Die Wikinger von Vinland (Band 2): Gestohlene Vergangenheit - Smilla Johansson - E-Book

Die Wikinger von Vinland (Band 2): Gestohlene Vergangenheit E-Book

Smilla Johansson

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Beschreibung

Für meine Freiheit bin ich bereit, alles zu geben. Verraten von demjenigen, der ihr Treue schwor, erwacht Linea auf einem Schiff, das sie ausgerechnet an den Ort ihrer größten Sehnsucht bringt: Vinland. Dort erwartet sie jedoch nicht die erhoffte Freiheit, sondern ein alter Feind, der grausame Rache durch sie üben will. Hinzu kommen beängstigende Visionen, die in ihr die schreckliche Gewissheit wachsen lassen, dass die Fäden des Schicksals einen Strick bilden, welcher ihr Herz erdrosseln könnte. Wird sie den Klauen des Verrates entkommen? Und welche Opfer muss sie bringen, um wirklich frei zu sein?

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Landkarte

Prolog

Teil 1 - Blutadler

Kapitel 1 – Hákon

Kapitel 2 – Hákon

Kapitel 3 – Linea

Kapitel 4 – Linea

Kapitel 5 – Freydís

Kapitel 6 – Hákon

Kapitel 7 – Hákon

Kapitel 8 – Linea

Kapitel 9 – Linea

Kapitel 10 – Hákon

Kapitel 11 – Hákon

Kapitel 12 – Hákon

Teil 2 - Schicksalsfaden

Kapitel 13 – Linea

Kapitel 14 – Linea

Kapitel 15 – Linea

Kapitel 16 – Hákon

Kapitel 17 – Linea

Kapitel 18 – Linea

Kapitel 19 – Linea

Kapitel 20 – Freydís

Kapitel 21 – Hákon

Kapitel 22 – Linea

Kapitel 23 – Hákon

Kapitel 24 – Linea

Kapitel 25 – Linea

Kapitel 26 – Linea

Kapitel 27 – Linea

Kapitel 28 – Linea

Kapitel 29 – Hákon

Kapitel 30 – Hákon

Kapitel 31 – Freydís

Teil 3 - Todeskampf

Kapitel 32 – Linea

Kapitel 33 – Hákon

Kapitel 34 – Linea

Kapitel 35 – Linea

Kapitel 36 – Hákon

Kapitel 37 – Linea

Kapitel 38 – Freydís

Epilog - Linea

Schlusswort

Glossar

 

Smilla Johansson

 

 

Die Wikinger von Vinland

Band 2: Gestohlene Vergangenheit

 

Fantasy

 

 

Die Wikinger von Vinland (Band 2): Gestohlene Vergangenheit

Für meine Freiheit bin ich bereit, alles zu geben.

 

Verraten von demjenigen, der ihr Treue schwor, erwacht Linea auf einem Schiff, das sie ausgerechnet an den Ort ihrer größten Sehnsucht bringt: Vinland. Dort erwartet sie jedoch nicht die erhoffte Freiheit, sondern ein alter Feind, der grausame Rache durch sie üben will. Hinzu kommen beängstigende Visionen, die in ihr die schreckliche Gewissheit wachsen lassen, dass die Fäden des Schicksals einen Strick bilden, welcher ihr Herz erdrosseln könnte. Wird sie den Klauen des Verrates entkommen? Und welche Opfer muss sie bringen, um wirklich frei zu sein?

 

 

Die Autorin

Smilla Johansson, Jahrgang 1998, lebt mit ihrer Familie in der kleinen Stadt Bocholt an der niederländischen Grenze. Benannt nach der bekannten Ermittlerin aus Peter Høegs Kriminalroman Fräulein Smillas Gespür für Schnee hatte sie kaum eine andere Wahl, als sich in der Welt der Bücher zuhause zu fühlen. Ein besonderes Faible hat sie für historische Romane, Fantasy aller Art und Krimis.

 

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

Hinweis zu sensiblen Inhalten:

Dieses Buch beinhaltet in Kapitel 11 und 12 Szenen mit detaillierten Beschreibungen von Brutalität und Gewalt. Unter anderem wird Kindern Gewalt angetan und das blutige Ritual des Blutadlers beschrieben.

 

 

1. Auflage, Mai 2021

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2021

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski

Lektorat / Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Natalie Röllig

Korrektorat 2: Sternensand Verlag GmbH | Jennifer Papendick

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-197-0

ISBN (epub): 978-3-03896-198-7

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Für alle,

 

die etwas Vergangenes verloren glauben.

Die Erinnerungen daran werden immer ein Teil

von uns bleiben.

 

Prolog

 

Vinland, im Jahr 1002 n. Chr.

Mit Tränen in den Augen blickte Freydís dem Langschiff nach, das sich durch die kräftigen Ruderschläge ihrer Männer schnell vom Ufer entfernte.

Ihr Schiff. Das letzte Schiff.

Der Rauch der verbrennenden Hütten kratzte schmerzhaft in ihrer Kehle. Ihr Herz schlug wehmütig und doch so kräftig in ihrer Brust.

Sie hatte richtig gehandelt. Tief in ihrem Inneren wusste sie es. Dennoch bohrte sich der Schmerz des Verlustes, der Ungewissheit unerbittlich in ihren Körper, benebelte ihren Verstand und trübte ihre Sinne.

Sie hörte die Männer nicht kommen. Erst als sich starke Hände mit eisernem Griff um ihre Schultern legten, kehrte Leben in ihren Körper zurück. Ein heftiges Zucken überkam sie bei der Berührung des Fremden, der sie brutal herumdrehte.

Fünf Männer, wahre Berserker, standen ihr mit gezogenen Waffen gegenüber. Grimmige Blicke, blutgetränkte Rüstungen, schmutzverkrustete Bärte. Diese Männer hatten deutlich bessere Zeiten gesehen, sie waren am Ende ihrer Kräfte. Selbst ihre entschlossenen Gesichter konnten Freydís nicht trügen. Sie hatte genug Schlachten miterlebt, um zu erkennen, wenn es zu Ende ging. Und bei Oðin, dies war das Ende.

Ihr Ende. Das Ende ihres Lagers. Das wirkliche Ende einer langen Freundschaft.

Als ihr Bewacher ihr eine saftige Ohrfeige verpasste, merkte sie, dass er sie etwas gefragt hatte. Freydís brauchte ihn nur kurz zu mustern und wusste, was er von ihr wollte. Die buschigen Augenbrauen tief zusammengezogen, schielte er an ihr vorbei, auf das weite Meer hinaus. Ihr war klar, dass er das Schiff noch gesehen hatte, bevor es von der finsteren Nacht verschluckt worden war.

»Was ist das für ein Schiff?«, wiederholte der Krieger knurrend und griff fester in ihre Schultern.

Genugtuung wallte in Freydís auf, als sie ihn ansah und die Panik in seinen Augen wahrnahm.

Sie würden es niemals erfahren, würden es nie aus ihrem Mund zu hören bekommen, würden sie nicht brechen können, da sie nun ihre Tochter in Sicherheit wusste und damit die Hoffnung auf Rache überdauern konnte. Überdauern würde.

»Das geht dich einen Scheißdreck an, Verräter!«, zischte sie kalt und spuckte ihm ins Gesicht. Die Konsequenz bekam sie sogleich zu spüren.

»Na warte, du Hure!«

Mit voller Wucht rammte er ihr die Faust in den Bauch. Einmal. Zweimal.

Sie keuchte auf, krümmte sich zusammen, um ihren von der Geburt geschwächten Körper zu schützen. Schmerz explodierte in ihrem Unterleib, und ihre Knie gaben nach. Mit zusammengebissenen Zähnen sank Freydís zu Boden. Kein Laut kam über ihre Lippen, als ihr Peiniger erneut nach ihr trat und sie unter einer weiteren Welle heißen Schmerzes ihre Rippen knacken fühlte.

Brennende Tränen quollen aus ihren Augen. Sie bekam kaum noch Luft.

Um den Männern weniger Angriffsfläche zu bieten, rollte sie sich mit einem leisen Ächzen auf die Seite, umklammerte ihre angezogenen Knie und schloss die Augen, erwartete den nächsten Tritt. Doch dieser blieb aus.

Durch den Schleier des Schmerzes hörte sie einen der anderen Krieger vortreten. »Das reicht, Jori! Lass noch was für unseren Jarl über, du weißt, wie lange er darauf gewartet hat.«

Freydís atmete flach und zittrig. Der Schmerz wich dem Hass, der sich bei der Erwähnung des Verräters den Platz in ihrem Herzen zurückerkämpfte. Zischend holte sie Luft, richtete sich mühsam auf und wischte sich Rotz und Blut vom Gesicht.

»Auch Euer feiner Jarl wird am eigenen Leib erfahren, was es heißt, sich mit der Tochter des großen Eirík Rauðe anzulegen!« Sie legte all die angestaute Wut und Verachtung in ihre Stimme und bedachte jeden einzelnen der Männer mit einem zornfunkelnden Blick.

»Halt’s Maul«, knurrte Jori wieder. »Führt sie ab!«

 

Krachend fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss. Jubelrufe brandeten auf, ließen die provisorisch errichteten Wände des Sitzes des Jarls erzittern. Rhythmisches Trommeln auf den Schilden begleitete die Gruppe Männer, die ihre Gefangene herbeiführte. Die Menge teilte sich vor ihnen, und Freydís wurde, begleitet von hämischen Schmährufen und Beleidigungen, bis vor den Thron des Jarls geschleift.

Jori stieß ihr mit einem verächtlichen Schnauben in den Rücken und sie fiel machtlos auf die Knie. Als der Jarl sich erhob, legte sich schlagartig eine gespannte Stille über die Menge.

»So sieht man sich also wieder, Freydís Eiríksdóttir«, spottete er und stieg die flachen Stufen seines Podestes hinab.

Trotzig hob sie das Kinn und erwiderte seinen kalten Blick. Sie spuckte blutig aus und ihre Lippen zitterten unkontrolliert vor unterdrückter Wut.

Finnbogi verzog angewidert den Mund. »Was ist nur aus dir geworden, Freydís? Nun kriechst du im Dreck zu meinen Füßen, dabei hättest du an der Seite meines Bruders hier oben sitzen können.«

»Lieber krieche ich den Rest meines Lebens auf dem Boden, als an der Seite eines Verräters und Frauenschänders zu stehen«, spie sie aus und streckte stolz den Rücken durch, bis ein scharfer Schmerz sie in ihren Bewegungen stoppte. Die verdammten Schweine hatten ihr wirklich mehrere Rippen gebrochen.

»Soll mir auch recht sein«, sagte Finnbogi gleichgültig, ohne auf ihre Beleidigungen einzugehen.

Seine Schritte waren provozierend langsam, als er seine Gefangene umrundete und hinter ihr verharrte.

»Meine Männer berichteten mir, dass du an den Klippen standest und einem Schiff hinterhergeschaut hast. Stimmt das?«

Freydís brauchte all ihre Willenskraft, um ihm nicht die Wahrheit ungeschönt entgegenzuschleudern, aber sie schaffte es. Schwieg, drehte sich nicht um.

Ruckartig packte Finnbogi ihre langen blonden Haare und riss ihr den Kopf nach hinten. Ehe Freydís auch nur blinzeln konnte, zog er die Klinge des Dolches in einer raschen Bewegung quer über ihr linkes Auge. Nur ihrer Intuition verdankte sie es, dass sie den Lufthauch seiner Ausholbewegung gespürt hatte und zurückgezuckt war. Der Schnitt hätte sie sonst mühelos geblendet.

Helle Sternchen flackerten in ihrem Sichtfeld auf, und der Schmerz kroch prickelnd über ihr Gesicht, fraß sich in ihren Geist. Blut tropfte von ihrer Augenbraue, suchte sich jedoch einen anderen Weg, als Finnbogi erneut ihren Kopf zu sich zog und ihren Hals überstreckte.

Sie spürte das kühle Metall auf ihrer erhitzten Haut. Ihr beschleunigter Puls drückte sich begierig der Schärfe der Klinge entgegen, ihr Herz klopfte wie verrückt. Als wollte es sichergehen, dass genug Blut ihren Körper flutete, das sogleich hervorschießen konnte, wenn Finnbogi, der Verräter, ihr den Dolch in den Hals rammte.

Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen beugte er sich vor, seine wulstigen Lippen ruhten direkt an ihrem Ohr. »Sag mir, wen hast du auf dem Schiff fortgeschickt?«, raunte er und strich langsam mit der Schneide über ihre Kehle. »War es dein Geliebter? Wolltest du sichergehen, dass er nicht getötet wird?«

Er ballte die Faust in ihren Haaren enger zusammen und das Ziehen ihrer Kopfhaut wurde immer unerträglicher.

»Sag es mir und ich werde dir für diesen Ungehorsam nur eins deiner zarten Ohren schlitzen müssen«, beschwor er sie weiter. Ein süffisanter Unterton brachte seine kratzige Stimme zum Klingen.

»Gleiches Recht für beide Ohren!«, stieß Freydís keuchend hervor.

Finnbogi knurrte, ein wütendes Zittern durchlief seinen Körper.

Sie hatte es geschafft. Freydís hatte es erneut geschafft, ihn durch ihren eisernen Willen, ihren Mut und ihre Selbstlosigkeit seiner einzigen Waffe zu berauben, die ihr wirklich etwas anhaben konnte – der Gewalt und damit der Macht, die er über sie zu haben glaubte.

»Du hast es so gewollt«, grollte er und der Druck der Klinge verschwand von ihrem Hals, nur um sogleich mit einem schnellen Ruck durch ihre rechte Ohrmuschel zu fahren.

Der Schmerz war unvorstellbar. Ihr wurde schwarz vor Augen und sie schwankte leicht. Hätte er sie nicht so fest an den Haaren gepackt, wäre sie nach vorne umgefallen. Dennoch schaffte sie es, den gellenden Schrei, der auf ihrer Zunge brannte, herunterzuschlucken. Lediglich das Zischen der entweichenden Luft war zu hören.

Heißes, klebriges Blut rann ihren Hals hinab, bahnte sich einen Weg über ihre Brust und versickerte in der zerfetzten Tunika. Ein weiteres Zittern durchlief ihren Körper, als Finnbogi ihr auch das linke Ohr von oben bis zur Mitte der Muschel schlitzte.

Dieses Mal hatte sie sich nicht so gut unter Kontrolle, und ihr entwich ein halb ersticktes Stöhnen.

»Willst du es mir nun verraten?«, säuselte Finnbogi hinter ihr und fuhr mit seinem Finger durch den Blutstrom, der ihren Hals hinabrann.

»Niemals!«, presste Freydís hervor und ruckte probehalber mit ihrem Kopf, doch dem eisernen Griff konnte sie sich nicht entwinden.

»Wie du willst«, sagte der Jarl. Seine Stimme glich frischem Eis. »Ich habe Zeit. Ich kann warten!« Er ließ sie los und stolzierte an ihr vorbei zurück zu seinem Thron. »Sperrt sie in die Zelle im Anbau! Und sorgt dafür, dass sie sich nicht befreit. Sie ist gerissener, als sie aussieht.«

Sogleich traten zwei Männer vor, verdrehten ihr die Arme auf dem Rücken und rissen sie auf die Füße.

»Mein Jarl, was machen wir mit ihren Männern, die überlebt haben?«

Bei dieser Frage schaute Freydís erschrocken auf und mit einem Schlag gefror ihr das Blut in den Adern, als sie wahrnahm, dass Finnbogi ihre Reaktion bemerkt hatte.

Sie sah hinüber zu dem guten Dutzend ihrer Krieger, die gefesselt an der Längsseite des Podestes knieten. Sie waren ihr zwar schon beim Betreten der Halle aufgefallen, aber Freydís hatte sich nicht getraut, sie anzusehen.

Finnbogi folgte ihrem Blick, und ein grausames Lächeln legte sich auf seine Züge. »Es gibt keine Überlebenden von ihrer Seite.«

Sofort traten zwölf Männer aus seinen Reihen vor, die blutgetränkten Äxte in den Händen.

»Nein!«, keuchte Freydís und erstarrte.

Doch sie änderte nichts. Auf einen Wink des Jarls hin vollbrachten seine Männer das blutige Werk. Freydís wollte die Augen schließen, den Blick von so viel Grausamkeit abwenden, aber sie konnte es nicht. Das schuldete sie ihren Männern.

Mit widerlich schmatzenden Geräuschen gruben sich die Schneiden in das weiche Fleisch. Durchschnitten mühelos Haut, Sehnen und Knochen. Blut spritzte Fontänen gleich hervor, benetzte den lehmigen Boden, schwängerte die Luft mit dem unverwechselbaren Geruch nach Metall. Doch damit nicht genug.

Die Bestien waren entfesselt. Dem Blutrausch verfallen schwangen die Berserker die Waffen, schlugen und hackten immer wieder auf die bereits toten Körper ein, tränkten ihre eigenen mit dem Blut der Hilflosen, und über allem dröhnte das wahnsinnige Lachen Finnbogis, als sie Freydís blutend und mit tränenverschmiertem Gesicht nach draußen zerrten.

Teil 1 - Blutadler

 

Kapitel 1 – Hákon

 

Skogbyen, im Jahr 1015 n. Chr.

 

Das Erste, was er spürte, war ein brennender Kopfschmerz. Vorsichtig versuchte er die Lider zu heben. Reflexartig wollte er mit der Hand nach seinem Auge tasten, bekam sie allerdings nicht frei und fiel vom eigenen Körpergewicht überrascht nach vorne. Der Aufschlag auf dem dreckigen Boden war hart und damit schoss der Schmerz von seinem Hinterkopf in seine Nase.

Blut sammelte sich in seinem Mund. Gefolgt von einem wüsten Fluchen spuckte Hákon aus. Umständlich wollte er sich wieder aufsetzen, was jedoch misslang. Seine Hände kribbelten unangenehm, obwohl er sie nicht bewegen konnte.

Verfluchte Scheiße, was soll das?!

Jemand hatte sie ihm stramm auf dem Rücken zusammengebunden, sodass er sich nur – und das äußerst schwerfällig – auf die Seite rollen konnte, die Augen noch immer geschlossen.

Hákon atmete tief ein und bereute es sofort. Der widerliche Geruch von Blut, Schweiß und menschlichen Ausscheidungen stieg ihm in die pochende Nase und ließ ihn würgen. Der Gedanke, dass selbiger Gestank wahrscheinlich von ihm ausging, machte es nicht besser.

Langsam, den Schmerz niederkämpfend, öffnete er die Augen; oder besser: das Auge. Das rechte war so weit zugeschwollen, dass es unangenehm spannte und nur einen schmalen Schlitz zuließ. Viel sah Hákon ohnehin nicht.

Der Raum, in dem er sich befand, hatte keine Fenster oder sonstige Öffnungen, bis auf die fest verschlossene Holztür auf der gegenüberliegenden Seite, an deren Rahmen eine einsame Fackel hing.

Als sich sein Geist klärte, erkannte Hákon den Raum sofort. Es war der Kerker an der Rückseite des Langhauses von Skogbyen.

Verflucht! Heißt das etwa …?

Ein gequältes Stöhnen unterbrach seinen Gedankengang. Da war noch jemand mit ihm eingesperrt, und vermutlich war dieser Jemand auf Hákons anderer Seite, denn sehen konnte er aus dieser Position heraus nichts.

Ächzend holte er Schwung und drehte sich um. Zwei zusammengekrümmte Gestalten lagen auf dem Boden, die eine halb verdeckt durch die andere.

Hákon kniff das Auge zusammen, um etwas mehr auszumachen, und ja, das war Magnus. Diese dunklen Haare und die schmalen Schultern des Stallburschen würde er unter allen Männern Skogbyens wiedererkennen.

Im selben Moment regte sich sein Freund. Offenbar war auch er gerade erst zu sich gekommen.

»Magnus«, krächzte Hákon. Seine Stimme klang durch das Blut, welches sich in seinem Mund gesammelt hatte, seltsam verwaschen. Er spuckte erneut aus. »He, Magnus«, probierte er es noch einmal.

»Hákon, bist du das? Wo bist du?« Magnus’ Stimme zitterte und auch seine Aussprache war undeutlich. Ob durch eine Verletzung oder nur durch die unpraktische Lage auf dem Boden, konnte Hákon nicht feststellen.

»Hinter dir, du Idiot«, antwortete er ungeduldig und versuchte nochmals, sich aufzusetzen, gab jedoch auf, als er sah, wie Magnus’ Fesseln geschnürt waren.

Von den auf dem Rücken gefesselten Händen führte ein Strick zu den Füßen, die ebenfalls verknotet waren. Hinsetzen war somit unmöglich oder zumindest sehr unbequem.

Da wollte wohl einer sichergehen, dass wir nicht abhauen.

»Wer liegt da noch bei dir?« Hákon verrenkte sich beinah den Hals, um an Magnus vorbeischauen zu können.

»Ich glaube, es ist Avid. Sieht übel aus«, sagte Magnus und fluchte leise. »Scheiße, Hákon, was ist passiert?«

Hákon biss sich hart auf die Lippe.

Ja, was war passiert? Er wusste es nicht. Dass er mit seinem Freund Magnus und Avid, einem der treuesten Anhänger Lineas, im dorfeigenen Kerker aufwachte, konnte unmöglich etwas Gutes bedeuten. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war, wie er zum Haupttor geeilt war, um zu berichten, dass eine weitere Gruppe von Bjørn Ragnarssons Kriegern durch das Nebentor hinter dem Langhaus durchgebrochen war. Dann war er sofort mit Linea losgerannt, um …

Verdammt!

Augenblicklich keimte Panik in ihm, und ein eiskalter Stich fuhr durch seine Brust.

»Wo ist Linea?«, fragte er laut und konnte nicht unterdrücken, dass sich die Angst einen Weg in seine Stimme bahnte.

»Ich weiß nicht«, antwortete Magnus zögernd. »Vielleicht haben die Schweine sie woanders eingeschlossen oder …«

Er verstummte, doch Hákon wusste genau, was seinem Freund auf der Zunge lag.

Oder sie ist tot.

Er schüttelte wild den Kopf und verteilte damit noch mehr Blut auf dem Boden.

Nein. Linea war nicht tot, konnte … durfte nicht tot sein! Das wäre …

»Wir müssen hier raus«, riss Magnus ihn aus der Grübelei. »Siehst du irgendwas, womit wir die Fesseln loswerden?«

Hákon ließ den Blick schweifen. Abgesehen von den kahlen Steinwänden, der schweren Holztür und der Fackel an der Wand war der Raum gähnend leer. Allerdings hing diese in unerreichbarer Höhe, also verwarf er den Gedanken daran wieder. Vielleicht sollten sie versuchen, ihre Fesseln gegenseitig aufzuknoten. Ohne etwas zu sehen, würde das allerdings ewig dauern, und wenn sie eins nicht hatten, dann war es Zeit.

Hákon setzte gerade an, Magnus’ Frage zu verneinen, als dieser sich mit einem lauten Scharren umdrehte. Er sah genauso elend aus, wie Hákon sich fühlte. Getrocknetes Blut verklebte seine linke Gesichtshälfte, dessen Ursprung die klaffende Wunde an seiner Schläfe war. Die Lippe war aufgeplatzt und … fehlte ihm da etwa die Spitze eines Eckzahns?

»Ist das da eine Fackel an der Wand?« Magnus zuckte mit dem blau angelaufenen Kinn in Richtung Tür. Im Gegensatz zu Hákon schien er sich nicht an seinen Verletzungen zu stören.

»Ja, aber …«

»Brennt sie noch?«, fragte Magnus weiter und ein Hoffnungsschimmer schwang in seiner Stimme mit.

»So gerade noch, aber wir …«, setzte Hákon an, doch Magnus fuhr ihm grob über den Mund.

»Willst du nun schnell hier rauskommen und Linea suchen oder nicht?«

Hákon presste verkniffen die Lippen aufeinander, widersprach allerdings nicht. Natürlich wollte er hier raus, doch so hatte er das nicht geplant. Trotzdem behielt Magnus recht, eine andere Möglichkeit gab es nicht, also nickte er nur entschlossen.

Robbend und kriechend schoben sie sich durch den Unrat am Boden, bis sie unter der Fackel innehielten.

»Und wie genau hast du dir das nun vorgestellt, Magnus?«, fragte Hákon bissig und immer noch beleidigt, dass sein Freund an der Idee festhielt, die er selbst sofort verworfen hatte.

»Ich habe nie behauptet, dass die Idee lückenlos gut ist«, murmelte Magnus und sah zu der Fackel hoch.

Von ihrer Position hier unten aus schien sie unerreichbar. Für einen stehenden Mann musste sie ungefähr auf Brusthöhe hängen.

Frustriert stöhnte Hákon auf und fluchte laut. Was auch immer ihnen einfallen sollte, es musste schnell passieren. Allzu lange würde die Fackel nicht mehr brennen und dann wäre ihre einzige Chance auf Flucht dahin.

Zu ihrem Unglück schienen nicht einmal die Götter ihnen wohlgesonnen zu sein. Denn just in diesem Moment vernahm Hákon dumpfe Schritte vor dem Eingang des Gefängnisses.

Ein Schlüssel klackerte geräuschvoll, als er grob ins Schloss gerammt wurde, und im nächsten Augenblick flog die Tür auf.

Instinktiv wandte Hákon den Kopf, um nicht von dem bereits schwindenden Tageslicht geblendet zu werden, welches nun den Raum flutete.

Als sein Auge sich an das Licht gewöhnt hatte, sah er zurück zum Eingang.

Zwei bullige Krieger drängten sich zu ihnen in die Kammer, ein weiterer blieb im Türrahmen stehen, die Arme drohend in die Seiten gestemmt.

»Los, schnappt euch den Kleinsten«, wies er seine Leute an, die sofort auf Magnus zukamen und ihn grob auf die Füße zerrten.

Magnus keuchte schmerzerfüllt auf, als der Mann mit den zotteligen Haaren an dem Seil zog, welches seine Hände mit den Füßen verband.

»Was wollt ihr von uns, ihr …« Bevor Magnus ihnen eine Beleidigung an den Kopf schmeißen konnte, holte der andere mit der massigen Faust aus und schlug ihm mit voller Wucht in den Magen.

Magnus entwich ein Wimmern und er krümmte sich schützend zusammen, nur um sogleich wieder hochgerissen zu werden. Diesmal packte auch der Zottelkopf mit an und gemeinsam schleiften sie ihn aus der Kammer.

Hákon unterdessen wand sich und zappelte herum wie ein Fisch auf dem Trockenen. Hilflos sah er mit an, wie sie seinen Freund abführten und die Tür mit einem ohrenbetäubenden Krachen hinter ihnen zuschlug.

Doch dieser Akt der Gewalt war sein Glück. Hákon hörte ein leises Knirschen. Ruckartig schoss sein Kopf in die Höhe, den Blick auf die gusseiserne Fackelhalterung gerichtet.

Umständlich rollte er sich herum und schaffte es, sich an der Wand abstützend hinzuknien. Dann atmete er einmal tief ein und schmiss sich im nächsten Moment mit dem ganzen Gewicht gegen die steinerne Wand.

Augenblicklich schoss ihm ein pochender Schmerz durch die Schulter und er betete zu den Göttern, dass sie nicht ausgekugelt oder Schlimmeres war, aber es hatte sich gelohnt.

Die Fackelhalterung war samt Fackel aus den Fugen zwischen den groben Steinen herausgefallen und lag nun direkt vor ihm.

Ein überaus befriedigendes Triumphgefühl breitete sich in ihm aus und er machte sich sofort daran, seine Fesseln durchzubrennen.

Ganz so schnell, wie er gedacht hatte, ging es nicht. Da ihm genau wie bei Magnus die Hände auf dem Rücken gefesselt waren und er im Hinterkopf keine Augen hatte, verfehlte er den Strick einige Male und zog sich dabei unter lautem Fluchen einige Brandblasen auf der schmutzverkrusteten Haut zu. Das hielt ihn allerdings nicht auf.

Gerade als er seine Hände endlich befreit hatte und nach der Fackel griff, kam Avid, den er bis dahin vollkommen vergessen hatte, unter lautstarkem Husten zu sich.

»Avid!«, rief Hákon erschrocken, fing sich aber schnell wieder. »Mann, wir hatten dich schon fast aufgegeben.«

Er lachte und löste hastig die Fesseln an seinen Füßen, bevor er aufstand, den Rücken durchstreckte, bis sämtliche Wirbel knackten, und sich dann neben Avid wieder auf den Boden fallen ließ.

»Wieso ›wir‹?«, krächzte Avid und wurde von einem weiteren Hustenanfall unterbrochen.

Hákon machte sich bereits mit der Fackel an den Fesseln zu schaffen. »Magnus war auch hier, doch die haben ihn gerade abgeholt.«

Der Strick zwischen Händen und Füßen riss und Avid streckte erleichtert die Beine aus.

»Wir müssen uns echt beeilen, sonst tun sie ihm wer weiß was an und Linea auch«, fuhr Hákon fort. Bei dem erneuten Gedanken an Linea und dem, was sie durchmachen musste, wurde ihm übel.

Avid schüttelte wütend den Kopf. »Nein, Junge. Linea können sie nichts mehr antun. AAAARGH! Verdammte Axt, pass doch auf!«, brüllte er, als Hákon geschockt von den Worten mit der Fackel abrutschte und Avid den Handrücken versengte.

»Was hast du gesagt?«, fragte Hákon scharf und ignorierte Avids Beschwerde.

Er hatte wirklich die Geduld für sämtliche verbale Schlagabtäusche verloren. Verstand er denn nicht, wie wichtig Linea war?

In Hákons Gedankenschien in diesem Moment nichts anderes mehr Platz zu finden außer der Sorge um seine Freundin, und wenn er auf diese Weise Avid schneller zum Reden brachte, nahm er auch in Kauf, seinen Kameraden zu verletzen, wenngleich er es eigentlich nicht wollte.

»Dass sie deiner Liebsten nichts mehr antun können, du Holzkopf!«, fauchte Avid und zerriss die letzten Fasern des Stricks mit einem kräftigen Ruck.

Doch er hatte keine Chance, sich aufzurichten, denn Hákon, dem bei Avids provozierender Bemerkung das Blut in den Kopf schoss, war mit einem Satz über ihm.

Auf ihm kniend, presste er Avids muskulösen Oberkörper auf den Boden und drückte ihm den Arm fest auf die Kehle, hielt die Fackel bedrohlich nahe an sein Gesicht.

»Willst du damit sagen, dass sie tot ist?«, zischte Hákon und kam mit der Fackel noch näher.

Avid blieb jedoch vollkommen unbeeindruckt und grinste Hákon nur frech an, seine dunkelblauen Augen spiegelten das Flackern des Feuers.

»Tot wäre vielleicht besser als da, wo sie jetzt ist«, brachte er röchelnd hervor, da Hákon ihm noch immer die Luft abdrückte.

Er zog den Arm zurück und schlug dem Krieger mit der geballten Faust kräftig auf die Brust.

»Verdammt, Avid! Zwing mich nicht, dir wehzutun. Was ist passiert?«, blaffte Hákon mit rasendem Herz, die Fackel zitterte in seiner Hand.

»Dieser Bastard von Thane hat sie!«, rief Avid aufgebracht.

Und mit einem Mal kehrte die Erinnerung zu Hákon zurück. Kraftlos sackte er in sich zusammen und ließ von Avid ab, während die grausamen Bilder der Schlacht einer Sturmflut gleich in sein Bewusstsein drangen.

Von Hektik getrieben rannten die Verteidiger Skogbyens umher, er selbst mitten unter ihnen, Linea direkt vor ihm. Erneut füllten die Schreie seinen Kopf, legte sich der schwere Geschmack von Blut auf seine Zunge, setzte sich der beißende Gestank verbrennenden Fleisches in seiner Nase fest.

Mit rasender Geschwindigkeit prasselten die Bilder auf ihn ein, verdrängten das Vorangegangene, nur um ebenso schnell durch ein Nachfolgendes ersetzt zu werden.

Hákon versuchte mit aller Willenskraft, sich zu konzentrieren. Suchte fieberhaft nach der entscheidenden Szene, von der er wusste, dass sie da war. Der Tod so vieler Männer zog ihn in einen Rausch. Ein Wirbel aus Farben, Lauten und Emotionen, der ihm jegliche Kontrolle nahm und ihn in seinen eigenen Gedanken zum hilflosen Zuschauer degradierte.

Dann plötzlich sah er jemanden, den er kannte.

Vor seinem geistigen Auge rannte Valdarr, Lineas Ziehvater, vorbei, warf sich schützend vor eine zierliche Gestalt mit kupferblonden Haaren, die schutzlos auf dem blutgetränkten Boden kniete und dem Tod furchtlos ins Antlitz blickte.

Linea!

Hákon keuchte entsetzt auf. Die Geschwindigkeit der Erinnerungen beschleunigte sich erneut. Er sah, wie Valdarr, der seine Ziehtochter aus Leibeskräften verteidigte, von einem feindlichen Krieger niedergestochen wurde. Als jener nun vor Linea stand und Hákon die Fassungslosigkeit in ihrem Blick bemerkte, erkannte auch er den Mann.

Kjell.

Kjell Alríksson. Der blonde Hüne mit den auffallenden Tätowierungen auf den muskulösen Armen.

Kjell Alríksson, der sich als Thane in Skogbyen eingeschlichen und Linea schlussendlich doch hintergangen – und sie entführt – hatte.

Kapitel 2 – Hákon

 

Schlagartig verschwanden sämtliche Bilder aus Hákons Kopf. Was blieb, waren Zorn und Hass. Mit einer Intensität, wie er sie nicht einmal seinem verhassten Vater Rutmar gegenüber empfunden hatte, überrollten sie ihn, brachten ihn zur Raserei.

»Ich wusste es«, rief er aufgebracht und ließ seiner Wut in einer wahren Schimpftirade freien Lauf. »Ich wusste es die ganze Zeit und habe es ihr immer wieder gesagt, aber sie wollte verdammt noch mal nicht auf mich hören!«

Blindwütig begann Hákon die Tür zu ihrem Gefängnis mit Tritten zu malträtieren. Es störte ihn nicht im Geringsten, dass seine Füße bald schmerzten und kurz darauf taub wurden – im Gegenteil. Er musste etwas tun, seinem Ärger Luft machen, das schlechte Gewissen und die Schuldgefühle verdrängen.

Hätte ich nur nicht so schnell aufgegeben, wäre Linea jetzt noch hier. Ich hätte sie überzeugen müssen, diesem Hurensohn nicht zu vertrauen. Verdammte Scheiße!

In dem Ausbruch seiner Gefühle gefangen, merkte Hákon erst, dass sein nächster Tritt ins Leere ging, als Avid ihm von hinten die Hände um den Bauch schlang und ihn kraftvoll zurückriss.

»Hákon, hör auf«, versuchte Avid ihn zu beruhigen und verstärkte den klammernden Griff um seine Mitte. »Du kannst eh nichts mehr daran ändern, dass er sie hat.«

Seine Worte waren klar und bestimmend und brachten Hákon Stück für Stück wieder zur Besinnung. Schwer atmend erschlaffte seine Gegenwehr in Avids Klammergriff, und als dieser es bemerkte, ließ er Hákon los.

Langsam klang die Wut in ihm ab und er beruhigte sich. Er wusste, dass sein Freund recht hatte und dass sie sich besser mit klaren Gedanken einen Plan überlegen sollten, aber … es fiel ihm einfach so verdammt schwer, ruhig zu bleiben. Es war, als tobte in ihm ein regelrechter Orkan, der alles mit sich riss und ihn vollkommen verwirrt und unbeherrscht zurückließ.

»Also, wie kommen wir hier raus?«, fragte er matt.

Avid zuckte mit den Schultern. »Wir nehmen die Tür.«

Hákons Miene versteinerte. Für ein paar Momente stand er einfach nur sprachlos da und starrte den Mann an, der sich nachdenklich mit den Fingern durch den kurzen Vollbart fuhr. Dann, als der Inhalt seiner Worte zu ihm durchdrang, drehte sich Hákon um, und sein Blick blieb an der Tür hängen.

Durch seine wüsten Tritte hatten sich an einem der Bretter die Nägel gelöst, es hing nun schief an der haltenden Querlatte.

»Oh«, machte Hákon verblüfft und sah zu Avid zurück, er grinste.

In seinem Kopf reifte langsam ein Plan heran und der Ausbruch aus diesem Loch war erst der Anfang.

»Na dann mal los«, sagte Hákon, doch Avid streckte die Hand aus und hielt ihn zurück.

»Dein Enthusiasmus in allen Ehren, Hákon. Aber wir sollten uns lieber vorher überlegen, was wir tun, wenn wir aus diesem Drecksloch raus sind«, gab Avid zu bedenken.

»Was gibt es denn da groß zu überlegen?«, fragte Hákon ungeduldig. »Zu dritt haben wir keine Chance, die Idioten alle plattzumachen, wir brauchen Unterstützung.«

»Und wer soll uns helfen?«, unterbrach ihn Avid scharf, seine Stimme glich einem tiefen Knurren.

»Sven natürlich«, entgegnete Hákon mit unzweifelhafter Überzeugung in der Stimme. Bei dem spontanen Gedanken an seinen verhassten Onkel, der sich im heimischen Irastatt wahrscheinlich gerade mit ein paar jungen Mädchen vergnügte, keimte die Ungeduld erneut in ihm. Eigentlich hatte Hákon nun keine große Lust, Avid von den ewigen Machtstreitereien zwischen seinem Vater Rutmar und dessen Bruder um die Herrschaft über ihre Dörfer zu erzählen. Doch wenn er Avid auf seiner Seite haben wollte, musste er ihm wenigstens ein paar Informationen zuspielen.

»Er war schon immer auf den Platz als Anführer Skogbyens scharf. Jetzt hat er die besten Chancen, ihn zu bekommen, und auch das Recht dazu.«

Avid runzelte verwirrt die Stirn, aber dafür hatte Hákon jetzt keine Geduld. »Erst mal müssen wir hier raus!«, sprach er seine Gedanken laut aus und packte das lose Brett in der Tür. »Wir sammeln Magnus ein, besorgen uns Waffen und Pferde und auf dem Weg nach Irastatt erkläre ich es dir in Ruhe, aber jetzt hilf mir gefälligst mit dieser Tür.«

Mit einem Ruck entfernte er das lose Brett und griff gleich das nächste.

»Also gut«, willigte Avid seufzend ein und legte die Hände um die Holzlatte auf der anderen Seite.

 

Es waren nur wenige Handgriffe nötig und die Tür war in ihre Einzelteile zerlegt. Hákon lugte als Erster um die Ecke, doch erkannte er nichts und niemanden, was zum einen an seiner noch immer einschränkenden Verletzung, zum anderen an der Dunkelheit liegen mochte, die sich mittlerweile über das Dorf gelegt hatte.

Für beide Flüchtigen war das allerdings umso besser, weil sie in den Schatten zwischen den Hütten Schutz fanden und sich so ungesehen bewegten.

»Wir gehen erst zu unserem geheimen Waffenlager und schauen dann, wo wir Magnus finden. Gemeinsam können wir es bis zu den Ställen schaffen«, flüsterte Hákon Avid zu.

»Du willst das wirklich riskieren?«, fragte Avid zögerlich.

Hákon biss sich auf die Unterlippe und wich seinem Blick aus.

Mist!

Avid sprach genau das an, worüber Hákon nicht nachdenken wollte, wozu ihm keine Lösung einfiel. Es widerstrebte ihm, seinen besten Freund, der schon immer wie ein Bruder für ihn gewesen war, dem er sein Leben verdankte, zurückzulassen. Und doch sagte ihm sein Verstand, dass ihm kaum eine andere Möglichkeit blieb, um nicht zu riskieren, selbst wieder geschnappt und eingesperrt zu werden.

Überhaupt passte es ihm gar nicht, dass Avid dieses Thema anschnitt, denn im gleichen Zug meldete sich sein schlechtes Gewissen zu Wort, das darauf drängte, auf gar keinen Fall ohne Magnus zu verschwinden.

Du hast mich schon im Stich gelassen, dann rette jetzt wenigstens deinen besten Freund, erklang es auf einmal in seinem Kopf, und ein schmerzhaftes Ziehen fuhr ihm durch die Brust, weil es Lineas Stimme war, die ihm diese enttäuschten Worte zuflüsterte.

Er schüttelte sich und drängte alle irreführenden Emotionen und Gedanken zurück. Er musste einen kühlen Kopf bewahren und sich für den Weg entscheiden, der ihnen am ehesten zum Erfolg verhelfen würde. Selbst wenn es bedeutete, dass er seinen Freund nun im Stich ließ.

Nein! Magnus würde es verstehen, da war er sich sicher. Genauso sicher wusste er, dass Magnus ihn als Idioten beschimpfen würde, wenn Hákon seinen möglicherweise einzigen Fluchtversuch dafür verschwendete, ihn zu befreien.

Die Zurückgefallenen werden zurückgelassen.

Das war das Erste, was sie unter Orm, dem Hauptmann der Wache Skogbyens, gelernt hatten, und genau darauf würde er sich im schlimmsten Falle berufen. Vielleicht würde Magnus es in der Zwischenzeit von allein schaffen zu fliehen. Er musste darauf vertrauen.

Mit diesem Gedanken traf Hákon seine Entscheidung. So schwer es ihm auch fiel, er musste seinen gewonnenen Vorteil nutzen. Was half es ihnen, wenn er ebenfalls wieder eingefangen wurde?

»Magnus ist clever«, sagte er ausweichend. »Er wird es alleine schaffen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging Hákon los, langsam und immer die schützenden Wände im Rücken.

Avid folgte ihm und warf alle paar Schritte verunsicherte Blicke über die Schulter, aber niemand bemerkte sie. Und genau das machte Hákon nervös.

Verdammt! Skogbyen war ein gefallenes, sogar von Feinden eingenommenes Dorf, und das war höchstens seit zwei oder drei Tagen so. Trotzdem waren nirgendwo fremde Krieger oder Wachen zu sehen. Bis auf die teilweise zerstörten Hütten gab es keinerlei Anzeichen dafür, was für ein grausamer Überfall hier stattgefunden hatte.

Das änderte sich allerdings, als sie durch eine schmale Gasse einen Blick auf den großen Platz im Dorfzentrum warfen. Der Boden war übersät mit Leichen. Frauen, Sklaven, Kinder, aber vor allem Männer lagen kreuz und quer herum, teils in Stücke zerhackt, teils mit klaffenden Fleischwunden.

Hákon wandte sich rasch ab und schickte ein stummes Dankesgebet an Delling, der unter den Göttern die Nacht verkörperte, dass er wegen der Dunkelheit die Einzelheiten nicht sehen musste.

Obgleich die Szenerie in Hákon Abscheu und Ekel weckte, musste sie in Avid etwas gänzlich anderes auslösen, denn er hielt plötzlich inne und starrte mit panisch aufgerissenen Augen auf den Platz.

Seine geschwollenen Lippen zitterten und doch konnte Hákon das Wort ablesen, welches er stumm die ganze Zeit wiederholte.

Jella.

Natürlich! Linea hatte ihm von der geheimen Beziehung zwischen den beiden erzählt, nachdem die drei sich gemeinsam im Langhaus zurückgezogen hatten. Es kam ihm vor, als wäre das Jahre her.

Hákon war so mit seinen Plänen und den Ängsten um Linea beschäftigt gewesen, dass er an Avid und seine Sorgen keinen einzigen Gedanken verschwendet hatte.

Jetzt aber fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Jella, Avids Geliebte, hatten sie das letzte Mal im Langhaus des Jarls gesehen, bevor der Kampf ausgebrochen war. Selbiges schien auch Avid gerade einzufallen. Das schwache Mondlicht spiegelte sich weiß in seinen vor Schrecken weit aufgerissenen Augen.

»Hákon, ich kann nicht mit dir kommen«, stammelte er, sein Blick huschte schnell zwischen dem Platz und ihm hin und her.

Das fassungslose »Was?« lag ihm bereits auf der Zunge, doch zügelte Hákon sich rechtzeitig.

Er verstand ihn besser, als er zugeben wollte. Für Linea und Magnus waren ihm vorhin dieselben Zweifel durch den Kopf gegangen. Avid schien schneller entscheiden zu können, welche Seite er gewinnen ließ.

»Solange ich nicht weiß, wo Jella ist, werde ich nicht fortgehen«, stellte er entschlossen fest.

Hákon nickte und versuchte die Aufregung zurückzudrängen, die bei dem Gedanken, sich allein durchzuschlagen, in ihm aufkam. »In Ordnung«, sagte er leise und machte einen Schritt auf Avid zu, legte ihm mit festem Griff die eine Hand auf die Schulter, die andere um den Unterarm.

»Mögen die Götter mit dir sein«, flüsterte Hákon ehrfurchtsvoll.

»Und mit dir«, antwortete Avid und erwiderte die Geste.

Einen Augenblick standen sie schweigend da, schöpften Kraft und Mut aus der Anwesenheit des jeweils anderen. Dann löste Avid den Handschlag, wandte sich ab und schlich geduckt davon.

Hákon schluckte schwer. Mit gespitzten Ohren und vor Aufregung pochendem Herzen setzte er seinen Weg in die entgegengesetzte Richtung fort.

 

Ohne Zwischenfälle erreichte er das Haus der Sklaven. Schon vor Jahren hatten Magnus, Linea und er sich darauf geeinigt, ihre Übungswaffen, die sie nicht mit nach Hause nahmen, hier im Viehstall zu verstecken. Dass er wirklich einmal darauf würde zurückgreifen müssen, hatte sich Hákon allerdings nie vorstellen können. Nun war es lediglich eine weitere unbeschwerte Kindheitserinnerung.

Er sah sich noch einmal um und öffnete die morsche Tür. Der beißende Gestank von Tier und Mist schlug ihm entgegen. Seine Augen begannen sofort zu tränen. Hastig schlüpfte er hinein und bückte sich an der hinteren Wand, um ein paar Kisten zur Seite zu schieben. Dahinter kamen die in grobes Leinen eingeschlagenen Waffen zum Vorschein.

Die Aufregung in ihm legte sich etwas, als er den vertrauten Griff des Langsax in die Hand nahm und in die leere Scheide an seinem Gürtel steckte. Danach nahm er die Armbrust auf und wollte sie sich gerade auf den Rücken schwingen, da hörte er von draußen ein Geräusch. Ein leises Scharren, als schliche jemand an der Wand entlang, darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden.

Blitzschnell spannte er mit routinierten Bewegungen einen Bolzen ein und zielte auf die offen stehende Tür. Sein Herz klopfte so laut, dass er fürchtete, man müsse es bis draußen hören, doch er selbst verharrte bewegungslos, hielt den Atem an.

In der Tür zeichnete sich der Schatten einer Person ab, die langsam näher kam. Sobald der Mann komplett im Rahmen stand, schoss Hákon den eingespannten Bolzen ab.

Mit einem lauten Fluchen warf sich der Mann im letzten Augenblick auf den Boden.

»Bei Oðins Bart! Bist du wahnsinnig geworden, mich so zu erschrecken?«

Hákon senkte die Armbrust, als er die helle Stimme seines Freundes erkannte, und ließ gepresst die Luft entweichen, die er unbewusst angehalten hatte.

»Du solltest es besser wissen, als dich an mich heranzuschleichen«, konterte er und klopfte Magnus auf die Schulter, sobald dieser neben ihn trat und ebenfalls sein Waffenbündel aufhob.

In ihm brach sich die Erleichterung Bahn, und sämtliche Gewissensbisse, die ihn vorhin noch geplagt hatten, waren vergessen. Magnus hatte es geschafft.

»Was hat dich so lange aufgehalten?«, fragte er spöttisch und hängte sich den schmalen Köcher mit Bolzen an den Gürtel.

Magnus winkte ab und schulterte seinen Schild. »So wirklich helle waren die Leute aus Halvsfjord doch nie«, sagte er und zwinkerte. »Eine kurze Ablenkung, ein gezielter Schlag und ein schneller Sprint haben ausgereicht, um sie abzuschütteln.«

Hákon musterte ihn skeptisch. Die Anspannung war ihm deutlich anzuhören, egal wie locker sein Freund sich gerade gab. Dafür kannte er ihn nach all den Jahren einfach zu gut. Allerdings genügte es ihm, zu wissen, dass Magnus nichts passiert war und sie nun keine Wachen auf den Fersen hatten.

Anerkennend klopfte er seinem Freund auf die Schulter, der gerade einen Dolch samt Scheide in seinem linken Stiefel versenkte und nach seinem Speer griff. Dann war Magnus auch schon wieder an der Tür und spähte um die Ecke.

»Die Luft ist rein«, gab er zu Hákon durch und verschwand in der Dunkelheit.

Hákon warf noch einen letzten wehmütigen Blick auf das verbliebene Waffenbündel, welches, wie er wusste, zwei Wurfäxte und vier Wurfmesser sowie einen Sax enthielt – Lineas Waffen.

Ein schwerer Stein fiel ihm in den Magen, als er erneut an seine Freundin dachte, die sich gerade unbewaffnet wer weiß wo gegen diesen Bastard Kjell behaupten musste. Falls sie überhaupt noch lebte.

»Hákon, wo bleibst du?«, zischte Magnus von draußen, und Hákon riss sich vom Anblick der verwaisten Waffen los. Mit ihnen ließ er auch die frustrierenden negativen Gedanken zurück.

 

Als auf dem Weg zu den Ställen erstmals Wachen auftauchten, atmete Hákon erleichtert aus. Das sprach immerhin dagegen, dass Bjørn ihnen durch ihre Bewacher eine Falle stellen ließ. Sie waren noch ungefähr fünf Mannslängen von dem Gebäude mit den Pferdeköpfen an den Giebeln entfernt und beobachteten die Patrouille.

Drei Soldaten lungerten im Schein einer Fackel vor der Stalltür herum. Wirklich ernst nahmen sie ihre Aufgabe nicht, denn neben ihnen stand ein Fass Met, an dem sie sich, ihrer Aussprache nach zu urteilen, schon ordentlich bedient hatten.

Hákon atmete erleichtert aus und tauschte einen Blick mit Magnus. Dieser jedoch wirkte seltsam unruhig und war ein bisschen bleich um die Nase geworden. Und Hákon begriff sofort, was seinen Freund beschäftigte.

Magnus’ Eltern lebten in der Hütte direkt hinter den Ställen. Sie konnten unmöglich bis zu diesem Zeitpunkt versteckt geblieben sein. Vor allem Magnus’ Vater Kárr nicht, weil er mit Sicherheit im Kampf dabei gewesen war. Aber darauf durften sie nun keine Rücksicht nehmen, sie mussten an die Pferde rankommen.

»Sobald wir die Wachen ausgeschaltet haben, gehen wir rein und sehen nach deinen Eltern, in Ordnung?«, bot Hákon verständnisvoll an.

Sein Freund nickte apathisch und zog den Dolch aus seinem Stiefel. Mit gezückter Waffe schlich er an der Hauswand entlang, Hákon dicht auf den Fersen.

Als sie an der letzten Ecke vor dem offenen Tor ankamen und die Schatten der Wachen auf dem Boden tanzen sahen, warteten sie so lange, bis zwei der drei Männer mit dem Rücken zu ihnen standen.

Zeitgleich sprangen Hákon und Magnus vor. Mit einem Satz landete jeder von ihnen auf dem Rücken eines Mannes und fast ebenso synchron zogen sie ihre Waffen mit einer glatten Bewegung durch die Kehlen ihrer Opfer.

Blut spritzte auf und der verbleibende Wachmann wich erschrocken zurück. Hákon reagierte blitzschnell, zog seinen Sax zurück und war mit einem langen Schritt bei dem Mann, der wie gelähmt vor der Wand des Stalls verharrte. Er rammte dem Gegner, ohne zu zögern, die Klinge durch die Brust, bis diese mit einem rauen Kratzgeräusch über die hölzerne Wand schabte. Der Mann sackte tot zu Boden.

Magnus beachtete die Männer nicht weiter, sondern rauschte dicht an ihm vorbei durch das Tor ins Innere der Stallungen. Hákon blickte sich schnell um, ob sie jemand beobachtet hatte, erkannte allerdings keine weiteren Wachen.

»Nein!«

Der panische Schrei seines Freundes ließ ihn herumfahren.

Hákon rannte zu Magnus, der mitten auf der Stallgasse kniete. Was er dort sah, würde er sein Leben lang nicht wieder vergessen.

Zuerst verdeckte Magnus’ Rücken den Platz direkt vor ihm, sodass er nichts ausmachen konnte. Magnus heulte auf und begann zu weinen wie ein kleines Kind, und Hákon wurde unangenehm heiß.

Oh ihr Götter, bitte lasst es nicht das sein, was ich denke.

Gleichwohl kam jede Hilfe zu spät. Als er sich langsam die Gasse entlangschob und über Magnus hinwegsah, hätte er sich am liebsten umgedreht und wäre gerannt.

Vor Magnus auf dem Boden, in einer riesigen Blutlache, lag Kárr. Er war tot.

Sein nackter Oberkörper war übersät mit unzählbar vielen kleinen Schnitten, die zwar alle stark geblutet, ihn aber nicht getötet hatten. Seinen Fingern fehlten sämtliche Nägel und auch die blutigen, leeren Augenhöhlen sprachen Bände. Es waren Spuren der brutalsten Folter.

Was Hákon innerlich am meisten traf, ruhte in Kárrs geschundener rechter Hand. Es war eine feingliedrige silberne Kette mit einem südländisch aussehenden Anhänger daran. Eine Kette, von der Hákon wusste, dass Magnus’ Mutter sie immer getragen hatte.

Schnell wandte er den Blick ab, als sich Tränen in seinen Augen bildeten und jeder Schlag seines Herzens in seiner Brust brannte wie Feuer in einer Schüssel mit Pech.

Woher kam dieser Schmerz? War es, weil Magnus und seine Eltern ihn wie einen zweiten Sohn aufgenommen hatten? Er sich bei ihnen stets zu Hause gefühlt hatte, wenn er von Rutmar verprügelt worden war?

Egal wie weh es ihm tat, so war ihm bewusst, dass es nur ein Bruchteil des Schmerzes war, den Magnus verspüren musste. Noch immer strich er mit zitternden Händen seinem Vater durchs Haar und schluchzte ungehemmt und geräuschvoll.

Hákon hatte keine Ahnung, wie lange er so dastand. Aber die Zeit hatte ohnehin für Magnus keine Bedeutung mehr und ihm fiel es schwer, einzuschätzen, wann er seinen Freund in diesem intimen Moment unterbrechen sollte. Denn für alle anderen und für ihre Situation nahm die Zeit ihren Lauf.

Obwohl er selbst hart mit sich und seinen gemischten Gefühlen kämpfte, zwang er sich dazu, weiterzumachen. Magnus noch einen letzten Augenblick des Abschieds zu gewähren, denn zurücklassen würde er ihn nun auf keinen Fall mehr.

Er sah sich um. Zu seiner Erleichterung waren noch alle acht Pferde in ihren Boxen, die Sättel und Zäume hingen ordentlich an der hinteren Wand, so wie immer.

Mit größter Achtsamkeit und Ruhe versuchte Hákon sein Bestes, zwei der Pferde vorzubereiten, doch hatte er keine Ahnung, wie all die Riemen und Schnüre verbunden werden mussten.

Stumm verfluchte er seine Unwissenheit und die Arroganz, die sein Vater ihm eingetrichtert hatte. So innig die Freundschaft zu Magnus auch stets gewesen war, hatte es Hákon, der Sohn des Jarls, nie für notwendig gehalten, zu lernen, wie man ein Pferd richtig sattelte.

Beschämt seufzte Hákon und trat wieder zurück auf die Stallgasse, ging neben Magnus auf die Knie und legte ihm zögernd den Arm um die Schultern.

»Magnus«, murmelte er, aber sein Freund reagierte nicht, starrte nur weiter mit feuchten Augen auf die Leiche seines Vaters hinab. »Wir müssen gehen«, versuchte er ihn zu erreichen und rüttelte ihn leicht an der Schulter.

Diesmal wandte sich Magnus ihm zu, die Augen vom Schmerz gebrochen.

»Ich kann ihn nicht zurücklassen«, brachte er schluchzend hervor und scherte sich nicht darum, dass weitere Tränen über sein Gesicht rollten. »Nicht hier, nicht … so.«

Hákon atmete zitternd ein. »Dein Vater ist schon in Valhall. Die Valkyrja werden ihn sicher geleiten.« Er machte eine Pause, verstärkte den Griff um Magnus’ Schultern, zwang ihn dazu, den Blick abzuwenden. »Dein Vater würde nicht wollen, dass du ihm so schnell folgst«, flüsterte er.

Nun rollte auch ihm eine Träne über die Wange, doch er schämte sich ihrer nicht.

Kárr war ihm zeit seines Lebens ein besserer Vater gewesen, als Rutmar es je hätte sein können. Sein Tod traf ihn genauso wie Magnus. Dennoch redete er mit erstickter Stimme weiter auf ihn ein.

»Du musst kämpfen, Magnus. Jetzt mehr als jemals zuvor. Es ist deine Aufgabe, so wie es seine war, dich und deine Mutter zu beschützen.«

»Aber er hat es nicht geschafft!« Magnus schluchzte erneut auf und schlug die Hände vors Gesicht.

Hákon zog ihn zu sich und schloss seine Arme um ihn, gab ihm den Halt, den er brauchte, und suchte fieberhaft nach den passenden Worten.

»Wie kannst du dir sicher sein? Siehst du deine Mutter hier?«

Magnus reagierte nicht, konnte sich nicht beruhigen, wollte es vielleicht auch gar nicht.

In Hákon jedoch wuchs die Unruhe heran und verdrängte langsam die Trauer, gab seinem Verstand wieder die Möglichkeit, das Ruder zu übernehmen. Unsicher warf er einen Blick über die Schulter auf die noch geöffnete Stalltür.

Hatte wirklich noch niemand ihre Flucht bemerkt?

»Solange wir ihre Leiche nicht gefunden haben, ist sie am Leben, Magnus«, sagte er, fest entschlossen, nicht nur seinen Freund mit diesen Worten zu überzeugen. »Es ist gut möglich, dass er ihre Kette nahm und sie fortschickte, bevor der Kampf losbrach. Wenn sie sich bisher versteckt halten konnte, wird sie es weiter tun, bis sich die Möglichkeit zur Flucht ergibt«, beteuerte er und drückte Magnus an den Schultern aus seiner Umarmung, sah ihm fest in die braunen Augen.

»Wie willst du das wissen?«, widersprach Magnus flüsternd.

»Wie willst du wissen, dass sie tot ist?«, konterte Hákon und ein klitzekleines Fünkchen Hoffnung keimte in ihm. Hoffnung darauf, Magnus aus seiner Starre zu lösen, sodass sie endlich aufbrechen konnten. »Wie willst du wissen, dass sie tot ist, wenn du nicht über ihre Leiche stolperst?«, setzte er nach und beobachtete erleichtert, wie sich Magnus’ Blick langsam veränderte.

Die Verletzlichkeit wich kühler Entschlossenheit. Mit einem Mal spannten sich die Muskeln in seinem erschlafften Körper an und er lehnte sich zurück, wischte die Tränen fort.

»Du hast recht.« Mehr sagte er nicht.

Magnus wandte sich ein letztes Mal seinem Vater zu, küsste ihn sanft auf die Stirn und nahm ihm die Kette seiner Mutter aus den erkalteten Händen.

»Wir werden sie finden«, meinte er mit fester Stimme. »Sie ist schon einmal entkommen, sie wird es erneut geschafft haben. Wenn die Sklavenhändler damals versagt haben, ihrer habhaft zu werden, so schaffen es die Halvsfjorder garantiert nicht.«

Magnus nickte entschlossen, stand auf und zog seinen Freund mit sich auf die Füße. Kurz huschte sein Blick hinüber zur Tür, die in die angrenzenden Wohnräume führte, dann glitt er zurück zu Hákon. Der verstand die stumme Bitte.

»Mach du die Pferde fertig, ich sehe nach«, beantwortete Hákon die unausgesprochene Frage und ging mit zügigen Schritten auf die Tür zu.

Zu seiner Erleichterung waren die Wohnräume verlassen. Keine Spuren eines Kampfes, kein Blut und auch sonst nichts Auffälliges, aber auch kein Zeichen von Magnus’ Mutter. Doch das würde er ihm nicht sagen, wenn es sich vermeiden ließ. Er selbst war fest davon überzeugt, dass ihr die Flucht gelungen war, und solange Magnus zumindest nicht mehr offen daran zweifelte, würde Hákon auch keinen anderen Gedanken zulassen.

Als er zurück auf die Stallgasse trat, hatte Magnus die hellbraune und die Schimmelstute bereits vollständig gesattelt und stand am Tor bereit, den Blick versteinert nach draußen gerichtet.

Hákon näherte sich behutsam und nahm ihm die Zügel der Schimmelstute ab. »Die Wohnräume sind unberührt, es fehlen nur ein paar Laken und Vorräte.«

Magnus nickte dankbar und schwang sich in den Sattel. Hákon tat es ihm erlöst ausatmend gleich. Als sie losritten, schaute Magnus nicht zurück.

Kapitel 3 – Linea

 

Das dumpfe Schlagen der Trommeln erfüllte ihren Körper, vibrierte durch jeden Muskel, verdrängte sämtliche Gedanken. Sie schlug die Augen auf, blickte auf ihn hinab. Hinab auf den nackten jungen Mann, dessen Körper mit dem warmen Blut gezeichnet war, der aus leuchtenden Augen entschlossen zu ihr aufsah.

Leif.

Ihr erstes Opfer.

Ihre erste Botschaft an die Götter.

Sie schloss die Augen, horchte in sich hinein, spürte jeden Herzschlag klar und intensiv. Doch wurde er allmählich schwächer, so als entfernte sie sich langsam von dem stetigen Pochen in ihrer eigenen Brust.

Leichtigkeit. Ein seltsames Gefühl durchströmte sie, nahm ihren Körper mit, löste ihr Bewusstsein von seiner fleischlichen Hülle.

Schwerelosigkeit empfing sie.

Licht. So rein, hell und warm, wie sie es noch nie gespürt hatte.

Mit weichen Händen griff es nach ihr, umspielte sanft ihre nackte Haut, hüllte sie in einen glühenden Mantel und flüsterte ihr Worte in einer Sprache zu, die sie nicht verstand, nicht begreifen konnte. Gleichwohl hatte sie nicht das Gefühl, dass es von ihr verlangt wurde.

Linea fühlte sich gut, geborgen und willkommen in dieser Wärme, umgeben von dem hellen Licht. Sie öffnete die Augen, blickte an sich hinab. Sie selbst war das Licht, war die Wärme.

Hoffnung.

Und mit einem Mal verstand sie, was Jella sofort in der Nacht des Rituals verstanden hatte. Sah sich selbst als das, was ihre Freundin und alle Sklaven Skogbyens in ihr gesehen hatten, was Leif in diesem Moment in ihren Augen erkannte.

Das Licht der Götter. Sie war die Hoffnung.

Jäh durchzuckte ein gleißend weißer Blitz den Himmel, und ein alles verzehrender Schmerz durchfuhr Linea.

Wo sie eben noch das Gefühl verspürt hatte, frei von allen körperlichen Empfindungen zu sein, so fühlte sie nun alles. Ihren Herzschlag, das Pochen ihres Blutes in den Ohren, den pfeifenden Wind, die Trommeln und Gesänge der Männer auf dem Platz und so unendlich viel mehr, dass sie es nicht benennen konnte.

All diese Geräusche und Empfindungen strömten zugleich auf sie ein, füllten ihren Kopf und drohten ihn zu sprengen. Ein unheimlicher Schmerz machte sich in ihr breit. Instinktiv schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen. Verschloss die Augen vor dem Licht, das sie blendete und ihr die Sicht auf die Szene unter ihr raubte.

Ein stummer Schrei entwich ihren vollen Lippen, als ein starker Sog sie erfasste, an ihr zerrte und sich ihr Geist von ihrem Körper löste.

Der Schmerz steigerte sich bis ins Unermessliche, drohte sie innerlich zu verbrennen, sie in Stücke zu reißen, und sie konnte nichts dagegen tun. Eine heiße Woge aus Licht schlug über ihr zusammen, als wäre sie in die Glut eines Feuers geraten, und dann ganz plötzlich war es vorbei.

Linea öffnete die Augen wieder und erschrak. Um sie herum war nichts. Sie schwebte unter einem mit dunklen Wolken behangenen Himmel, mitten in der Luft. Da war kein Wind, der ihren Körper kühlte. Kein Regen, der ihre Haut befeuchtete. Keine Sonne, die ihren Augen eine weite Sicht schenkte.

Da war nichts.

Sie war nichts.

Linea schaute sich um. Weit unter ihr, für das menschliche Auge fast nicht mehr zu sehen, erkannte sie eine Küste. Ein kleiner Platz in der Mitte eines Dorfes im rötlichen Fackelschein. Von ihm ging ein viel helleres, viel reineres Licht aus. Intuitiv wusste Linea, was sie sah.

Sie hatte Midgard, ihre Welt, verlassen und schaute nun aus weiter Ferne auf sie hinab und damit auf sich selbst.

Sie sah Linea die Kaltherzige, Jarl von Skogbyen, wie sie das Opfer für den Beistand der Götter brachte, doch schien die Zeit stillzustehen, als hätte sich durchsichtiges ewiges Eis über alles gelegt. Aber hier oben spürte sie nichts, war frei von sämtlichen Gefühlen. Frei von allen Zwängen.

Freiheit.

Ihr Ziel, welches sie so lange ersehnt, für das sie so lange gekämpft hatte.

Bin ich tot?

»Nein, Linea Helgadóttir«, beantwortete ein sonores Echo ihre unausgesprochene Frage. »Dies ist der Anfang deiner Bestimmung.«

Linea schaute sich um, versuchte dieses Etwas auszumachen, von dem jene geisterhafte Stimme ausging, doch erkannte sie nichts außer dichten dunkelgrauen Gewitterwolken, die sich zu wandelnden Bergen vor ihr auftürmten, sie in einem stummen Sturm gefangen hielten und die Formen wechselten wie Wellen im Wind.

Wellen. Ihr Anker in Midgard.

Ein sanftes Schaukeln erfasste sie, und ein leichtes Ziehen setzte hinter ihrem Bauchnabel ein. Hektisch, aber innerlich vollkommen ruhig, wandte sie den Kopf, die hellblauen Augen auf der Suche nach dem Erzeuger der Stimme weit aufgerissen.

Das Echo der Worte hallte klangvoll in ihrem Inneren, begleitete sie in einer vertrauten Weise, wie es nur eine uralte Erinnerung konnte, die sich einen Platz in ihrem Herzen erobert hatte.

Als der Sog wieder einsetzte, sie der Erde entgegentrug, klammerte sie sich an die Worte wie an einen stützenden Pfeiler im ohrenbetäubenden Tosen des Sturms, der auf einmal um sie herum herrschte.

Je näher sie dem Boden kam, desto mehr trübte sich ihr Blick und bevor sie zwischen den aufragenden Baumwipfeln verschwand, teilte ein zweiter Blitz den Himmel. Noch in dem Moment, als sie die Augen schloss und der brennende Schmerz erneut ihren Körper flutete, sah sie das Etwas.

Aus den nun fast schwarzen Wolken formte sich der Umriss einer Gestalt, groß und mächtig, in einen weiten Umhang gehüllt, dessen Kapuze das Gesicht verdeckte. Der auf den Blitz folgende Donner hallte als das dröhnende Klopfen von Hufen auf hartem Boden in Lineas Kopf wider.

Wenngleich sie die Augen geschlossen hielt, hatte sich das Bild der aus Wolken geformten Gestalt tief in ihr Gedächtnis gebrannt. Das Echo der Worte verklang nur langsam in der über sie hereinbrechenden Finsternis.

 

Linea erwachte vom gleichmäßigen Schaukeln, das sie nicht gewohnt war.

Schiff! Bei den Göttern, sie war auf einem Schiff. Ihr Blick glitt rasch über das längliche Deck, das sich vor ihr ausstreckte. Offenbar hatte man sie am Hintersteven zwischen einigen Kisten und Fässern abgelegt. Linea blinzelte ein paar Mal und versuchte die Männer zu zählen, die im einheitlichen Rhythmus der Trommelschläge ruderten. Doch bereits nach den ersten zehn gab sie auf, das Schaukeln machte es ihr auch nicht gerade einfacher.

Jedenfalls genügte dieser erste Blick, um ihr klarzumachen, dass sie sich niemals gegen alle Männer allein würde durchkämpfen können. Sie legte den Kopf in den Nacken, sog die frische Seeluft tief in die Lunge und sah an dem großen Mast empor, an dessen Rahstange das Segel fest verschnürt auf seinen Einsatz wartete. In diesem Zustand konnte sie weder Wappen noch Farbe eindeutig erkennen, aber sie war sich sicher, dass es keins von denen war, die sie aus ihrer Heimat kannte.

Allerdings hatte sie keine Ruhe, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Denn ihre Gedanken beschäftigten sich immer noch mit den merkwürdigen Bildern, die sie soeben gestochen scharf vor sich gesehen hatte.

Was war da gerade passiert? Dieses merkwürdige Licht … und die Opferzeremonie. Das alles hatte sie schon mal erlebt, nur nicht in dieser intensiven Weise.

Und dann war da diese Stimme, die in ihrem Traum so klar und deutlich zu ihr gesprochen hatte. War es überhaupt ein Traum gewesen? Sie konnte sich einfach nicht konzentrieren, ihre Gedanken schweiften immer wieder ab, warfen verschiedene Erinnerungen wild durcheinander.

Ihr war schwindelig und ein hartnäckiges Pochen hinter ihrer rechten Schläfe verursachte ihr üble Kopfschmerzen.

Vorsichtig hob sie die Hand, welche überraschenderweise nicht gefesselt war, und betastete die blutverkrustete Wunde. Irgendwer hatte ihr ordentlich eine verpasst.

Nein! Nicht irgendwer. Kjell.

Schlagartig kehrte alles gestochen scharf zurück, und mit der Erinnerung an Kjell, der ihr den Knauf seines Schwertes gegen die Schläfe gerammt hatte, drängte sich ein anderes Bild in ihre Gedanken. Ein Bild, das gleichzeitig einen schmerzhaften Stich in ihr Herz trieb.

Valdarr, der sie vor den feindlichen Kriegern gerettet hatte. Valdarr, ihr Ziehvater, den sie wenige Tage zuvor aus seinem Heimatdorf verbannt hatte und der dennoch zurückgekommen war, um sein Leben für das seiner Ziehtochter zu geben.

Energisch wischte sich Linea die Tränen vom Gesicht, die sich bei dieser Erinnerung in ihre Augen stahlen. Sie wollte nicht trauern, sie wollte Rache. Er sollte nicht umsonst gestorben sein. Sie konnte nicht mehr trauern, obwohl sie es noch gar nicht getan hatte.

Linea die Kaltherzige. Das war die Rolle, in der sie aufgegangen war, die sie mit dem Mord an ihrem Gemahl angenommen und wodurch sie sich einen Namen gemacht hatte. Und nichts anderes würde sie zu ihrem Vorteil nutzen.

Sie hatte Rache geschworen und sie war bereit, für diese Rache genauso zu kämpfen, wie sie es noch immer für ihre Freiheit und die Rettung ihrer Mutter tat. Zuerst musste sie allerdings herausfinden, was der Verräter Kjell von ihr wollte.

Angestrengt verdrängte sie die Wut und die Verachtung, die bei dem Gedanken an ihn in ihrem Körper brodelten. Sie musste ruhig bleiben. Durfte ihren Gefühlen nicht erlauben, erneut die Kontrolle über ihre Handlung zu übernehmen.

Eine starke Welle erfasste das Schiff und riss Linea unsanft aus ihren Gedanken. Sie wollte gerade aufstehen und sich genauer auf dem Schiff umsehen, da baute sich ein großer Mann vor ihr auf.

Sie blickte hoch und das Erste, was sie wahrnahm, waren die tief liegenden meergrünen Augen, die immer noch über eine magische Anziehungskraft verfügten. Diesmal erlaubte sich Linea nicht, sich in ihnen zu verlieren, sondern zwang sich, den Blick weiterwandern zu lassen. Sie suchte in seinem Gesicht mit der schmalen Nase, dem kleinen Mund und der feinen Narbe unter dem rechten Auge nach einem Hinweis auf seine verräterischen Absichten, doch entdeckte nichts Außergewöhnliches.

Seine dunkelblonden Haare, die ihm in ordentlich geflochtenen Strähnen bis auf die Schultern hingen, waren frei von sämtlichen Spuren der Schlacht. Kurz verharrte ihre Aufmerksamkeit auf seinem Ohr. Unwillkürlich tastete sie nach dem goldenen Ring, der ihr eigenes zierte. Ihr Blick wanderte über seinen markanten Kiefer mit dem gestutzten Bart zu den tätowierten Armen.

»Seid Ihr fertig mit Anstarren, mein Jarl?«, fragte Kjell Alríksson mit rauer Stimme, und Linea erkannte den Anflug eines Grinsens auf seinem Gesicht.

Sie sagte nichts und zu ihrer Erleichterung wurde sie wohl auch nicht rot, wenngleich sie sich auf unangenehme Weise ertappt fühlte.

Aber Kjell hatte offenbar auch keine Antwort von ihr erwartet. Er kniete sich vor ihr nieder und zog ein kleines Messer hervor. Linea wich instinktiv zurück. Innerlich tadelte sie sich sofort für diese Schwäche, als sie sah, wie Kjells Mundwinkel zuckte. Doch anstatt mit dem Messer auf sie loszugehen, durchtrennte er lediglich den groben Strick, der ihre Füße zusammenband und den Linea selbst bisher nicht einmal bemerkt hatte.

Kjell steckte das Messer zurück an seinen Gürtel, betrachtete sie noch einen Moment lang nachdenklich und wandte sich ab.

»Warum habt Ihr mich entführt?«, stellte Linea endlich die Frage, die er bestimmt von ihr hatte hören wollen.

Kjell hielt in der Bewegung inne und seufzte schwer. Mit gesenktem Kopf kam er zu ihr zurück und setzte sich neben ihr auf den Boden, das Dollbord im Rücken.