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Charlotte Pfeffer hat es faustdick hinter den Ohren: Sie führt ein richtiges Doppelleben. Als weißgestärkte »Dr. Anita Bach« steht sie täglich in der Seifenserie »Unsere kleine Klinik« des Privatsenders »Vier Minus« vor der Kamera. Aber ihr Privatleben sieht anders aus. Vernunftverheiratet mit dem grundsoliden, karrierebewußten Wirtschaftsprüfer Ernstbert, der außer den Zwillingen Ernie und Bert noch nichts Nennenswertes zur Ehe beigetragen hat, verzaubert sie in ihrer Freizeit nach Lust und Laune unschuldige Männer, sozusagen als Ausgleich gegen den Alltagsfrust. Der einzige, der auf ihre Zaubertricks nicht reinfällt, ist der phlegmatische Gatte. Hier muß Charlotte andere Geschütze auffahren...
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Seitenzahl: 719
Veröffentlichungsjahr: 2023
Hera Lind
Roman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Charlotte Pfeffer hat es faustdick hinter den Ohren: Sie führt ein richtiges Doppelleben. Als weißgestärkte »Dr. Anita Bach« steht sie täglich in der Seifenserie »Unsere kleine Klinik« des Privatsenders »Vier Minus« vor der Kamera. Aber ihr Privatleben sieht anders aus. Vernunftverheiratet mit dem grundsoliden, karrierebewußten Wirtschaftsprüfer Ernstbert, der außer den Zwillingen Ernie und Bert noch nichts Nennenswertes zur Ehe beigetragen hat, verzaubert sie in ihrer Freizeit nach Lust und Laune unschuldige Männer, sozusagen als Ausgleich gegen den Alltagsfrust. Der einzige, der auf ihre Zaubertricks nicht reinfällt, ist der phlegmatische Gatte. Hier muß Charlotte andere Geschütze auffahren...
Widmung
Hauptteil
Für meine zauberhaften Kinder Felix, Florian und Franziska und für Uli, meinen zauberhaften Mann
Nebenan fiel etwas zu Boden.
»Grete? Ist was passiert?« Ich hörte auf, vor dem Schlafzimmerspiegel den Bauch einzuziehen, und warf den verdammten engen Rock aufs Bett.
»Nichts! Die Schultüte ist umgekippt! Warum muss der Junge sie auch mit aufs Klo nehmen? Ich hab ihm AUSdrücklich gesagt, er soll sich die Hose mit BEIDEN Händen zumachen!« Mein kleiner Bert hockte auf der Brille und sah bedauernd auf die etwa dreißig Gummibärchen, die sich auf der Kloumrandung tummelten. Eine richtige kleine Schulklasse. Chaotisch und bunt. Fehlte nur noch ein dicker, schwitzender Gummibär am Kopfende, der »Hinsetzen!«, brüllte und einen pädagogisch wertvollen Vorschlag zur Gestaltung der restlichen Stunde machte.
»Die sammeln wir wieder auf«, sagte ich fröhlich und ging in die Hocke, um die klebrigen Zuckertiere wieder in ihre hübsche, selbstgebastelte, umweltfreundliche Schultüte zurückzuschaufeln.
»Bert«, sagte ich liebevoll zu meinem kackenden Buben, »bist du aufgeregt?«
»Nö«, sagte Bert. »Wiesodn?«
»Weil heute dein erster Schultag ist«, antwortete ich mit pädagogisch einfühlsamer Stimme.
»Na und«, sagte Bert verächtlich. Er steckte seinen runden Hitzepöckchenarm in die Schultüte und grub in ihr herum, um ihr eine Lakritzschnecke zu entnehmen. Betont lässig stopfte er sie sich in den Mund.
»NICHT naschen«, sagte Grete scharf. »Charlotte, sag du doch dem Jungen was. Zu MEINER Zeit hätt’s das nicht gegeben. Dass wir schon vor der Einschulung an die Tüte gedurft hätten.«
»Zu meiner auch nicht«, sagte ich mit einem Seitenblick auf Grete.
»Es hat dir nicht geschadet«, sagte Grete spitz. »Bert«, versuchte ich zu vermitteln. »Erstens hast du schon die Zähne geputzt, und zweitens isst man nicht auf dem Klo. Auch keine Lakritzschnecken.«
»Aber Papa! Der RAUCHT auf dem Klo! Der darf das, was?!« Grete verließ mitsamt der Schultüte das Badezimmer. »Ernie?! Wo steckst du, Junge?«
»Ernie ist draußen und hält ’ne Rede!«, rief ich hinter ihr her. Ich konnte ihn durch das Badezimmerfenster sehen. Er stand auf dem großen Stein vor der Garage und schrie sein imaginäres Publikum an: »Wisst ihr überhaupt, Leute, dass ich heute in die Schule komme? Nee, ihr habt keine Ahnung! Dabei hab ich es euch gestern schon gesagt, Männer! Der Bert kommt auch in die Schule, klar, der ist ja auch mein Bruder. Wir sind nämlich Zwillinge, müsst ihr wissen! Das weiß doch jeder! Zwei-einige Zwinglinge. Aber ICH, Leute, ich werd’s euch zeigen!« Theatralisch schwenkte er seine Schultüte. Großzügig warf er einige Smarties unter seine nicht vorhandenen Höflinge. Eine Frau, die mit ihrem Spitz vorbeikam, lächelte erfreut und blieb erwartungsvoll stehen.
»Kannste auch welche haben«, rief Ernie zuvorkommend und schleuderte ein paar Bonbons auf den Spitz. Der Spitz kläffte angstvoll.
»Hand vor’n Mund, Mann!«, schnauzte Ernie ihn an, und die Frau machte, dass sie weiterkam.
»Ernie, machst du dich auch nicht schmutzig?« hörte ich Grete fragen.
»Wie soll ich das denn machen? Ich steh doch nur auf dem Stein. Gehn wir jetzt endlich? IMMER muss ich mich langweilen!«
»Wenn du erst mal in der Schule bist, langweilst du dich nicht mehr«, hörte ich Grete sagen. »Jetzt beginnt der Ernst des Lebens! Los! Pipi machen, Hände waschen, Anorak an!«
»Du, Mama?«, flüsterte Bert, während ich ihm den Jeansknopf zumachte. Es war der Einzige, den er noch nicht alleine konnte. »Ja, Schatz?«
»Ich will dir mal was sagen, aber ins Ohr.«
Ich ging wieder in die Hocke.
Ein wunderbarer, warmer Lakritzschnecken-Kinder-Atemhauch wehte mir um die Nase, und seine rauen Ärmchen drückten sich an meinen Hals, als ich Bert flüstern hörte: »Eigentlich bin ich DOCH schrecklich aufgeregt. Aber das geht keinen was an!«
Vor der Kirche drängelten sich Heerscharen von Menschen. Zahlreiche feierlich gekleidete Mütter und Väter und Omas und Opas und Anverwandte jeder Art schüttelten sich glücklich die Hände, um herzlich gemeinte Belanglosigkeiten auszutauschen.
»Jetzt isses endlich soweit, nich, Tatjana?«
»Der große Tag, was, Schand-Tall?«
»Was ISSER aber auch wieder gewachsen, der Sascha!«
»Jetzt beginnt der Ernst des Lebens, Kevin!«
»Freust du dich denn auf die Schule, Sarah-Lisa?« Sarah-Lisa nickte blass und senkte den Blick auf ihre selbstgebastelte, umweltfreundliche rosa Schultüte.
Ich betrachtete die das Bild belebende Geschwisterschar im Krabbelalter, die aus pädagogischen Gründen auch mit Schultaschen und Schultüten ausgestattet war, selbst wenn sie teilweise noch im Kinderwagen saß und verständnislos ins Getümmel glotzte. Ich fand es beruhigend, dass der große, zottelige Köter von Nummer acht keine Schultasche auf dem Rücken hatte, obwohl er doch einen gewissen Schultütenneid auf seinen sechsjährigen Spielgefährten Benedikt hätte entwickeln können. Sämtliche männlichen Wesen waren mit Videokameras und Fotoapparaten ausgerüstet. Hektisch tanzten sie um ihre Anverwandten herum, um sie in einem besonders günstigen Moment MIT Kirche, Oma, Morgensonne UND blass lächelndem zahnlückigen Erstklässler zu erwischen. Ich hoffte, sie würden die herumtaumelnden schwerbeladenen Kleinkinder nicht zertreten.
»Wo bleibt denn wieder der Ernstbert«, sagte Grete vorwurfsvoll, während sie ihren Blick, nach bekannten Gesichtern Ausschau haltend, schweifen ließ. »Jetzt könnte er so schöne Aufnahmen machen! Wo die Kinder noch sauber sind! Guten Morgen, Frau Pfarrer!«
»Hä?«, sagte ich. »Frau Pfarrer? Ich denke, Herr Wojtyla hat nein gesagt?!«
»Das ist ’ne evangelische!«, zischte Grete zwischen den Zähnen und spendierte der heranwehenden Kirchenvertreterin ein ganz besonders reizendes Lächeln. »Die ist neu hier. Ganz patente, junge, ANständige Frau in DEINEM Alter!«
»Soll sein?«
»Du weißt schon, was ich meine.« Grete guckte mich mit jenem leisen, verächtlichen Spottlächeln an, das sie mir bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit zu schenken bereit war. Jetzt fand ich’s unpassend, »DIE hat was aus ihrem Leben gemacht!«
»Hallo«, sagte ich zu der anständigen Frau in meinem Alter, die ein weißes Lätzchen umhatte und was aus ihrem Leben gemacht hatte.
Wir gaben uns die Hand. Sie sah wirklich entzückend aus. »Sie sind also die Mutter von Ernie und Bert?«, fragte sie herzlich. »Ich habe noch nie so unterschiedliche Zwillinge gesehen!« Ich hatte große Lust, ihr zu erzählen, dass es sich bei Ernie und Bert um zweivätrige Zwillinge handelte. In Anbetracht ihres geistlichen Standes und besonders in Anbetracht der Anwesenheit von Grete verzichtete ich jedoch darauf. Grete würde sagen: Das geht hier keinen was an. Nich für Geld dabei. Und Haue obendrein.
Ich beschränkte mich darauf zu erwähnen, dass sie zweieiig seien, was man ja unschwer erkennen könne.
»Und Sie sind hier die neue Frau Pfarrer? Meine Mutter ist ganz begeistert von Ihnen!«
»Aber sie ist auch begeistert von Ihnen«, antwortete die Dame im bodenlangen schwarzen Umhang. »Sie glauben gar nicht, wie sie immer von Ihnen schwärmt!«
Da hatte sie Recht. Ich drehte mich suchend um. »Sprechen Sie mit mir?«
»Ja«, lachte die Pfarrersdame herzlich. »Natürlich! Mit wem denn sonst! Ihre Mutter erzählt uns immer von Ihren Erfolgen als Schauspielerin! Leider komme ich ja nicht dazu, mir Ihre Krankenhausserie anzusehen, die kommt ja, soviel ich weiß, immer nachmittags um vier, da bin ich meistens selber im Krankenhaus …«
»Hmmja, Charlotte«, mischte sich Grete ein. »DIE tut was für die Menschheit! Was SINNvolles!«
Ich LIEBTE Grete dafür, dass sie mich immer noch demonstrativ erzog. Schließlich war ich dreiunddreißig und Mutter von zwei Kindern. Da braucht man noch ganz viel öffentliche Zurechtweisung.
Die Frau Pfarrerin hatte die Situation jedoch fest in der Hand.
»Ihre Tochter macht doch auch etwas Sinnvolles! Wie viele einsame alte Menschen sehen sich doch täglich diese Krankenhausserie an und vergessen dabei die Sorgen und Nöte, die sie plagen …«
Mein Gott, dachte ich. Lass diesen Elch an mir vorübergehen. In dem Moment gewahrte ich das Antlitz meines beleibten Gatten, der sich schwitzend durch die Menge arbeitete. Grete winkte ihn heran.
»Komm her, Ernstbert, ich möchte dich mit der Frau Pfarrer bekannt machen.«
In Anbetracht des Alters, Standes und Gewichts von Ernstbert verzichtete sie darauf, ihn zu einem tiefen Diener zu zwingen.
Mein goldiger Gatte, der gestresste Wirtschaftsprüfer mit dem durchgeschwitzten Hemd, schüttelte der strahlenden jungen Frau Pfarrer die Hand, und sie lächelte zuvorkommend, und ihr Lätzchen wehte im Sommerwind.
»Tschuldigung«, sagte Ernstbert und drückte mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Ich konnte die Sitzung einfach nicht vorher beenden. Das ganze Computersystem ist mal wieder zusammengebrochen. Wo sind die Kinder?«
»Du hast noch nichts verpasst«, sagte ich.
Die Frau Pfarrer nutzte diesen Moment, um sich unauffällig aus dem Staube zu machen.
Ernie stand inmitten einer Schar Erstklässler, die ihm andächtig lauschte, und gab die Nummer mit Prinz Eisenherz. Entweder sie ließen sich von ihm mit Hilfe seiner selbstgebastelten, umweltfreundlichen Schultüte zum Ritter schlagen, oder er verhöhnte sie: »Elender Feigling!! Du bist es nicht wert, in meinen Diensten zu stehen!«
Bert stand völlig verloren am Fahrradständer und wühlte in seiner Schultüte herum. Der Lakritzschneckensaft lief ihm am Mundwinkel herab und zog sich in appetitlichen Fäden auf sein Kinn. Ich angelte automatisch nach einem Tempotuch und stürzte auf ihn zu. Mütter. Nicht mal seibern darf man in Ruhe. Nie lassen sie einen.
Wir hielten nun Einzug in die Kirche. Neben dem Altar stand die unvermeidliche Dialeinwand. Kleinkinder rannten durch den Mittelgang. Zwei Hosenscheißer taumelten hinter ihren Buggies her, bis sie an irgendeine Kirchenbank stießen und von milde blickenden Menschen wieder auf die rechte Fahrspur geschoben wurden.
Die Frau Pfarrer saß, versammelt auf ihren Schoß blickend, vor der Dialeinwand und hieß den Küster das erste Dia einlegen, was dieser gerne und dienstbeflissen auch tat. Die Leinwand färbte sich grün. Gras.
Nichts als Gras. Tausende und Abertausende von Grashälmchen, einige länger, andere kürzer. Welch tiefe Symbolik. Ich hatte es geahnt.
Jetzt kam der fundamentale Denkansatz zum Thema »Erster Schultag. Das Leben beginnt-gestern, heute, morgen«. Und alle Vatis und Muttis waren aufgefordert, auch über das Gras und das Leben nachzudenken.
»Na, was ist das wohl?«, fragte die Frau Pfarrer aufmunternd ihr Mikrofon.
Hunderte von Kindern kreischten begeistert, dass es Gras sei!! Auch ein paar Großeltern sagten weise: »Gras« und nickten bedächtig mit den Köpfen.
Die Eltern lächelten stolz. Ich auch. Mir wollten die Tränen kommen. Diese wachen Seelchen! Aus denen würde noch was werden! Bert murmelte emotionslos:
»Und was soll das jetzt mit der blöden Wiese?«
»Wart’s nur ab, Kind«, sagte ich und wischte mir mit dem Handrücken über die Augen. »Alles hat seinen tiefen Sinn und Zweck.«
Ernie war leider nicht anwesend, denn er hatte sich vor der Dialeinwand aufgebaut und schrie: »Wisst ihr eigentlich, was mein Papa für einen Rasenmäher hat? Einen ELEKTRISCHEN! Mit einer Fernbedienung! Aber der Papa mäht gar nicht selbst den Rasen, nein! Das macht der Herr Schlagowski!«
»Hol den Jungen da weg!«, befahl Grete. »Der soll sich ganz natürlich und bescheiden in die Bank setzen wie alle anderen Kinder auch!« Und Haue obendrein!
Ich schritt würdigen Blickes und nachsichtig lächelnd zur Dialeinwand und überredete Ernie, vorübergehend mit in die Kirchenbank zu kommen, da könne man viel besser die interessanten Dias sehen. Ernstbert filmte uns dabei. Das zweite Dia zeigte eine Wiese mit Gänseblümchen. »Gäään-see-blüüüm-cheeen«, brüllte die aufgeweckte junge Gemeinde. Am lautesten schrie Ernie. Bert setzte sich beleidigt zurück und machte »Ph!«, wobei er schon wieder in der Schultüte grub.
Die junge Pfarrerin freute sich.
Auf dem dritten Dia waren außer den Gänseblümchen auch noch Büsche zu sehen, auf dem vierten zusätzlich ein paar junge Birken und auf dem fünften noch Stiefmütterchen. Das ging so weiter, bis ein richtig prachtvoller Garten angelegt war, mit Springbrunnen und üppigen Bäumen und herrlichem Blumenbestand. Ich fand’s echt beeindruckend. Pädagogisch voll durchdacht.
»Seht ihr«, sagte die Frau Pfarrer, »und so ist das auch mit euch. Bis jetzt seid ihr eine wunderschöne Wiese. Je mehr ihr lernt, umso schöner wird eure Wiese, und am Schluss werdet ihr ein prächtiger Garten sein.«
Ich war überwältigt. Welch wunderbares Gleichnis! Während mir die Tränen nur so aus den Augen rannen, suchte ich in meiner Handtasche nach einem Taschentuch, das noch nicht mit Lakritze beseibert war.
Ernstbert richtete seine Videokamera auf mich, aber ich bat ihn herzlich, das zu unterlassen. Ernstbert filmte wieder die Dialeinwand.
Der Küster schaltete den Diaprojektor aus. Ernstbert schaltete seine Videokamera aus. Der Orgelspieler intonierte ein anständiges Vorstadt-Vorspiel in Dur mit einigen gequälten Kadenzen, und als wir meinten, dass er die Dominante und schließlich die Tonika wieder erreicht haben könnte, sangen wir aus vollem Herzen, was auf unseren Liederblättern stand: »Alle Kinder lernen leeeesen, Indianer und Chineeeesen!« Und mir stürzten ununterbrochen die Tränenbäche aus den Augen. Kinder, welch ein Tag! Grete guckte zu mir rüber. Sie hatte auch feuchte Augen. Die Heulerei zu gegebenen Anlässen lag wohl bei uns in der Familie. Ich drückte ihr die Hand, hinter den Köpfen meiner Kinder. Ach Grete!
Vor siebenundzwanzig Jahren war sie sicher auch mit mir zum Lieder-Singen und Schultüten-Halten in die Kirche gegangen. Vielleicht hatte sie damals auch vor Rührung geheult und mir den lakritzeverschmierten Mund abgewischt. Jedenfalls hatte sie keinen filmenden Ernstbert dabeigehabt. Grete hatte überhaupt niemals einen Mann an ihrer Seite gehabt. Weder einen filmenden noch überhaupt irgendeinen. Nur immer mich. Arme Grete.
»Morgen, Fritz!«
»Morgen, Frau Pfeffer. Sie werden in der Maske erwartet.«
»Meine Kinder hatten heute ihren ersten Schultag. Ich hatte aber Bescheid gesagt.«
»Alles klar, Frau Pfeffer. Nur keine Aufregung.« Der Mann hinter Glas lächelte freundlich. Seit sieben Jahren kannten wir uns nun vom Sehen. Jeden Morgen das gleiche. Ich kam mit meinem Fahrrad bis vor sein Häuschen gefahren, und er sagte irgendwas Freundliches zu mir.
»Macht nischt, jetzt sindse ja da!« Er griff zum Telefon, um mich in der Maske anzumelden.
Ich schob das Rad unter das Vordach der Pförtnersbaracke und lehnte es gegen ein paar ausrangierte Kulissen. »Försterliesel« stand darauf.
Ich fand, dass »Försterliesel« gut und gerne für ein paar Stunden auf mein Fahrrad aufpassen konnte. Wo sie doch sonst nichts mehr zu tun hatte. Ich zupfte meinen Rock zu Recht und betrat das stillgelegte Krankenhausgebäude durch den Hintereingang. Der Seitenflügel war für unsere Dreharbeiten reserviert. »Tach!« Ein Toningenieur sprang die Treppe hinunter und guckte mich gutgelaunt an.
»Kann denn Liebe Sünde sein?«, sang er, während er mit einigen Schnüren und Kabeln hantierte. »Nö«, sagte ich. »Eigentlich nicht.«
Er grinste und verschwand hinter einer schalldichten Tür. Im Pressebüro hörte ich Evelyn telefonieren. »Nein, Sie können Frau Dr. Bach nicht sprechen. Sie ist am Set.« Gelogen, dachte ich. Sie ist noch nicht mal umgezogen. Die Maske lag im zweiten Stock. Normalerweise nahm ich den Fahrstuhl, aber ich wollte Zeit gewinnen. Ich öffnete die eiserne Feuerschutztür und rannte mit eiligen Schritten die Treppe hinauf. Ausgerechnet auf dem Treppenabsatz zum ersten Stock begegnete mir unsere Fremdenführerin Jutta mit etwa vierzig Personen einer typischen Besichtigungsgruppe: »Und hier liegen unsere Operationssäle, rechts der große, in dem unser Chefarzt Dr. Tönges seit dreizehn Jahren tätig ist. Die anderen OPs sind den Oberärzten vorbehalten. Dann haben wir dort hinter der Glastür noch die Entbindungsstation. Da ist aber jetzt niemand. Die Säuglinge in den Bettchen sind natürlich nicht echt. Sie können aber gern mal schauen gehen!«
Die Rentner wollten alle gern unechte Säuglinge hinter Glas gucken gehen. Ich drängelte mich an ihnen vorbei. »Entschuldigung, darf ich mal – danke.«
»Wer sich spaßeshalber mal operieren lassen will«, hörte ich Jutta schreien, »kann sich unten im Statistenbüro bei unserer netten Wilma anmelden.«
»Tut dat weh?«, hörte ich eine ältere Frau besorgt fragen. »Natürlich nicht!«, rief Jutta froh. »Wenn wir Glück haben, können wir gleich einen Moment bei einer Operation zusehen. Im Studio vier wird gerade gedreht. Ich bitte Sie nur, ganz leise zu sein und vor allen Dingen im gesamten Aufnahmebereich nicht zu rauchen.«
Ich schlängelte mich an den letzten neugierigen Rentnern vorbei.
»Das isse doch!«, hörte ich einige sagen. »War das nicht die Dings, die Frau Dr. Bach?«
»So sieht die also privat aus!«
»Kommt zu spät!«
»War’se doch, oder? Sagen Sie, Fräulein … Jutta! War das nicht die Frau Dr. Bach?«
»Und das war gerade die Dame, die wir alle als Frau Dr. Bach kennen«, lachte Jutta froh hinter mir her. »Ihr wirklicher Name ist übrigens Charlotte Pfeffer. Autogrammkarten gibt es unten im Pressebüro.«
Jutta winkte hinter mir her. Ich winkte zurück und lief eilig weiter in die Maske.
So, ihr Rentner. Pech gehabt. Hinter diese Tür kommt ihr nicht. Da ist nur Bettina drin. Und die Kollegen natürlich. Die süßen, goldigen.
Ich holte tief Luft und trat ein. Rosa Pinsel, Bürsten, Tupfer, Lockenwickler, Farbtöpfe, Puderquasten, Nagellack, Lippenstifte, Schwämmchen, Töpfchen, Tiegelchen. Alles wie immer.
Bettina saß auf meinem Stuhl und las Zeitung. »Morgen zusammen!«
»Morgen.« Zwei, drei Kolleginnen guckten kurz von ihrem Drehbuch auf und lächelten knapp.
Ich zwängte mich zu meinem Platz am hinteren Ende der Garderobe.
Bettina stand auf. »Wurde aber auch Zeit. Wo warst du denn?«
»Meine Jungs wurden doch heute eingeschult.«
»Ach so! Siehst ja ganz verheult aus!«
Die dicke Lore saß vor dem Spiegel und sandte mir einen herablassenden Blick.
»Läscherlisch«, sagte sie. »Mäin Dätläv iss schon seit Jahren mit der Schule ferrtich.« An ihrer Kaffeetasse klebte fieser, fetter, feuchter lila Lippenstift. Dann wendete sie sich wieder ihrem Drehbuch zu. »Jrau-en-volll«, entfuhr es ihr, und ich war voll demütiger Hoffnung, dass sie nicht von mir zu sprechen beliebte. »Diese Kläine will Schauspielerin säin? Der ihr Lehrer jehört jestäinischt!«
Lore war der schönen deutschen Sprache nicht mächtig, weshalb sie mit der ihr eigenen päinlischen Penetranz die rhäinische Mundart pflegte. Gerade diese ihre Behinderung, gepaart mit ihrem sagenhaft matronigen Aussehen, hatte ihr die Rolle der Oberschwester Ällsbett eingebracht. Ihr Busen wogte wie ein gewitterliches Wolkengebilde Marke Spitzbergen bei Sonnenuntergang unter ihrem rostrot gefärbten Haargetürme, ihr Blick war kalt und stechend wie die schneidende Luft in zweitausend Meter Höhe kurz vor dem Morgengrauen, ihre Lippen waren schmal und stets in grellen Lila-Alpenglühn-Tönen geschminkt. Mäistens verjaß sie des Morjens, sich zu frisieren, aber das machte ja nichts, denn sie bekam ein gar putziges Krankenschwesternhäubchen auf. Sie war wahnsinnig stolz darauf, vom ersten Drehtag an dabäijewesen zu säin, und dat waren immerhin schon zwäiundzwanzisch Jahre!! Und sie hatte Taläntü! Das hatte ihr der liebe Herrjott in die Wiege jeleechtü Und ihren saftlosen Dätläv auch!
»Käinen blassen Schimmer hat dat Mädschen! Nich für fümf Fennich Talänt!«
Meinte sie womöglich doch mich? Vielleicht hatte sie rausgefunden, dass ich seit sieben Jahren nichts als das hundekuchengute, treudoofe Doktorsfrauchen im Repertoire hatte, das weißgestärkt und fleckenlos und quarkblass bis in die golddurchwirkte Haarschleife hinein niemals ein böses Wort sagte, geschweige denn einen Fehler machte? Angstvoll schaute ich in den riesigen Rückspiegel.
»Bewirbt die sich für die drogensüschtige Pazi-entin«, tadelte Lore weiter, »und kann noch nich mal anständisch in Ohnmacht fallen! Dat lärnt man doch im zwäiten Semester!« Ihr Busen wogte nun gefährlich der Kaffeetasse entgegen, die sie sich erneut zum Munde führte. Die Tasse war schon über und über mit lila Lippenstift behaftet. »Un dat Schlimme: Der Justav nimmt die auch noch! Ja ham denn die jungen Läute häute jaanix mehr zu bieten? Wir damals, wir ham uns die Seele aus dem Läib jespielt. Wir mussten noch Butter bäi de Fische jeben. Aber dem Justav is dat doch ejal. Hauptsache is dem doch, dat der ferrtich wird.«
Gottlob. Sie sprach nicht von mir. Sie sprach von dieser jungen Bewerberin für die Rolle heute Morgen. Ich war ja nicht dabei gewesen. Wegen der Einschulung meiner Söhne. Glück gehabt. »Wat der Justav nammittachs immer träibtü. Ich versteh dat ja nich! Als säine Frau no lebte, da jing der nammittachs na Hause wie andere Läute auch!! Aber jetz! Immer hockter in seinem Wohnwagen und zieht die Vorhänge zu! Wat macht der?«
»Ein Zocker ist der«, sagte Gretel Zupf über ihrem Hausweibchenmagazin. »Der verspielt seine letzten Kröten. Deshalb hat der auch keine Wohnung mehr.«
»Wie’n rischtiger Zijäuner«, sagte Lore verächtlich. »Der wäiss mit säinem Leben sonz nix mehr anzufangen. Ich dajejen, mit mäinem Dätläv …«
Bettina lächelte mich an. Jetzt kam die Detlev-Platte. Die kannten wir schon. Dätläv häute und Dätläv morjen und Dätläv immerdar. Dätläv inner Äifel, im Schrebajarrten un inna Knäipe am Schtammdesch. Bettina grinste. »Also? Können wir?«
Ich zog mein Kostüm aus und hängte es in den Schrank. Die dicke Lore beobachtete mich aus den Augenwinkeln, das wusste ich ganz genau. Sie hatte BH-Größe x oder Y oder z, falls es das überhaupt gibt. Alte Landschnepfe, dachte ich. Du spielst nämlich NUR dich selps, un dat iset, wat den Regisseur an däiner Erschäinung räizt. Wat änderet kannste nämlisch janisch. Bäh. Noch zwäi Jahre, dann wirste pensioniert. Und dann muss isch däine aufjeblasene Persönlischkäit nie wieder ertragen. Dann kricht däin Dätläv dich jeschenkt. Da fräu ich misch jetz schon drauf. Dann kannzte däine Knappsacker Mitmenschen nerven.
Bettina warf mir einen frischen Frau-Dr.-Bach-Kittel zu. Das Stethoskop und die restlichen Gegenstände, die so ein Doktorsfrauchen aus dem Kittel lugen hat, wenn es bei der Arbeit ist, legte sie auf den Tisch. Ich zog den Kittel an und ließ die zwei obersten Knöpfe offen. Dann setzte ich mich auf den Frisierstuhl und schlug die Beine übereinander. »Wie immer?«, fragte Bettina.
»Mach mal«, antwortete ich. Ich griff nach dem Drehbuch. Folge vierhundertdräizehn. Ma gucken, wat allet widder Aufregendes passiert mit dem quarkblassen Doktorsfrauchen und ihren matronigen Kolleginnen häute morjen am Krankenlager eines Statisten.
Mit einem Textmarker strich ich mir die dreieinhalb Sätze an, die ich zu sagen hatte.
Schlotter-Lotte, was bist du abgebrüht.
Zu Lore Läscherlischs Zäiten, da mussten wir noch Butter bäi de Fische jeben. Da ham wir uns noch die Seele ausem Läib jespielt.
Ernstbert. Ernstbert Schatz. Steuerberater und Wirtschaftsprüfer. Hundekuchengut bis in die Knochen. Und zum Steinerweichen gediegen.
Eigentlich war es mir immer völlig schleierhaft, wieso ich damals von ihm schwanger werden konnte. Vor sieben Jahren. Damals, als er mich zum ersten Mal besuchte.
Ich hatte ihn doch nur angeguckt. Sonst nichts. Ich bin mir heute noch sicher! Nur angeguckt! Na gut, heute weiß ich ja, warum es doch passierte. Wegen dieses Zaubertricks. Aber ich wusste damals noch nichts über meine Hexenkräfte! Damals passierte es mir aus Versehen! Und natürlich aus Langeweile. Aus Langeweile und Übermut.
Ernie und Bert würden heute sagen: Immer regnet es, und immer muss ich mich langweilen, und keiner spielt mit mir, und es gibt immer Fisch.
Damals hatte ich ja Ernie und Bert noch nicht. Wohl aber hatte ich schon immer eine rege Phantasie. Und die lief Amok, wenn sie nichts zu fressen kriegte. Wie bei Ernie heute. Wenn dessen Phantasie nichts zu fressen kriegte, fing der an, Dummheiten zu machen. Und so war es damals wohl mit mir. Ich war gerade mal Mitte Zwanzig. Ich wollte Schauspielerin werden und träumte von der großen weiten Welt. Nicht davon, in einer Seifenserie die Frau Dr. Anita Bach zu spielen. Und erst recht nicht davon, von heute auf morgen schwanger zu werden. Mit Zwillingen!! Es konnte gar nicht passiert sein. Wirklich nicht. Rein biologisch nicht. Vom Hingucken und Drandenken wird man nicht schwanger. Das wusste ich genau. Das hatte nur einmal in der Geschichte der Menschheit geklappt. Ernstbert war mein Steuerberater. Eines Abends klingelte er.
So wie Steuerberater klingeln. Irgendwie peplos. Ich hatte erst durch den Spion geguckt und ihm dann fröhlich die Tür geöffnet. Mit Filzpantoffeln und einem ausrangierten Herrenpullover von Hannes. Ernstbert hatte auf dem Treppenabsatz gestanden und gesagt: »Guten Abend, Schatz.«
»Bitte?«, hatte ich irritiert gefragt. Nein, was ist der Mann gleich plump-vertraulich.
»Schatz. Mein Name ist Schatz. Ich bin der Steuerberater.«
»Pfefferkorn«, hatte ich gesagt und ihn hereingebeten. Damals hieß ich noch Pfefferkorn. Wie Grete.
Er hatte im Flur gestanden und mich freundlich und erwartungsvoll angeblickt. Dann hatte er geschnuppert. »Hier riecht es nach Katze!«
Ich öffnete die Küchentür. »Dies hier ist Else Pfefferkorn«, sagte ich, indem ich auf den Durchlauferhitzer zeigte. »Ich habe sie adoptiert.«
Else lag fett und hochgradig trächtig in ihrer Kiste und schien jeden Moment niederkommen zu wollen. Sie warf Herrn Schatz einen flüchtigen Blick zu und kniepte dann gequält mit den Augen.
»Ich habe sie vor ein paar Monaten in der Mülltonne gefunden«, sagte ich zu meinem Steuerberater. Eigentlich wollte ich nur die Stimmung ein bisschen auflockern. Er schien mir so steif und machte irgendwie einen verklemmten Eindruck. Ernstbert nickte höflich und betrachtete aus angemessener Entfernung das schwangere Katzentier in seiner Kiste. »Sieht aus, als ginge es bald los«, vermerkte er. »Sie war ausgezehrt bis auf die Knochen und hatte vereiterte Augen«, teilte ich ihm mit. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie bestialisch das Vieh gestunken hat.«
Ernstbert Schatz zog seinen Mantel aus und hängte ihn an den Garderobenhaken im Flur.
»Doch, doch. Wenn sie aus der Mülltonne kam …«
»Ich habe sie zum Tierarzt gebracht und gesund gepflegt«, sagte ich. »Dann musste ich zu Dreharbeiten nach Südfrankreich. Wir hatten da so einen Streifen über Louis Quatorze.«
»Interessant«, sagte Ernstbert höflich und stellte seinen Aktenkoffer auf den Boden.
»Da habe ich sie wieder auf die Straße gesetzt«, erläuterte ich. »Konnte sie ja schließlich nicht mitnehmen. Was sollte ich auch mit ihr.«
»Nein, natürlich«, sagte der Steuerberater und warf einen scheuen Blick auf die riesigen rosa Katzenzitzen, die sich unter Elses Bauch wölbten.
»Und raten Sie mal, wer drei Monate später auf der Matte stand. «
»Die Katze«, antwortete Ernstbert aufgeschlossen. »Bingo«, rief ich. So ein sympathischer Steuerberater. Ich freute mich auf unsere Zusammenarbeit. »Hochschwanger!«, steigerte ich meine theatralische Schilderung. »Können Sie sich das vorstellen!«
»Ja«, meinte Ernstbert einsilbig und sah auf die geschlossene Wohnzimmertür.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er jetzt keine weitere Lust mehr auf die Katzenstory hatte. Er brannte darauf, mich steuerlich zu beraten. Er war durch und durch motiviert. Solche Männer findet man nicht alle Tage.
Ich hingegen hatte nicht die geringste Lust, mich mit ihm ins Wohnzimmer zu setzen und meine kümmerlichen, eselsohrigen und unvollständig ausgefüllten Steuerunterlagen vor ihm auszubreiten. Viel mehr reizte es mich, ihm noch etwas mehr über Else zu erzählen.
»Sie saß nicht etwa unten vor der Mietshaustür«, steigerte ich meine Story wohldosiert. »Hier oben saß sie! Im vierten Stock! Auf der Fußmatte! Im Treppenhaus! Drei Monate später! Hochschwanger!! Wie finden Sie das?«
»Jaja, die Tierchen haben einen Sinn für so was«, deutelte Ernstbert kooperativ.
»Sie muss so lange gewartet haben, bis unten die Haustür aufging!«, steigerte ich mich. »Dann stieg sie alle vier Stockwerke hoch – zu Fuß, nehme ich an; ich glaube nicht, dass sie den Aufzug genommen hat – und wartete hier vor der Wohnung auf mich, bis ich aus Südfrankreich wiederkam! Das kann Wochen gedauert haben!«
»Und jetzt sitzt sie hier auf Ihrem Durchlauferhitzer«, stellte Ernstbert sachlich fest. »Wann kommt sie nieder?«
»Sie hatte keinen Mutterpass bei sich«, sagte ich. »Sie geht nicht regelmäßig zu den Vorsorgeuntersuchungen, auch wenn ich ihr das immer wieder rate. Aber sie mag nicht am CTG liegen. Da ist sie eigen.«
»Meinen Sie, wir könnten jetzt trotzdem ein bisschen in die Steuern schauen?«, fragte Ernstbert.
»Klar«, sagte ich. »Wenn Else Wehen verspürt, sagt sie Bescheid.«
Ernstbert fragte höflich an, ob wir uns für die Bearbeitung der Steuerunterlagen eventuell ins Wohnzimmer begeben könnten.
»Klar«, sagte ich. »Bringen wir’s hinter uns.«
Ich holte zwei Gläser und eine Flasche Wein.
»Else, sei tapfer«, sagte ich zu der hochschwangeren Katze in der Kiste. »Ich bin’s auch. Da müssen wir jetzt beide durch. Wenn du mich brauchst, ich bin nebenan.«
Ernstbert saß bereits auf meinem angeknabberten Katzensofa, wo er mir das Steuerformular ausfüllte, mit seiner sorgfältigen Handschrift, klein und penibel. Er konnte es kaum erwarten, jetzt endlich zur Sache zu kommen. Steuerunterlagen waren seine seelische Erfüllung, das sah man gleich.
Ernst-Robert Schatz.
Ein Schatz von einem ernsten Bert.
Ein Bild von einem Steuerberater.
Sachlich, fachlich, kompetent.
Phantasielos, peplos, humorlos.
Übergewichtig, seitengescheitelt, graubebrillt.
Und doch so ein Ausbund an Zuverlässigkeit. »Wie oft waren Sie in letzter Zeit geschäftlich unterwegs?«
»Oh, ziemlich oft«, prahlte ich. Ich war eben eine gefragte Frau. Immer und überall brauchten die Agenturen ein paar nett aussehende Kleindarsteller, die der deutschen Sprache mächtig waren und akzentfrei »Herr Graf, der Tee« sagen konnten. Gern hätte ich ihm ein paar nette Schwänke aus meinem Leben erzählt, doch er schien hier und jetzt nicht darauf eingehen zu wollen.
»Können Sie mir Benzinquittungen vorlegen?«
»Nein. Natürlich nicht. Sammeln Sie etwa die Dinger?« Bestimmt. Er steckte sie alle sorgfältig in eine Klarsichtfolie ins Handschuhfach. Und abends, nach getanem Tagwerk, breitete er sie alle liebevoll auf dem Wohnzimmerteppich aus und legte sich bäuchlings davor und strich sie glatt und betrachtete sie ausführlich und mit Hingabe, bevor er sie schließlich schweren Herzens in einen Aktenordner sperrte. Und dann gab er sie eines Tages seinem Steuerberater und bekam dafür zur Belohnung ein Fleißkärtchen, welches er dann natürlich wieder abheftete. Männer wie Ernstbert waren die Abhefter in Person. Die fanden jeden x-beliebigen Zettel innerhalb von Sekunden! Ein Griff, und schon hatten sie ihn!
Und jetzt, im Zeitalter des Computers, speicherten sie solche Zettel in irgendeiner Datei, um sie aufzurufen und mit der Maus anzuklicken, so oft ihnen der Sinn danach stand! Sie konnten sie herbeizaubern und auch wieder wegzaubern, solche allmächtigen Männer wie Ernstbert, und ich brachte dieser Zunft kindliche Ehrfurcht und angemessenen Respekt entgegen.
Ich, wenn ich einen bestimmten Zettel suchen sollte, was der Herrgott meist zu verhüten wusste, dann krempelte ich meine ganze Wohnung um, in heller Panik, und dann fand ich alles, was ich schon lange vermisst hatte: mein Freischwimmerzeugnis, mein erstes selbstgesticktes Deckchen mit dem verdammten Kreuzstich (Fräulein Brüggemeier, vier minus), das Kärtchen mit meiner Blutgruppe, mein Abiturzeugnis, meinen von Wellensittich Hansi angeknabberten Führerschein, die drei Ringe, die mir meine verblichenen Jugendlieben mitsamt Liebesbriefen einmal zugesteckt hatten, den schrumpeligen Eierwärmer in Altblö, den ich einmal für Grete gestrickt hatte (Fräulein Brüggemeier, vier minus), und den Schlüssel für mein lange verlorenes Tagebuch. Aber eine Benzinquittung befand sich niemals unter meinen sorgsam gehüteten Kostbarkeiten. »Sollten Sie in Zukunft tun«, sagte Ernstbert. »Legen Sie sich dafür eine Kartei an.« Au ja! Karteien anlegen ist toll!!
»Klar, mach ich.« Ich hoffte, er würde das Thema wechseln. »Haben Sie sich auf Reisen selbst verpflegt?« Ein prüfender Blick über seinen Brillenrand.
»Natürlich. Morgens ein Bütterken in die Handtasche, ein Äppelken vielleicht, das reicht mir für den ganzen Tag. Kleindarsteller wie wir müssen auf unsere Figur achtgeben, wissen Sie.«
»Sie hatten also keine Ausgaben? Im Restaurant oder ähnliches? Haben Sie jemanden bewirtet?«
»Ich bin keine Wirtin, ich bin Schauspielerin«, sagte ich verwirrt. »Wieso fragen Sie?«
»Wie lange dauerte der Aufenthalt an dem heimatfremden Ort? Eine Nacht? Zwei Nächte? Mehr als zwei Nächte …?«
»Das kommt immer ganz darauf an …«
»Hatten Sie Ausgaben, die mit Ihrem Aussehen oder Ihrer Kleidung zusammenhängen?«
Natürlich, Mann. Oder glaubst du, ich finde meine Klamotten in Rot-Kreuz-Säcken, die an der Straße stehen? Ich lege ausgesprochen viel Wert auf abwechslungsreiche Kleidung. »Können Sie Rechnungen vorlegen?«
»Nein.«
Ernstbert, dachte ich. Sei doch nicht so ernst. Ich hätte schwören können, dass er einen winzigen Silberblick hatte. Es gibt nichts Erotischeres, als wenn Männer ein winziges bisschen schielen. Natürlich nur ein winziges bisschen. Ich trank hastig einen Schluck Wein und starrte ihm hinter das graue Brillengestänge. Schielte er, oder schielte er nicht? Er redete unverdrossen weiter.
Von der Berechnung des zu versteuernden Einkommens, von Einkünften aus nicht selbständiger Arbeit und aus solcher, die ich doch selbständig zuwege gebracht hatte. Von Fahrten zwischen Haus und Arbeitsstätte, von Werbungskosten und Sonderausgaben, von Kirchen-, Lohn- und Umsatzsteuern, von steuerfreien Umsätzen ohne Vorsteuerabzug … Ich unterdrückte ein Gähnen.
Schnell zog ich mich in meine Träume zurück. Gerade weil er kein Mann zum Träumen war. Vielleicht, weil sonst niemand von ihm träumte. Das machte die Sache noch viel spannender. Von Mike Douglas und Robert Redford träumen sie ja alle. Ich schenkte uns Wein ein, zuerst ihm, dann mir. Als ich die Flasche wieder auf den Tisch stellte, sahen wir uns aus Versehen ganz direkt in die Augen. Das irritierte uns beide gleichermaßen.
Ich wischte aus lauter Verlegenheit ein bisschen auf dem Tisch herum. Dabei wischte ich versehentlich den goldenen Kugelschreiber von der Tischplatte. Er fiel zu Boden. »Oh, Entschuldigung.«
Ich krabbelte unter den Tisch und hob ihn auf. Ich reichte ihm das gute, teure Stück. Er nahm ihn. Wir sahen uns an.
Er lächelte verlegen. Wir nahmen die Gläser und tranken. Er schaute mich ziemlich verwundert über sein Glas hinweg an und sagte schließlich: »Zum Wohl.«
Ich grinste. Rede ruhig weiter, Mann. Stör mich jetzt nicht. Ich stelle mir gerade vor, wie ich mich über dem goldenen Kugelschreiber deinem Gesicht nähere.
Deine borstigen Augenbrauen sind jetzt ganz nahe. Das eine staksige Borstenhaar auf dem Nasenrücken ist jetzt so groß wie ein Baum. Ich könnte ja mal kräftig dran rupfen. Doch nein, warte. Das staksige Borstenhaar gehört unbedingt zu deinem interessanten Erscheinungsbild. Wir lassen es dran. Ich starrte ihn an. Die Augen waren wie geheimnisvolle Waldtümpel. Bräunlich-grünlich-gräulich durchwirkt. Und das alles hinter dieser sagenhaft erotischen graugestängigen Brille! Hastig nahm ich noch einen Schluck Wein.
»Sie müssen immer Werbungskosten machen«, sagte Ernstbert, nachdem er seine Verlegenheit abgeschüttelt hatte, und stellte sein Glas auf der Tischplatte ab. »Egal, wo Sie essen gehen. Als Freiberuflerin können Sie es absetzen, verstehen Sie?« Nein, dachte ich. Wovon redet der? »Was ist mit Ihrer letzten Autoreparatur?« Ich starrte auf seine Bartstoppeln, während er sprach. Eigentlich waren sie weich. Sie waren stachelig, aber weich. »Ich hatte lange keine Autoreparatur mehr«, sagte ich. O Gott, er hatte wirklich einen Silberblick. Seine beiden graugrünbraunen Waldtümpel guckten nicht hundertprozentig geradeaus. Jedenfalls der Eine nicht. Der rechte. Gott, wie erotisch. Warum redet der denn jetzt immer weiter? Der arme Mann. Völlig vertrocknet. Wo er immer nur seine Benzinquittungen küsst. Und seine Fleißkärtchen. Und die Einzige, mit der er Zärtlichkeiten austauscht, ist seine Computermaus. Bestimmt. Emotional völlig verarmt, der Mann.
Er sah mich irritiert an. »Können Sie mir noch folgen?«
»Natürlich«, sagte ich schnell. »Nur munter weiter! Ist gerade so spannend! Hören Sie jetzt bloß nicht auf!«
»Was ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln«, hakte er nach. »Sie sollten grundsätzlich Fahrscheine erster Klasse vorlegen. Sie kriegen das doch ersetzt!«
»Ist in Ordnung«, sagte ich. »Mach ich.«
Ich reiste nur erster. In meiner Phantasie, meine ich.
Das war ein Luxus, den ich mir schon immer gegönnt hatte. Nur die Phantasielosen gehen zu Fuß.
Ich bemerkte seinen Duft. Steuerberaterduft. Wein und Zigaretten und Paragraphen und Erläuterungen und Rechtsbehelfsbelehrungen. Mal ganz was Neues. So ein phantasieloser Mensch war mir noch nie untergekommen. Das versprach ja, ein richtig interessanter Abend zu werden!
»Alle Bekleidungskosten können Sie in Ihrem Beruf von der Steuer absetzen«, sagte er. »Es kommt nur darauf an, welcher Art die Quittungen sind.«
Wie interessant, dachte ich. Dass ich da noch nicht eher drauf gekommen bin.
Der Mann trug wirklich Polyesterhemden. Solche, die man nicht bügeln musste. Wahrscheinlich hatte er als Junggeselle weder Zeit noch Lust, seine Hemden zu bügeln. Wo er doch immer Quittungen abheften musste.
»Dann sollten Sie unbedingt Werbungskosten machen. Was ist mit Lebensversicherungen?«
»Lebensversicherungen?«
Welch überflüssige Tändelei! Freihändig durchs Leben schweifen, Steuerberaterlein, dachte ich, ohne Anschnallen sozusagen, ohne Netz und doppelten Boden! Ist viel spannender!! Soll ich dir das mal zeigen?
Komma her, Junge. Du sollz auch mal was vom Leben haben. Nicht immer nur ich. Wie siehst du denn aus. Ich befreite ihn von seiner dezent gemusterten Krawatte, seinem wirklich unerotischen Hemd, seinem gerippten Unterhemd. Nächstes Mal kommst du ohne, sagte ich leise tadelnd zu ihm. Wer läuft denn heute noch in so was rum. Gott, diese Hose! BÜGELfalten!! Was ist denn das für ein Material! Da kann man ja gaanich dranpacken, so schauert’s einen!
Es schien ihm egal zu sein, was für Unsinn ich mit ihm trieb, Hauptsache, ich ließ ihn weiterreden.
Warte, dachte ich. Gleich gibst du auf. Gleich hörst du auf, über Werbungskosten, Bausparverträge und Zinsvergünstigungen zu reden.
Das ist jetzt die pure Verlegenheit. Du bist sehr wohl fähig zu inneren Regungen, Steuermann, graubebrillter. Man muss die Regungen bei dir erst wecken. Es gibt doch noch so viele andere Dinge im Leben!
Die Hormone der weiblichen Unternehmungslust rannten wild durcheinander. Steuermann, dachte ich. Du hast eine riesengroße Seele, weißt du das? Da passen noch so viele andere Dinge rein. Außer Akten, Belegen und Computerdateien, meine ich. Er verstand mich nicht.
»Ich fülle Ihnen das alles aus und bringe es zur Unterschrift vorbei«, antwortete er. »Morgen früh oder so.«
»Machen Sie das«, sagte ich. »Vielen Dank.« Klar. Er würde die ganze Nacht bäuchlings auf seinem Teppich liegen und meine Steuerunterlagen küssen. Und dann würde er sie liebevoll abheften und mir ein Kreuzchen an die Stelle machen, wo ich unterschreiben sollte. Und das würde ihn wahnsinnig glücklich machen. »Wofür?«, lächelte er. »Hat Spaß gemacht.«
»Ach ja, wirklich? Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lange von Ihren eigenen Benzinquittungen abgehalten.«
»Keine Ursache«, sagte er. »Das ist ja mein Job.« Er trank seinen Wein aus, klappte seine Akten zu, drehte seinen goldenen Kugelschreiber zu und schüttelte mir die Hand. »Danke für den Wein.«
»O bitte«, sagte ich. »Es war mir eine Freude.«
»Und alles Gute für die Katze!«
»Danke. Ich werd’s ausrichten.« Dann ging er nach Hause.
Ich räumte den Papierkram weg und ging in die Küche. Puh. Zweieinhalb Stunden. Aber ich hatte die Zeit sinnvoll überbrückt, fand ich. Wir waren beide auf unsere Kosten gekommen. Der Steuermann und ich.
»Wie fandste den?«, fragte ich Else auf dem Durchlauferhitzer. Else schloss genervt die Augen.
»Ja, ich gebe zu, er ist kein Ausbund an Witz und Esprit. Ich weiß, dass du im Moment keinen Sinn für Kerle hast.« Ich stellte Else frisches Wasser hin.
»Aber er ist ein durch und durch gediegener Mann! Solche Typen kenn ich kaum. Ich kenne nur Schauspieler und Selbstdarsteller und Möchtegerne und Nichtsnutze. Meinst du nicht, ich sollte diesen Gediegenheitsbert öfter treffen? Grete ist jedenfalls unbedingt dafür! Überhaupt ist sie dafür, dass ich mich endlich mal auf einen Mann festlege! Denk mal, wie lange sie mich jetzt schon am Halse hat! Fünfundzwanzig Jahre! Die will auch mal ihrer Wege gehen!«
Else zwinkerte duldsam. Ihre Schnurrbarthaare zitterten sanft.
Ich sah auf ihren Bauch. Die rosa Zitzen schrien nach Kindermäulchen.
»Else! Sie bewegen sich! Ich hab’s genau gesehen! Mindestens zwei sind das, wenn nicht drei!« Else spitzte die Ohren.
In dem Moment hörte ich das Wohnungstürschloss knarren. »Stuhlbein? Bist du schon da? Ist die Probe schon aus?« Endlich. Hannes. Hannes Stuhlbein, der Knabe mit den dunkelbraunen Augen und den muskulösen Oberarmen. Welch ein Kontrastprogramm. Mein süßer, knackiger, appetitlicher, braungelockter Sommermann. Schauspieler im vierten Semester und zwei Jahre jünger als ich. Meine heiße Sommerliebe aus Südfrankreich.
»Hallo, Charlie. Was gibt’s zu essen?« Er sagte immer Charlie zu mir. Und ich sagte Stuhlbein zu ihm. Das hatte was. Wer heißt denn sonst noch Stuhlbein auf diesem Erdenrund. Hannes knallte seinen Schlüssel auf das Bord und stürmte in die Küche. Er legte den Arm um mich und gab mir einen Kuss. »Ich hab dich schrecklich vermisst.«
»Ich hatte gar keine Zeit, dich zu vermissen«, improvisierte ich. »Ich war mit der Steuer beschäftigt. Stundenlang! Das war ein Stück Arbeit, sage ich dir.«
»Na, Else, altes Mädchen? Wie sieht’s aus?« Hannes strich Else über das glänzende Fell.
»Sie bewegen sich«, sagte ich. »Da! Guck mal!«
Hannes legte Else sanft die Hand auf den Bauch und hielt inne, als wolle er lauschen.
»Tatsächlich«, grinste er. »Da ist ja richtig Stimmung drin!«
»Ich hab noch nichts zu essen gemacht«, sagte ich. »Der Steuerberater war da.«
»Steuerberater? Wozu brauchst du denn den?«
»Grete hat ihn mir vorbeigeschickt. Er ist spezialisiert auf Freiberufler und Künstler.«
»Na, macht nix. Ich kann schnell ’ne Pizza holen.« Hannes wirbelte schon wieder herum, griff zu seiner Jeansjacke und angelte seinen Fahrradschlüssel vom Haken.
»Wie willst du sie? Klein? Groß? Tonno? Funghi? Fuego? Paprik… extra scharf … Du weißt ja, dass ich nachher noch ins The…ater … muss … Was guckst du mich so an?«
»Ach Stuhlbein«, sagte ich hingerissen. »Ich musste stundenlang über einem Aktenordner darben und mich dabei langweilen! Mir ist schon ganz schlecht vor Hunger. Ich fürchte, ich habe Lust auf dich!«
Er war eine Augenweide. Knackig, jung und frisch. Schlank und rank und unverbraucht.
»Wenn das so ist«, sagte Hannes und grinste unternehmungslustig. »Die Pizza kann warten.«
Er hatte viele wunderbar weiße Zähne, die in seinem dunklen Jungengesicht blitzten. Ich bekam Herzklopfen vor Vorfreude.
»Ja. Du hast recht. Los, komm her zu mir. Zieh die Jacke wieder aus.«
Seine braunen Augen waren voll Samt. Und das Tolle an Hannes: Er hatte wirklich einen Silberblick. Einen ausgemachten! Seine Augen schielten so erotisch, dass ich ihm vom ersten Moment an verfallen war. Ich sah ihn begeistert an. Ich fühlte eine unbändige Lust auf ihn.
Das war es, was mir in den langweiligen Steuerberaterstunden gefehlt hatte. Ein kurzer Blick auf das, was sich unterhalb seines Gürtels abspielte, reichte. Er war flexibel. Er bestand nicht auf Pizza.
Hannes ließ die Jacke auf die Erde fallen. Wir beachteten sie nicht.
Das weiße T-Shirt saß eng über seinem sehnigen Körper. Seine Oberarme waren braungebrannt und muskulös. Stuhlbein trieb täglich Sport! Da konnte er gar nicht genug von kriegen! Ich betrachtete ihn hingebungsvoll. Kein Gramm Fett. Nur Kraft und Jugend. Und Talent und Übermut, der sammelte auch keine Benzinquittungen. Der nicht.
»Ich hab sowieso keine Lust auf Pizza gehabt«, murmelte Hannes. »Pizza ist fad.«
»Außerdem macht Pizza dick«, sagte ich.
»Mama? Leihst du mir mal den Laptop?«
»Wozu brauchst du denn den Laptop im ersten Schuljahr?«
»Wir sollen ›O‹s malen. Eine ganze Seite.«
Bert hielt mir ein umweltfreundliches Blatt entgegen, auf dem der nette Herr Schmitz-Nittenwirm ein paar tolle »O«-Exemplare vorgezeichnet hatte. Das war natürlich nur ein kreativer Gestaltungsvorschlag, denn der Lehrer wollte die Kinder nicht auf einen bestimmten »O«-Typ festlegen. Sie sollten um Himmels willen nicht die Handschrift des Lehrers nachahmen, hatte er auf dem Elternabend gesagt. Nur, falls den Kindern überhaupt nicht einfiele, wie sie das »O« relativieren könnten, wäre sein kleiner »O«-Gestaltungsvorschlag ein Stück weit eine Orientierungshilfe.
»Bert, ich glaube, er meint, du sollst sie mit der Hand malen.«
»Bin ich Fred Feuerstein oder was! Ich will mir doch nicht unnötig Arbeit machen!«
»Aber du sollst es lernen, Bert. Zum Lernen benutzt man die Hand.«
»Mama! Das ist doch entsetzliche Zeitverschwendung! Ich weiß doch, wie ein ›O‹ geht. Wenn ich auf dem Laptop ein ›O‹ mache, bin ich schneller fertig und hab die Sache hinter mir.«
Ich fand Berts Entscheidung o.k. Wir Mütter sollten die Entscheidungen unserer Kinder immer akzeptieren, hatte Herr Schmitz-Nittenwirm gesagt. Also wir sollten sie niemals zwingen, etwas gegen ihren Willen zu tun, das galt auch für das »O«- Malen. Bert war eben mehr der pragmatische Typ, und das kreative Gestalten von färben- und formfrohen »O«s entsprang nicht seinem natürlichen Bedürfnis.
Im Gegensatz zu Ernie. Der malte »O«s mit Zahnpasta auf den Spiegel und mit Stöcken in den Sand und mit meinen Tesafilmklebern an die Terrassentür und mit der Schere in den Teppich. So ein kreatives, phantasievolles Kind. Ich ließ Bert also an meinem Schreibtisch Platz nehmen. Bert schaltete den Computer ein und wartete, bis das Schreibprogramm aktiviert war. Dann senkte er seinen dicken, kleinen Zeigefinger auf das »O« nieder und ließ ihn liegen, bis der Bildschirm voll war.
»So«, sagte er befriedigt. »Das kannst du mir ausdrucken.«
»Ich finde, dass du sehr schön und gleichmäßig gearbeitet hast«, lobte ich.
»Hast du da Papier drin?«, fragte Bert und zeigte auf den Drucker.
»Ich glaube, ja. Keine Ahnung, ob Papa das in letzter Zeit nachgefüllt hat.«
Bert schaute fachmännisch im Drucker nach. Hunderte von weißen Blättern lagen gehorsam übereinander und warteten auf das Schicksal, mit wichtigen Daten bedruckt zu werden. Das oberste war für Berts »O«s bestimmt. Wenn es das gewusst hätte! Bert drückte fachmännisch auf den Knopf und wartete, bis der Drucker bereit war.
»Wie viele Kopien brauchst du?«, fragte ich.
»Eine reicht«, sagte Bert.
Berts kleiner, dicker lakritzeverklebter Zeigefinger aktivierte das Druckprogramm und befahl dem Drucker zu drucken. Der Drucker von Druxen befahl seinen Druckern, nicht eher zu drucken, bis dass der Drucker von Druxen seinen Druckern das Drucken befahl.
Der Drucker druckte vierhundertsiebenunddreißig »O«s, wie mir der blöde blinkende Computerknecht am unteren Bildschirmrand devot Bericht erstattete. Ich las Bert diese Meldung vor.
»So viele ›O‹s schaffen die anderen Kinder nicht.«
Bert war’s zufrieden.
»Bearbeiten Sie das Dokument, oder drücken Sie die alt-taste für Befehle«, las ich ihm vor.
»Quatsch«, sagte Bert. »Das reicht. Was soll ich denn da noch bearbeiten!« Er nahm das Blatt und drückte mir ein Küsschen auf die Lippen. Er roch wunderbar nach Kaugummi. Bert roch immer nach irgendwas Essbarem. Nutella oder Lakritze oder Pfefferminz.
Wir lochten es gemeinsam, damit er es in seiner umweltfreundlichen Mappe abheften konnte. Seine speckigen Händchen hielten mit wunderbarem Eifer den großen, schweren Locher, den wir von Ernstberts Schreibtisch entwendet hatten.
»Hat Ernie auch schon Schularbeiten gemacht?«, fragte ich mit einem Blick auf die Uhr. In einer halben Stunde wollten wir beim Tennis sein.
»Nee«, sagte Bert. »Der spielt oben.«
Er nahm sich ein Hustendragee aus meiner Schreibtischschale, steckte es sich beiläufig in den Mund und trollte sich.
Ich ging ins Kinderzimmer, um nach Ernie zu sehen.
Ernie lag bäuchlings auf dem Teppich und ließ zwei Plastikritter aufeinander einschlagen. Seine Schulmappe war die Ritterburg, und die Klarsichthülle mit dem kreativen Gestaltungsvorschlag der »O«s war die gefährliche Falle, in die sie sich gegenseitig zu schubsen trachteten. Ernie bemerkte mich nicht.
»Du Hund, elender, geh zum Teufel«, schrie er leidenschaftlich mit hassverzerrter Stimme.
»Niemals, du Feigling, aber ich werde dich in diesen grässlichen Abgrund stoßen …«, zischte er voll Zorn.
Dann schlugen sich die Ritter gegenseitig ihre Helme mitsamt Köpfen vom Kopf und hieben mit den Schwertern aufeinander ein. Das Arbeitsblatt mit den »O«s bekam gefährliche Knicke. Die Spucketröpfchen der leidenschaftlichen Verachtung regneten darauf und hinterließen winzige Pfützen. »Du wirst die Jungfrau nie bekommen«, sagte der Ritter ohne Kopf.
»Ich liebe sie mehr als mein Leben«, antwortete der Kopf des anderen. Der Unterleib lag etwas abseits auf der Klarsichthülle. »Na, Ernie?«, fragte ich vorsichtig. »Machst du Schularbeiten?«
»Hallo, Mami«, strahlte Ernie und stand auf. Er umarmte mich stürmisch. »O Mami, ich liebe dich mehr als mein Leben!« Ernie roch niemals nach Pfefferminz oder Lakritze. Er roch nach Ernie.
»Ich dich auch«, sagte ich gerührt. Hach, dieses liebebedürftige Kind!
»Nein! So heißt das nicht! Das heißt: ›So wirst du ewig treu mir sein, Jungfer Marian! ›«
»So wirst du ewig treu mir sein, Jungfer Marian! Hast du schon Schularbeiten gemacht?«
»Ich bin Robin Hood, Mama. Der macht keine Schularbeiten. Robin Hood kämpft für die gerechte Sache.«
»Nee, ist klar«, sagte ich. »Gerechte Sachen sind auch was ganz Wichtiges.« Wie hatte der Lehrer gesagt ? Nie die Kinder zu etwas zwingen. Wer tut denn so was. »Wie wär’s mit Tennis?«, schlug ich vor. »Bert sitzt schon im Auto und isst Smarties.«
»O.K., Mama, Tennis ist ’ne gerechte Sache.«
»Da hab ich aber Glück gehabt.«
»Aber nur, wenn ich Boris Becker bin. Sonst spiel ich nicht mit.«
»Alles klar, Ernie. Du wirst es dem Trainer sagen, falls er nicht von allein drauf kommt.«
Der Trainer war ein reizender Bursche um die Fünfundzwanzig. Leider hieß er Sascha, was nicht sein Verschulden war. Er war Sportstudent im siebten Semester und voll der hehren Ziele.
Er erinnerte mich an Hannes, obwohl er keine Locken hatte. Aber muskulöse Oberarme! Und glänzende, unternehmungslustige Augen. Wenn sie auch nicht schielten. Er war jung und frisch und knackig und völlig ohne Arg. Ein goldiger Bursche.
Ich schubste meine beiden Goldjungen auf den Platz. »Benehmt euch gut und tut, was Sascha sagt. Ich hole euch in einer Stunde wieder ab!«
Es ist pädagogisch sinnvoller, wenn die Mütter nicht auf der Bank hocken und ihren Sprösslingen beim Schlägerhalten zusehen. Viel freier und ungezwungener geht es beim Tennistraining zu, wenn die Muttis nicht dabei sind. Die Kinder entfalten sich dann wesentlich natürlicher, hatte Sascha auf dem Elternabend der Tennisschule gesagt. Ich nahm seine Botschaft sehr ernst. Man soll nie ein Kind dazu zwingen, sich bei irgendeiner Handlung von seiner Mutti zusehen zu lassen, besonders dann nicht, wenn es mit dem Tennisschläger Löcher in die Luft haut. Da braucht es Freiraum und endlose Weite, was das natürliche Selbstbewusstsein fördert – ein Stück weit –, und es behauptet sich im Rahmen seiner Gruppe und seiner gleichaltrigen Mannschaftskameraden und lernt sich selbst – ein Stück weit – völlig neu kennen, nee is klar.
Ich ging also meine übliche Runde auf dem Clubgelände spazieren.
Was mir auf Anhieb sympathisch war: Niemand von den weißgekleideten Damen und Herren und Kindern hier schien täglich um sechzehn Uhr »Unsere kleine Klinik« zu gucken, weshalb auch niemand »Das isse doch!« und »Wie heißt die noch gleich!« hinter mir her zischelte.
Klar! Diese dynamischen Unternehmer von morgen hingen nicht am helllichten Tage vor der Glotze! Die stählten sich! Die stellten sich dem Ernst des Lebens! Und die Mütter der Jungunternehmer von morgen bügelten nicht vor dem Fernsehen. Weder um diese Uhrzeit noch überhaupt. Die hatten eine Perle, die das diskret im Haushaltskeller erledigte. Und wenn die dabei »Unsere kleine Klinik« guckte, dann war das ihr Problem. Die Mütter der Saschas und Benjamins und Kevins und Patricks jedoch tranken um diese nachmittägliche Uhrzeit ihren Tee oder – im fortgeschrittenen Stadium ihres Mutterfrustes – ihr »Pikkolöschn« im Clubhaus und führten ihren Halsschmuck an die frische Luft. Ich war mir nicht sicher, ob ich in Zukunft das gleiche zu tun gedachte, während ich auf Ernie und Bert wartete. Klar, meine Jungs waren noch zu klein, um alleine in den Club zu fahren. Zwei Jahre musste ich wohl noch in den sauren Apfel beißen. Montags Hockey, dienstags Schwimmen im Sporthotel Plaza, mittwochs kreatives Gestalten im Freizeitheim, donnerstags Tennis und freitags Musikalische Früherziehung. Nur noch zwei Jahre. Oder drei. Dann würden sie diesen ganzen Freizeitinitiativen selbständig nachgehen. Beziehungsweise aus freien Stücken sofort damit aufhören, um endlich Zeit zum Fußballspielen und Herumtreiben zu haben. Ganz klar, das würde dann ihre freie Entscheidung sein. aber dann hatte ich ihnen die sinnvollen Alternativen wenigstens angeboten. Ein Stück weit.
Dann würde ich zu meinem mit Weichspüler weichgespülten reinen Gewissen einen unverkrampften Bezug haben.
»Hast du deinen Kindern auch eine sinnvolle Freizeitgestaltung angeboten? Hm? Sei ehrlich mit dir, Charlotte. Rabenmütter kommen in die Hölle.«
»Ja«, würde ich zu meinem reinen Gewissen mit der Dr.-Anita-Bach-Schleife im Haar sagen können. »Hab ich. Jeden Tag eine.«
»Reicht das auch, Charlotte? Oder bist du nur zu faul zum Autofahren? Hm? Sei ehrlich! Was ist mit Fechten, Bogenschießen, Judo, Karate und Dressurreiten? Hm? Warum lässt du deine armen Kinder so völlig chancenlos vor sich hin vegetieren, so dass sie später im Leben nichts mit sich anfangen können? Na? Warum spielen sie nicht Harfe, wie anderleuts Kinder auch? Und Seidenmalerei und Töpfern? Na? Nur zu faul zum Saubermachen, wie? Und die netten überkandidelten Zahnarzttöchter von nebenan. Die machen Wasserballett! Warum bietest du das deinen Söhnen nicht an ? Hm ? Und Jazztanz ? Wie steht es damit? na? Kannst du mir das mal verraten?«
»Ich schwör’s, sobald sie lesen und schreiben können, gehen sie Seidenmalen und Töpfern und Harfe spielen!! Ganz bestimmt! Ich will sie nur fürs erste nicht überfordern! Bitte glaub mir doch! Es ist nicht so, dass ich zu faul wär zu fahren! «
»Dann ist es gut«, würde das Dr.-Anita-Bach-Gewissen milde lächelnd zu mir sagen. »Dann hast du deine Mutterpflichten getan.«
Und ich würde erleichtert von dannen schweben, in der sicheren Gewissheit, meinen Söhnen eine Zukunft der offenen Möglichkeiten geebnet zu haben. Sie würden später ausgeglichene, erfolgreiche und in sich ruhende Männer werden, egal ob sie an der Börse spekulierten oder in einer Chefetage säßen. Sie hätten etwas Eigenes. Sie könnten jederzeit ein bisschen Harfen oder Dressurreiten oder Wasserballetten gehen, wenn ihnen der Sinn danach stände. Und könnten viele andere wichtige Männer ihres Formats treffen, die ihnen dann wieder viele Türen ins öffentliche Leben öffnen würden.
Mein Muttergewissen war nicht nur sauber, sondern rein.
Nur: Was sollte ich hier und jetzt mit meiner Freizeit tun? Ich, die drehfreie Anita Bach in Zivil?
Jeden Tag ein paar Stunden Leerlauf an uninteressanten Orten, sinnlos vertan mit Warten? Warten darauf, dass ich die Kinder wieder nach Hause fahren durfte?
Ich war nicht im Geringsten daran interessiert, mit den anderen Müttern fröstelnd am Rande des Tennisplatzes zu stehen und »Toll, Patrick« zu schreien. Auch wollte ich nicht meinen Busen und die dazugehörige Halskette über die Theke des Tennisclub-Barkeepers hängen und darauf hoffen, seine Aufmerksamkeit ausgerechnet auf mich lenken zu können. Der Tennisclub-Barkeeper war eher nur mittelinteressant. Typ: Jogginganzug in Signalgrün-Pink-gestreift, Polohemd mit Krokodil drauf, Goldkettchen im haarigen Brustbereich, Turnschuhe der Marke »Ich turne ungern«, zwei dicke Ringe an den Fingern, eine wasserdichte Rolex am behaarten Arm. Er eignete sich noch nicht mal für meine Phantasien.
Und außerdem: Es hängten täglich – was sag ich: stündlich – etwa fünf bis acht frustrierte Muttis ihren Busen über seine Theke. Dieser Konkurrenzdruck! Ich hätte keinerlei Chancen!
In diese und andere düstere Gedanken verstrickt, gelangte ich wieder zu Platz eins, wo Sascha meine Jungs trainierte.
Bert stand artig auf der T-Linie und schlug auf beachtenswerte Art und Weise die Bälle in den Wald. Donnerwetter!
»Toll, Bert«, schrie ich, während ich, vor Stolz platzend, mit den Tränen der mütterlichen Rührung kämpfte.
Ernie hatte es längst aufgegeben, Tennis zu spielen. Er hatte sich ein Sammelnetz geschnappt und hieb damit auf die zahllosen Bälle ein, die bereits wehrlos am Boden lagen.
»Du Hund! Versuch ja nicht, mir zu entwischen! Ich kriege dich, und du wirst elendiglich verrecken!«
»Ernie!«, munterte ich meinen Jüngsten auf. »Spiel doch auch ein bisschen Tennis! Schau mal, wie schön der Sascha die Bälle vor Berts Schläger wirft!«
»Mama, ich hab keine Zeit zum Tennisspielen! Ich muss Hunde fangen! Da! Hab ich dich, elende Ratte! Und wehe, du bellst! Ich drehe dir die Gurgel um!«
Ach je, dachte ich, während ich meine zweite Runde über das Clubgelände antrat. Was soll nur aus dem Jungen werden. Von mir hat er’s nicht. Und von Ernstbert auch nicht. Das war klar.
Es war ein historischer Film über Louis Quatorze, und eine Düsseldorfer Agentur suchte damals vierzig Kleindarsteller, die für Zofen und Höflinge, Diener und Edelleute den noch unbekannten Kopf hinhalten wollten. Ich war so unbekannt wie nur was. Ich wollte einfach nur gratis nach Südfrankreich fahren und einen netten Sommer verbringen. Also bewarb ich mich als Edeldame bei dem Düsseldorfer Etablissement und bekam den Job. Es war ganz einfach. Man musste noch nicht mal »Herr Graf, der Tee« sagen. Man musste nur einigermaßen nett aussehen und einen begabten Eindruck machen. Die anderen, die sie genommen hatten, sahen auch alle nett aus. Ich freute mich darauf, sie kennenzulernen. Es würde ein herrlicher Sommer werden. Einen historischen Film drehen in einem südfranzösischen Schloss! Was war ich doch für ein Glückspilz.
Als der Bus mit den vierzig Kleindarstellern um Mitternacht am Düsseldorfer Hauptbahnhof abfuhr, saß ich leider nicht drin. Mein Pass war nämlich ungültig, der hinterhältige Miesling! Das hatte ich aber erst festgestellt, nachdem mein Koffer schon im Bauch des Busses verschwunden war. Merde. Ich krabbelte rückwärts aus dem Kofferraum und fragte den Chef der Agentur mit Angstschweiß auf der Oberlippe, wie teuer denn nun guter Rat sei! Ziemlich teuer, sagte dieser beleidigt. Weil ich ihn aber gar so lieb und hilflos anlächelte, durfte ich auf eigene Kosten später nachreisen, mit dem Zug. Aber zuerst ab aufs Amt und ein demütiges Dringlichkeitsgesuch eingereicht! In vierfacher Durchschrift!
Ich winkte also den vierzig glücklichen Kleindarstellern mit gültigem Pass im Bus nach, und ein einziger glücklicher Kleindarsteller mit Stempel im Pass winkte zurück. Er war jung und hübsch und hatte braune Augen, die richtig klasse schielten. Ein winziges, spöttisches Lächeln, eine Spur von Bedauern, ein leichtes Anheben der Schultern meinte ich zu erkennen, das besagen wollte: Dann eben nicht.
Netter Bursche, dachte ich, als ich in die U-Bahn stieg. Süßer Kerl. Ein bisschen jung vielleicht, aber gerade das Richtige für einen heißen Sommer in Südfrankreich. Wer so wunderbar schielt, ist selber schuld.
Als ich zwei Tage später mit dem Schlafwagen morgens um fünf in Avignon ankam, hatte ich ihn schon vergessen.
Der Bahnhof war in orangefarbenes Licht getaucht, und die lauwarme Luft duftete süßlich nach Bahn und nach Croissants und nach Sommernacht. Ich war frei von Bindungen, frei von Sorgen und im Besitz eines gültigen Passes. Gerade vor drei Tagen hatte ich mich der einzigen Verpflichtung meines Lebens entledigt: Die schwarze Katze Else war wieder in ein freies Stadtstreicherinnenleben zurückgekehrt. Else, meine sagenhaft hässliche, aber gemütvolle, charakterstarke Mülltonnenbekanntschaft, die zu einer echten Freundin geworden war. Sie würde ihren Weg schon machen, davon war ich überzeugt.
Mein einziges Problem war es nun, einen Taxifahrer zu finden, der mich für ein paar Deutsche Mark zum Drehort bringen würde. Die Wechselstuben hatten natürlich noch nicht offen. Mir war ein bisschen flau im Magen, weil ich noch nicht gefrühstückt hatte. Es roch so unverschämt gut nach frischen Croissants! Ich atmete ein paar Mal tief ein und aus und wendete mich dann dem Ausgang dieses märchenhaften südfranzösischen Bahnhofs zu. Während ich noch mein reizendes, hilfloses Kleindarstellerinnenlächeln probte, mit dessen Hilfe ich hoffte, den südfranzösischen Taxifahrer milde zu stimmen, entdeckte ich ihn. Diesen dunkelhaarigen Burschen mit den braunen Augen. Den goldigen Kleindarsteller, der so provokant aus dem hinteren Busfenster geschielt hatte.
War er es? Oder hatte dieser Bursche am Bahnhof nur so verblüffende Ähnlichkeit mit ihm?
Er grinste mich an. Er hatte wunderbare weiße Zähne, ganz ebenmäßige. Welcher Kleindarsteller kann das schon von sich behaupten? Lässig lehnte er in seinen engen Jeans und dem weißen T-Shirt am Bahnhofsausgang. Morgens um fünf. Und hielt eine verheißungsvoll duftende orangefarbene Bäckertüte in den Händen.
Ich blieb stehen. »Kennen wir uns nicht?«
»Nein. Bis jetzt noch nicht.«
»Aber du sprichst deutsch.«
»In bin aus Grevenbroich. Da sprechen sie deutsch.«
»Wartest du etwa auf mich?«
»Nee, auf Sophia Loren.«
»Ach so«, sagte ich enttäuscht. »Wusste gar nicht, dass die auch mitspielt. Kann ich eventuell mitfahren, wenn du sie gefunden hast?«
Der Tüte entströmte ein unverschämt appetitanregender Duft. Ich musste mich sehr beherrschen, sie ihm nicht einfach aus der Hand zu reißen und damit zu türmen.
»Mal sehen«, antwortete er. »Je nachdem, wie viele Hutschachteln die dabeihat, die alte Schachtel.« Ich guckte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Verarschen kann ich mich auch selbst.«
»Klar«, grinste er und spendierte mir dabei wieder den Anblick seiner wunderbaren ebenmäßigen weißen Zähne. »Das hab ich ja gesehen, wie du das kannst. In den Bus steigen und keinen gültigen Pass dabeihaben.« Mir fiel keine passende Antwort ein. Mein Kleindarstellerinnenlächeln erstarb.
»Du siehst blass aus«, sagte er. »Ich hab gedacht, du magst vielleicht was frühstücken. Wie ich dich einschätze, hast du noch kein Geld getauscht.«
Er zog ein duftendes Croissant aus der Tüte und hielt es mir unter die Nase. Es war noch warm.
Nun hatte Grete mir ja jahrelang eingehämmert, ich solle von fremden Männern nichts annehmen, schon gar nicht in finsteren Bahnhofsgegenden, wo sich die allergefährlichsten Kinderlocker herumtrieben. Und gerade bei mir, der verfressenen, kleinen, dicken Schlotter-Lotte, würden sie leichtes Spiel haben. Das hatte Grete mir immer und immer wieder gepredigt, nich von fremden Männern ansprechen lassen, hörst du?! Nich für Geld dabei!!
Und was tat ich? Ich nahm das Croissant und stopfte es krümelmonstermäßig in mein gieriges Maul.
Während ich hingebungsvoll die Augen schloss, um diesen wahren Gaumen- und Magengenuss zu genießen, ging der Kleindarsteller plötzlich weg. Er bedeutete mir mit einer lässigen Geste, ich möge ihm folgen. Ich stolperte verdattert hinter ihm her, in der Annahme, dass er nun die Kollegin Loren gesichtet habe!
Doch nein. Er ging eiligen Schrittes über den Bahnhofsvorplatz und erklomm einen Bus, der sich gerade abzufahren anschickte.
»Hm, hm, hm?«, fragte ich im Hinterherlaufen. Alle meine sieben hungrigen Lab- und Giermägen schrien: »Bleib dicht an ihm dran!«
Nur Grete in mir schrie: »Lauf dem Kerl nicht hinterher, Schlotter-Lotte! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du fremden Männern nicht nachlaufen sollst.« Aber ich hörte nicht auf sie.
So fand ich mich in diesem wackeligen Linienbus wieder, und meine Hand steckte in der warmen, wohlriechenden Tüte. Ich grabbelte nach einem weiteren Croissant und lehnte mich entspannt zurück.
Ich beschloss, diesen Jungen auf Anhieb sehr gern zu haben. Er saß neben mir und guckte aus dem Fenster. Er schien immer aus Busfenstern zu lächeln.
»Ho his Hohia?«, fragte ich erstaunt mit vollem Mund.
Er richtete seinen Blick auf mich.
»Dü gübt’s hür nüch«, spöttelte er amüsiert.
Ich schluckte. »Heißt das, du hast mich abgeholt?«