrík aneinandergeraten, wenn es um den Schwur ging und warum sie beide ihn nicht wie alle Jungen bereits mit zwölf hatten leisten dürfen.
Kjell hingegen zögerte. Er wollte nicht zeit seines Lebens Fische fangen, doch glaubte er nicht, dass es so einfach war, wie Olvir es sich gerade machte oder vorstellte.
»Und was passiert, wenn ich nicht in seine Reihen eintreten will?«, fragte er vorsichtig und stierte ins Feuer, um dem finsteren Blick seines Vaters zu entgehen.
»Man wird dich zwingen, das Dorf zu verlassen. Jarl Róki duldet keine Männer, die ihm nicht die Treue geschworen, ihr Leben nicht in seine Hand gelegt haben.«
Verstehend nickte Kjell und schluckte. Das war das Letzte, was er wollte: seine Familie zurückzulassen, vielleicht sogar sie zu verlieren.
»Geschworene Treue geht über alle anderen Bande hinaus, auch über die des Blutes«, fügte Alrík hinzu und brachte Kjell damit dazu, den Kopf zu heben.
»Das ist nicht richtig, Vater. Und du weißt es.«
Alrík schwieg, was Kjell nur weiter befeuerte. »Warum sonst haben wir nicht wie alle anderen Jungen vor sechs Wintern den Schwur geleistet, wenn du nicht an seiner Richtigkeit zweifelst?«
Nun spürte Kjell auch den entsetzten Blick seines Bruders auf sich, aber das war ihm egal.
Er fühlte sich innerlich so zerrissen. Vor eine Wahl gestellt, die er nicht treffen konnte, nicht treffen wollte.
Leistete er den Schwur bei Jarl Róki, konnte er zwar bei seiner Familie bleiben, würde aber den Beruf seines Vaters annehmen müssen – das Dorf brauchte einen Fischer. Verweigerte er sich dem Jarl, musste er seine Heimat verlassen und damit auch seine Familie. Für ihn galt der Grundsatz des Jarls nicht.
Warum konnte er nicht kämpfen, ohne gleichzeitig seinem Vater in den Rücken zu fallen? Denn so, wie er es sah, liefen beide Möglichkeiten auf dasselbe hinaus.
»Er hat recht, Vater«, meldete sich nun Olvir zu Wort. »Warum erst jetzt?«
Alrík beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Knien ab und vergrub das Gesicht in den Händen. Diese Geste, der Schmerz ebenso wie die Schwermut, die darin lag, ließ eigentlich nur eine Antwort zu und sie alle kannten sie.
Kjell schloss die Augen, als sein Vater sie aussprach.
»Ich tat es eurer Mutter zuliebe. Als sie starb, nahm sie mir das Versprechen ab, es so lange wie möglich hinauszuzögern. Sie wollte, dass ihr die Tragweite dieser Entscheidung auch begreifen könnt, wenn ihr sie eines Tages trefft. Sie …« Er geriet ins Stocken.
Kjell brauchte nicht zu ihm zu schauen, um die Tränen seines Vaters zu sehen, er hörte sie in seiner Stimme.
»Sie wollte nur unsere Familie beschützen.«
Olvir schnaubte und Kjell vernahm das Schaben von Holz, als er den Stuhl energisch an den Tisch zurückschob »Dabei wäre das eigentlich deine Aufgabe gewesen, Vater!« Das Nächste, was Kjell hörte, war die Tür, die Olvir öffnete. »Wie gut, dass ich meine Wahl schon getroffen habe.«
Die Tür fiel hinter ihm zu und Kjell lehnte sich seufzend gegen den Balken, rutschte daran in eine sitzende Position hinunter.
Eine erdrückende Stille legte sich über den Raum, allein vom Prasseln des Feuers und den leisen Schluchzern seines Vaters durchbrochen.
Er wusste nicht, wie lange er so dasaß, spürte aber irgendwann, wie Alrík aufstand und sich neben ihn setzte, den Arm um seine Schultern gelegt.
Kjell öffnete die Lider. Der Raum war verschwommen und er brauchte einen Moment, ehe er seine eigenen Tränen bemerkte. Mit dem Handrücken wischte er sich übers Gesicht, dann wandte er sich seinem Vater zu.
»Was soll ich jetzt tun? Wie kann ich guten Gewissens eine solche Entscheidung treffen, ohne … dich zu enttäuschen?«
Einen weiteren Augenblick lang herrschte Schweigen, ehe der Griff seines Vaters sich verstärkte. »Weißt du, mein Junge. Du kannst mich nicht enttäuschen, wenn du diese Entscheidung mit deinem Herzen triffst. Wähle für dich. Nicht für deinen Bruder, nicht für den Jarl … und auch nicht für mich. Es ist dein Leben. Deine Zukunft. Versprich mir das und du brauchst nicht unter der Last deines Gewissens zu leiden.«
Kjell nickte langsam und löste sich schließlich von seinem Vater. Er schritt ebenfalls auf die Tür zu und griff nach der Klinke. »Ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken.« Dann verließ er die Hütte.
Ziellos war Kjell losgelaufen, bis er Hvallátur hinter sich gelassen hatte. Sein Weg führte ihn intuitiv in die Berge. Hier oben, auf einem flachen Felsplateau, fern von allem, herrschte noch immer Winter.
Er ließ Spuren im knirschenden Schnee zurück, als er auf den Rand der Klippe zuging und sich setzte und die Beine über den tödlichen Abgrund baumeln ließ. Die Kälte und den Wind nahm er gar nicht wahr, so sehr zog die atemberaubende Aussicht auf den Fjord, das Dorf und das nahe Umland seine Aufmerksamkeit auf sich. Vielleicht war es auch das Chaos seiner Gedanken, das ihm erlaubte, alles andere auszublenden.
Nun war er also gekommen: der Tag der Entscheidung. Der Tag, an dem er vor eine Wahl gestellt wurde, die eigentlich keine solche war.
Denn, welche Wahl hatte er schon?
Er liebte seinen Vater und seinen Bruder, genauso wie er seine Heimat liebte und trotzdem schien es ihm, als müsse er sich zwischen beidem entscheiden.
Genau darüber hatte er am Morgen doch mit Olvir gesprochen. Es konnte kein Zufall sein, dass die Nornen ihm ausgerechnet diesen Tag so in sein Schicksal gewoben hatten. Aber wer war er, an den Göttern zu zweifeln?
Kjell Alríksson, der Sohn eines Fischers, der sich selbst zu Größerem berufen fühlte und gleichzeitig nicht den Mut hatte, eben diesen Weg zu gehen, nur weil er mit einer unangenehmen Entscheidung begann. Vielleicht sogar begonnen werden musste.
Möglicherweise war es aber auch eine Chance, die die Götter ihm an diesem Tag, mit dieser Entscheidung boten. Die Wendung seines Lebens, der Beginn eines neuen Pfades.
Wäre er da nicht ein Narr, diese Möglichkeit nicht zu ergreifen? Wann sonst konnte aus dem Sohn eines Fischers ein ruhmreicher Krieger, vielleicht sogar Thane werden, wenn nicht an einem Tag wie diesem, da alles in Trümmern zu liegen drohte? Denn eins war für Kjell ganz klar: Fischer mochte ein ehrbarer und für das Gemeinwohl aller ein wichtiger Beruf sein, aber seine Berufung war eine andere, das fühlte er.
Damit sollte die Entscheidung längst gefällt sein – schon vor Jahren, genau genommen –, gleichwohl zögerte Kjell noch immer. Warum haderte er fortwährend mit sich, obwohl er doch nur den Mund aufzumachen brauchte?
Er schloss die Augen und atmete tief ein, versuchte, sich ganz auf sich selbst und sein Problem zu konzentrieren.
Von dem Seher des Dorfes hatte er gehört, dass zu jenen, die die Hilfe der Götter dringend brauchten, der Allvater selbst zu sprechen pflegte. Bisher hatte Kjell das nie für möglich gehalten.
Hier auf dem Gipfel des Berges, wo er dem Himmel so nah war wie nirgendwo sonst, schienen ihm die Worte des Sehers gar nicht mehr so abwegig.
Er verlangte schließlich nicht viel. Nur einen Rat, einen kleinen Schubs in die richtige Richtung vielleicht. Irgendetwas, das ihm half, diese schwere Entscheidung trotzdem treffen zu können.
Ein weiterer Atemzug.
Allmählich drang die Kälte zu ihm durch und auch den Wind spürte er wieder an seinen Haaren reißen. Plötzlich war ihm, als spürte er den Luftzug auch in seinem Inneren, wie er all die wirren Gedanken forttrieb und nur die Frage zurückließ, die Kjell sich zuletzt gestellt hatte: Warum zögere ich noch?
Weil du Angst hast, antwortete eine Stimme tief in ihm. Weil du gesehen hast, wie grausam der Kampf sein kann, und weil du am eigenen Leib erfahren hast, was es heißt, jemanden durch einen Kampf zu verlieren.
»Das stimmt nicht«, widersprach Kjell sich selbst. »Mutter ist nicht auf dem Schlachtfeld gestorben.«
Der Krieg hat viele Gesichter und er berührt viele Orte abseits des Schlachtfeldes.
Die Stimme seines Gewissens blieb hartnäckig.
»Was ist, wenn ich es ändern kann?«
In deiner jetzigen Situation kannst du es nicht.
»Aber wer weiß schon, ob meine jetzige Situation sich nicht in den nächsten Stunden wandelt?«, hielt Kjell dagegen und fühlte die Zerrissenheit in sich brodeln.
Ein tiefes Seufzen, welches durch seine Brust vibrierte, sandte ihm eine Gänsehaut über die Arme. Doch die erhoffte Erleichterung oder gar eine Erkenntnis schien sich nicht einzustellen.
Auch wenn du glaubst, dein Pfad sei dir vorherbestimmt, gab es immer schon jene, die einen anderen Weg gegangen sind.
»Und bin ich einer von ihnen?«
Du wärest keiner, würde ich dir vorgeben, was du zu tun hast, ließ die Stimme verlauten und nun glaubte Kjell nicht mehr daran, dass er ein Selbstgespräch mit seinem Gewissen führte.
Man hat stets die Wahl zwischen dem richtigen und dem einfachen Weg und manchmal führen sie beide ans gleiche Ziel, nötigenfalls auch über Umwege. Die Entscheidung, welchen du einschlägst, liegt ganz bei dir.
Nach diesen Worten versiegte die Stimme in seinem Kopf und langsam spürte Kjell wieder den eisigen Wind, der ihm um die Ohren pfiff und seine Nase unangenehm kribbeln ließ.
Gleichwohl hielt er die Augen weiterhin geschlossen, versuchte erneut in sich zu gehen und Kontakt zu der Stimme aufzunehmen, aber lediglich die Stille antwortete ihm.
Lange saß er noch so da, wägte die Möglichkeiten ab, die er zu haben glaubte, bis er schließlich mit pochendem Herzen eine Entscheidung traf.
»Ich weiß jetzt, was ich tun muss«, murmelte er leise.
Kjell ballte die Fäuste und öffnete die Lider. Der Fjord lag klar unter ihm und ebenso klar waren nun seine Gedanken.
Er stand auf, straffte die Schultern und sah zum wolkenverhangenen Himmel auf. Erleichtert atmete er aus und dankte dem Allvater, dass er ihm geholfen hatte, einen Entschluss zu fassen.
Dann kehrte er der Klippe und der Weite davor den Rücken zu. In diesem Moment wollte er glauben, dass es die Stimme Oðins gewesen war, die er in seinem Inneren hatte nachhallen hören. Ob es wirklich so war, würde er jedoch nie erfahren, das wusste er.
Bis zum Abend dachte Kjell kein einziges Mal mehr über seine vorläufige Entscheidung nach. Er ging allen aus dem Weg, besonders seinem Vater und seinem Bruder, und suchte stattdessen Zeit für sich, was bedeutete, dass er den Großteil des Tages im Felsland verbrachte.
Auf der einen Seite grenzte es an Hvallátur und auf der anderen an ein etwa gleichgroßes Dorf: Hnjótur. Viel zu sehen oder gar zu jagen gab es in den felsigen Ebenen nicht, dafür war es eine unendliche Weite, in der Kjell gerne umherwanderte, wenn ihm langweilig war oder er auf etwas wartete, so wie jetzt.
Der Abend schien immer noch in unerreichbarer Ferne zu liegen und verdammte ihn damit dazu, den Nachmittag in quälender Unruhe zu verbringen.
So zog Kjell weiter durch die karge Ebene, bis er ein Plateau erreichte, auf dem er sich niederließ und auf das fremde Dorf schaute.
Von Olvir, der sich seit ein paar Jahren redlich gut mit einigen der Kriegern Jarl Rókis verstand, wusste er um die nach und nach abgerissenen Handelsbeziehungen zwischen Hvallátur und Hnjótur in der letzten Zeit. Es gab sogar Gerüchte, dass sich die ersten Züge einer Verfeindung abzeichneten und man auch nicht mehr mit den Kriegern aus dem Nachbarort auf Raubzug fahren wollte. Insgesamt war es ein angespanntes Verhältnis, und Kjell bezweifelte, dass sich das in Zukunft wieder bessern würde. Róki mochte ein guter Jarl und ehrenhafter Krieger sein, aber als Diplomat war er im Dorf nicht bekannt.
Je länger Kjell so auf Hnjótur hinabschaute, desto neugieriger wurde er. Zwar war er als Kind an der Seite seiner Mutter schon einmal in Hnjótur gewesen, doch an diese Zeit konnte er sich nicht mehr erinnern.
Er legte den Kopf in den Nacken und versuchte, durch die dicke Wolkendecke den Stand der Sonne abzuschätzen.
Wenn er sich jetzt auf den Weg machte …
Ehe er den Gedanken zu Ende geführt hatte, war er bereits aufgestanden und losgelaufen.
Es war nicht ausschließlich Langeweile oder Neugier, die ihn dem fremden Dorf entgegentrieb, sondern vor allem der Drang, etwas Neues zu sehen, neue Leute zu treffen. Menschen, denen er ganz unvoreingenommen begegnen konnte, die nichts über ihn wussten und daher auch keinen Grund hatten, ihm mit Spott oder Hohn gegenüberzutreten.
Mit Einbruch der Dunkelheit erreichte er Hnjótur. Viel Zeit, sich umzusehen, würde ihm nicht bleiben, wenn er rechtzeitig zurück in Hvallátur sein wollte, doch das störte ihn nicht. Der stramme Marsch, die Stille und der Wind hatten für einen kühlen Kopf gesorgt, und so schritt Kjell zielstrebig auf den ausgetretenen Pfad zu, der quer durch die Ansiedlung führte.
Erleichtert stellte er fest, dass er nicht allein zwischen den Hütten unterwegs war und dass er mit der dunklen Kapuze, die er sich ob der Kälte tief ins Gesicht gezogen hatte, auch nicht allzu sehr auffiel.
Neugierig näherte er sich dem Zentrum, einem großen Platz, an den ein Langhaus grenzte, das von vielen Fackeln erleuchtet war und aus dessen Inneren ihm fröhliche Musik und die wohlklingende Stimme eines Skalden entgegenwehte, der eine große Saga zum Besten gab.
Kjell sah sich unauffällig um, doch niemand schien ihn zu beobachten oder misstrauisch zu mustern, ganz so, als gehöre er genau hierher oder als wäre er Luft, was ihm ebenso gut gefiel. Schließlich legte er keinen Wert darauf, als ein Bewohner Hvalláturs erkannt zu werden, wenn es sich vermeiden ließ.
Immerhin war er kein Spion oder dergleichen, sondern nur ein junger Mann auf der Suche nach … ja, nach was genau eigentlich?
Er hatte kein bestimmtes Ziel gehabt, als er vor einigen Fackeln losgelaufen war. Vielmehr war er einem inneren Impuls gefolgt und dieser trieb ihn jetzt dazu an, das Langhaus zu umrunden.
Auf der Rückseite leuchtete ihm der gelbliche Schein der Feuer durch eine offen stehende, doppelflügelige Tür entgegen und erlaubte ihm, einen Blick in die Halle zu werfen. Auch die Worte des Skalden konnte er nun deutlicher verstehen. Es war die Saga von den Schwurbrüdern …
… Als sie so dort verharren und auf die rauschende Küste hinabblicken, wendet sich Þorgeir an seinen Gefährten. »Glaubst du, dass es irgendwo noch zwei andere Schwurbrüder gibt, die es in Kühnheit und Tapferkeit mit uns aufnehmen könnten?«
Daraufhin antwortet sein Schwurbruder Þormóð: »Möglich ist es und wenn man nur weit genug sucht, wird man sie sicher finden.«
»Hier im Eisigen Land gewiss nicht«, hält Þorgeir dagegen. »Aber was denkst du, wer von uns beiden würde die Oberhand behalten, würden wir unsere Kräfte miteinander messen?«
Þormóð zögert seine Antwort lange hinaus, ehe er antwortet: »Das weiß ich nicht, aber sicher weiß ich, dass deine Frage das Ende unserer gemeinsamen Unternehmungen und unserer Freundschaft bedeutet.« …
Ein Lächeln huschte über Kjells Gesicht, dies war eine seiner liebsten Geschichten.
Die Verbundenheit der beiden Schwurbrüder ließ ihn jedes Mal unweigerlich an sich selbst und seinen Bruder denken, hatten sie sich vor vielen Jahren doch etwas ganz Ähnliches geschworen, ohne damals um diese Saga zu wissen.
Es war gut, jemanden zu haben, auf den man sich bedingungslos verlassen konnte.
Vorsichtig trat er näher heran und da ihm von den Menschen um ihn herum immer noch keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, lehnte Kjell sich an den Türrahmen und lauschte dem Skalden. Die Zeit floss dahin und Kjell ließ sich von der heimeligen Atmosphäre und der Heiterkeit der Leute zu gern anstecken.
Gerade als der Skalde mit bereits heiserer Stimme zum großen Ende ansetzte, legte ihm jemand eine Hand auf die Schulter.
Erschrocken zuckte Kjell zusammen, doch anstatt die raue, kratzige Stimme eines Mannes zu hören, der ihn fragte, wer er war oder was er hier zu suchen hatte, vernahm er ein helles und vollkommen fröhliches Lachen. Die Stimme einer jungen Frau, die sich sogleich neben ihm in sein Sichtfeld schob.
»Warum kommt Ihr nicht rein und setzt Euch zu uns ans Feuer, junger Krieger?«, fragte sie und ein Lächeln legte sich auf ihr Antlitz.
Als Kjell sich ihr zuwandte und er plötzlich einer großen, schlanken Frau mit wohlproportionierten Rundungen gegenüberstand, verschlug ihm nicht nur ihr herzliches Angebot die Sprache. Vor ihm stand die schönste Frau, die er in seinem Leben je erblickt hatte.
Lange Haare, schwarz wie kochendes Pech, ergossen sich in sanften Wellen bis auf ihren Rücken. In ihren hellen blaugrauen Augen glitzerte der Schein des Feuers aus der Halle. Ihr Blick war von solch einer Anmut, dass er ihm schier den Atem raubte. Die Züge ihres Gesichts waren so jung und zugleich so makellos, wie er es noch nie gesehen hatte. Und erst ihr Lächeln, das sie mit sinnlich geschwungenen Lippen formte. All das übte seinen ganz eigenen Zauber auf ihn aus und zog ihn in ihren Bann.
Eine heiße Woge schwappte durch seinen Körper, als er merkte, wie sich sein Mund wie von selbst öffnete und nur unverständliches Gestotter über seine Lippen kam.
Unangenehm berührt räusperte er sich, war jedoch nicht imstande, seinen Blick von der schwarzhaarigen Schönheit neben sich abzuwenden.
Einen Moment lang sahen sie sich schweigend an, ehe die Frau ihr Angebot wiederholte, aber Kjell hob abwehrend die Hände.
»Ich … ich sollte nicht hier sein«, brachte er mühsam hervor und spürte zu seinem Leidwesen, wie ihm das Blut in die Wangen stieg.
Die Mundwinkel der Frau zuckten belustigt und ein Ausdruck, so als durchschaue sie ihn mit göttlicher Leichtigkeit, trat in ihre strahlenden Augen.
»Verzeiht mir«, entschuldigte sich Kjell und wollte sich vom Türrahmen lösen, suchte aber vergeblich nach der Kontrolle über seinen Körper.
»Ihr seid nicht aus Hnjótur, nicht wahr?«, nutzte sein Gegenüber seine Unentschlossenheit sogleich aus und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Zumindest bin ich Euch noch nicht begegnet.«
Ein Kopfschütteln war alles, was Kjell sich abringen konnte. Langsam, geradezu zögernd, machte er ein, zwei Schritte zurück und wollte sich gerade zum Gehen wenden, da erklang die Stimme einer anderen Frau aus dem Inneren des Langhauses.
»Hlífa, was stehst du denn da draußen in der Kälte herum? Komm endlich rein!«
Wer auch immer von drinnen gerufen hatte, schien Kjell nicht zu sehen. Die Ablenkung allerdings brachte seinen Verstand ins Rollen und hektisch wandte er sich von der jungen Frau ab.
»Verratet Ihr mir wenigstens Euren Namen, Fremder?«, ertönte ihre Stimme erneut hinter ihm und sofort blieb Kjell stehen.
Er überlegte kurz, ob er einen falschen Namen nennen sollte, doch als er sich umdrehte und sie erneut ansah, verschwanden sämtliche Worte Lokis von seiner Zunge.
»Kjell. Mein Name ist Kjell Alríksson«, sagte er.
Dann drehte er sich auf dem Absatz um und ließ hastigen Schrittes das Dorf und damit auch die junge Frau hinter sich, obwohl er ihren verwunderten Blick noch lange auf seinem Rücken verweilen spürte.
Hlífa. Der Name der jungen Frau ging ihm auf der gesamten Strecke des Heimwegs nicht mehr aus dem Kopf. Noch nie zuvor hatte er eine Frau von solcher Schönheit gesehen, doch war ihr traumhafter Anblick nicht das, was sich ihm ins Gedächtnis gebrannt hatte, doch was es war, konnte er gleichzeitig nicht wirklich benennen.
Es war nicht viel mehr als ein Gefühl, das dennoch so stark war wie nichts, was er vordem schon einmal gespürt hatte. Da war etwas und dieses Etwas, das wusste er intuitiv, war etwas ganz Besonderes.
Sobald das Dorf hinter einer Anhöhe verschwunden war, bereute er seine überstürzte Flucht bereits. Ein innerer Drang trieb ihn an, sofort umzukehren, um Hlífa erneut zu begegnen und dieses merkwürdige Etwas zu ergründen.
Doch die Pflicht rief ihn. An diesem Abend musste das Treffen stattfinden, das sein Leben für immer verändern würde, und er durfte sich nicht leisten, zu spät im Langhaus des Jarls zu erscheinen. Nicht, wenn er sein neues Leben nicht mit einem deutlichen Rückschritt zu seinem Bruder beginnen wollte.
Allmählich zog Kjell das Tempo an und verfiel bald in einen lockeren Trab, der ihn stetig Hvallátur entgegentrieb, obgleich er mit den Gedanken vorerst bei dieser seltsamen Begegnung in Hnjótur verharrte.
Als er seine Heimat erreichte, war der Abend schon weit fortgeschritten.
Kaum jemand begegnete ihm auf den Wegen, die zwischen die Hütten hindurch und hinunter zum Strand führten. Wahrscheinlich hatten sich alle Männer und Frauen von Rang und Namen bereits im Langhaus Jarl Rókis eingefunden.
Kjell fluchte leise, als er im Schein einer der Fackeln, die entlang des Weges aufgestellt worden waren, seinen mit Schlamm und Schnee verdreckten Umhang bemerkte. So konnte er auf keinen Fall vor den Jarl treten, er würde sich vor dem gesamten Dorf blamieren.
Rasch änderte er die Richtung und hielt nun zielstrebig auf die Hütte seines Vaters zu. Inständig hoffte er, dass Alrík und Olvir sich bereits im Langhaus aufhielten und er unbemerkt seine verschmutzte Kleidung wechseln konnte, ohne erklären zu müssen, wo er sich den ganzen Tag lang herumgetrieben hatte oder warum er so verspätet zurückgekehrt war.
Vorsichtig stieß er die Tür auf und war froh, den Raum verlassen vorzufinden.
Innerhalb weniger Augenblicke war Kjell zu seinem Bett geeilt und kramte in der Truhe an dessen Fußende nach sauberen Beinlingen und einem Umhang.
Plötzlich hörte er Schritte von draußen und kaum einen Moment später öffnete sich die Tür.
»Kjell? Bist du hier?«, erklang die besorgte Stimme seines Vaters.
Kjell holte tief Luft, zwang sich dazu, seine hektische Atmung unter Kontrolle zu bringen, ehe er antwortete. »Ja, ich bin hier, Vater.«
Er trat ins fahle Licht, das von draußen hereinfiel und ging, um eine möglichst unbekümmerte Haltung bemüht, auf ihn zu.
»Bei den Göttern!«, sein Vater seufzte erleichtert und packte ihn an den Schultern. »Wo warst du denn? Ich habe das ganze Dorf nach dir abgesucht. Ich hatte schon befürchtet, du …«, setzte Alrík nach einer kurzen Pause an, brachte den Satz aber nicht zu Ende.
Das war auch gar nicht nötig. Kjell las ihm die Sorge vom Gesicht ab.
Er legte seine Hände auf Alríks Arme, die ihn immer noch festhielten und löste sie von seinen Schultern. »Keine Angst, Vater. Ich würde dir nie den Rücken zukehren, ohne mich zu verabschieden.«
Für einen Moment war ihm, als wolle sein Vater noch etwas dazu sagen, doch er schluckte seine Worte hinunter und deutete hinter sich in Richtung des Langhauses. »Es wird Zeit. Alle warten auf dich.«
»Auch Olvir?«, fragte Kjell zögernd. Sein Vater nickte bestätigend.
»Es war reichlich schwer, seinen Tatendrang zu zügeln, aber glücklicherweise ist Jarl Róki ohnehin kein Mann der schnellen Entscheidungen.« Er zwinkerte Kjell zu, aber so wirklich nahm er seinem Vater diese gespielte Leichtigkeit nicht ab.
Wie konnte er auch, da Alrík genau wusste, was die heutige Entscheidung für ihn selbst und sein zukünftiges Leben bedeutete.
»Dann sollten wir den Jarl und vor allem Olvir trotzdem nicht länger als nötig warten lassen«, meinte Kjell und leiser fügte er hinzu: »Das schlägt im schlimmsten Fall nur beiden aufs Gemüt.«
Alrík vernahm die Worte dennoch und ein schmales wie flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Da hast du ganz recht, Junge.«
Ähnlich wie wenige Stunden zuvor hörte Kjell bereits auf dem Weg zum Langhaus, wie ausgelassen die Stimmung unter den Männern Hvalláturs zu dieser Stunde schon war. Lautes Lachen und schallende Rufe trug der Wind ihnen entgegen, als er zusammen mit seinem Vater den ausgetretenen Pfad entlangschritt.
Je näher sie dem Fest kamen, desto deutlicher spürte Kjell die Anspannung erneut in sich aufsteigen, die er seit der Begegnung mit Hlífa vollkommen verdrängt hatte. Nun jedoch hatte in seinen Gedanken nichts anderes mehr Platz als dieser Abend und mit ihm die Entscheidung, die er gleich vor dem Thron des Jarls aussprechen würde.
Bevor Kjell an der Seite seines Vaters das Langhaus betrat, legte Alrík ihm von hinten eine Hand auf die Schulter und beugte sich zu ihm vor. »Welche Entscheidung du auch treffen wirst, Kjell. Ich bin stolz auf den jungen Mann, zu dem du herangewachsen bist.« Kurzzeitig verstärkte sich sein Griff, wenngleich die Stimme seines Vaters erheblich dünner wurde. »Und deine Mutter wäre es auch.«
Dann löste er seine Hand und ehe Kjell Herr seiner wirbelnden Gedanken werden konnte, stieß Alrík die breite Tür zum Langhaus auf.
Lautes Gegröle empfing sie und augenblicklich setzte sich der einzigartige Geruch von geräuchertem Fleisch und süßem Met in Kjells Nase fest. Die Pforte wurde hinter ihnen geschlossen und für ihn fühlte es sich an, als wäre damit die Tür zu seinem alten Leben bereits auf immer versiegelt worden.
Sobald die Tür vollends verriegelt war, wandten sich ihm einige der Männer zu. Als sie ihn erkannten, brandete lauter Jubel auf, und Kjell und Alrík wurden von kräftigen Händen gepackt und weiter in die Mitte des großen Raumes gezogen, wo das Lagerfeuer munter vor sich hinprasselte.
Zu gerne wollte Kjell glauben, dass sich mit ihrem Auftreten nichts an der ausgelassenen Stimmung änderte, die unter den Anwesenden herrschte, aber dem war nicht so, wie er rasch feststellte.
Zwar sank die Lautstärke nicht im Mindesten, doch der Anteil von Gemurmel und aufgeregtem Geflüster stieg rasant an und Kjell wurde es mit jedem Schritt heißer, als sich zunehmend mehr Blicke auf ihn richteten.
Wie hatte er nur in der Annahme hierherkommen können, keiner der Männer wüsste, worum es ging oder was an diesem Abend bevorstand?
Immerhin waren sein Bruder und er durch das fortgeschrittene Alter, in dem sie nun eigenständig vor den Jarl treten würden, im ganzen Dorf bekannt. Da war es nicht verwunderlich, dass ihnen alle Aufmerksamkeit galt. Jeder wollte aus erster Hand erfahren, wie sich die Zwillinge entschieden. Ob auch ihre zukünftigen Wege in die gleiche Richtung gehen würden oder ob es an diesem Abend vielleicht nicht nur zu einem großen Bruch käme.
So oder so, die Erwartungen an Kjell hätten höher nicht sein können und das missfiel ihm zutiefst.
Ganz anders musste es offensichtlich Olvir ergehen, auf den Kjells Blick nun fiel, und der schon ordentlich beim Met zugelangt hatte. Mit einem Fuß auf dem Tisch stand er auf der Bank, wo er wohl gerade zum Besten gab, welch große Ehre es für ihn war, endlich in die Reihen der gewachsenen Männer einzutreten, von denen einige deutlich weniger Winter erlebt hatten als er selbst.
Als Olvir ihn nun entdeckte, wie er sich möglichst unauffällig durch die Menge zu schieben versuchte, hob er erneut seinen Krug und prostete Kjell lauthals zu. »Auf meinen Bruder, die Schnecke, die auch endlich den Weg hierher gefunden hat!«
Jauchzend und johlend stimmten die umstehenden Krieger mit ein und hoben ebenfalls ihre Krüge und Hörner.
Kjell brachte nur ein knappes Nicken hervor und war dankbar dafür, dass es im Langhaus so warm war, sodass die Röte, die in seine Wangen stieg, leicht der Hitze zugeschoben werden konnte und nicht dem unangenehmen Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen.
Hilfesuchend drehte er sich nach seinem Vater um, aber Alrík war bereits in der Menge untergetaucht. Kjell beneidete ihn beinahe darum, doch nur beinahe, musste es für ihn als Vater wohl auch kein leichter Abend sein.
Da seine Suche nach Beistand ins Leere ging, drehte Kjell sich wieder um und erhaschte durch eine Lücke in der Menge einen kurzen Blick auf das flache Podest, auf dem die Throne von Jarl Róki und seiner Frau Tekla standen.
Mit undeutbarer Miene verfolgte Róki das Schauspiel zu seinen Füßen und obwohl er Kjell nicht direkt ansah, spürte jener dessen bohrenden Blick auf sich. Der Moment währte allerdings nur kurz, da verlangte Mikel, sein ältester Sohn, der auf seines Vaters Schoß saß, nach seiner Aufmerksamkeit.
Widerwillig bahnte Kjell sich einen Weg durch die Menge zu dem Tisch seines Bruders, ließ sich aber dankend einen Krug Met in die Hand drücken und setzte ihn sogleich an die Lippen. Ein wenig Met hatte noch keinem Mann geschadet, vor allem nicht an einem Tag wie diesem.
Als sich der süßliche Geschmack nach Honig in seinem Mund ausbreitete, schoss ihm unwillkürlich ein Gedanke durch den Kopf, begleitet von dem Gesicht einer wunderschönen, jungen Frau mit schwarzen Haaren, die er erst wenige Fackeln zuvor getroffen und die ihm ebenfalls einen Krug Met angeboten hatte. Und ehe der brennende Alkohol bis in seinen Magen vorgedrungen war, legte sich eine angenehme Wärme über Kjell.
Hätte dieser Tag anders enden können, wenn er Hlífas Angebot angenommen und in Hnjótur geblieben wäre? Wahrscheinlich nicht. Seine Abwesenheit wäre dem Jarl und all seinen Männern Entscheidung genug gewesen, und Kjell hätte keinen Fuß mehr in Ruhe nach Hvallátur setzen können, um sich von seinem Vater und Olvir zu verabschieden.
Also verwarf er den Gedanken rasch wieder. Gleichwohl kam er von der Erinnerung an den Anblick dieser göttlichen Schönheit nicht los und so fasste Kjell noch in diesem Moment einen Entschluss: Gleich, wie dieser Abend für ihn ausgehen sollte, er würde erneut nach Hnjótur gehen und Hlífa aufsuchen.
Ein plötzlicher Schlag in den Nacken brachte Kjell zurück ins Hier und Jetzt. Olvir war von seinem Tisch heruntergestiegen und hatte ihn fest gepackt. Er zog Kjell dicht zu sich heran, legte ihm die Hände an den Kopf und die Stirn gegen die seines Bruders.
»Bereit, ein Mann zu werden, mein Bruder?«, fragte Olvir und gab sich nicht mal Mühe, seine Euphorie zu zügeln.
Kjell atmete tief ein, erwiderte aber die Umarmung für einen Moment.
»Bringen wir es hinter uns«, murmelte er, doch seine Worte gingen im zunehmenden Lärm der Menge unter.
Olvir hingegen, der wohl nur wahrgenommen hatte, dass Kjell etwas gesagt hatte, fasste dessen Worte als Zustimmung auf. Breit grinsend löste er sich von seinem Bruder und trat neben ihn, das Gesicht dem Podest zugewandt, auf dem der Jarl sich soeben erhoben hatte und nun mit den ausgestreckten Händen der ausgelassen feiernden Menge Ruhe gebot.
Es dauerte einen Moment und auch dann gelang es ihm nur bedingt, was Róki jedoch nicht zu stören schien, denn seine raue Stimme drang auch so mühelos bis in die hinterste Ecke des Langhauses.
»Skål, meine Freunde! Lasst uns auf Alrík trinken, der es endlich geschafft hat, seine Söhne vor mich zu führen. Heute Nacht sollen sie in die engsten Reihen meiner Männer aufgenommen werden, so sie es denn wollen.«
Höhnisch grinsend sah Jarl Róki auf Alrík hinab und Kjell entging der verkniffene Zug um den Mund seines Vaters herum nicht. Ebenso wenig konnte er verhindern, dass der kühle Spott, der den Worten Rókis innewohnte, den Zorn in ihm schürte.
Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie auch in Olvir die Worte seines zukünftigen Anführers etwas bewegten und sein Bruder die Fäuste ballte.
»Ruhig bleiben, Olvir«, raunte Kjell ihm zu. »Lass ihn seinen Spaß haben, danach sind wir an der Reihe.«
Noch während er diese Worte sprach, kam ihm eine tollkühne, eine nahezu wahnwitzige Idee in den Sinn, wie er dem stolzen und nicht weniger überheblichen Jarl in den nächsten Augenblicken begegnen wollte und vor allem, wie er ihm mit einer Waffe, die er nicht beherrschte, ein Schnippchen schlagen konnte.
Ihm war bewusst, dass sein Vorhaben auch einen anderen Ausgang haben konnte, aber der Met und die Hitze hatten seinem Selbstbewusstsein einen ordentlichen Schub verpasst.
Ein leichter Anflug von Sicherheit und Ruhe legte sich über Kjells Gemüt, indes von Olvir nur ein tiefes Knurren zu vernehmen war.
Von beidem bekam der Jarl nichts mit, denn er sprach ungerührt weiter. »Denn dies ist der Tag, an dem sie mir die ewige Treue geloben oder unser Reich für immer verlassen werden!«
Unter grölender Zustimmung der Männer winkte Róki die Brüder zu sich heran. Vor ihnen teilte sich die Menge, sodass Kjell und Olvir vortreten konnten und vor dem Podest jeweils auf ein Knie hinabsanken.
Nun endlich kehrte gänzlich Stille ein und der Jarl wandte sich an die Brüder. »So saget mir, Olvir und Kjell Alríksson. Werde ich von diesem Tag an und immerfort auf eure Treue und Gefolgschaft zählen können, bis wir am Tag der Ragnarøk Seite an Seite in Oðins Schildwall stehen werden?«
Unendlich schwer drückte die hitzige Stille auf Kjell nieder und nur mit Mühe gelang es ihm, dem Blick des Jarls unentwegt standzuhalten. Die Ruhe und Zuversicht, die er wenige Momente zuvor noch überdeutlich in sich gespürt hatte, verpufften schlagartig im Nichts und hinterließen nicht mehr als eine pelzige Haut auf seiner Zunge.
Olvir hingegen schien sich in keiner Weise von Jarl Róki einschüchtern zu lassen und insgeheim beneidete Kjell ihn darum, mochte es auch nur so sein, da Olvir sich seiner Sache seit drei Wintern sicher war und er sich unter den Männern Hvalláturs schon einen Namen gemacht hatte.
»Hiermit schwöre ich, Euch und Hvallátur ewig die Treue zu halten, bis mich die Valkyrja in die heiligen Hallen hinauftragen werden. Mögen unsere Familien auf ewig in Freundschaft und Liebe verbunden sein«, leistete Olvir inbrünstig den ihm aufgetragenen Eid und schlug sich mit der Faust auf die Brust, ehe er den Kopf kurz senkte, nur um anschließend voller Stolz und Tatendrang wieder zu seinem Jarl aufzusehen.
Róki nickte zufrieden, griff nach einem der bronzenen Armreife, die Mikel in Händen hielt und führte ihn an seine Lippen. »Ich danke dir, Olvir Alríksson. Dann werden wir von nun an wie Brüder Seite an Seite kämpfen.« Er küsste den geweihten Armreif und reichte ihn Olvir. »Dieser Reif soll fortan unser Band besiegeln und jedem, der dir begegnet, offenbaren, wessen Mann du bist. Erhebe dich, junger Drengr!«
Als Olvir sich den Reif umlegte und mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht dem Befehl nachkam, brach lauter Beifall in der Halle aus. Krüge und Hörner wurden gehoben und Waffen auf Schilde geschlagen, um den Göttern von dem neuen Bündnis zu berichten.
Kjell biss sich auf die Lippe. Das war also, was ihn erwartete? Anders als sein Bruder misstraute er den hochtrabenden Reden und göttlichen Versprechungen des Mannes vor ihm noch immer. Nicht ganz ohne an die Worte seines Vaters zu denken: Geschworene Treue geht über alle anderen Bande hinaus. Vielleicht auch über die der Wahrheit?
Róki mochte ein guter Jarl sein, aber ein Diplomat, ein ehrlicher noch dazu, war er nicht. Dieses Gerücht hielt sich hartnäckig und selbiges spürte Kjell in diesem Moment bestätigt. Und der Argwohn, der aus diesem Gefühl in ihm erwuchs, fachte sein Misstrauen weiter an und ließ ihn auch jetzt noch zögern, da Róki erneut die Hände hob und um Ruhe bat.
Alle Blicke richteten sich auf ihn, den verbliebenen Zwilling, dessen Absichten bisher niemandem offenbar waren und von dem bekannt war, dass er engen Kontakt zu dem Vater wie auch den Schatten pflegte.
Je länger Kjell schwieg, desto angespannter schien die Stimmung zu werden und desto ungläubiger wurden die Mienen der Anwesenden.
Kjell konnte ihnen die Fragen förmlich von den bärtigen Gesichtern ablesen.
Würde er es tatsächlich wagen und dieses großartige Angebot seines Jarls ausschlagen? Sich wirklich dem Brauch der Gesellschaft verweigern? Einen anderen Weg einschlagen als sein Bruder?
»Nun, Kjell Alríksson?«, wandte sich Róki nach einem Moment der gespannten Stille an ihn. »Offenbar bist du nicht so forsch wie dein Bruder. Ich kann dir dein Zögern an der bleichen Nasenspitze ansehen. Warum teilst du uns deine Gedanken nicht mit? Ich bin mir sicher, sie werden für uns alle höchst aufschlussreich sein.«
Wieder lag da dieser Spott in seiner Stimme, der Kjell Bauchschmerzen bereitete.
Selbst wenn er sich nach den Worten seines Vaters richten und auf sein Herz hören wollte, so schwieg dieses verräterische Ding geradezu beharrlich, weigerte sich, in die eine oder die andere Richtung auszuschlagen. Dennoch hielt er an der flüchtigen Idee fest, die ihm mit den ersten Worten des Jarl gekommen war, er suchte nur noch nach den passenden Worten.
»Verzeiht mir mein Zögern, mein Jarl. Aber es scheint mir, egal wie ich mich entscheide, ich werde doch nur verlieren, was mir wichtig ist«, brachte Kjell langsam hervor und hob den Kopf, um dem beirrten Blick des Mannes vor ihm zu begegnen.
Auf Rókis Miene zeichnete sich ein bizarres Spiel von Verblüffung und Missbilligung ab. Einen Moment noch verharrte er in seiner Position, dann ließ er sich wieder auf seinen Thron sinken. »Nun denn, mein Junge. So sprich frei und lege uns dar, was dich beschäftigt.«
Im Hintergrund nahm Kjell unruhiges Gemurmel wahr und aus der Gemeinschaft der Stimmen meinte er deutlich die seines Bruders herauszuhören, der so etwas murmelte wie »Lasst ihn bloß nicht anfangen, zu reden, sonst hört er nie mehr auf«, aber das entlockte Kjell lediglich ein flüchtiges Schmunzeln.
»Meine Liebe zu Euch reicht tief, mein Jarl«, setzte Kjell zögerlich an, wurde aber sogleich von einem Schnauben Rókis unterbrochen, was ihn allerdings nicht aus der Fassung brachte. Er hatte sich seine Worte nun doch wohl überlegt. »Allerdings reicht sie bei Weitem nicht an jene heran, die ich meiner Familie, insbesondere meinem Vater Alrík gegenüber empfinde«, fuhr er fort und deutete mit einer ausschweifenden Geste zu seinem Vater, der an der Seite stand und mit verkniffener Miene die Szene verfolgte.
Am liebsten wäre jener vor Scham im Boden versunken, das sah Kjell seinem Vater an, aber um seines Triumphes willen war er bereit, das hinzunehmen.
»Das will ich dir auch geraten haben, Junge«, brummte Róki in diesem Moment und Kjell schaute erneut nach vorne. »Kein Verrat ist grausiger als der des eigenen Blutes … wohlan, der seines Jarls vielleicht«, fügte er noch hinzu und ein süffisantes Lächeln begleitete seine Worte.