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Originell und humorvoll: eine rasante Nacherzählung der nordischen Göttermythen Die nordischen Göttermythen kennt man hierzulande vor allem aus Wagners »Ring der Nibelungen«. Der Norweger Tor Åge Bringsværd hat sie in seiner rasanten Nacherzählung von den gängigen Klischees befreit. Seine Version der »Edda« beruht auf genauer Quellenkenntnis und überrascht durch Originalität, Humor und Weisheit. Die Götter des nordischen Olymps sind weder unsterblich noch allwissend oder gar allmächtig, denn ständig ist ihre Herrschaft durch ältere Mächte bedroht. Odin hat zwar eine Welt erschaffen, doch so richtig versteht er sie nicht. Sein Freund Loki ist ein intelligenter Bösewicht, der vor keinem Betrug zurückschreckt, und die Liebesgöttin Freia kann allen helfen, nur sie selbst leidet an chronischem Liebeskummer. »Bringsvaerd vollbringt das Kunststück, die gesamte altnordische Mythologie zu erzählen, frei von Nebelschwere und Waberlohe, als einen anmutigen und leichtfüßigen Roman von Aufstieg und Fall der Götter und ihrer Welt.« Frankfurter Allgemeine Zeitung »Tor Age Bringsvaerd macht die nordischen Götter munter.« Süddeutsche Zeitung
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ISBN 978-3-492-99115-5
© Piper Verlag GmbH, München 2018
Die norwegische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Den enoyde. Et forsok pa a gi en fri og selvstendig, men likevel tro gengivelse av vare gamle norrone myter«, 1996 bei Gyldendal Norsk Forlag, Oslo
© der deutschsprachigen Ausgabe: Eichborn AG, Frankfurt am Main 2001
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic®, München
Cover & Impressum
Erstes Kapitel EIN RIESE SO GROSS WIE DIE GANZE WELT
Zweites Kapitel DER KRIEG DER GÖTTER
Drittes Kapitel DER EINÄUGIGE KÖNIG
Viertes Kapitel HEIMDALS SÖHNE
Fünftes Kapitel DER DONNERGOTT
Sechstes Kapitel DIE REISE ANS ENDE DER WELT
Siebentes Kapitel DIE BÄRTIGE BRAUT
Achtes Kapitel GOTT UND TROLL IN EINER GESTALT
Neuntes Kapitel BALDUR
Zehntes Kapitel WOLFSZEIT
Elftes Kapitel LOKI
Zwölftes Kapitel RAGNAROK
Tanaquil Enzensberger Zur Vor- und Nachgeschichte der WILDEN GÖTTER
REGISTER und QUELLENVERZEICHNIS
ÜBER DIE AUTOREN
Wo kommt der Nebel her? Das weiß kein Mensch. Und wer hat den ersten Funken gezündet? Niemand weiß es. Eines aber steht fest: Am Anfang war die Kälte und das Feuer. Auf der einen Seite war da Niflheim; dort herrschten Nebel und Frost. Auf der ändern Seite war Muspilheim; und dort gab es nichts als ein Meer von zischenden Flammen. Was den Nebel vom Feuer trennte, war ein riesiger, bodenloser Schlund; und aus dieser gewaltigen Leere, dem Abgrund zwischen Licht und Dunkelheit, ist alles, was lebt, hervorgegangen, und das kam so.
Irgendwo in Niflheim gab es eine Spalte im Eis, aus der ein mächtiges Wasser schoß. Dieser Strom schäumte auf den großen Schlund zu und stürzte sich hinein. Aber weil es kalt war, fror das Wasser zu großen Eiszapfen, und je länger das ging, desto mächtiger wurde das Eis auf der einen Seite des großen Schlundes.
Aber da auf der anderen Seite, dort, wo Muspilheim lag, tanzten die Funken und die Flammen erwärmten die Luft. Tief im Schlund kämpften Hitze und Kälte miteinander, und das Eis fing an zu schmelzen. Was die Kälte geformt hatte, die Wärme erweckte es zum Leben. So entstand das erste Wesen. Es war von menschenähnlicher Gestalt, aber kein Mensch hatte solche Ausmaße. Denn Ymer, so hieß es, war ein Riese, und ein größerer Riese hat nie gelebt.
Doch wovon sollte dieser Ymer leben? Von Feuer und Eis kann sich kein lebendiges Wesen ernähren. Als er sich umsah, merkte Ymer, daß er nicht allein auf der Welt war. Denn aus dem geschmolzenen Eis war noch ein anderes Ungeheuer hervorgegangen, das Hörner und Euter trug und von sanfter Natur war: eine riesige Kuh, aus deren gewaltigen Zitzen Ströme von Milch rannen.
Wer anders als Ymer sollte sie melken? So waren sie beide zufrieden; die Kuh brauchte nicht mehr lange nach einem Abnehmer für ihren Überfluß zu suchen, und der Riese mußte nicht verhungern.
Trotzdem, irgend etwas fehlte der ersten Kuh, die bei all ihrer Größe so wie alle andern Kühe war, nur daß sie nicht wußte, wonach ihr der Sinn stand. Sie schnüffelte und probierte alles, was in der Nähe war, bis sie ein paar reifbeschlagene Steine fand, die nach Salz schmeckten. Davon konnte die Kuh, genau wie alle Kühe, die später auf die Welt kamen, gar nicht genug kriegen, bis sie an einen ganz besonderen Stein geriet. Als sie ihn mit ihrer riesigen Zunge ableckte, ahnte sie nicht, was sie damit angerichtet hatte. Noch am selben Abend nämlich wuchs aus dem Stein ein Haar hervor. Am andern Tag kam ein Gesicht und dann ein ganzer Kopf zum Vorschein, und am dritten Tag der ganze Leib eines großen, schönen Mannes. So kam Bühre auf die Welt, der Stammvater aller Götter, die wir die Asen nennen.
Doch unterdessen war auch Ymer, der erste Riese, nicht faul gewesen. Zwar schlief er viel, aber während er vor sich hin schnarchte, fing er an zu schwitzen, und aus seinen Achselhöhlen gingen zwei neue Wesen hervor, ein Mann und eine Frau. Auf dieses Wunder waren nun aber seine Füße eifersüchtig. Sie paarten sich miteinander und gebaren einen Sohn mit sechs Köpfen. So ist das Geschlecht der Riesen oder Trolle entstanden, und von da an gab es kein Halten mehr. Die neuen Geschöpfe bekamen Kinder, und ihre Kinder bekamen wieder Kinder, bis auf den heutigen Tag.
Am Anfang muß es ziemlich friedlich zugegangen sein auf der Welt. Die Asen und die Riesen kamen gut miteinander aus. Bühre, der allererste Ase, hatte einen Sohn, der sich mit einer Riesentochter zusammentat, und aus dieser Liebschaft ist Odin hervorgegangen, der später zum Häuptling aller Götter werden sollte. Aber einem solchen Frieden war auf die Dauer nicht zu trauen.
Denn der Riese Ymer gab keine Ruhe. Zwar war er faul und träge, und etwas anderes, als Milch von seiner Kuh zu saufen und zu schlafen, fiel ihm nicht ein. Doch dabei schwoll sein riesiger Leib immer weiter an, und er gebar immer neue und ziemlich erschreckende Trolle, die bedrohliche Mienen aufsetzten. Bald wimmelte es überall von solchen Riesenkindern. Odin und seinen Brüdern gefiel das gar nicht, denn sie waren in der Minderheit, und sie wußten, wie schlecht es einer Minderheit ergehen kann, wenn sie sich nicht ihrer Haut wehrt. Eines Tages kamen sie zu dem Schluß, daß es so nicht länger weitergehen konnte. Jetzt reicht es, sagten sie sich, wenn wir nichts tun, sind wir bald am Ende. Wir müssen einen Aufstand gegen Ymer, den Großvater aller Riesen, und gegen seine Brut riskieren.
Gesagt, getan. In aller Heimlichkeit schneiden Odin und seine Brüder mächtige Spieße aus den Bäumen und schleichen sich an den Riesen heran, der wie immer mit vollem Bauch schnarchend daliegt. Die Überraschung ist auf ihrer Seite. Das Blut spritzt aus den Wunden des Riesen. Ymer brüllt so laut, daß die Gletscher kalben und Eisberge ins Wasser stürzen. Bald haben die Asen gesiegt, und der größte aller Riesen ist tot. Er hat so viel Blut verloren, daß seine Kinder in der Flut ertrinken. Sie werden in den alten Schlund gespült und verschwinden im Abgrund. Wahrscheinlich ist dabei auch die Große Kuh mitgerissen worden, denn seitdem hat niemand mehr von ihr gehört, und niemand hat sie wieder gesehen.
Nur zwei der Riesenkinder konnten sich retten, ein Paar, das schlau genug war, sich im Nebel zu verstecken. Diesen beiden verdankt das Riesengeschlecht sein Überleben. Doch vom Tag der ersten Schlacht an sind es die Götter, die das Heft in der Hand halten, und sie machen sich sogleich ans Werk.
Den toten Ymer schleppen sie bis an den Rand des großen Weltschlundes – eine schwere Arbeit, nach der sie sich erst einmal drei Tage ausruhen müssen. Dann legen sie ihn über den Abgrund, der unter dem riesigen Leichnam verschwindet. Sie überlegen lange, was man mit dem Toten anfangen kann. Vielleicht kann man eine ganze Welt aus ihm erschaffen? Er hat so viel Blut verloren, daß es für ein ganzes Meer reicht. Und aus seinem Fleisch kann man das feste Land machen; aus seinen Knochen Berge und Klippen; aus seinen Knöcheln und Zähnen Gestein und Geröll; aus dem Haar Bäume und Gras. Am Ende bleibt nur noch der Schädel. Die Hirnschale des Riesen setzen die Götter wie eine Kuppel über alles, was sie erschaffen haben, und so ist das Himmelsgewölbe entstanden. Das Gehirn aber werfen sie hoch in die Luft, wo es zerflattert, und so sind die Wolken zustande gekommen, die über den Himmel ziehen.
Doch damit war die Welt noch lange nicht fertig. Zum Beispiel fehlen immer noch die Zwerge, die Unterirdischen, die in Grotten und Höhlen leben. Auch sie sind aus Ymers großer Leiche hervorgegangen; denn es waren keine gewöhnlichen Würmer, die sich an ihr gütlich taten – o nein! Ohne die Zwerge sähe die Welt ganz anders aus; man verdankt ihnen die Schmiedekunst, die sie erfunden haben, und manches andere. Allerdings, es ist wenig Verlaß auf sie; manchmal schlagen sie sich nämlich auf die Seite der Trolle. Trotzdem – ohne sie geht es nicht. Das sahen auch die Götter ein, und sie erwählten vier von ihnen, um das Himmelsgewölbe zu stützen und die vier Ecken der Welt zu bewachen. Diese vier heißen Osten, Westen, Norden und Süden. Also auch für die Himmelsrichtungen müssen wir uns bei den Zwergen bedanken.
Nun war es den Asen aber am Himmel noch zu dunkel. Im warmen Muspilheim, ganz im Süden, wo das Feuer zu Hause war, holten sie sich Funken und hefteten sie an den Himmel. Dort hängen sie heute noch auf der Innenseite des alten Riesenschädels. So sind die Sterne entstanden.
Und wie ging es weiter? Nun, Odin hatte zwei Brüder. Der eine hieß Wile und war sehr klug. Der andre hieß We und hatte scharfe Augen, gute Ohren und war sehr beredt. Eines Tages gingen sie alle drei am Strand spazieren und fanden dort zwei große Hölzer, die die Flut an Land getrieben hatte. »Seht nur«, sagte We, »dieses Strandholz sieht ja fast aus wie wir.« – »Wieso denn«, fragte Odin. »Ganz einfach«, sagte Wile, »das hier ist der Kopf, das sind die Arme, und zwei Beine haben sie auch.« Nun muß man wissen, daß die Götter gerne spielen, und so nahmen sie, nur zum Spaß, die beiden Stöcke in die Hand, stellten sie auf und kleideten sie ein. Odin hauchte ihnen Leben ein, so daß sie atmen konnten, Wile gab ihnen Vernunft und Verstand, und We verlieh ihnen die Gabe des Gehörs, des Gesichtes und der Rede. Warmes Blut pulsierte durch ihre Adern, und ihr Haar, ihre Haut, ihre Augen nahmen Farbe an. Nun waren sie kein Strandgut mehr, sondern ein Mann und eine Frau. Die Asen nannten sie Asch und Embla, und von diesen beiden Eltern stammt die ganze Menschheit ab.
Nun gab es zwar Asen, Trolle und Menschen, aber es war sonderbar still auf der Welt. Irgend etwas fehlte! Wahrscheinlich war es Wile, der als erster verstand, was es war. »Wißt ihr, warum sich hier nichts rührt?« fragte er seine Brüder. »Uns fehlt die Zeit! Es ist immer dasselbe am Himmel, weder wird es richtig hell noch richtig dunkel. So kann es nicht weitergehen.«
Da fiel ihnen eine Riesenfrau ein, die ganz besonders dunkel war. Sie hieß Nott, und sie hatte einen Liebhaber unter den Asen, der mit ihr einen Sohn namens Dag zeugte, und der war ausnehmend hell. Die beiden, sagte Wile, sollten wir besuchen.
Das leuchtete Odin ein. Er ging zu Nott und Dag, und beide, Mutter und Sohn, gefielen ihm so sehr, daß er ihnen Pferde und Wagen schenkte. »Habt ihr Lust, über die ganze Welt zu reisen?« fragte er. »Warum nicht«, antworteten sie.
»Aber die Reise geht hoch hinaus«, gab Odin zu bedenken; »so hoch, daß ihr alles sehen könnt, und sie nimmt kein Ende.« Nott und Dag schreckte das nicht, und so hob Odin sie zum Himmel empor. Nott fuhr als erste los. Ihr Roß hatte Rauhreif in der Mähne, und am Morgen fallen Schaumtropfen aus seinem Maul. Das ist der Tau, der in der Frühe auf den Wiesen liegt.
Kaum war Nott auf dem Heimweg, da machte sich Dag auf die Reise. Sein Roß schimmert, und seine Mähne leuchtet blendend hell. Seit der ersten Fahrt dieser beiden kann man Tag und Nacht unterscheiden, man weiß, wie spät es ist, und kann die Tage und die Jahre zählen.
Das Licht des Tages kommt also nicht von der Sonne, wie wir gerne glauben. Natürlich, auch Sonne und Mond sind aus den Funken erschaffen, von denen Muspilheim sprüht, und es ist auch wahr, daß beide auf ihrem Wagen über den Himmel ziehen. Aber wer paßt darauf auf, daß sie nicht herunterfallen? Und wer lenkt ihre Pferde? Das sind zwei Menschenkinder, ein Junge und ein Mädchen. Die waren so schön, und ihr Vater war so stolz auf sie, daß er die Tochter Sonne nannte und den Sohn Mond. Das fanden die Asen reichlich übermütig, und sie beschlossen, dem stolzen Vater die Kinder wegzunehmen. Die Tochter muß seitdem die Rösser des Sonnenwagens und der Sohn die Mondpferde lenken.
Das ist nicht einfach; denn die beiden sind immer in Eile. Immerzu sind nämlich zwei Wölfe hinter ihnen her, die nach ihnen schnappen und sie verschlingen wollen. Das sind keine gewöhnlichen Bestien. Es sind die Kinder einer alten Trollfrau, die weit im Osten lebt, im Walde Eisenholz. Diese Frau hat noch viele andere Riesen in die Welt gesetzt, und alle haben die Gestalt von Wölfen. Bis auf den heutigen Tag haben Sonne und Mond den Wettlauf mit ihren Verfolgern gewonnen, und man kann nur hoffen, daß es dabei bleibt.
Bleibt nur noch die Frage, wo der Wind herkommt. Auch er ist aus dem Geschlecht der Trolle hervorgegangen, aber er gehört nicht zu den Wolfskindern, sondern hat die Gestalt eines riesigen Adlers. Er wohnt im hohen Norden, und sobald er sich in die Lüfte erhebt und mit seinen gewaltigen Schwingen schlägt, stürmt es, und überall fliegen die Pfannen vom Dach.
Eigentlich war die Welt nun so ziemlich fertig. Natürlich gab es dauernd Streit zwischen Asen und Trollen; aber manchmal setzte sich der eine oder die andere über die alte Feindschaft hinweg, und dann kam es zu heißen Liebschaften. So war ja auch die Nacht entstanden. Sogar Odin fand nichts dabei, hin und wieder eine Trollfrau zu umarmen; denn auch in Jotunheim, wo die Trolle zu Hause sind, gab es schöne Mädchen. Doch vor allem sind die Riesen gefährliche Wesen, denen man nicht über den Weg trauen kann.
Besonders die Menschen müssen sich vor ihnen hüten; denn wer kommt schon gegen einen Riesen auf? Das sah auch Odin ein, und so beschloß er, den Menschen zuliebe eine Burg zu bauen. Nicht irgendwo am Rand der Welt, sondern in der Mitte. Dort befahl der Häuptling der Götter, einen Bauplatz zu roden. Allerdings, eine Frage bereitete den Asen Kopfzerbrechen. Ziegel und Balken waren noch nicht erfunden. Wo gab es ein Material, das fest genug war, um eine Burg zu errichten?
Die Asen erinnerten sich an die Erschaffung der Welt, und da fiel ihnen etwas ein, was sie damals weggeworfen hatten, weil sie dachten, daß es zu nichts nütze war. Das waren die Augenbrauen und die Wimpern Ymers, des ersten Riesen. Die waren so dick und stabil wie die besten Balken. Es dauerte nicht lange, und die Burg war fertig. Eine weitläufige Mauer umgab den Bezirk, der Mitgard heißt, und der zur Heimat der Menschen wurde. Dort konnten sie sich sicher fühlen.
Selbstverständlich dachten die Asen nicht daran, sich mit den Menschen allzu gemein zu machen. Sie wollten gern in ihrer Nähe wohnen, aber nicht im selben Haus. Deshalb errichteten sie hoch über Mitgard eine ganz besonders prächtige Burg, die sie Asgard nannten, und damit es ganz klar war, wer hier das Sagen hatte, legten sie zwischen ihre Festung und der Welt der Menschen eine große, leuchtende Brücke. Sie heißt Bifrost, und das bedeutet soviel wie »Der zitternde Weg«. Die Menschen nennen sie den Regenbogen. Über diese Brücke können nur die Asen reiten, denn das Rot im Regenbogen ist flammendes Feuer. So hält man sich ungebetene Gäste vom Leib.
Bescheiden kann man es nicht nennen, wie sich die Götter eingerichtet haben. In Asgard gibt es nämlich viele prächtige Häuser und Festsäle, und es ist klar, daß das allerschönste Schloß Odin gehört. Es ist in- und auswendig vergoldet und liegt genau in der Mitte. Hier hat Odin seinen Hochsitz. Wenn er sich auf seinem Thron niederläßt, kann er die ganze Welt überblicken. Er sieht, daß die Erde rund ist, natürlich nicht wie ein Ball, sondern wie eine große Scheibe mit Kreisen, die ineinander liegen wie die Jahresringe eines alten Baumes. Ganz draußen schäumt das große Weltmeer. Im äußersten Rand des Erdkreises liegt Jotunheim und Einöd, wo die Riesen oder Trolle zu Hause sind, im inneren liegt Mitgard, wo die Menschen wohnen; ganz im Zentrum, in Asgard, haben sich die Asen eingerichtet, und in der Mitte der Mitte wohnt Odin, der sein Schloß auf einer großen Wiese gebaut hat.
Genau dort haben die Götter auch ihren Hofbaum gepflanzt, die Esche Yggdrasil. Ihre Krone reicht bis in den Himmel, und ihre immergrünen Äste streckt sie über die ganze Welt aus.
Eigentlich könnte Odin zufrieden sein. Hat er nicht alles wunderbar eingerichtet? Aber manchmal macht er sich Sorgen; denn er sieht allerhand Dinge, die ihn bekümmern. Zum Beispiel die Sache mit den Alben. Wo diese sonderbaren Geschöpfe nur herkommen? Er kann sich nicht erinnern, daß die Asen sie geschaffen haben.
Klar ist nur, daß sie mit den Trollen und mit den Zwergen verwandt sind. Vielleicht machen sie sogar gemeinsame Sache mit ihnen? Er muß feststellen, daß die Alben manchmal heimlich über die Mauern von Mitgard klettern. Es gibt weiße und schwarze Alben. In tausenderlei Verkleidungen schleichen sie sich unter die Menschen ein. Die sagen dann, sie hätten nachts Gespenster gesehen oder Meerungeheuer – unterirdische Wesen mit Klauen und Schwänzen. Das sind die Huldren. Manchmal locken sie die Menschen in tiefe Höhlen unter der Erde, um sie dort gefangenzuhalten und zu heiraten. Wieder andere sind arge Kinderdiebe. Oft vertauschen sie die Neugeborenen in der Wiege und hinterlassen der Mutter einen Wechselbalg. Odin weiß, daß das keine bloße Einbildung ist. Er weiß Bescheid; er kennt die Mächte der Finsternis und ihre Verwandlungskünste, und es ist ihm klar, daß sie sich vermehren können wie die Hasen, wenn man sie gewähren läßt. Allerdings nicht nur die schwarzen Alben, sondern auch die weißen. Das sind freundliche Geister. Auch unter den Huldren gibt es viele, die den Menschen, die sie ehren, gern zu Hilfe kommen.
Aber auch Odin versteht nicht alles, was es gibt auf der Welt. Was sind das alles für Wesen, die er nicht geschaffen hat? Wo kommen sie her? Wenn er den Blick gen Süden wendet, auf das glühende Muspilheim, dann entgeht es ihm nicht, daß auch dort ein Volk von fremden Wesen haust, die wie lebende Fackeln brennen.
Aber das ist noch gar nichts! Was ihn noch viel mehr erschreckt: Er merkt, daß es noch andere Götter als die Asen gibt auf der Welt. Sie nennen sich die Wanen und wohnen auf einer Burg, die Wanheim heißt. Es scheinen friedliche Götter zu sein, die sich vor allem um die Pflanzen und die Tiere kümmern. Die helfen auch den
Bauern bei ihrer Arbeit, und mit den Alben stehen sie auf vertrautem Fuß. Das wäre nicht so schlimm; nur fragt sich Odin manchmal, ob die Welt denn Platz für zwei Göttersippen hat. Wer weiß, ob das auf die Dauer gutgehen kann! Odin denkt, daß man immer mit dem Schlimmsten rechnen muß. Vielleicht stellt sich eines Tages heraus, daß diese Wanen gefährlich werden können. Und deshalb versammelt er die Asen um sich und sagt ihnen: Wir müssen auf alles gefaßt sein. Wenn es Krieg gibt, ist es aus und vorbei mit dem sorglosen Leben auf Asgard! Dann geht es ums Ganze. Seid ihr bereit?
Noch war es nicht soweit. Denn die Welt war jung. Alles mußte erst gelernt und ausprobiert werden. Die Vögel mußten lang üben, bis sie so gut singen konnten wie heutzutage, und die Bienen wußten noch nicht so genau, wie sie an den Honig kamen. Fliegen, Schwimmen, Laufen – das alles wollte gelernt sein. Noch war das Leben nicht festgelegt und festgefahren, alles konnte sich ändern. Auch die Menschen fanden erst nach und nach heraus, wozu sie fähig waren, zu Liebe und Treue, aber auch zu Haß und Verrat. Wer war Freund und wer Feind? Das war nicht immer leicht zu entscheiden. Die Zeit war voller Unsicherheit und Neugier. Zum Beispiel sahen die Menschen gar nicht ein, warum ein Mann nicht viele Frauen haben kann, und auch die Frauen nahmen es nicht so genau mit der Treue und wußten nicht, ob sie sich an einen halten sollten, oder ob es nicht lustiger mit mehreren war.
So war es auch bei den Göttern. Odins Frau war Frigga, die erste und vornehmste unter den Göttinnen. Mit ihr hatte er auch seinen erstgeborenen Sohn, der Baldur hieß. Aber das hinderte ihn nicht daran, sich auch mit andern Frauen einzulassen. Seinen zweiten Sohn, den DonnergottThor, zeugte er mit einerTrollfrau, obwohl es zwischen Asen und Riesen einen uralten Streit gab. Aber man kann sich auch in eine Feindin verlieben – warum nicht? Vielleicht ist das sogar spannender.
Damals hat es auch Überläufer gegeben. Loki zum Beispiel, dessen Eltern Riesen waren, hat sich schon sehr früh mit Odin angefreundet und ist in Asgard, der Burg der Götter, eingezogen. Ja, es war eine recht verworrene Zeit, das muß man schon sagen.
Auch Odin war rastlos. Es gab so vieles, was er nicht wußte, und das war ihm sehr unangenehm; denn als der oberste aller Götter wollte er sich wohl ganz genau auskennen in der Welt, über die er herrschte. Deshalb begab er sich auf die Wanderschaft, und damit ihn nicht jeder gleich erkannte, verkleidete er sich in tausenderlei Gestalten. Er sprach mit Tieren und Menschen, mit Trollen und Wahrsagerinnen, wo er sie traf. Wer die Welt erschaffen hat, sagte er sich, muß sie auch verstehen.
Er wagte sich weit ins Land der Riesen, nach Jotunheim, hinein. Er hatte nämlich gehört, daß dort einer lebte, von dem es hieß, er sei das klügste von allen Geschöpfen. Dieser Troll hieß Mime. Er war ein Einsiedler, der sich fern von den andern Riesen hielt, und der Weg zu seiner Behausung war voller Gefahren. Was scherten Odin solche Hindernisse! Er wollte wissen, woher Mime seine Weisheit hatte, und als er ihn heimsuchte, sah er, wie der Troll aus einer Quelle trank. Das war Mimes Geheimnis; denn das Wasser aus diesem Brunnen macht jeden, der davon trinkt, jedesmal ein wenig klüger als zuvor.
»Ich will auch von deiner Quelle trinken«, sagte Odin. »Da könnte ja jeder kommen«, antwortete Mime. »Wer bist du überhaupt? Und wer hat dich eingeladen?« – »Ich bin nur ein gewöhnlicher Wanderer«, sagte Odin, der nicht wollte, daß jeder wußte, wer er war. »Diese Quelle ist nicht für jeden hergelaufenen Landstreicher da«, rief Mime. »Der einzige, der aus ihr trinken darf, bin ich!«
Odin versuchte es zuerst mit Versprechungen, doch Mime sagte: »Was kann ein Kerl wie du mir schon versprechen, das ich nicht selber hätte?« Und als sich Odin auf Drohungen verlegte, lachte er ihn aus. Nun muß man wissen, daß Odin damals noch ein sehr junger Gott war, dem es an Selbstvertrauen fehlte. Seiner Allmacht war er ganz und gar nicht sicher, und er hatte nicht das Gefühl, daß er der Klügste war. Vielleicht hat Mime mich durchschaut, dachte er, und er macht sich lustig über mich?
Aber so war es nicht, denn plötzlich fuhr ihn Mime an: »Gib mir eins von deinen Augen!« Odin traute seinen Ohren nicht. »Her damit!« rief der Troll. »Dann kannst du von meinem Brunnen trinken, soviel du willst.« Odin aber ließ sich durch Mimes Verlangen nicht abschrecken; denn noch nie war einer im Himmel oder auf der Erde so auf Weisheit und Erkenntnis erpicht wie er. Ohne einen Moment zu zögern, riß der Fremde sich ein Auge heraus, legte sich an die Quelle und trank. Da fiel es Mime wie Schuppen von den Augen, und er begriff, mit wem er es zu tun hatte. Er war schließlich der Klügste unter den Riesen. Das war kein gewöhnlicher Landstreicher, das war ein Gott! Und Mime beschloß, sich Odin anzuschließen, sein Freund und Ratgeber zu werden.
Mimes Quelle lag unter einer gewaltigen Baumwurzel. »Warum schlägst du diese Wurzel nicht ab?« fragte Odin. »Dann ist es bequemer, aus ihr zu trinken.« – »Wo denkst du hin? Weißt du nicht, daß es kein gewöhnlicher Baum ist, aus dem diese Quelle ihr Wasser zieht? Es ist die Weltesche Yggdrasil, die drei Wurzeln hat, eine hier, wo du jetzt sitzt, die zweite in Niflheim, weit im nördlichen Nebel, und die dritte …«
»Die dritte dort, wo ich herkomme«, sagte Odin. »Bei allen Göttinnen in Asgard.« – »Dann begreifst du wohl, daß man die Wurzeln dieses Baumes nicht antasten darf, denn er ist heilig, und wehe uns allen, wenn ihm jemand etwas zuleide tut. Ja, mein Freund, wer die Welt verstehen will, der muß wissen, was es mit Yggdrasil auf sich hat.«
Das nahm Odin sich zu Herzen, und als er wieder zu Hause war, legte er sich auf die große Wiese und blickte nach oben. Er sah, daß die Weltesche einer Säule glich, auf der der Himmel ruht. Aber er bemerkte auch, daß in ihrer Krone und unter ihrem Geäst allerhand Getier hauste. Von dem Honigtau, der aus ihrem Laub tropfte, lebten die Bienen. Die waren harmlos, aber von den vier
Hirschen, die zwischen den starken Ästen herumsprangen, konnte man das nicht sagen, denn sie rauften das Laub ab und nagten an den frischen Trieben. In Yggdrasils Wipfel nistet ein kluger Adler und zwischen seinen Augen hat sich ein Habicht niedergelassen. Und das ist noch nicht alles! Odin hat auch von der großen Schlange Neidhieb reden hören, die im fernen Niflheim zu Hause ist, an einer der drei Quellen. Ausgerechnet an der Wurzel soll sie sich niedergelassen haben. An der nagt und nagt sie, und wer weiß, wie lange die Esche das aushalten kann.
So geriet Odin ins Grübeln. Was geschieht, wenn der Baum verrottet oder wenn jemand ihn fällt, fragte er sich. Doch zögerte er auch, das zu ändern, was er nicht verstand, oder das zu vernichten, was er nicht leiden mochte. Lieber wollte er versuchen, zu schützen und zu hüten, was ihm gut und teuer schien. Vor allem mußte er sich um seine eigene Quelle kümmern, die mitten in Asgard entsprang. Ihr frisches Wasser speist einen Teich, auf dem zwei Schwäne schwimmen, und drei mächtige Frauen, die man die Nornen nennt, behüten sie: Urd, Werdande und Skuld, die das Gute und das Böse bestimmt. Also bat Odin als erstes die Nornen, die Wurzel jeden Tag reichlich zu wässern, damit die große Esche nie vermodern sollte. Außerdem befahl er, um Yggdrasil Ehre zu erweisen, daß die Asen fortan, um ihren Rat zu halten, an der Quelle sitzen sollten.
Das war auch dringend nötig, denn lange währte der Frieden nicht. Eines Tages tauchte in Asgard eine Hexe auf. Odin war nicht geneigt, sie zu empfangen. Aber er war und ist ja der Gott der Gastfreundschaft, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als sich an seine eigenen Gesetze zu halten. Gullveig – so hieß der unerwünschte Gast – leuchtete die Gier aus den Augen. Gold und Reichtum, das war für sie das Wichtigste auf der Welt, und mit dieser Liebe zum Gold suchte sie auch alle anderen anzustecken. »Wie könnt ihr nur glücklich sein, wenn ihr keine Schätze habt?« geiferte sie. Das waren starke Worte, die auch auf die Asen Eindruck machten. Schon dachten einige daran, auf Beute auszugehen.
Aber Odin sah beizeiten, wohin das führen mußte, und er warnte seine Leute. »Ohne diese Hexe«, sagte er, »wäre die Welt ein besserer Ort. Wir müssen sie loswerden.« Da ergriffen die Asen Gullveig, stachen mit ihren Speeren auf sie ein und warfen sie ins Feuer. Aber die Hexe war zäh. Als die Flammen abgebrannt waren, stand sie wieder auf und war so lebendig wie zuvor. Dreimal versuchten die Asen, sie auf den Scheiterhaufen zu werfen, doch jedesmal stieg sie frisch und munter aus dem Feuer. Die Götter konnten ihr nicht den Garaus machen, denn Gullveig war eine äußerst trickreiche Trollfrau, und noch dazu eine, die zaubern konnte. Den Asen aber war es nicht gegeben, mit Schwarzer Magie umzugehen. Ihre Kraft bestand nicht darin, zu trügen und zu lügen, sondern darin, Neues zu erschaffen.
Höhnisch lachend ging Gullveig ihres Weges, und seitdem wandert sie unter tausend falschen Namen und Masken durch die Welt und verleumdet die Asen. Überall stiftet sie Unfrieden unter den Menschen und freut sich jedesmal, wenn sie wieder eine Freundschaft zerstört oder einen Familienstreit angezettelt hat.
Zuerst aber machte sie sich auf den Weg nach Wanheim zu den unbekannten Göttern, die dort lebten. Mit herzbewegenden Worten schilderte sie den Wanen, welche Grausamkeiten sie in Asgard zu erdulden hatte. Die Wanen waren empört. Vielleicht war ihnen die Hexe auch sympathisch, weil sie, wie es heißt, selber reichlich viel Gefallen an der Zauberkunst fanden. Jedenfalls wußte Gullveig, wie sie es anstellen mußte, sie gegen die Asen aufzuhetzen. »Mag schon sein«, sagte sie, »daß die Asen die Welt erschaffen haben. Aber das heißt noch lange nicht, daß sie über alle andern herrschen sollen. Immer führen sie das große Wort, so als hätte unsereiner nichts zu sagen.«
Diese Reden gefielen den Wanen, die sich schon lange darüber geärgert hatten, daß sich niemand um sie kümmerte. »Recht hast du!« riefen sie. »Wir haben es satt, die zweite Geige zu spielen. So kann man mit uns Wanen nicht umspringen. Laßt uns ein Heer rüsten und denen auf Asgard zeigen, wer auf dieser Welt die Stärkeren sind.« Und das ließen sich die Wanen nicht zweimal sagen.
Aber Odin entgeht so leicht nichts, was auf der Welt vorgeht. Er bemerkte von seinem Hochsitz aus, wie sich die Wanen zum Kampf rüsteten. Schon von weitem sah er sie mit ihren Reitern anrücken, und er befahl den Seinen, sich zu rüsten. Vor den Mauern von Asgard trafen die beiden Heere aufeinander. Einen Augenblick lang standen sie Auge in Auge. Dann zögerte Odin nicht länger und warf seinen Speer in die Schar der Feinde. Der erste Krieg der Welt hatte begonnen.
Anfangs sah es ganz so aus, als behielten die Wanen die Oberhand. Sie hatten die stärkeren Flüche, die sie den Asen an den Kopf warfen, aber das war nur ein Teil ihrer Zaubertricks. Manche benützten Tarnkappen, andere täuschten Angreifer vor, die gar nicht da waren; wenn die Asen auf sie losgingen, fanden sie nur tote Baumstümpfe, auf die sie einschlugen. Sogar die Mauern der Götterburg erzitterten unter den Zaubersprüchen, und hie und da gelang es den Wanen, Breschen in die Festung zu schlagen und auf die große Wiese vorzudringen. Aber auf die Dauer waren die Machenschaften der Wanen der Kraft der Asen nicht gewachsen, und die Angreifer wurden in die Flucht geschlagen. Das Heer der Götter trieb sie vor sich her bis in ihr eigenes Gebiet, und nun begann ein Plündern und Brandschatzen in Wanheim, das den Besiegten die Tränen in die Augen trieb. Der Kampf kostete auf beiden Seiten vielen das Leben. Odins Brüder fielen, aber auch die alte Hexe Gullveig überlebte nicht.
Doch die Wanen wehrten sich erbittert, und je länger der Krieg dauerte, desto mehr mußten die Kämpfer einsehen, daß keine der beiden Seiten gewinnen würde. Wenn keiner diesem Wahnsinn ein Ende machte, stünde bald die ganze Welt in Flammen. Deshalb beschlossen die Anführer zu verhandeln. Ein Treffen der Gesandten wurde vereinbart, und nach langem Hin und Her riefen sie einen Waffenstillstand aus. Als Unterpfand des Friedens tauschten sie Geiseln aus. Die Wanen sandten einen ihrer besten Männer nach Asgard. Er hieß Njord, und er brachte einen Sohn und eine Tochter mit, Frei und Freia. Dafür mußten die Asen Huhne, einen der Ihren, nach Wanheim schicken, und Mime, der klügste aller Trolle, Odins Freund, mußte ihn begleiten.
Odin wollte den Streit ein für allemal zu Ende bringen. Deshalb befahl er, daß die drei Geiseln aus Wanheim wie Gäste behandelt werden sollten. Er räumte ihnen sogar einen Platz im Rat der Götter ein. »Von nun an«, sagte er, »sollen sie gleiche Rechte und Pflichten wie wir alle haben und zu uns gehören.« Im Gegenzug wählten die Wanen Huhne zu ihrem Häuptling.
Odins Entscheidung war klug, denn auf diese Weise erfuhren die Asen vieles, was sie von ihren Gegnern nicht gewußt hatten: wie es in Wanheim zuging, und was für seltsame Sitten dort herrschten. Zum Beispiel war es bei den Wanen immer noch der Brauch, daß Geschwister einander heirateten. Njord war einer von denen, die ihre eigene Schwester geschwängert hatten, und so waren Frei und Freia enger miteinander verwandt als andere Leute.
Noch viel spannender war das, was die Asen über die magischen Künste der Wanen zu hören bekamen: daß Njord sich darauf verstand, den Wind, die See und das Feuer zu beherrschen; wenn er will, kann er Glück beim Fischen und Heil bei der Jagd herbeizaubern. Und Frei ist noch mächtiger als sein Vater, denn er kann gutes und schlechtes Wetter machen und ist Herr über alles, was wächst. Auf diese Weise bringt er denen, die er schätzt, Wohlstand und Frieden. Aber die reizendste und gefährlichste unter den Wanen ist doch seine Schwester Freia. Keine auf der Welt ist schöner als sie. Sie fährt einen Wagen, der von zwei Katzen gezogen wird, und wenn sie fliegen will, verwandelt sie sich in einen Falken. Wenn sie weint, vergießt sie Tränen aus schierem Gold. Vor allem aber ist sie die Göttin der Liebe, und von allen Mächten, die das Leben der Götter und der Menschen beherrschen, ist die Liebe die stärkste.
Das alles vernahmen die Asen, und sie konnten von diesen neuen Wundern nicht genug kriegen. Odin merkte sich alles, was er zu hören bekam, aber auch Loki, der Riesensohn, der mit ihm Blutsbrüderschaft geschlossen hatte, spitzte die Ohren. Loki ist ein ausgesprochen hübscher Troll, aber man kann ihm nie ganz über den Weg trauen, denn er ist listig und gemein. Insgeheim hält er es immer noch mit dem Clan der Riesen. Doch Odin hat von Anfang an einen Narren an ihm gefressen und vertraut seiner glatten Zunge. Loki versteht sich auf die Kunst, Worte zu verdrehen und alles zu seinem Vorteil zu wenden. Schon vorher war ihm die Zauberkunst nicht fremd, aber was er nun von den Wanen gelernt hat, macht ihn noch viel gefährlicher.
Der erste, den er in seiner Bosheit aufs Korn nahm, war Thor, Odins erstgeborener Sohn. Der hatte von der Klugheit seines Vaters kaum etwas geerbt. So simpel, wie er war, bot er sich Loki als leichtes Opfer an. Außerdem ist er hitzig und kann sich nur schwer beherrschen. Andererseits fehlt es ihm nicht an Gerechtigkeitssinn; gern beschützt er die Schwachen, wenn ihnen jemand Unrecht tut. Jedesmal, wenn die Riesen in Mitgard einfallen, um die Menschen zu plagen, ist Thor zur Stelle, um ihnen zu helfen. Da sind die Trolle gut beraten, wenn sie von ihren Opfern ablassen und fliehen; denn Thor ist groß und stark, und wenn er seinen Gürtel anlegt, verdoppeln sich seine Kräfte. Er haßt Verrat und Ränkespiele. Wahrscheinlich war das der Grund dafür, daß Loki sich gerade ihn ausgesucht hat, um eine Probe seiner Tücke zu liefern.
In der Nacht können sich die Asen sicher fühlen. Sie schlafen ruhig, denn sie wissen, daß Heimdal, der Gott, der am Fuß der Regenbogenbrücke wohnt, Wache hält. Der braucht weniger Schlaf als ein Vogel, und er kann, ob es Tag oder Nacht ist, hundert Meilen weit sehen. So gute Ohren hat er, daß er nicht nur das Gras, sondern auch die Wolle an den Schafen wachsen hört. Kein Feind kann sich den Mauern von Asgard nähern, ohne daß Heimdal es merkt.
Aber diesmal kommt der Feind nicht von draußen. Der Schwarzgewandete, der sich da von Haus zu Haus schleicht, ist einer von den eigenen Leuten. Jetzt nähert er sich einem riesigen Gebäude, das vierhundertfünfzig Zimmer hat. Thor hat sich in seinem Übermut dieses Haus gebaut. Aber heute schläft er nicht in seinem Bett. Er ist hinausgeritten, um gegen die Riesen zu kämpfen.
Alle Lichter sind gelöscht, und es ist still im ganzen Haus. Der Eindringling geht auf Zehenspitzen durch die Flure und blickt durchs Schlüsselloch in jedes Zimmer. Endlich findet er, was er gesucht hat. Der Mond scheint durchs Fenster, und in seinem schwachen Schein sieht er Thors Frau daliegen. Die heißt Siv. Ihr langes, weiches Haar fällt über die Bettkante. Der Schwarzgekleidete lächelt. Dann macht er sich so klein, daß er durchs Schlüsselloch in Sivs Schlafzimmer kommt.
Am andern Morgen kommt Thor nach Hause. Wieder einmal hat er die Riesen besiegt. Jetzt ist er müde und möchte sich ausschlafen. Er ruft: »Liebe Siv, laß mich herein!« Aber Siv antwortet ihm nicht. Er hört, wie sie weint, und hitzig, wie er ist, sprengt er sogleich die Türe auf. »Schau mich nicht an«, bittet ihn seine Frau, »bitte, schau mich nicht an!« Und sie versteckt sich unter der Bettdecke. Ungeduldig reißt Thor die Decke in die Höhe, und was er da zu sehen bekommt, erfüllt ihn mit rasender Wut. Denn Siv, die so wunderbares Haar hatte, daß sogar Freia, die Liebesgöttin, neidisch wurde, ist am ganzen Kopf kahl wie eine Puppe. »Wer hat das getan?« brüllt Thor. »Ich weiß es nicht«, sagt Siv. »Ich bin eingeschlafen, und als ich aufwachte …« Sie bricht in Tränen aus. Thor glaubt ihr; ja, er ahnt sogar, wer das gewesen sein könnte. Und er hat richtig geraten.
Denn zur gleichen Stunde sitzt Loki bei seinen Kumpanen und prahlt. »Oh, bei Siv war ich mehr als willkommen. Sie hatte nichts dagegen, im Bett Besuch zu bekommen.« Großes Gelächter. »Kein Wunder«, sagen Lokis Freunde. »Thor ist ja fast nie zu Hause.« Aber das Lachen vergeht ihnen rasch, denn nun steht Thor in der Tür. Seine Augen sprühen Funken, und er hat drohend seine Faust erhoben. »Immer mit der Ruhe«, zwitschert Loki. »Du wirst doch ein wenig Spaß verstehen, oder nicht?« Thor geht auf ihn los, und es sieht ganz so aus, als wolle er ihm alle Knochen brechen. Im letzten Augenblick werfen sich Lokis Kumpane dazwischen.
»Ich bringe dich um, wenn du ihr nicht neues Haar verschaffst«, ruft Thor und versucht sich loszureißen. »Ich verspreche es«, winselt Loki, »hoch und heilig!« – »Dir werde ich Beine machen! Neues Haar, und zwar sofort. Ich will, daß es noch schöner wird als das, das du ihr abgeschnitten hast.« – »Ja, ja«, jault Loki. »Gib mir nur ein paar Tage Zeit.« Erst da löst Thor den Würgegriff um Lokis Kehle, und der Übeltäter rennt davon. »Ver* suche ja nicht, dich zu drücken«, brüllt Thor ihm nach. »Sonst kannst du etwas erleben! Ich finde dich überall, und wenn du dich in den Gluten von Muspilheim versteckst.«
Wie wird sich Loki aus der Schlinge ziehen? Ach, dieser Kerl ist nie um Rat verlegen. Er macht sich auf den Weg zu den Schwarzalben, die unter der Erde wohnen. Die Strecke kennt er von früher, und in den Höhlen und Grotten kennt er sich aus. Die einzigen, die ihm helfen können, sind die Zwerge; denn sie verstehen sich auf die Schmiedekunst.
»Ich brauche Fäden aus Gold, Tausende von langen, feinen Fäden, so dünn wie Menschenhaar.« – »So«, sagen die Zwerge. »Wozu denn?« – »Meine Frau«, antwortet Loki, »hat bei einem Feuer ihre Haare eingebüßt, und ich will ihr neue schenken.« – »Das ist aber viel Arbeit«, erwidern die Zwerge. »Und überhaupt, warum sollen wir dir helfen?«
Aber Loki weiß immer eine Antwort. »Stellt euch nur einmal vor, wie berühmt ihr in Asgard werden könnt, wenn ihr tut, was ich von euch verlange! Man muß sich gut mit den Asen stellen, denn sie sind sehr mächtig, besonders Odin. Ihr solltet ihn als Freund und Beschützer gewinnen.«
Schon haben die Zwerge mit ihrer Arbeit angefangen. Überall hört man sie hämmern, und in unbegreiflich kurzer Zeit haben sie tausend Goldfäden fertig geschmiedet. Nun murmeln sie Beschwörungen und Zauberformeln. »Deine Frau braucht sich das Goldhaar nur auf den Kopf zu setzen«, versichern sie Loki, »schon wird es festsitzen und weiterwachsen.«
Aber Loki ist noch nicht zufrieden. In seinem Übermut bittet er die Zwerge noch um ein paar andere Gefälligkeiten.
»So flink, wie ihr seid, wird euch das sicher nicht viel Mühe machen. Die Sache ist nämlich so: Ich möchte nicht gern ohne ein paar Geschenke nach Asgard zurückkehren. Wißt ihr nicht ein oder zwei andere
Kunststücke, mit denen ihr euch bei den Göttern einschmeicheln könnt?«
Gutmütig, wie sie sind, machen sich die Zwerge von neuem ans Werk. Zuerst schmieden sie einen Speer, der Gügne heißt. Das ist keine gewöhnliche Waffe. Denn diesen Speer kann kein Schild und keine Mauer aufhalten, und er trifft immer mitten ins Ziel.
»Habt ihr nicht eine Idee für die Seefahrt?« fragt Loki, der Nimmersatt. »Warum nicht«, sagen die Zwerge, und sie bauen ein Schiff, das nicht nur auf dem Wasser, sondern auch auf dem Land fahren kann. Außerdem ist es so beschaffen, daß es immer Rückenwind hat; es heißt Skidbladner, und obwohl es groß genug ist, um alle Asen samt ihren Waffen zu tragen, kann man es, wenn man es nicht mehr braucht, wie ein Tuch zusammenfalten und in die Tasche stecken.
»Wunderbar«, sagt Loki. »Das wird ein Aufsehen machen in Asgard! Vielen Dank für eure Hilfe!« Und schon ist er auf dem Heimweg. Ein paar Höhlen weiter kommt er an einer anderen Werkstatt vorbei und hört, wie dort zwei Zwerge klopfen und hämmern. Brokk und Sinder sind Brüder, und unter den Schmieden sind sie für ihre Kunst berühmt. Was gilt es, ich versuche bei denen noch einmal mein Glück, denkt Loki, tritt ein und zeigt den beiden seine Kostbarkeiten.
»So etwas Feines habt ihr gewiß noch nie gesehen. Schaut nur, was eure Vettern da zustande gebracht haben! Da können Zwerge wie ihr nie und nimmer mithalten. Darauf will ich meinen Kopf wetten.«
»So?« rufen die beiden Brüder wie aus einem Mund. »Da kennst du uns aber schlecht! Was die können, können wir auch.« Sie tuscheln miteinander und verschwinden in der Schmiede. Loki muß draußen warten. »Sollen wir die Wette eingehen?« fragt Brokk. »Dieser Loki ist doch nur ein Windbeutel. Eine Pest und eine Plage.« – »Das mag schon sein. Aber daß wir schlechtere Schmiede sind als unsere Vettern, das können wir nicht auf uns sitzen lassen«, meint Sinder. »Und was haben wir schon zu verlieren?« – »Also gut«, sagt Brokk. »Meinetwegen. Machen wir uns an die Arbeit.«
Vor der Schmiede sitzt Loki und lauscht ihrer Unterhaltung. Ich bin gespannt, was ihnen einfallen wird, denkt er. Am besten ist es, ich behalte sie im Auge, damit sie keinen Unsinn treiben. Und er verwandelt sich in eine winzige Mücke, fliegt in die dunkle Schmiede und setzt sich an die Wand.
Er sieht, wie Sinder Gold in kleine Stücke schneidet, sie in die Esse legt und eine große Schweinehaut darüber wirft. »Ich muß ein wenig Luft schnappen«, sagt er. »Du, Brokk, paßt solange auf den Blasebalg auf, damit
das Feuer nicht ausgeht.« Kaum ist Brokk allein, da setzt sich eine Mücke auf seinen Arm und kitzelt und sticht ihn. »Verfluchtes Biest«, ruft er, aber stören läßt er sich nicht, und als sein Bruder wiederkommt, holen sie ihr Werk aus der Esse. Siehe da, es ist ein großes Schwein geworden, ein Eber mit Borsten aus reinem Gold.
Als nächstes schmiedet Sinder einen starken goldenen Armring. »Damit auch die Frauen etwas Schönes haben«, sagt er. Doch das dritte und letzte Meisterstück macht er nicht aus Gold, sondern aus Eisen. Das ist eine schwere Arbeit. Lange muß Sinder hämmern, bis er den Klotz in die Esse werfen kann. »Bei dieser Hitze schwitzt man sich das Fleisch von den Knochen. Ich muß hinaus an die frische Luft. Hüte mir solange den Blasebalg«, bittet er den Bruder, »aber paß gut auf! Wenn du auch nur einen Augenblick lang aussetzt, ist die ganze Arbeit umsonst.«
Schon ist die aufdringliche Mücke wieder zur Stelle. Diesmal setzt sie sich genau zwischen Brokks Augen. Als sie zusticht, tut es so weh, daß der Zwerg einen Augenblick lang den Blasebalg fahrenläßt, um sie zu verscheuchen. Ausgerechnet jetzt kommt Sinder wieder. »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst aufpassen?« ruft er ärgerlich. Vorsichtig nimmt er das Werkstück aus der Esse. »Das war aber knapp«, murmelt er. »Um ein Haar hätten wir es zum alten Eisen werfen können. Aber zum Glück hat es nur den Schaft getroffen. Er ist ein bißchen zu kurz geraten. Doch ansonsten ist es ein Hammer, der nicht seinesgleichen hat!«
»Ach, ihr seid schon fertig«, sagt Loki mit seiner besten Unschuldsmiene, als Brokk und Sinder aus der Schmiede kommen. »Das ist aber schnell gegangen.« Er grinst, während Sinder ganz erschöpft ist. »Das ist aber ein schönes Hämmerchen!«
»So, und jetzt verschwindest du«, sagt Sinder. »Und du, Brokk, nimmst den Hammer, den Ring und den Eber mit und folgst ihm nach Asgard. Die Götter sollen entscheiden, wer die Wette gewonnen hat, und ich bin sicher, daß sie diesen Kerl um einen Kopf kürzer machen.«
Schon von weitem sieht Heimdal, der Wächter, Loki kommen. Thor kann es kaum erwarten, ihn dafür zu strafen, was er Siv angetan hat, und er ruft die Götter zusammen. Odin nimmt auf seinem Thron Platz, und als Loki mit heiterster Miene auftaucht mit dem Zwerg im Gefolge, ist die Stimmung eisig. »Ihr werdet staunen über die großartigen Geschenke, die ich mitbringe«, prahlt er. »Sechs Wunderdinge, die ich den Zwergen abgehandelt habe für viele gute Worte!« – »Weh dir«, brüllt Thor, »wenn kein goldenes Haar dabei ist«, und Brokk murmelt: »Rede nur, solange du noch eine Zunge hast, alter Lügner!« Den Asen erklärt er mit gerunzelter Stirn die Wette, die er und Sinder mit Loki abgeschlossen haben. »Es geht um seinen Kopf«, ruft er. Aber wer soll entscheiden, ob die Zwerge recht behalten? Die Götter beschließen, daß Odin, Thor und Frei das letzte Wort in dieser Sache haben sollen.