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"Die Zehn Gebote" kennt fast jeder. Aber wie war das noch mal genau mit dem Propheten Mose, der diese "Gebrauchsanleitung fürs Leben" angeblich von Gott bekam? Ist sie wirklich in Stein gemeißelt? Geht es dabei vor allem um himmlische Vorschriften oder eher um faszinierende AnGebote für ein unbeschwertes Dasein? Gelten die Zehn Gebote wirklich überall … selbst in der virtuellen Realität? Und: Was genau haben sie mit mir zu tun? Fabian Vogt gibt Antworten: Unterhaltsam, fundiert und verständlich erkundet er die Grundlagen einer Ethik, die Menschen frei machen möchte.
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Seitenzahl: 156
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Fabian Vogt
Die Zehn Gebote für Neugierige
Das kleine Handbuch kluger Entscheidungen
Fabian Vogt, geboren 1967 in Frankfurt am Main, ist Schriftsteller und Künstler, wenn er nicht gerade als promovierter Teilzeit-Theologe kreative Ideen für „Kirchliche Kommunikationskonzepte“ entwickelt – oder seine Leidenschaft für Geschichten auf der Kabarettbühne auslebt („Duo Camillo“). Für sein Roman-Debüt „Zurück“ wurde er mit dem „Deutschen Science Fiction-Preis“ ausgezeichnet, zudem hat er mehrere Kleinkunst-Auszeichnungen erhalten. Fabian Vogt lebt mit seiner Familie im Vordertaunus.
In der Reihe sind bislang erschienen:
→„Luther für Neugierige“
→„Bibel für Neugierige“
→„Kirchengeschichten für Neugierige“
→„Gott für Neugierige“
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2019 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
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Cover: Form enorm · Friederike · Arndt
Coverabbildung: Thees Carstens, Hamburg
Autorenfoto: Peter Bongard © 2017 EKHN
Satz: Kai-Michael Gustmann, Leipzig
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019
ISBN 978-3-374-05794-8
www.eva-leipzig.de
Für alle, die schon immer wissen wollten, was gut ist.
Cover
Titel
Über den Autor
Impressum
Vorwort
Einleitung
Die Zehn Gebote
Das 1. Gebot
Denk’ immer daran: Es geht um Freiheit und Bindung
Das 1. Gebot(Zweiter Teil)
Sei weitherzig!
Das 2. Gebot
Sei achtsam!
Das 3. Gebot
Bleib’ im Gleichgewicht!
Das 4. Gebot
Würdige deine Geschichte!
Das 5. Gebot
Fördere das Leben!
Das 6. Gebot
Liebe verlässlich!
Das 7. Gebot
Handle fürsorglich!
Das 8. Gebot
Sag’ die Wahrheit!
Das 9. Gebot
Beherrsche deine Begierde!
Das 10. Gebot
Bewahre die Dankbarkeit!
Nachwort
Index
Weitere Bücher
Der Dekalog ist das Porträt der Menschheit.
Alexander von Villers
Wie war das noch mal mit Mose und den Zehn Geboten? Sind die wirklich in Stein gemeißelt, wie die Bibel behauptet? Oder möglicherweise doch Verhandlungssache? Hat Gott seine exzentrische „Hausordnung“ damals mit voluminöser Stimme vom Himmel herab diktiert oder hat er persönlich den Hammer geschwungen? (Äh, woher hat Gott überhaupt einen Hammer? Vielleicht von Thor geliehen? Oder bei Mose bestellt?) Außerdem: Wer sagt denn, dass so eine rund 3000 Jahre alte Satzung heute überhaupt noch gültig ist? Und wenn ja, warum?
Noch wichtiger aber könnte die Frage sein: Geht es bei diesen zehn Richtlinien vor allem um himmlische Vorschriften – oder eher um faszinierende AnGebote für ein befreites Leben? Legen diese Regeln den Menschen Fesseln an oder erweisen sie sich als äußerst kluge Richtschnur, die ermutigt, selbst Verantwortung für sich und andere zu übernehmen?
Postmodern darf man zudem fragen: Gelten die Zehn Gebote wirklich überall, also auch in der virtuellen Realität, in der wir in Zockerspielen fröhlich Zombies wegballern? Sprich: Kann man mit solchen antiken Ideen heute ernsthafte Aussagen über Atomkraft, Populismus, die Klimaerwärmung und den Sinn oder Unsinn von Katzenvideos treffen? Und: Reicht es nicht auch, wenn man nur, sagen wir mal, sieben der Gebote hält?
Fragen über Fragen. Kein Wunder: Die Zehn Gebote bewegen die Menschheit seit Jahrtausenden. Ja, sie sind so etwas wie eine Grundordnung der humanen Existenz. Das erkennen sogar diejenigen an, die mit dem Glauben gar nicht viel am Hut haben. Vielleicht, weil jede und jeder ahnt: Ohne Werte funktioniert die Welt nicht. Wenn einzelne Personen, Kommunen oder ganze Staaten dauerhaft zusammenleben wollen, denn braucht es dafür nun mal gemeinsame „Spielregeln“, sinnvolle Grundsätze, nach denen das Miteinander gestaltet wird.
Außerdem steht jedes Individuum ständig vor der Herausforderung, relevante Entscheidungen treffen zu müssen: Da kann es gewiss nicht schaden, wenn wir gewisse Vorstellungen davon haben, welches Verhalten sich wohl als „klug“ und welches sich als „eher unklug“ erweisen könnte. Anders ausgedrückt: Ich möchte wissen, was gut und richtig ist, damit ich mein Leben anständig gestalten kann. Und offensichtlich versteht sich das „Tun des Richtigen“ nicht von selbst. Jedenfalls nicht so, dass sich alle gleichermaßen daran halten würden.
Tja, und nun kamen da schon vor Jahrtausenden einige beseelte Menschen daher und erklärten frech: „Hier, in diesen Zehn Geboten steckt eigentlich alles drin, was man wissen muss, um eine starke Gemeinschaft aufzubauen … und um als Einzelner in seinem Leben die richtigen Entscheidungen zu fällen.“ Eine ziemlich steile These. Finde ich. Und ich würde gerne mit Ihnen in diesem kleinen Buch mal neugierig schauen und prüfen, ob sie denn stimmt. Dabei verspreche ich Ihnen schon jetzt: Das wird ein äußerst faszinierender und anregender Streifzug durch die wunderbare Welt existentieller Prinzipien – und damit zugleich ein fröhlicher Ausflug ins Land der Lebenskunst.
Eines kann man jedenfalls sofort sagen: Die Zehn Gebote gehören bis heute zum Fundament unserer europäischen Kultur. Und sie sind nach wie vor einer der bekanntesten Bibeltexte überhaupt. Vielleicht auch deshalb, weil sie – wenn man den Überlieferungen trauen mag – die allerersten Worte sind, die in der Geschichte des Volkes Israel für die Nachwelt schriftlich festgehalten wurden. Und weil tatsächlich im Alten Testament stolz erwähnt wird, Gott habe die Gebote wahrhaftig mit eigener Hand geschrieben (womit schon die erste der Anfangsfragen beantwortet wäre).
Nebenbei: Allein das ist eine literarische Sensation! Schließlich hat der Schöpfer des Himmels und der Erde weder vorher noch nachher jemals wieder persönlich zu einem Schreibgerät gegriffen. Unglaublich, oder? Verständlich, dass dieses einzigartige „Manuskript“ lange Zeit in der „Bundeslade“, also einem besonders edlen Schmuckkasten, aufbewahrt wurde – und schade, dass das Original trotzdem irgendwann verloren ging.
Unbestreitbar bleibt aber: In den Zehn Geboten stecken viele Ideen, die unsere Gesellschaft bis heute deutlich prägen. Zum Beispiel die Sieben-Tage-Woche. Die war in der Antike nämlich keineswegs selbstverständlich, sondern wurde durch das Judentum und die Zehn Gebote massiv gepuscht. Und dass wir jede Woche einen freien Tag haben, um zu regenerieren und das Leben zu feiern, nämlich den Sonntag (zumindest ist er in den meisten Berufen frei), verdanken wir ebenfalls dieser uralten Ideensammlung eines wüsten Wüstenvolks – in dem später einige Idealisten durch Jesus und seine Jünger angeregt wurden, ein derart kostbares Gedankengut auch dem Rest der Welt kundzutun.
Kritiker bemerken allerdings gerne, dass es die meisten der Zehn Gebote vorher auch schon in anderen Religionen gab und fragen dementsprechend, ob sich hinter der viel gepriesenen biblischen Auflistung von Verhaltensnormen nicht vielmehr eine Art „universelles Sittengesetz“ verbirgt, ein „Naturrecht“, das der Mensch als Rudelwesen ohnehin im Blut hat. Anders ausgedrückt: Braucht es überhaupt so etwas wie Religion, um sich vernünftig zu benehmen?
So ganz unrecht haben diese Leute nicht: Natürlich kennen auch andere Kulturen ethische Maßstäbe, teilweise ganz ergreifende – und einige davon sind sogar in einer ähnlichen Zeit entstanden, etwa der Buddhismus oder die Lehren von Konfuzius und Laotse. Selbst die Entdecker von Australien waren (viele Jahrhunderte später) total überrascht, als sie feststellten, dass die dortigen Ureinwohner, die Aborigines, sehr ausgefeilte Verhaltensnormen hatten, nach denen sie ihre Stämme organisierten – obwohl sie noch nie etwas von den Zehn Geboten oder vom Volk Israel gehört hatten. Erstaunlich!
Forscher haben zudem herausgefunden, dass viele Tiergattungen ihr Miteinander ebenfalls nach klaren Regeln gestalten – Regeln, an die sich die meisten Geschöpfe halten, weil sonst die Strukturen des Rudels, des Schwarms oder der Herde ganz schnell zusammenbrechen würden. Es scheint also tatsächlich ein ganz natürliches Streben nach verbindlichen Prinzipien für den Erhalt einer Gemeinschaft zu existieren. Was ja eine ziemlich beruhigende Erkenntnis darstellt.
Trotzdem gibt es etwas, das die Zehn Gebote von fast allen anderen ethischen Ordnungen unterscheidet. Sozusagen ein markantes Alleinstellungsmerkmal. Und dieses Alleinstellungsmerkmal lautet: Die Zehn Gebote sind Teil einer großen Geschichte. Eines größeren Ganzen. Das bedeutet: Ihren tieferen Sinn versteht man nur, wenn man die dazugehörige Geschichte kennt. Ja, erst diese Geschichte macht aus einer Ansammlung von Regeln ein einzigartiges „Gesamtkunstwerk“, das dem Menschen eine unfassbar befreiende Lebensperspektive schenkt.
Es ging Gott bei den Zehn Geboten nämlich nie um das sklavische Einhalten einer Ordnung im Sinne einer diktatorischen Norm, sondern um eine kluge Gestaltungsvorlage für die Freiheit, die er den Menschen schenken möchte. Und wer diese Gebrauchsanweisung verinnerlicht, der lebt anders als vorher: heiterer, entspannter, leidenschaftlicher, vor allem aber bewusster.
Deshalb irren sich alle, die diese Maximen im Lauf der Jahrhunderte als Droh-Botschaft verstanden und genutzt haben. Und bedauerlicherweise waren das ziemlich viele. Erschreckend viele sogar. Ganze Generationen wurden damit gequält und verstört, dass man ihnen erklärt hat: „Wenn du dich nicht brav an die Zehn Gebote hältst, dann kommst du in die Hölle.“ Das ist Quatsch! Und war niemals so gedacht.
Gott denkt sich doch keine Regeln aus, die Menschen Angst machen. Wer so etwas meint, der hat das Wesentliche des christlichen Glaubens nicht verstanden. Gott, von dem es heißt, dass „er die Liebe ist“, möchte, dass es den Menschen gut geht. Und die Zehn Gebote wollen keine Geißeln oder Schrecken sein, sondern eine „Gebrauchsanleitung fürs Leben“. Lebenskluge Ratschläge, die dem Menschen quasi „auf den Leib“ geschrieben sind. Deshalb kann man sie auch so schön an zehn Fingern abzählen.
In Psalm 119 steht der großartige Satz: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg.“ Genauso sollte man die Zehn Gebote verstehen: Sie sind wie zehn Lichter, zehn Leuchttürme, die das Leben hell machen können und den Weg weisen. Wie das genau funktioniert, das werden wir uns auf den folgenden Seiten in aller Ruhe anschauen.
Nun fragen sich einige unter Ihnen eventuell: Warum hat diese Einführung in die Zehn Gebote den anmaßenden Titel „Handbuch“? Ganz einfach: Möchte man im 21. Jahrhundert irgendwoher Antworten bekommen – etwa, weil der Computer kryptische Warnmeldungen ausspuckt, das Auto quietscht und qualmt, ein unbekanntes, zwei Meter langes Reptil im Garten herumkriecht oder die Liebesbeziehung in die Weltfinanzkrise gerät – dann besorgt man sich (im Internet oder in haptischer Form) – genau: ein Handbuch. Zum Nachschlagen. Und zum Lösungen-Finden.
Nun, das, was Sie gerade in den Händen halten, versteht sich in diesem Sinn als Handbuch. Eben eines der richtigen Entscheidungen. Und es hat den festen Willen, Ihre Fragen auf anregende Weise zu beantworten: Fundiert, hilfreich und fröhlich verschafft es einen Überblick über die göttlichen Anregungen für ein erfülltes Erdenleben – und zwar ein Erdenleben, das sich der himmlischen Dimensionen des Daseins jederzeit bewusst ist.
Dabei verweile ich bewusst nicht bei den Theorien ethischer Kategorien und Konzepte. Die sind zwar hochinteressant, würden aber den Rahmen dieser kleinen Einleitung sprengen. Mir geht es vor allem darum, Ihnen etwas von der zeitlosen Kraft der Zehn Gebote deutlich zu machen. Weil ich glaube, dass ihre Botschaft heute genauso brisant und hilfreich ist wie vor 3000 Jahren.
Und jetzt lassen Sie uns eintauchen in die Welt des klugen Verhaltens. Früher nannte man so etwas gerne „Sittlichkeit“, „Anstand“, „Tugend“, heute „Moral“ oder eben „Ethik“. Vielleicht verbirgt sich dahinter aber vor allem die Frage nach der „Lebenseinstellung“ oder der „Haltung“, die ein Mensch braucht, um seinen Alltag nachhaltig bewältigen zu können. Insofern wünsche ich mir, dass Sie nach der Lektüre dieses Buches nicht nur dem Geheimnis der Zehn Gebote auf die Schliche gekommen sind, sondern auch Lust haben, eine horizonterweiternde Lebenseinstellung zu wagen. Es lohnt sich.
Eine anregende Lektüre wünscht
Fabian Vogt
Er verkündete euch seinen Bund, den zu befolgen er euch gebot, die zehn Worte, und schrieb sie auf zwei Tafeln aus Stein.
Dtn 4,13
Zu Beginn müssen wir uns einen kleinen, aber feinen Unterschied bewusst machen: Wenn ein Mensch sich nur deshalb an bestimmte Regeln hält, weil er Angst hat, sonst bestraft zu werden, dann sind diese Regeln offensichtlich nicht besonders überzeugend. Oder sie wurden schlichtweg falsch interpretiert und vermittelt.
Erkennt jemand dagegen, wie sinnvoll bestimmte Handlungsvorgaben sind, dann wird er sich im Normalfall gerne und freiwillig daran halten. Ganz einfach, weil er spürt: „Hey, wenn ich diesen Rat befolge, dann geht es mir gut. Und zwar richtig.“ Genau so waren und sind die Zehn Gebote gedacht.
Die Geburtsstunde des sogenannten „Dekalogs“ (das heißt „Zehn Worte“, wurde aber später meist mit „Zehn Gebote“ übersetzt) hat deshalb überhaupt nichts damit zu tun, dass hier einem verdorbenen Volk vom Herrgott mal ein paar Manieren beigebracht werden sollten – im Gegenteil, es geht um etwas viel Bedeutenderes: nämlich um die Freiheit. Um die große Kunst, ein freier Mensch zu sein und zu bleiben.
Dazu muss man wissen: Die Israeliten waren bei der Verkündigung der Zehn Gebote erst wenige Wochen zuvor aus der Sklaverei in Ägypten geflohen, wo man sie jahrzehntelang ausgebeutet und gezwungen hatte, unter übelsten Bedingungen Ziegel herzustellen. Das heißt: Eben noch waren diese Leute rechtlose, geknechtete, gedemütigte Leibeigene gewesen, jetzt zogen sie plötzlich als freie Menschen durch die Geröllwüste des Sinai.
Diese ungewöhnliche Erfahrung ist die Ausgangssituation der Zehn Gebote. Das heißt: Sie werden zu Menschen gesprochen, die sich gerade auf einem mutigen Weg in die Freiheit befinden, die sich aber mit der Freiheit noch gar nicht auskennen, weil sie ja als Sklaven niemals selbst Verantwortung für ihr Leben übernehmen mussten.
Sprich: Um die spürbare Unsicherheit der Flüchtlinge zu überwinden, gibt Gott seinem Volk einen „Leitfaden für das Leben in Freiheit“ an die Hand, unter dem Motto: „So sorgt man dafür, dass man frei bleibt.“ Diese ursprüngliche Absicht der Zehn Gebote müssen wir uns immer vor Augen halten, wenn wir sie in unsere Zeit übertragen wollen.
Die dramatische Geschichte vom Exodus des Volkes Israel, also: vom verwegenen Auszug aus der ägyptischen Gefangenschaft, hat übrigens jeder gläubige Jude parat, wenn er das Wort „Gebote“ hört. Und das seit Jahrtausenden. Im Alten Testament heißt es nämlich wörtlich: „Wenn dein Kind dich morgen fragt: ‚Was sind das eigentlich für Gebote, die uns Gott gegeben hat?‘, dann sag ihm: ‚Wir waren Knechte des Pharaos in Ägypten, und Gott hat uns mit mächtiger Hand aus der Sklaverei geführt. Und dann gab er uns die Gebote, damit es uns gut gehen soll.“ (Deuteronomium 6,21 f.)
Diese knackigen Verse fassen die wesentlichen Perspektiven für das Verständnis der Zehn Gebote wunderbar zusammen: Der Dekalog ist Teil eines umfassenden Befreiungserlebnisses, er resultiert aus einer existentiellen Erfahrung und wurde formuliert, um die frisch gewonnene Freiheit der Menschen dauerhaft zu sichern – nicht, um ihre Freiheit in irgendeiner Form einzuschränken. Und weil diese Geschichte so bedeutsam ist und entscheidende Deutungsmuster für die Auslegung der Gebote liefert, sollten wir sie noch einmal ein wenig genauer betrachten.
Eines Tages erlebt der Viehhirte Mose – der zwar am ägyptischen Königshof aufgewachsen war, aber dann auf den Sinai fliehen musste – eine seltsame Naturerscheinung: Vor seinen Augen brennt mitten in der Steppe ein Dornbusch. Das kann in der heißen Wüstensonne zwar immer mal passieren, aber dieser Busch steht in Flammen, ohne zu verbrennen. Äußerst faszinierend!
Und dann hört Mose aus dem Feuerspektakel auch noch die Stimme Gottes, die ihm einen Auftrag erteilt: Er soll das Volk Israel aus der Sklaverei führen. Oha! Interessanterweise wird übrigens schon an dieser Stelle der Geschichte angedeutet, dass der Mensch mit seiner Freiheit leider nicht immer alleine zurechtkommt: Mose ist zwar ein freier Mann – trotzdem hat er unglaubliche Angst, Verantwortung zu übernehmen. Er lehnt den Auftrag nämlich erst mal ab. Weil er gar nicht genau weiß, wer dieser Gott ist, der ihn da ruft, weil er sich vor dem Pharao fürchtet und weil er sich nicht für einen begabten Redner hält.
Erst als Gott dem zögernden Mann seinen Namen nennt (er heißt „Jahwe“, übersetzt: „Ich bin, der ich bin.“ oder „Ich bin der, der immer bei dir ist.“), ihm mehrfach seine Unterstützung garantiert und ihm sein absolutes Vertrauen ausspricht, wagt Mose es, die abenteuerliche Aufgabe zu übernehmen. Er braucht also göttlichen Beistand und Ratschlag, um seine Freiheit sinnvoll gestalten zu können. Ein wichtiges Motiv, das die Bibel von Anfang bis Ende durchzieht: Da, wo ein Mensch ganz auf Gott vertraut, wird er zu dem, der er sein könnte.
Die buschige Begegnung offenbart aber auch noch einen anderen Wesenszug Gottes, der für unser Thema relevant ist. Gott sagt nämlich zu Mose: „Ich habe das Leiden meines Volkes erkannt, darum will ich es erretten.“ Anders ausgedrückt: Gott möchte nicht, dass irgendjemand als Sklavin und Sklave leben muss. Es ist sein ureigener Wille, dass sich jede und jeder frei entfalten kann.
Diese himmlische Sehnsucht nach Freiheit kann man getrost ins 21. Jahrhundert übertragen. Denn auch heute gilt: Gott wünscht sich nichts mehr als Menschen, die nicht in irgendwelchen Strukturen, Systemen oder Ängsten gefangen sind, sondern die befreit leben und handeln. Das ist einer der Gründe, warum wir weiter einen „Leitfaden für das Leben in Freiheit“ brauchen.
Nun denn! Als Mose dem Pharao einige Wochen später forsch mitteilt, dass dieser die Israeliten doch bitte freilassen möge, geht es in Ägypten natürlich erst mal drunter und drüber. Der sich selbst als Gottheit empfindende Herrscher hat nämlich überhaupt keine Lust, sich von so einer komischen Feuerstimme die preiswerten Arbeitskräfte wegnehmen zu lassen.
Daraufhin schickt ihm Gott einige ziemlich garstige Plagen, an deren Ende der Pharao dann doch klein beigibt. Allerdings nur vorübergehend. Denn kaum hat sich das Volk mit Sack und Pack auf den Weg in die Freiheit gemacht, überlegt der wankelmütige Mann es sich anders und jagt den ehemaligen Sklaven mit seinen Truppen und Streitwagen hinterher.
Wenig später kommt es dann zum großen Showdown am Roten Meer: Mose erhält nämlich angesichts der heranstürmenden ägyptischen Krieger von Gott die Kraft, das Wasser zu teilen – das Volk joggt über den trockengelegten Meeresgrund – und als der Pharao mit seinen Soldaten ebenfalls das sichere Ufer hinter sich lässt, stürzen die Fluten über ihm zusammen. Die Erfindung der Seebestattung. Und das fliehende Volk ist frei. Endlich!
Könnte man jedenfalls denken. Doch schon in den kommenden Tagen zeigt sich, dass Freiheit Herausforderungen mit sich bringt. Zum Beispiel fragen sich die frisch Geflüchteten schon bald: „Welcher Weg führt denn eigentlich in dieses gelobte Land, in dem Milch und Honig fließen und das Gott uns versprochen hat?“ Anders formuliert: „Was nützt die schönste Freiheit, wenn man gar nicht weiß, wo man hinwill?“
Dass Gott seinem Volk in diesem Moment anbietet, ihm den Weg durch die Wüste in Gestalt einer Wolkensäule (tagsüber) und einer Feuersäule (nachts) zu zeigen, ist deshalb keineswegs als Einschränkung ihrer Freiheit zu verstehen, sondern eine schlichte Orientierungshilfe – quasi das erste Navigationsgerät der Weltgeschichte. („Halten Sie sich an der Oase rechts!“) Entscheidend dabei ist: Die Israeliten hätten einen anderen Weg wählen können. Sie waren ja jetzt frei. Haben sie aber nicht. Zum Glück.
Wenig später trübt dann noch eine viel schlimmere Entwicklung die Stimmung: Anstatt sich über ihre Freiheit zu freuen (und zu tanzen und zu jubeln), fangen einige der Israeliten nämlich an, pausenlos zu jammern und zu stänkern: „Wann sind wir endlich da? O Mann, in Ägypten waren wir zwar versklavt, aber da gab’s wenigstens regelmäßig was zu essen und zu trinken.“ Wirklich! Die sind richtiggehend empört über die Unübersichtlichkeit der Freiheit. Das ganze Herumgemotze führt am Ende so weit, dass sich die Leute ernsthaft zurück in die Sklaverei wünschen.