Die Stadt der Metallvögel - Tor Åge Bringsværd - E-Book

Die Stadt der Metallvögel E-Book

Tor Åge Bringsværd

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Beschreibung

Nach dem Erscheinen des grossen Pilzes befindet sich die Welt in einem post-apokalyptischen Zustand. Der letzte überlebende Mensch sucht in dieser Welt, die von permanenter Dunkelheit gezeichnet und von Tiermenschen belebt wird, nach seiner ursprünglichen Herkunft. Seine Ermittlungen führen ihn nicht nur aus dem Königreich der Felin (Katzenmenschen) zum Raum der Kaan (Hundemenschen), sondern auch zu den Gna (Rattenmenschen) und in die alte Götterstadt der Ker Shus. – Ein gelungener Science Fiction Roman, der durch glaubwürdige Darstellung einer postapokalyptischen Welt und nicht-linearen Erzählweise überzeugt.

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Tor Åge Bringsværd

Die Stadt der Metallvögel

Roman

Aus dem Norwegischenvon Lothar Schneider

Phantastische BibliothekBand 208

Saga

Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zuseh’n,

daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird.

Und wenn du lange in den Abgrund blickst,

blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Nietzsche

Erste Rolle

Dämmerung

Noch kann ich mich an alles erinnern. Ich erinnere mich an den Weg, dem wir folgten. An die Spuren, die wir verwischten. An alles, was sich uns entgegenstellen wollte. An das Tor, das wir öffneten. Ich erinnere mich an Ker Shus, die Stadt der Metallvögel, mit ihren Türmen und bizarr geformten Spitzen, mit ihrem Segel aus rußigem Glas. Ich erinnere mich an die Dunkelheit, in die wir starrten. An den Abgrund, vor dem wir flohen.

Und ich schreibe das alles auf. Schreibe, wie es mich die Bücher gelehrt haben. Ohne zu wissen, ob es je gelesen wird. Aber ich habe den Gipfel des Berges erreicht. Von hier führt der Weg nur noch abwärts. Und ich befürchte, daß alles, was hinter mir liegt, verschwinden wird, wenn ich es nicht erzähle. Jori ist fort. Lazar gibt es nicht mehr. Fogart starb vor zwei Monaten. Von denen, die damals dabei waren, bin ich als einziger übrig. Deshalb rückt näher, Kinder – pflege ich zu sagen –, kriecht dichter ans Feuer. Denn dieser Winter ist vielleicht mein letzter bei euch. Und ihr sollt dann weitergeben, was ich erzähle, jeder nach seinem Verstand und Herz. So beginne ich. Jeden Abend. Und nachts schreibe ich auf, was ich erzählt habe. Lege die Wörter auf die Waage wie Steine. Behalte die, von denen ich fühle, daß sie richtig sind. Damit nicht alles vergeblich war. Damit nicht die Hunde recht bekommen. Und damit Ker Shus sich nie mehr wird erheben können.

Aber ich folge auch anderen Spuren. Gedanken, die nur mir gehören. Gefühle, die auf der Suche sind nach Namen und Eltern. Antworten, an die ich nicht glaube und die sich in Fragen verwandeln, wenn ich sie nur anblase. All das vertraue ich den Rollen an, wenn ich sie langsam mit Zeichen und Bildern fülle.

Mein Name ist Rokam. Der Unbehaarte. Rokam, der sein Fell von anderen borgen muß.

Wir wissen nicht sehr viel, wir in der Zone der Dämmerung. Wir sind einfach, wenigstens die meisten von uns. Wir arbeiten mit der Hand. Wir wandern. Wir machen unsere Bilder selbst. Und wir haben Wasser.

Wir sagen Abend.

Wir sagen Nacht.

Wir sagen Tag.

Wir sagen Morgen.

Die alten Wörter. Aber ohne Bedeutung.

Wir leben in der Zone der Dämmerung. Dem grauen Streifen zwischen Licht und Dunkelheit.

Trotzdem gibt es für alles eine Zeit.

Tanith jagt jetzt.

Wäre ich jünger, ich wäre mit ihr gegangen. Hätte im hohen Gras auf der Lauer gelegen. Mit ihr. Wäre mit ihr gegen den Wind gepirscht. Gemeinsam hätten wir uns von niederen Ästen fallen lassen.

Sie ist eine gute Gefährtin.

Ihre Mutter war auch eine gute Gefährtin. Jori. Mit den blauen Augen. Sanft und geschmeidig. Und mit einem Herz, das rastlos war.

Vieles gibt es, wofür ich dankbar bin.

Das Volk der Felin zählt mich zu den Seinen.

Aber sie lassen mich auch so, wie ich bin.

*

Ich merkte frühzeitig, daß ich anders war. Ich konnte nicht so schnell laufen wie die andern Kinder. Ich war nicht so geschickt im Klettern. Und wenn wir miteinander rauften, war immer ich der Unterlegene.

Vater sagte nie etwas dazu. Strich mir nur über den Kopf. Drückte mich an sich.

Ich hatte nur ihn.

Wir wohnten für uns. Immer außerhalb des Lagers. Karp war damals der Anführer. Und Vater und ich gehörten nicht zum Stamm. Wir waren keine Felin. Aber wir gingen mit ihnen. Gingen mit Karps Stamm auf die langen Wanderungen. Am Mes entlang – zu den Tebronbergen und wieder zurück zur Rilebene. Nie zu lange an einem Ort. Nie zweimal am selben Ort. Damit die Metallvögel nie wußten, wo sie uns finden konnten. Ich erinnere mich, daß Vater mich oft tragen mußte.

Ich konnte sehen, daß ich anders war. Ich wuchs auch nicht so schnell wie die andern. Die Kinder, mit denen ich spielte, wurden erwachsen, wurden Männer und Jäger, und ich war nach wie vor ein Junge.

Ich konnte sehen, daß auch Vater anders war. Lange glaubte ich, daß ich eines Tages werden würde wie er.

Er war liebevoll. Er half mir. Er gab mir all die Geborgenheit, die ich brauchte.

Aber nie mit Worten.

Nur zweimal hörte ich ihn reden.

Das erste Mal, als er starb.

Ich lernte, Ratten zu hassen.

Ich lernte, Hunden zu mißtrauen.

Ich lernte, daß wir – die Felin – Menschen waren.

Ich lernte, daß im Westen Nacht und ewige Dunkelheit herrschen. Im Osten ist der Sonnenaufgang. Und jenseits davon ist immer Tag.

Ich lernte, daß die Metallvögel aus dem Tag kommen und daß man immer nach Westen fliehen muß – hin zur nacht – obwohl nirgends der Weg so unbekannt und voller Ratten ist.

Tanith ist wieder da.

Ihr Mund ist blutverschmiert. Sie schleckt sich. Blickt mich befriedigt an. War es eine gute Jagd? Sie nickt. Umarmt mich. Drückt sich an mich. Ich reibe mein Gesicht an ihrem Bauch. Er riecht nach Wald und nassem Gras.

*

Der Wind hat wieder zugenommen. Jetzt kommt er von Süden. Mit gelben Sporen. Kleine Wirbel glänzender Staubteilchen. Wie Insekten. Wie der Glutregen eines fernen Feuers.

Wir leben in einer Welt, in der es immer bläst. In der sich der Wind ohne Vorwarnung dreht und wechselt. Wild und unberechenbar. Als fürchte er, eingefangen zu werden. Als wolle er sich weigern, zu etwas benutzt zu werden.

Der Wind ist das, wovon wir zuerst hören.

In Shiba – dem Land, wo der Mond stirbt – beten sie den Wind an und nennen ihn Er-der-wahrhaft-frei-ist. Ich habe ihren Altar gesehen, mit Windrädern, mit singenden Röhren und mit felsgroßen Skulpturen, an denen farbige Lederwimpel flattern. In Shiba ziehen sie ihre Toten auf hohe Masten hinauf. Damit der Wind die Seelen befreien kann. Sie glauben, ihre Vorfahren singen in den großen Windpfeifen des Altares, und ich habe Leute gesehen, die tagelang lauschend dasaßen, um möglicherweise die Stimme von einem ihrer Angehörigen wiederzuerkennen.

Das Land, wo der Mond stirbt. Der Ort, wo der Mond voll ist. Die Halbmondwälder ... Ich bin weit gewandert. Ich habe den Mond in allen seinen Phasen gesehen.

Hier bei uns ist er jedesmal neu.

Ich hatte eine alte Lehrerin, die Mirja hieß. Der Mond ist sehr nützlich, pflegte sie zu sagen. Wenn er scheint, erzählt er uns, wo wir sind und was uns erwartet.

Ich liege wach und denke an den Mond.

Bald wird er wieder hier sein. In neunzehn Tagen und neunzehn Nächten.

Ein Messer am Horizont.

Der Wind dreht.

Er kommt jetzt von Norden.

Morgen haben wir vielleicht Schnee.

*

Ich hatte einen Freund namens Lazar. Und einen Freund namens Kiri. Sie waren auch noch mit mir zusammen, nachdem sie Jäger geworden waren. Ich bewunderte sie, blickte zu ihnen auf – und beneidete sie. Sie hatten die Erlaubnis, einen ganzen Tagesmarsch rechts oder links von uns herumzustreifen. Sie erzählten von Schlangen so dick wie Baumstämme. Sie kämpften gegen Spinnen. Sie jagten Perafer und Jamiter. Damals wie jetzt war es die Aufgabe der Jäger, nicht nur Essen heranzuschaffen, sondern auch den Weg für uns zu bahnen.

Ich selbst mußte beim Rudel bleiben.

Felin benutzen nur Waffen, wenn sie dazu gezwungen werden. Wenn eine wirkliche Gefahr besteht oder wenn der Stamm angegriffen wird. Am liebsten jagen sie nur mit einem kleinen Messer. Und benutzen Krallen und Zähne. Vater brachte mir bei, den Speer und den Bogen zu gebrauchen. Er lehrte mich, der Speer zu sein, der Pfeil zu sein. Denn nur so bist du sicher, das zu treffen, was du willst. Er war der Beste von allen. Was er sehen konnte, das konnte er auch treffen. Und er sah besser als jeder andere. Er hörte auch besser. Aber er entfernte sich nie weit vom Rudel. Er hielt sich stets in der Nähe auf. Ich wußte, daß ich nur zu rufen brauchte. Ich wußte, daß er stets da war. Denn obwohl ich übte, sooft ich konnte ... ich wurde nie geschickt im Gebrauch der Waffen. Als Erwachsener lernte ich die Jagd zu schätzen, um ihrer selbst willen. Aber das brauchte Zeit. Ich war allerdings in allem, wozu man die Hände braucht, nie besonders geschickt. Viele Jahre lang war ich abhängig von Vater. Und von den andern. Vor allem von ihm. Ich war der nutzlose, unbeholfene Junge, der nie erwachsen wurde. Über den alle lachten. Und der zurücklachte, damit niemand merken sollte, wie weh es tat. Der jedesmal, wenn ihm etwas mißlang, Grimassen schnitt und Purzelbäume schlug. Aber ich hatte zwei Freunde: Lazar und Kiri. Und einen Vater, bei dem ich weinen durfte. Ich wünschte mir so sehr, er könnte stolz auf mich sein. Merkwürdigerweise glaube ich, er war es. Auf seine Weise. Er selbst wurde von allen respektiert. Aber er hielt stets Abstand. Da waren nur wir zwei, sonst niemand. Er wollte, daß wir außerhalb des Lagers wohnten. Er nahm sich nie eine Gefährtin. Und ich habe nie gesehen, daß er seine Mahlzeiten mit jemandem geteilt hätte. Er war stumm und gab keinen Laut von sich. Wenn er schlief, war es unmöglich, ihn atmen zu hören. Und beim kleinsten Geräusch war er wach. Er war stets auf der Hut. Jedesmal, wenn sich eine Gefahr ankündigte, spürte ich, daß seine Augen mich suchten. Karp war der Anführer. Auch er tröstete mich. Auf seine Weise. »Rokam«, sagte er einmal. »Sei ein guter Sohn. Dein Vater liebt dich. Er ist ein merkwürdiger Mann. Anders als alle andern. Deine Mutter muß auch eine merkwürdige Frau gewesen sein. Jetzt hat er nur dich. Die Wälder und die Berge kennen niemanden, der so ist wie ihr. Sei ihm ein guter Sohn.« Karp stand über allen andern. Aber er behandelte stets Vater wie einen Ebenbürtigen. Lazar und Kiri erzählten, daß Vater einmal Karp vor dem gelben Tod gerettet habe. Der Boden hatte plötzlich nachgegeben, und Karp war in ein Schlangengrab gefallen. Aus Ritzen und Klüften wanden sich sofort kleine Knäuel von verwickelten Schlangen. Die andern Jäger waren dagestanden wie gelähmt. Aber Vater war hinuntergesprungen. Ohne zu zögern. Hat Karp hoch über sich gehoben. Hat ihn wie einen Sack auf die Schulter geworfen, hat die Schlangen niedergetreten und war hochgeklettert. Wie er das geschafft habe, sei unglaublich gewesen, erzählten Lazar und Kiri übereinstimmend. Beide waren sie dabeigewesen. Die gelben Schlangen züngelten und zischten, und ein einziger Biß wäre tödlich gewesen. Aber sogar nach diesem Ereignis weigerte sich Vater, einen Namen anzunehmen. Er blieb sein Leben lang ohne Namen. Karp erzählte mir, wie Vater zum Stamm gekommen war. Er war in der Regenzeit gekommen. Wandernd über die Rilebene. Allein und ohne Waffen. Mit einem kleinen Bündel auf den Armen. Die Jäger trafen ihn vor dem Lager. Er blieb stehen. Zeigte aber keinerlei Angst. Hielt ihnen das Bündel entgegen. Unter den Jägern war eine Frau, die gerade zwei ihrer eigenen Jungen verloren hatte. Vater muß es ihr angesehen haben. Er ging zu ihr und legte mich an ihre Brust. Und ich begann sofort zu saugen.

Ich selber habe keine Kinder.

Tanith sagt oft im Spaß, sie sei meine Tochter. Mit Jori. Aber damit will sie mir wohl eher eine Freude machen. Keiner von uns glaubt es. Und Jori hatte mit so vielen Kinder.

Auch Tanith hat andere Freier. Ich höre sie, ob ich will oder nicht. Ich weiß, daß sie da draußen warten.

Sie weiß auch, daß ich sie nicht halte. Sie geht, wohin sie will. Es ist nicht meine Angelegenheit, neue und fremde Wege für das Volk der Felin zu bereiten.

Und wir wissen nie ganz sicher, ob etwas wirklich ist.

Wir wissen nie ganz sicher, ob das, was uns begegnet, Wirklichkeit ist oder ein Drino. Selbst aus nächster Nähe ist es unmöglich, den Unterschied festzustellen. Der erste Drino, an den ich mich erinnere, war ein Drache. Mit weit aufgerissenem Maul und dampfenden Nasenlöchern. Ich glaube sogar, er hatte Flügel. Wie alt kann ich gewesen sein? Drei? Vier? Ich erinnere mich, daß ich wie ein verletzter Vogel schrie. Und ich sehe noch vor mir, wie Vater ihn mit einem langen Stock durchbohrte, ihn wie eine Blase anstach, so daß er verschwand.

Tanith liegt auf der Seite und blinzelt mich mit schmalen Augen an.

Ich strecke eine Hand aus. Lege sie unter ihr Gesicht. Spüre, wie sie den Kopf gegen meine Handfläche drückt.

*

Vieles hat sich geändert. Vieles ist, wie es war. Wir wandern nach wie vor. Aber wir bleiben jetzt länger an einem Ort. Und wir kehren gerne zu alten Lagerplätzen zurück. Denn die Metallvögel sind tot. Ich habe gesehen, wie sie in Ker Shus verrottet sind. Sie werden nie mehr mit blitzenden Augen über unseren Wäldern rauschen und wie rollender Donner dröhnen. Nie mehr werden die Felin wie die aufgescheuchten Hasen davonlaufen, jeder um sein Leben rennend, gejagt von Klauen und kalten Fangarmen. Wir haben jetzt mehr Zeit. Wir tanzen mehr.

Ich war zehn, als die Metallvögel kamen.

Die Erwachsenen haben uns immer erschreckt damit. Wenn sie etwas erreichen wollten. Oder wenn etwas verboten war. Sie haben uns lange Geschichten erzählt mit Feuer und Schatten. Haben berichtet von Stämmen, die innerhalb einer Stunde ausgerottet worden waren. Wir hatten es so oft gehört, daß es für uns beinahe zum Märchen wurde. So wie die Geschichten von Er-der-Stiefeltrug.

Abgesehen von Lazar und Kiri spielte ich noch mit den Vier- und Fünfjährigen. Wir waren Kinder. Wir dachten in kurzen Sprüngen. Wir verstanden nicht, wie die Angst mehrere Jahre lebendig sein konnte, ohne daß etwas passierte.

Auch die jungen Jäger verstanden das nicht. Sie lauschten. Sie taten das, was man von ihnen erwartete. Aber ohne es zu verstehen. Sie dünkten sich besser, stärker und mutiger als die Alten. Karp hatte die Metallvögel zweimal gesehen. Ich weiß, daß die Jungen lächelten, wenn er davon erzählte.

»Jeder einzelne von ihnen ist wie hundert Krokodile«, pflegte Karp zu sagen. »Und obwohl ihre Flügel unsichtbar sind, bewegen sie sich schneller als ein Pfeil.«

Niemand, der die Metallvögel nicht erlebt hat, kann das begreifen.

Und eines Tages kamen sie ...

Das Felinvolk jagt nie in derselben Spur wie die Hunde. Wenn wir sie wittern, biegen wir ab. Wir gehen ihnen aus dem Weg. Und sie uns. Denn es besteht eine alte Feindschaft zwischen uns und den Hunden. Aber auf diese Weise erreichen wir eine Art Frieden. Mit dem beiden gedient ist.

Wir hätten wissen müssen, daß es ein schlechtes Zeichen war, als wir ein ganzes Rudel von ihnen zu Gesicht bekamen.

Sie standen oben auf einer kleinen Anhöhe. Warteten. Versperrten den Weg.

Deshalb bogen wir ab.

Am nächsten Tag witterten wir sie wieder. Jetzt waren sie gleichzeitig links von uns und hinter uns.

Deshalb änderten wir erneut die Richtung.

Aber die Hunde folgten.

Die jungen Jäger wollten anhalten und kämpfen. Doch Karp trieb uns weiter. Ich sah, daß er unruhig war. Wir liefen ohne Rast.

Bald blieb uns nur noch ein Weg. Auf dem wollten uns die Hunde offenbar haben.

Uns war klar, daß es eine Falle sein konnte. Aber die Hunde waren zahlreich. Und immer noch hofften wir, daß sie uns entkommen lassen wollten. Es gab keinen Grund, es anders zu sehen. Dachten wir.

Aber dann wurde das Licht eingeschaltet.

»Wie ein Feuer?« fragte Tanith.

»Nein.«

»Wie Blitz und Donner?«

»Nein.« Ich küsse sie.

»Wie der Tag?«

»Wie der Tag«, sage ich.

Und ich spüre, wie sie zittert.

*

Ich kann die Bilder des Kindes träumen. Ich kann mich daran erinnern. Das Entsetzen. Die Verwirrung. Der Schmerz. Aber wenn ich schreibe, muß ich Worte finden. Scheinwerfer. Das ist ein Wort. Das Tanith nicht kennt. Maschine. Trotzdem muß ich sie verwenden.

An diesem Tag war der Himmel ein Lichtmeer, das uns überflutete. Und das Gebrüll der Metallvögel zerriß unsere Ohren.

Zuerst standen wir hilflos mit geschlossenen Augen da.

Dann waren die Hunde über uns. Und wir öffneten die Augen und kämpften.

Karp gab Befehl, einen Ring zu bilden. Kinder und Alte in die Mitte. Und eine Kette von Jägern zu ihrer Verteidigung.

Ich sah zum ersten Mal die Hunde aus der Nähe. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Mich überraschte nur, daß sie auf zwei Beinen liefen. Und dunkle Steine vor den Augen hatten, als Schutz gegen das Licht.

Sie sind größer und schwerer als die Felin. Und haben gewaltige Kiefer. Aber die Felin sind schneller und geschmeidiger. Ich sah Karp, mit buschigem Schwanz und zurückgelegten Ohren. Ich sah sein Messer nach rechts und links blitzen. Ich sah, wie Lazar das Genick eines Hundes zerbiß, der doppelt so groß war wie er. Ich sah, wie Vater einen Gegner mit bloßen Händen erwürgte.

Aber es waren zu viele. Die Kette riß. Jeder hatte genug mit sich selbst zu tun.

Und die ganze Zeit hingen die Metallvögel unbeweglich und brüllend über der Ebene.

Wir hatten jetzt viele Tote. Aus einem Stamm von über hundert hielten sich noch etwa siebzig auf den Beinen. Ich sah Kiri fallen. Ich sah, wie Karp in Stücke gerissen wurde. Ein blutiger Anblick, überall, wohin ich sah. Blut und Eingeweide.

Aber Vater kämpfte noch wie ein Löwe. Nichts schien ihn umwerfen zu können. Er trat und schlug. Einmal packte er einen der Hunde am Schwanz und schleuderte ihn um sich wie eine Keule. Ich hielt mich dicht an ihn. Zehn bis zwölf Hunde verfolgten uns, als wir uns langsam über die Ebene zu einer Baumgruppe bewegten.

Plötzlich ertönte ein schriller Pfeifton. Einmal. Zweimal.

Die Hunde hielten inne. Fletschten die Zähne.

Dann ließen sie ab von uns. Den Schwanz zwischen den Beinen. Rannten weg.

Wir rannten ebenfalls weg.

Vater hob mich hoch und lief wie ein Hirsch. Erreichte das Waldstück. Stürzte hinein in das Halbdunkel.

Wir blieben stehen. Wandten uns um.

Von den Hunden war nichts mehr zu sehen.

Das Licht war jetzt gedämpft.

Und wir sahen die Metallvögel. Groß wie Klippen. Langsam senkten sie sich über die Ebene. Und dort bewegte sich niemand mehr. Wir sahen unsere Brüder und Schwestern – die noch am Leben waren – wie gelähmt dastehen, steif wie Puppen. Und wir sahen Fangarme aus den Metallvögeln hervorschießen und große Netze, die alles am Boden einsammelten. Wir sahen die Fangarme zugreifen wie Zangen ... wir sahen, wie die Netze Gruppen von hilflosen Felin einfingen. Sahen, wie sie hochgehoben und in die Bäuche dieser riesigen, glitzernden und unwirklichen Vögel gezogen wurden.

Ich hörte Vater neben mir knurren. Seine Augen waren ausdruckslos wie immer. Aber die Nasenflügel vibrierten wie bei einem Ochsen.

Wir hätten fliehen sollen. Weiter weg. Aber keiner konnte seine Augen abwenden von dem, was sich dort draußen abspielte.

»Da muß etwas mit dem Licht sein«, flüsterte ich. »Warum laufen sie nicht weg, warum schreien sie nicht?«

Ich sah, wie Lazar hilflos dastand und darauf wartete, bis sich ein Fangarm langsam um ihn schloß. Ich wollte schreien, aber Vater hielt mir die Hand vor den Mund.

Und dann redete Vater. Zum erstenmal.

»Rokam«, sagte er leise, »ich muß der werden, der ich bin. Du mußt allein weiterlaufen. Ohne anzuhalten. Ohne dich umzuschauen.« Er nahm die Hand von meinem Mund. Aber ich war zu sehr überrascht, um etwas sagen zu können.

Vater drückte mich fest an sich. »Ich muß der werden, der ich bin«, wiederholte er. »Die Felin sind gut zu uns gewesen. Ich kann nicht zulassen, daß ihnen das widerfährt.«

Dann schob er mich weg.

Und ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und lief hinaus auf die Ebene, hinaus in das giftige Licht und hinein zwischen Netze und Fangarme.

Während des Laufens streifte er zuerst die eine und dann die andere Hand ab.

Sie fielen wie Handschuhe hinter ihm zu Boden.

Er kam zu dem Fangarm, der gerade dabei war, Lazar und zwei andere hochzuhieven.

Und plötzlich sah ich, daß Blitze aus seinen Handgelenken schossen. Blitze, die die Fangarme zerfetzten, sie in Stücke rissen.

Lazar und die beiden andern fielen zu Boden.

Aber Vater kümmerte sich nicht darum. Er lief weiter. Schoß neue Blitze. Verbrannte zwei Netze. Befreite fünf andere Felin. Stürmte weiter.

Jetzt bemerkten die Metallvögel, was geschah. Auch aus ihnen schossen Blitze. Aber Vater war flink und in ständiger Bewegung. Wich tanzend dem Funkenregen aus.

»Lazar«, rief ich. »Hierher!«

Aber er lag immer noch besinnungslos am Boden. Und ich hatte zuviel Angst. Wagte es nicht, zu ihm zu laufen.

Vater gelang es, dreißig Felin zu befreien, bevor die Metallvögel ihn endlich trafen. Einer von ihren Blitzen schlug in seinen Rükken. Ich sah, wie er wankte und fiel. Ich sah, wie er die Arme zum Himmel erhob und Serien von Blitzen auf den direkt über ihm hängenden Metallvogel schoß. Ich hörte einen Knall. Ich sah Rauch und Dampf aufsteigen.

Aber dann trafen sie ihn wieder.

Ich sah, wie er sich wand und wegrollte.

Und dann starb er.

Oder ... er fiel auseinander.

Mit einem lauten, fauchenden Ton.

Ich schlug die Hände vor das Gesicht.

Als ich wieder aufsah, waren die Metallvögel verschwunden.

Das Licht war gelöscht. Die Welt war wieder grau.

Lazar und drei andere Felin torkelten auf mich zu.

Ich beachtete sie nicht. Lief an ihnen vorbei, hin zu Vater. Weinte und stolperte.

Er lag auf der Seite.

Den Kopf halb geöffnet.

Ein Netz von feinen, vielfarbigen Fäden hing heraus. Aus seinen Armen starrten schmale, blanke Rohre.

An zwei Stellen seiner Brust waren Löcher eingebrannt.

Aber kein Tropfen Blut.

Damals hatte ich kein Wort für so ein Wesen. Heute weiß ich, daß er eine Maschine war. Ich fühlte nur eine unendliche Trauer und eine unendliche Wut.

Ich begrub ihn.

Ich hätte gerne auch die andern begraben, aber es waren zu viele.

Als ich zurück zu dem Waldstück kam, erwarteten mich die Hunde.

Ich weiß, daß es draußen bald das wird, was wir Tag nennen. Ameri wird am östlichen Horizont verschwinden, Usla wird im Westen aufsteigen.

Falls der Mond – wenn er voll ist – ein Schädel ist (was viele glauben), entsprächen Ameri und Usla den zwei Augen. Das eine blau, das andere rot.

Zwei Augen haben die Götter eingesetzt, um am Himmel zu wandern, pflegte Mirja zu sagen. Damit nichts im Verborgenen bleiben sollte. Und um uns zu helfen, Rechenschaft ablegen zu können über die Zeit und unser Leben. Wir nennen sie »Nacht« – die Zeit, die Ameri, blau wie der Frost, von Horizont zu Horizont benötigt. Und Uslas Wanderung nennen wir »Tag«.

Wir fürchten die Worte. Selbst wenn sie kleine Buchstaben haben.

Viele benutzen einfach andere Namen.

Die Hunde nennen die Zeit, in der sie wach sind, Pe. Und die Zeit, in der sie schlafen, nennen sie Mi.

Von allen, die in der Zone der Dämmerung leben, wagen es nur die Felin, die alten Namen zu benutzen. Selbst wenn sie ohne wirkliche Bedeutung sind.

Aber wir sind ein Volk ohne Wohnorte, ohne Tempel und Festungen. Wir sind nicht seßhaft. Wir sammeln nicht. Wir umgeben uns nicht mit all dem, was andere für notwendig erachten oder worauf sie stolz sind.

Wir wandern.

Deshalb bedeuten Worte und Märchen mehr für uns als für die andern.

Man kann sie leicht bei sich tragen.

Und sie verbinden uns miteinander.

Sie machen uns zu Felin.

Deshalb rütteln wir nie an unseren Erinnerungen.

Und wenn wir etwas nicht verstehen oder keinen Sinn darin sehen, tragen wir es mit uns wie ein zerbrechliches Ei. Denn wir leben in dem Glauben, daß es sich dabei um etwas Altes handelt, das Anspruch auf besonderen Respekt hat.

Deshalb sagen wir Tag und Nacht. Und schlucken die Angst vor den Wörtern hinunter.

Ich weiß, daß es viele gibt, die über uns den Kopf schütteln.

Aber so sind die Wege der Felin.

Die alte Mirja kommt mir wieder in den Sinn. Sie lehrte uns, die Augen des Gottes zu grüßen. So wie ich es bis heute tue.

Aber ich glaube nicht mehr an ihre Götter.

Heute kenne ich andere und bessere Erklärungen.

Damals war ich einfach von überschwenglicher Bewunderung über die Klugheit und Gnade des Gottes. Wenn es Ameri und Usla nicht geben würde, wie könnten wir dann die Zeit messen? sagte Mirja. Mit dem Bauch vielleicht, wie sie es in Rims und Vedestra tun?

Sie kannte die Ratten nicht.

Ich habe sie gesehen. Ich habe gesehen, wie sie die Zeit an das Handgelenk binden. Wie es tickt und schlägt in den großen, unterirdischen Höhlen. Wie sie ihr eigenes Licht hervorbringen.

Und die Götter überflüssig machen.

So liege ich da und lasse die Gedanken wandern. Lasse sie hüpfen und springen.

Denn es gibt Bilder, die ich am liebsten loswerden will ...

Tanith kriecht näher zu mir. »Du bist keine ... Maschine«, sagt sie. »Ich habe dein Blut gesehen. Schon öfter.«

Ich küsse sie auf die Nase.

»Und deine Hände sind warm«, sagt Tanith und legt eine meiner Hände auf ihren Schenkel.

Ich streichle sie behutsam.

Spüre, daß wir Lust aufeinander haben.

»Mein Kätzchen«, sage ich. Und Tanith streckt sich, windet sich – und schlägt ungeduldig mit dem Schwanz.

»Rokam«, sagt sie. »Ich will nur dich haben, es gibt keinen andern. Jetzt nicht mehr.«

Und ich glaube ihr. Gerade jetzt glaube ich ihr.

Als ich in sie eindringe, miauen wir beide leise.

Und Tanith lacht.

*

Sie nennen sich nicht Hunde. Sie nennen sich Kaan. Sie behaupten, sie seien Menschen.

Sie fragten mich, warum ich mit Katzen wandere. Sie fragten mich, warum ich keinen Schwanz hätte.

Sie fragten nach so vielem.

Am meisten fragten sie nach Vater.

Natürlich verstand ich ihre Sprache nicht. Ich lernte zwar einige Wörter. Genug, um zurechtzukommen.

Das ist lange her.

Aber ich erinnere mich, daß der Hund, der ständig versuchte, mich auszufragen, Felin sprach. Es war ein großer Hund. Mit vorstehendem Unterkiefer und kleinen, stechenden Augen. Aber er war freundlich. Auf seine Weise.

Auch nachher habe ich mich nicht bemüht, zu lernen.

Die Sprache der großen Ratten dagegen ...

Sie behandelten mich gut.

Aber ich vergaß nie, daß ich Gefangener war.

Was soll ich von den Kaan berichten? Was unterscheidet sie von den Felin?

Sie leben im großen und ganzen wie wir.

Aber sie streifen nicht so viel umher.

Sie wohnen in Höhlen.

Sie spielen weniger. Sie tanzen nicht.

Sie reden oft von Verantwortung. Von Pflicht. Davon, wie notwendig sie sind. Wie wichtig es ist, daß es die Kaan gibt ...

Sie glauben an andere Götter als wir.

Sie sind kinderlieb. Aber für die Alten fehlt ihnen jede Barmherzigkeit.

Wir helfen unseren Alten, wir nennen das Alter »wieder wie Kinder werden«, und wenn ein Felin sterben muß, darf er fortwandern und sich einen Ort, wo er für sich sein kann, suchen. Wir verabschieden ihn. Wir küssen ihn. Und wir erweisen ihm unsere Achtung, indem wir seine Spur für andere verwischen.

Bei den Kaan ist das anders.

Der Sterbende darf sich nicht verbergen, sondern stirbt vor allen Stammesmitgliedern, die im Kreis um ihn sitzen und warten. Schweigend. Und sobald er tot ist, werfen sie sich auf ihn. Verspeisen ihn. Genüßlich und gierig. Auf uns wirkt das abstoßend und befremdend. Aber die Kaan glauben, daß sie auf diese Weise Anteil nehmen an ihm. Daß so – und nur so – der Tote weiter unter ihnen leben wird.

Ich weiß nicht, warum sie so denken.

Es muß etwas mit ihren Göttern zu tun haben.

Die Götter der Kaan sind streng. Und sie sind weit weg.

Mehr kann man über sie kaum berichten.

Die Kaan stellen keine Fragen. Erzählen selten Märchen. Zeigen keine Bilder mit Feuer und Schatten.

Die Kaan gehorchen.

Und warten darauf, daß die Götter wiederkommen werden.

Sie tragen Halsbänder. Zum Zeichen der Treue und Unterwerfung.

Die Kaan glauben, daß die Metallvögel Abgesandte der Götter sind. Und daß es ihre Pflicht ist, ihnen zu helfen.

Ich fragte, woher sie wüßten, wann und wo die Metallvögel erscheinen.

Sie schüttelten den Kopf und antworteten: »Wir wissen es.«

Ich fragte, warum sie so überzeugt davon sind, daß die Metallvögel nicht auch sie angreifen würden.

Sie schüttelten den Kopf und antworteten: »Wir wissen es.«

Für all dies sollte ich später eine Erklärung bekommen.

Vorerst mußte ich mich damit begnügen, mich zu wundern.

Und ich konnte auch nicht umhin, an unsere Märchen zu denken, leicht und schwirrend wie Insekten, doch nie mit Stachel.

Ich mußte arbeiten. Ich sammelte Holz für das Feuer. Aber auch bei den Hunden wurde ich wie ein Kind behandelt. Es wurde nicht sehr viel von mir verlangt.

Ich wunderte mich oft darüber, warum sie mich am Leben ließen. Nicht, daß ich täglich daran dachte. Und es raubte mir nicht den Schlaf. Denn ich begriff bald, daß sie nicht beabsichtigten, mir zu schaden. Und einige von ihnen waren richtig freundlich. Aber ich wunderte mich. Die Kaan machen keine Gefangene. Sie töten einen Gegner. Ohne zu zögern.

Ich hatte den Eindruck, daß ich sie unsicher und ratlos machte.