Mond der Kindheit - Tor Åge Bringsværd - E-Book

Mond der Kindheit E-Book

Tor Åge Bringsværd

4,8

Beschreibung

In den Dünen inmitten einer Oase in der Wüste Gobi sitzt ein alter Mann und erinnert sich an seine Kindheit. Als Teil des Kinderkreuzzugs zog er als Junge von Köln nach Israel um von dort aus weiter durch die Welt zu ziehen. Seine Reise bringt ihn schliesslich in die Mongolei, von wo er als Gefangener des Dschingis Kahn in die Wüste Gobi floh. Die Schilderungen des Protagonisten sind fiebernd und sprunghaft – wie es auch reale Gedanken sind – was dem Buch Realitätsnähe verleiht. In einer faszinierenden Bildsprache vermittelt der Autor geschichtliche Fakten, philosophische Weltkonzepte und eine märchenhafte Geschichte. Ein gelungener Roman, der durch die facettenreiche Darstellung einer sagenhaften Welt überzeugt.

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Tor Åge Bringsværd

Mond der Kindheit

Roman

Aus dem Norwegischen von Lothar Schneider

Saga

Mond der Kindheit

Als ich ein Kind war, schien der Mond mir rundes Gold,

Das wie ein Spiegel leicht am Rand der Wolken rollt.

Drin zogen Geister groß mit Seidenfahnen,

Zimtbäume ließen Süßigkeiten ahnen,

Der gelbe Hase braute treffliche Getränke,

Der Mann im Mond saß bei ihm in der Schenke –

Bis einst der Drache Mond und Mann verschlang

Und Nacht wie dunkle Trauer niedersank.

Neun schlimme Vögel sind dabei, die Sterne aufzupicken.

Die Götter lagern traurig auf den Wolken, nicken

Und wiegen sich in sturmgepeitschten Böten.

Wer wird die schlimmen Vögel töten? –

Doch wenn der Mond von Nacht zu Nacht entschwand

Und endlich nur als schmaler Strich am Himmel stand,

War er ein Dolch, den ich mir in die Seite stieß,

Weil mich die Angst um dieses Leben nicht verließ.

Li Taibo (701–726 n. Chr.)(Nachdichtung: Klabund)

I

Ich weiß, daß ich mit den Händen rede, nicht mit dem Mund. Und daß du mit den Augen zuhörst, nicht mit den Ohren. Doch für mich ist das gesprochene Wort immer am wichtigsten gewesen. Ich weiß nicht, ob Tusche und Seide genügen. Ich weiß nicht, ob ich die Menschen dazu bringen kann, über Buchstaben zu lachen und zu weinen. Deshalb sage ich lieber: Hörst du, daß ich dir etwas zuflüstere? Denn du hast das Siegel erbrochen, hast den Deckel zur Seite geschoben ... Und ich habe meine Stimme auf dem Boden dieses Tonkruges versteckt.

Kann ich es so sagen?

Ja.

Zum erstenmal seit langem kann ich sagen, was ich will.

Dschingis Khan fragte einmal seine Offiziere: »Was auf der Welt vermag einem Mann größten Genuß und höchstes Glück zu geben?«

Sie antworteten ihm: »Die weite Steppe, ein klarer Tag, ein schnelles Pferd unter sich.« Und nach kurzer Besinnung: »Und ein Falke auf der Hand, um Hasen aufzuschrecken.«

II

Was wirklich geschah, geriet in Vergessenheit.

Denn als die Trauer zu einer Scham wurde, die mitzuteilen keiner mehr für nötig fand, dachten sich die Menschen eine andere Geschichte aus.

Wie lange dauert es, um aus einem Mönch einen Rattenfänger zu machen? Wie viele Jahre sind erforderlich, damit aus einer hohen, kreischenden Stimme Flötentöne werden?

Ich habe gehört, wie man mein eigenes Schicksal erzählte. Als eine Lüge. Schon zur Sage verzerrt.

Aber ich tadle niemanden.

Auch ich lasse meine Zunge gerne Abkürzungen nehmen. Übertreiben. Bilder und Gleichnisse benutzen. Wie hätte ich sonst Schauspieler werden können? Und wenn sich die Gedanken nicht jedesmal, wenn ich mich näherte, im Dornengestrüpp verheddert hätten ... wer weiß ... vielleicht wäre auch ich in Versuchung geführt worden ... ein Maskenspiel aufzuführen ... aus der Geschichte der Stadt, die so furchtbar von Ratten heimgesucht war, eine Posse zu machen ... mit lauten Schreien und grotesken Gebärden? Ich sehe die Möglichkeiten. Hätte Mika noch gelebt, wir hätten sie zusammen machen können. Für uns zwei wäre das ein leichtes gewesen. Wir hätten Menschen spielen können, verdreckte und abgerissene, reiche und satte – und wir hätten zeigen können, wie die Angst sie langsam und flüsternd fesselt, unsichtbare Fäden, die zu Tauen und starken Trossen werden ... bis die ganze Stadt ein einziger heulender Knoten aus Angst ist. Denn die Ratten sind überall. Kratzen an Fußböden und Wänden, huschen unter den Matratzen hervor, nagen in jedem Vorratskeller, treiben halbtot im Brunnenwasser. Und wir wären ohne Puppen und ohne kleine, graue Lederreste zurechtgekommen ... wir hätten uns mit raschen Blicken, Pfeiflauten und erschreckten Zeigefingern begnügt ... trotzdem hätten alle sie gesehen, deutlicher, als wären sie wirklich da, größer, gefährlicher und ekliger. Denn so hat der Herr unser inneres Auge geschaffen, pflegte Mika zu sagen. Ohne dieses Auge kann man kein Theater machen, und erst wenn es aussetzt, sind wir wirklich blind ... Unsere Ratten sollten tanzen, pfeifen und die Zähne fletschen – und der Platz, wo wir standen, sollte sich langsam in den Marktplatz von Hameln verwandeln ... in jenes Reich der Deutschen, das mir heute ebenso fern und unerreichbar erscheint wie der Mond. Ich weiß, daß die Bilder, die ich mit mir herumtrage, nie etwas anderes als Scherben waren. Trotzdem werde ich mich niemals zurücksehnen. Und im Theaterspiel könnte ich dort sein, die rote Maske aufsetzen und Bürgermeister sein, schlau und hinterlistig. Und Mika könnte die Menge der Stadtbewohner sein, die schrien, weinten, fluchten und an die Rathaustür hämmerten. Denn war ich nicht der Verantwortliche? War ich nicht der Bürgermeister? War es nicht meine Pflicht, dafür zu sorgen, daß diese Bedrohung des Schwarzen Todes beseitigt wurde? Aber nichts half. Bis eines Tages ... und ich sehe Mika im schwarzen Umhang mit dem roten Futter, den hohen Stiefeln und der Feder am Hut ... bis eines Tages der Rattenfänger in die Stadt kommt. Er verspricht, uns von der Plage zu befreien. Wir handeln einen Preis aus. Einen zu hohen Preis. Aber wenn die Ratten nicht verschwinden, wer weiß, ob ich wiedergewählt werde, und außerdem: Wer sagt denn, daß ich bezahlen muß? Sind die Ratten weg, dann sind sie weg, und alles, was danach passiert, ist eine andere Geschichte. Ich reibe mir die Hände. Ich lüpfe die Maske und schneide vertrauliche Grimassen zum Publikum. Ich berufe den Stadtrat ein – eine Puppe in jeder Hand – und ziehe seine Mitglieder ins Vertrauen. Sie fallen mir um den Hals und jubeln. Dann lassen wir die Bühne dunkel werden, heben einen Mond und zwei Sterne hoch, zeigen mit Handbewegungen, daß die Stadt schläft – und daß manche auch andere Dinge treiben (ein grober Spaß, der nie oft genug wiederholt werden kann – und die, die gerade erst gekommen sind oder zu besoffen, um der Handlung zu folgen, sollen auch ihren Spaß haben). Psst! Still! Hören wir da nicht eine Flöte? Was für eine merkwürdige Melodie? Und der Rattenfänger ... sieht er jetzt nicht anders aus? Im Schein des flachen Papiermondes, den wir vor uns befestigt haben, im Licht der Sterne, die zu halten ich einen Zuschauer gebeten habe. Der Rattenfänger geht durch die Gassen von Hameln, wandert langsam von Haus zu Haus ... das Gesicht ist eine weiße Maske und die Flöte, auf der er spielt, eine Knochenpfeife, glatt und gelblich. Der Rattenfänger spielt ... und aus Löchern und Spalten quellen sie heraus, die fetten Biester, wimmeln über das Kopfsteinpflaster, folgen ihm zahm und willenlos wie Schlafwandler. Und der Rattenfänger spielt ... spielt sie hinaus aus der Stadt, über die Felder, durch einen Wald, weit weg und hin zu einem Fluß ... spielt, bis jede einzelne von ihnen tot und ertrunken ist. Wenn ich den Mond umdrehe und zeige, daß die Sonne lächelnd aufgegangen ist ... wenn die Stadt erwacht ... sind alle froh und glücklich. Wir tanzen, rufen, schlagen die Trommel, versuchen, das Publikum mitzureißen. Und der Bürgermeister wird als Retter der Stadt gefeiert. Mitten unter dem Fest kehrt der Rattenfänger zurück. Er will wie abgemacht seinen Lohn haben. Aber wir weigern uns ... lachen ihn aus ... alle Bürger von Hameln ... wir torkeln herum ... wir legen ihm nahe, zu verschwinden, was er eigentlich wolle ... die Ratten haben uns verlassen, wir brauchen ihn nicht mehr ... wir kehren ihm den Rücken zu, wir treten nach ihm, wir jagen ihn fort. Und das Fest geht weiter. Bis jeder genug hat und mehr, als er verträgt, bis die Stadt sinnlos betrunken ihren Rausch ausschläft. Und jetzt ... jetzt kehrt der Rattenfänger zurück ... er hat gewartet ... er hat uns fürchterliche Rache geschworen ... jetzt setzt er die Knochenpfeife an die Lippen ... noch einmal wandert er durch die Gassen von Hameln ... ohne Hut, aber mit Haaren wie ein Vogelnest ... mit umgedrehtem Mantel ... mit Augen, die wie Kohlen glühen ... und spielt, spielt auf seiner verzauberten Flöte. Und diesmal sind es nicht die Ratten, die ihm folgen ... Die Erwachsenen schlafen, schnarchen, rülpsen ... aber die Kinder erwachen ... verwundert, voller Freude ... jedes Kind von Hameln wird von der Flöte geweckt ... und alle, die groß genug sind, gehen zu können, verlassen ihre warmen Betten und tappen hinaus auf die Gasse ... schauen sich an, aber sagen kein Wort ... lachen, aber ohne einen Laut ... scharen sich um den Rattenfänger, huschen durch die Gassen, steigen über schlafende Eltern und Großeltern ... formieren sich in Reih und Glied wie gehorsame Soldaten ... marschieren aus der Stadt ... weiter und immer weiter ... folgen der Flöte und dem, der spielt.

All dies hätten wir vorführen können, Mika und ich. Wenn das Dornengestrüpp nicht gewesen wäre ...

Wer weiß. Vielleicht wird die Sage weiterleben. Wird neue Schößlinge und Blüten treiben. Ich glaube aber: Die Kinder werden weiterhin Kinder bleiben. Egal, wie die Geschichte erzählt wird. Gleichgültig, wie viele Schalen sich bilden.

Und sie werden für immer verloren sein.

Nicht nur in Hameln, auch in Hunderten anderer deutscher und französischer Städte.

Yelü Chucai sagte einmal zu mir: »Wenn deine Tuschfeder an einer Seite abgenutzter ist als an der andern, ist das ein Hinweis, daß sich dein Herz nicht im Gleichgewicht befindet.«

Aber wie kann ich ruhig denken, wie soll ich im Herzen gefühllos bleiben?

Ich war eines von ihnen.

Außerdem: Seit ich mich erinnere, habe ich Schwierigkeiten mit den vier Körpersäften gehabt. Die Arzte meinen, das hänge mit Leber und Milz zusammen. Oft produziere die Leber zuviel gelbe Galle, erklären sie mir. Der Körper wird heiß und trocken, im Gemüt entsteht ein Übergewicht von Feuer und Erde – und ich werde hitzig und hochfahrend. Ein paar Tage später kann das umgekehrt sein. Da macht die Milz plötzlich nicht mehr mit, und ich habe zu viel von der schwarzen Galle. Das Gemüt wird von Luft und Erde erfüllt, und ich verfalle beim geringsten Anlaß in Trauer und Melancholie. Ich kämpfe gegen diese Stimmungsschwankungen an, so gut ich kann. Solange es möglich ist. Aber jeder hat sein Leiden. Das ist meines.

Ich bin um den See herumgegangen. Langsam und allein. Ich habe den Sand in die Hände genommen, habe ihn durch die Finger rieseln lassen. Anscheinend grau und leblos, doch bei näherem Hinsehen ... durchsetzt mit winzigen, vielfarbigen Quarzteilchen. Blau, grün, rot, purpur, weiß. Und ich überlegte: Möglicherweise ist es gar nicht so, daß wir Menschen die Symbole schaffen ... möglicherweise finden die Symbole uns.

Ich war acht Jahre, als ich dem Ruf folgte. Als ich mich von Rattenfängern und Wirrköpfen locken ließ.

Wir nannten es Kinderkreuzzug.

Beim Weitergehen dachte ich an Mika. Er hat mir beigebracht, Masken anzufertigen, und er hat mir gezeigt, wie ich vier Bälle auf einmal in der Luft halten kann.

Vorführungen und Kostüme kannte ich fast nur von den großen kirchlichen Feiern. Aber Mika stammte aus Nikäa. In ihm lebte das Erbe der griechischen Komödien und die Erinnerung an die großen Pantomimen im Hippodrom Konstantinopels. In ihm sprudelte eine von Zauberern, Tierbändigern, Taschenspielern und fahrenden Gauklern geprägte Tradition.

Ich dachte an Mika – und ich fand Trost darin, einige Handvoll Sand gegen den Wind zu werfen.

Ich weiß, daß mich der Priester und seine zwei Helfer beobachten. Ich weiß, daß sie verwundert sind.

Ich bin jetzt beinahe drei Wochen hier. Noch habe ich mich ihnen nicht geöffnet.

Ich will nicht einmal wissen, wie sie heißen.

Mir liegt nichts daran, neue Namen zu lernen.

Ich will meinen Frieden.

Der Priester ist alt. Hat einen Kopf wie ein verhutzelter Apfel. Arme und Beine wirken unglaublich dünn. Trotzdem vermittelt seine Gestalt den Eindruck von Stärke und Zähigkeit. Er ist wie ein genügsamer, vom Wind zerzauster Wüstenbusch.

Der ältere der beiden Gehilfen ist ein Junge von fünfzehn oder sechzehn Jahren. Vorher war er Schafhirte. Das muß sehr schwierig für ihn gewesen sein. Er hat einen Klumpfuß und hinkt mit jedem Muskel seines Körpers. Er legt eine enorme Hingabe für den Priester an den Tag, genießt dabei offensichtlich das Prestige, das er in seiner Stellung als Tempeldiener zu haben meint.

Der jüngere ist ein taubstummes Kind. Er kümmert sich um alle kleineren Aufgaben. Jeden Tag sehe ich ihn unten am Strand, wie er mit einem Korb über dem Arm Brennholz für die Küche sucht.

Gemeinsam halten die drei alles in Ordnung, haben einige Reihen Kohl angepflanzt, verrichten den täglichen Tempeldienst, läuten zu festen Zeiten die Glocken, verbrennen Weihrauch und halten verschiedene Zeremonien ab. Sie begrüßen die Pilger und kümmern sich um jeden einzelnen.

Gastfreundschaft ist ein ungeschriebenes Gesetz. Ich begreife nicht, wie das auf Dauer gutgehen kann. Im Moment bin ich der einzige Gast. Aber vorige Woche waren noch vier weitere Pilger hier. Zwar bringen alle Gäste Nahrungsmittel für den gemeinsamen Vorrat mit, aber trotzdem ...

Ich bin zur Südseite zurückgekehrt. Hier stehen die drei kleinen Gebäude. Der Tempel, das Haus, in dem wir essen und uns versammeln, das Haus, in dem wir schlafen. Das Ganze ist eng zusammen auf Terrassen gebaut, mit einer Treppe, die hinunter zum Wasser führt. Ich habe die Sandalen ausgezogen. Ich sitze dort, wo der See an die unteren Stufen leckt.

Die Luft ist schwer von dem Geruch der kleinen Jujube-Bäume. Versteckt zwischen den Silberblättern hängen goldene Blütentrauben.

Es ist Frühsommer.

Nur das eine: Ich bin nicht aus Hameln. Ich komme aus Godesberg. Aber alle Schauspieler lügen. Wenn das der Rolle nützt.

III

Ich kann sie sehen. Undeutlich. Wie durch einen Schleier. Ich weiß, daß sie meine Mutter und mein Vater sind. Aber ich empfinde nichts für sie. Nicht jetzt. Und ich glaube ... damals auch nicht. Wir waren zu viele Geschwister. Die meisten von uns unerwünscht. Auch hier sind die Gesichter verwischt für mich. Oder aufgelöst in Splitter. Und willkürlich zusammengesetzt. Weshalb ich nie sicher sein kann, ob Augen und Haare vom selben Gesicht stammen. Vater starb, als ich fünf war. Und die Mutter hatte andere, um die sie sich mehr kümmerte. Meinte ich damals. Heute vermute ich, sie hat es wegen des Geldes getan. Das wir weiß Gott nötig hatten.

Mehr gibt es nicht zu sagen.

Mehr brauchst du nicht zu erfahren.

Ich habe dich aufgefordert, zuzuhören. Ich brauche keinen Beichtvater. Nie. Nie mehr.

Wir wußten, daß das Böse in der Welt war. Wir wußten, daß es nur schlimmer werden würde. Denn so stand es geschrieben. Das Böse müsse herrschen. Und erst dann ... wenn alles niedergebrannt war ... würde das Tausendjährige Reich kommen.

Aber konnte es schlimmer werden, als es bereits war?

Ich wurde in einem Europa geboren, in dem alle darauf warteten, daß der Himmel aufriß und die Engel des Herrn sich in den Wolken zeigten.

Ich kannte natürlich nicht die großen Zusammenhänge. Die erfuhr ich später. Ich wußte damals nicht, daß Frankreich gerade die Normandie erobert hatte und sich anschickte, nach England zu ziehen, wo Johann Ohneland gegen die Bischöfe und Barone kämpfte und die Kirchenglocken tausend Tage lang stumm geblieben waren. Ich wußte nicht, daß sich christliche Heere in Spanien sammelten, um die Almohaden zurückzuschlagen. Ich hatte keine Ahnung vom Kampf um den Thron im Heiligen Römischen Reich – das Gezänk zwischen Otto IV. und Friedrich II. Ich hatte nie den Namen Albigenser gehört. Ich wußte nur, daß der Papst – unser Heiliger Vater – Tag für Tag Ketzer und Juden verdammte. Und daß er Nacht für Nacht auf den Knien lag und verzweifelt darum betete, daß Jerusalem befreit werden möge.

Ich war ein Kind.

Ich wußte nur, daß wir in einem Jammertal lebten, heimgesucht von Hunger, Krieg und Pest.

Ich wußte, daß überall die Zeichen waren. Daß die Kometen wie Drachen am Himmel flogen. Daß Tote aus den Gräbern auferstanden. Daß Menschen mit Schweineköpfen geboren wurden. Und daß es in Hamburg Frösche regnete.

Man schrieb das Jahr 1212.

Ich wußte, daß wir in einer Endzeit lebten.

Aber ich hatte eine glückliche Kindheit. Das muß man mir glauben. Ich habe Kinder gesehen – woanders –, die zwischen verwesenden Leichen Verstecken spielten. Ich habe sie gesehen – halb verhungert –, wie sie Murmeln spielten vor Mauern, die einmal ein Heim umgeben hatten und nun nur noch rauchende Trümmer waren. Ich habe bei einem alten Märchen oder beim Grimassenschneiden apathische Gesichter wie einen Sternenhimmel aufleuchten sehen. Ich bin oft vor Kindern aufgetreten. Es braucht nicht viel, sie zu fangen. Ich habe Berufskollegen sagen hören, Kinder seien das anspruchsvollste Publikum. Meine Erfahrung ist gegenteilig. Sie sind leicht zu verführen. Eine spannende Verfolgung, ein paar einfache Fakten – und sie sind gebannt wie eine Motte im Licht. Es soll schwierig sein, Kinder zu betrügen? Ich hatte eine glückliche Kindheit. Zweifellos. Ich hatte zweifellos eine glückliche Kindheit. Denn Kinder sind sehr gewitzt, wenn es darum geht, einen Lichtblick zu entdecken. Im Verhältnis zur Körpergröße haben sie mehr Blut als Erwachsene. Es ist heiß und strömt schnell, besteht hauptsächlich aus Feuer und Wasser. Deshalb sind Kinder lebendiger und optimistischer als wir andern. Mitten im Elend.

Ich sprach einmal mit Yelü Chucai darüber. Ich stand ihm nicht besonders nahe. Und trotzdem ... das wird mir jetzt klar ... ich glaube, wir konnten über fast alles miteinander reden. Nie tagsüber. Da war ich nur einer von vielen. Aber wenn er nicht schlafen konnte, kam es vor, daß er einen Boten nach mir schickte. Er wollte immer, daß ich mein Gesicht geschminkt hatte oder eine Maske trug. Er sagte, er könne dann besser zuhören ... Während dieser nächtlichen Gespräche gingen wir gewöhnlich ein Stück, jedesmal den gleichen Weg. Hinaus durch die östlichen Stadttore, die auf sein geliebtes Cathay wiesen – die Heimat, die er verließ, um sich Dschingis Khan und der Goldenen Horde anzuschließen. Ich erinnere mich an seine Stimme. Leise und klar. Und jeder Satz genauso sauber gedreht wie der Krug eines Töpfers. Wir gingen allein unter den Sternen. Während die Häuser um uns langsam zu Erdhütten wurden und die großen Jurten zu kleinen, schmutzigen Zelten schrumpften. Ich glaube, er fühlte sich frei genug, zu sagen, was er wollte. Und ich weiß, daß er von mir dasselbe glaubte. Aber ich habe vielen Herren gedient. Ich weiß, daß bei Tageslicht vieles anders aussieht. Und ich habe mir nicht nur angewöhnt, meine Zunge zu hüten, ich achte auch ängstlich darauf, was ich meinen Ohren zu hören erlauben kann. Denn was ein Herr seinem Diener vertraulich oder im Rausch sagt, kann den Diener am nächsten Tag den Kopf kosten. Ich weiß, daß Yelü Chucai über solche Dinge erhaben war. Ich weiß, daß er meine Vorsicht nicht verdiente. Doch wer einmal eine Maus gewesen ist, sieht auch an der ausgestreckten Hand Katzenklauen. Meine Aufgabe war, ihn zu zerstreuen. Seine Gedanken abzulenken von den unangenehmen Pflichten. Ihm Bilder zu geben, die ihn zum Staunen brachten. So blieb ich in der Rolle. Versuchte, zu steuern, so gut es ging. Übertrieb nie. Aber obwohl ich es nicht wagte, völlig ich selbst zu sein ... der Ernsthaftigkeit unserer Gespräche tat das keinen Abbruch. Denn auch innerhalb einer solchen Rolle besteht eine gewisse Freiheit. Und ich weiß ... wir hatten beide Freude an unserem Zusammensein. Aber ich will mich nicht wichtiger machen, als ich war. Das geschah nicht sehr oft. Vielleicht ein- oder zweimal im Monat. Daß wir so wanderten ... nächtens und allein ... durch das Karakorum der Mongolen. Den Nabel dieses Monstrums von einem Staat, an dessen Geburt er selbst beteiligt war. Den er jetzt mit seinem Herzblut säugte. Ein neugeborenes Weltreich, so groß, daß ein Mensch zwei Jahre benötigte, um von einer Grenze zur anderen zu gehen. Ich musterte den kleinen Chinesen neben mir. Auch er war ein Fremder. Nur der Khagan war mächtiger als mein Herr Yelü Chucai. Und was dachte er über mich? Was las er in meinem weiß geschminkten Gesicht? Fühlte er sich wegen mir weniger fremd? Weil meine Wurzeln noch weiter von dieser verblasenen Steppe entfernt lagen als die seinen? War ich eine Art Freundschaftsersatz? Oder war ich nur ein exotisches Geschöpf vom Ende der Welt? Ich brachte ihn jedenfalls zum Lachen ... wenn ich ihm erzählte, was wir aßen, wie wir uns kleideten, wie wir saßen und wie wir schliefen. Er wollte alles wissen, jede Kleinigkeit in den Bildern meiner Erinnerung. Ich merkte, daß es ihn oft verwirrte. Doch auf diese Verwirrung legte er Wert. Er sagte: »Dadurch bekomme ich neue Augen.« Und etwas später: »Wie reden die Hunde in deiner Sprache? Wie die Hähne?« Und wir kläfften und bellten uns an. Wir standen auf einem Bein und krähten, zuerst auf deutsche, dann auf chinesische Weise. Es waren helle Nächte ... Ich erinnere mich aber auch an die Nacht, in der ich die Bilder mit Schatten versah. Als ich nicht mehr über meine eigene Erniedrigung lachte. Ihm mißfiel es, daß ich nichts von meinen Eltern hielt. Daß mich die Blutsbande nicht stärker mit der Familie verknüpften. Für ihn war das so undenkbar wie ehrlos. Trotzdem verdammte er meine Haltung nicht. Sagte nur: »Ich sehe. Auch wenn es mir schwerfällt, mit deinen Augen zu sehen.« Wo die Häuser und Jurten endeten, blieben wir stehen – dort, wo wir immer umzukehren pflegten, bei der großen, sechs Meter langen Schildkröte aus Granit, die eine Säule auf dem Rücken trägt. Yelü Chucai liebte es, beide Hände auf den verzierten Panzer zu legen. Er konnte lange so stehen. Wortlos. In dieser Nacht wunderte er sich nur darüber, warum ich als Kind niemanden gehabt hatte, den ich liebte. Er sagte: »Kleine Hunde vergessen rasch. Sie lecken die Hand, die sie gerade noch geschlagen hat. Bis sie lernen zuzubeißen, vergeht einige Zeit.« Schließlich erzählte ich ihm von Regine, meiner ältesten Schwester, die starb, als ich sieben war. Regine war zwölf. Sie war groß und schlank und glich einem Jungen. Sie arbeitete bei einem Bäcker. Jede Nacht schlief sie in seinem Keller. Um Ratten und Mäuse vom Mehl fernzuhalten. Heute ist auch ihr Gesicht für mich verwischt. Am besten erinnere ich mich an ihre Schürzentaschen. In denen immer Kuchenkrümel waren. Ich glaube nicht, daß sie sich mehr um mich kümmerte als die andern. Aber zu Hause war es eng – und Regine freute sich über Gesellschaft. Sooft ich konnte, schlich ich mich nachts fort und hinunter zu ihr in den Keller. Sie brachte mir das Zahlenschreiben bei. Sie brachte mir bei, wie man zusammenzählt und abzieht. Ich kannte niemanden, der Lesen und Schreiben beherrschte ... Eines Nachts kam der Bäcker hinunter in den Keller. Ich versteckte mich. Er war betrunken und entdeckte mich nicht. Er suchte Regine. Ich wollte schreien, als er seinen schweren Körper auf sie wälzte. Doch Regine blieb ruhig liegen und bedeutete mir, den Mund zu halten. Er schlief ein, bevor er ihr etwas tun konnte. Danach wollte Regine nicht mehr, daß ich sie besuche. Und sie hörte auf, mit mir zu reden. Ich schaute Yelü Chucai an. Verzerrte den rot geschminkten Mund zu einem Grinsen. »Soll ich noch mehr erzählen? Ich hatte noch fünf Geschwister ...« Und ich nannte sie beim Namen: Carl, Oswald, Heinrich, Christine, Maria. Ich erzählte, daß ich zu schwach gewesen sei, um Bretter zu tragen, um beim Be- und Entladen der Schleppkähne zu helfen wie meine anderen Brüder. Daß ich nie so gut betteln konnte wie Christine und Maria, weil ich stotterte, und wenn überhaupt jemand die Tür öffnete, erschrak ich so, daß ich alles auf einmal hervorsprudelte und keiner verstand, was ich sagte. Ich fand es normal, daß mich die andern herumschubsten und mir meine Sachen klauten. Es schien so sein zu müssen, daß mich meine Brüder schlugen und traten. Denn ich hatte das Gefühl, zu nichts nütze zu sein. Nur ein hungriger Mund mehr zu sein. Und meine Brüder mußten sich oft mit den anderen Jungs wegen meiner Mutter prügeln. Sie wurden geneckt und mußten sich häßliche Wörter anhören. Und weil die andern immer mehr waren, mußten sie früh lernen, Prügel einzustecken. Wenn ich an sie denke, habe ich nicht ihre Gesichter vor mir, ich sehe nur Nasenbluten. Schürfwunden und geschwollene Lippen. Und da war es naheliegend, daß sie mich packten, wenn sie nach Hause kamen ... Mich, den Tagedieb, mich, den Einzelgänger ... mich, den Schlappschwanz. All das schilderte ich Yelü Chucai. Und ich erzählte auch, wie mich die Mutter einmal bat, dabei zu sein ... wie ich draußen warten mußte, im Schatten der Treppe ... bis sie mich rief ... und ich kam ins Zimmer zu ihnen, und Mutter sagte, ich solle mich ausziehen und mich zwischen sie legen ... weil der, bei dem sie war, es so wünschte. Und ich erinnere mich, daß sie weinte, und ich erinnere mich an meine eigenen, verwirrten Gefühle ... wie sich die Demütigung mischte mit der Freude, daß sie mich endlich brauchen konnte. Ich erinnere mich, daß ich versuchte, sie zu trösten. Daß ich alle beide trösten wollte. »Muß ich mehr erzählen?« Yelü Chucai schüttelte den Kopf. Strich mit der Hand über die große steinerne Schildkröte und starrte in die Dunkelheit. Einen Augenblick bereute ich es. Hatte ich zuviel gesagt? Und außerdem: Wie klein und unbedeutend mußte sich das für ihn anhören, verglichen mit dem Grauen, das er in einem langen Leben gesehen hatte ... oder besser: mit dem Grauen, das ich selbst gesehen – und erlebt hatte, später, als Erwachsener! Aber nach einer Weile schüttelte er wieder den Kopf – und ich kann immer noch den Schrecken in seiner Stimme hören, als er sagte: »Du hast keinen gekannt, der lesen und schreiben konnte?« Zuerst meinte ich, falsch gehört zu haben, aber er legte eine Hand auf meine Schulter und fuhr fort: »Du kommst weder aus der Wüste noch aus dem Gebirge. Du kommst aus einem Teil der Welt, wo man große Tempel und Paläste baut. Wo man wie die Esel schreit und sich wegen des Erreichten brüstet. Wo man überzeugt ist, vom einzig wahren Gott auserwählt zu sein. Und du behauptest, daß du keinen – überhaupt keinen – kanntest, der Lesen oder Schreiben beherrschte?« Für ihn war das das Schrecklichste von allem ...

Wir standen lange in dieser Nacht, die Hände auf die Schildkröte gelegt, und redeten über die hoffnungslose Torheit des Menschen.

Ich hatte eine weiße Maske aufgelegt, mit rotem Mund und schwarzen Labyrinthen auf beiden Wangen. Die Augen hatten blaue Schatten, und die Brauen zeigten schräg nach oben.

Du sollst wissen, Yelü Chucai, alter Fuchs und schlaue Eule – der du am Fuße des Wan Shen ruhst, jenes Berges, nach dem du dich immer sehntest –, du sollst wissen, daß du recht hattest. Ich sage das jetzt, zu dir und zum Wüstenwind und mit einer Tuschfeder, die jedes Wort einfängt und es für die Zukunft festhält: Du hattest recht. Ich war der kleine Hund, von dem du sprachst. Ich unterwarf mich, wedelte mit dem Schwanz ... leckte Hände, die mich schlugen ... machte Männchen, um ein bißchen Liebe zu erhaschen, gab Pfötchen für einige kalte Brocken Zuneigung. Und die anderen: Auch sie müssen etwas gefühlt haben. Ich weiß, daß du recht hast ... wenn ich alle versperrten Gemächer in meinem Kopf öffne, wenn ich ein Licht entzünde und damit in all die alten, verstaubten Winkel leuchte ... dann erkenne ich, daß du recht hast. Denn die Liebe hat viele verkrüppelte Gestalten. Und etwas muß dagewesen sein ... etwas war da. Sonst wären all diese Räume heute leer, nachdem ich mich endlich wieder hineinwage. Aber Schatten, Namen, Teile von Bildern, halb verwischte Gesichter, die Erinnerung an einen Geruch, ein entferntes Echo von Stimmen (nicht so sehr die Wörter, mehr der Klang) ... das ist da – alles. Und ich kann es betrachten, drehen und wenden, sogar das meiste verzeihen ... was meine Geschwister betrifft. Kann sie verstehen. Wenigstens den Versuch machen. Aber die Mutter will ich möglichst vergessen. Die Tür zu ihrem Gemach in meinem Kopf wird verschlossen bleiben. Und den Schlüssel habe ich weggeworfen. Denn es war nicht nur das eine Mal ... und ich mußte immer tun, was sie sagten, immer tun, was sie wollten. Ich glaube zwar, daß auch sie keine Wahl hatte. Daß alles notwendig war und der einzige Ausweg. Ursprünglich könnte sie es so gesehen haben. Daß es so für uns alle das Beste war. Trotzdem möge sie in der Hölle braten. In alle Ewigkeit.

Ich denke an die Schildkröte.