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Elise wächst in den 1930er Jahren in einem kleinen Dorf in der Normandie auf. Als sie William kennenlernt, einen Freund ihres Bruders, verliebt sie sich Hals über Kopf in den charmanten, gutaussehenden Amerikaner. Aber dann bricht der Krieg aus, und als William als Soldat nach Frankreich zurückkehrt, geschieht das Unfassbare, er kommt am Omaha Beach ums Leben. Hank, sein bester Freund, verspricht, sich um die junge Frau zu kümmern und nimmt sie mit nach Amerika. Elise jedoch kann ihre große Liebe nicht vergessen.
Boston 2009: Lucy beschließt nach dem Tod ihres geliebten Großvaters, bei dem sie aufgewachsen ist, sich allein auf die lang geplante Reise in die Normandie zu machen, die Heimat ihrer Großmutter, die sie nie kennengelernt hat. Dort hofft sie, die Wahrheit über ihre Herkunft herauszufinden. Und als Lucy nun tief in die Vergangenheit ihrer Familie eintaucht, enthüllt sich die ganze Tragik einer schicksalhaften Geschichte von Liebe und Verlust, die auch ihr Leben dramatisch verändern wird.Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 519
Marina McCarron
Die Zeit zwischen uns
Roman
Aus dem Englischen von Katharina Förs
Insel Verlag
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Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel The Time between us bei Aria, einem Imprint von Head of Zeus Ltd.
eBook Insel Verlag Berlin 2023
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4955.
Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Insel VerlagAnton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2023Copyright © Marina McCarron, 2021
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Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagabbildungen: FinePic®, München
eISBN 978-3-458-77513-3
www.suhrkamp.de
Für A. C.
Vive la différence.
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Teil eins
Prolog
Omaha Beach, Normandie, 6. Juni 1944
1
Esperance, Frankreich. Frühling 1937
2
Boston, Sommer 2009
3
Esperance, Frankreich. 1937
4
Esperance, Frankreich. Sommer 1937
5
Nordfrankreich, Sommer 2009
6
Esperance, Frankreich. 1937
7
Omaha Beach. 2009
8
Esperance, Frankreich. 1937
9
Nordfrankreich, Sommer 2009
10
Esperance, Frankreich. 1938
11
Nordfrankreich, Sommer 2009
12
Esperance, Frankreich. 1938
13
Nordfrankreich, Sommer 2009
14
Paris, April 1939
15
Nordfrankreich, Sommer 2009
16
Esperance, Sommer 1939.
17
Nordfrankreich, Sommer 2009
18
Esperance, Herbst 1939
19
Normandie, Sommer 2009
20
Esperance, Frankreich. Winter 1940
21
Nordfrankreich, Sommer 2009
22
Esperance, Frankreich. Dezember 1941
23
Nordfrankreich, Sommer 2009
24
Esperance, Frankreich. 9. Dezember 1941
25
Nordfrankreich, Sommer 2009
26
Omaha Beach, 6. Juni 1944
27
Nordfrankreich, Sommer 2009
28
Esperance, 1944
29
Esperance, 1945
30
Esperance, Frankreich. September 1945
Teil zwei
31
Nordfrankreich. Sommer 2009
32
Rhode Island, 1945
33
Rhode Island, 1946
34
Rhode Island, 1949
35
Normandie, Frühling 1955
36
Rhode Island, Sommer 1955
36
Rhode Island, 1955
38
Florida, Winter 1955
39
Rhode Island, März 1956
40
Rhode Island, September 1956
41
Rhode Island, 1957
42
Rhode Island, Winter 1960
43
Rhode Island, Weihnachten 1962
Teil drei
44
Rhode Island, April 1963
45
Rhode Island, 1966
46
Rhode Island, 1979
47
Rhode Island, 1984
48
Rhode Island, 1984
49
Rhode Island, 1988
50
Florida, 1996
51
Rhode Island, 1996
52
Florida, 1997
53
Florida, 2006
54
Florida, 2008
55
Nordfrankreich, 2009
Danksagung
Informationen zum Buch
Kugeln singen. Das hat er bisher nicht gewusst. Wenn er genau hinhört, kann er jede einzelne wahrnehmen. Nur eine Sekunde lang fragt er sich, ob eine davon für ihn singen wird. Um ihn her fallen die Granaten; die markerschütternden Trommeln in dieser brutalen Oper. Wo sie auf den Strand treffen, explodiert die Erde. Sand wird emporgeschleudert, klebt an seinem Körper, brennt in seinen Augen. Er reibt ihn ab und geht weiter, dankbar, nicht mehr im eiskalten Wasser zu sein und sich bewegen zu können.
Sobald er konnte, war er über die Reling des Landungsboots gesprungen. Besser, seine Chance zu nutzen und sich tapfer dem Kanal zu stellen, als zusammengekauert auf dem Boot zu sitzen. Der Kapitän gab den Befehl. Keine Zeit, zu zögern und den Wahnsinn in Frage zu stellen, in eine Wand aus Kugeln hineinzulaufen. Also sprang er, das Gewehr über dem Kopf, damit es nicht nass wurde, und stieß sich dabei die Hüfte. Es tat höllisch weh, bis die Eiseskälte des Wassers seinen Körper gefühllos machte. Sehr kalt für Juni. Im Meer sammelte sich das Blut der Soldaten, die vorangegangen waren, rote Seen in den Wellen, die ihn nach vorn trieben. Aber darüber konnte er jetzt nicht nachdenken. Vorne, auf dem Hügel über dem Strand, lag gut geschützt der Feind, versteckt hinter Betonbunkern, die gewaltigen Waffen direkt auf sie gerichtet. Er schiebt sich vorwärts.
Zwei Jahre Ausbildung haben ihn hierauf nicht vorbereitet. Der Lärm. Der metallische Geruch von Blut; wie die Eimer voller Nägel in der Werkstatt seines Großvaters. Er senkt den Kopf und geht weiter. Wie weit ist es über den Strand? Wird er es schaffen? Er denkt an den Strand zuhause, den er am Morgen vor seiner Abfahrt entlanggerannt ist. Die Sonne ging gerade auf. Er weiß noch, wie er in den frühen Morgen hinaustrat und darauf achtete, dass die Tür mit dem Fliegengitter nicht zuschlug und seine Eltern und den kleinen Bruder weckte. Wer war noch da gewesen an jenem Wochenende, um ihn zu verabschieden? Seine Tante und sein Onkel. Die Nachbarn schauten kurz herein. Ihr Junge war als einer der Ersten losgezogen. Ihr Land war angegriffen worden. Sie wussten, was sie zu tun hatten. Und doch war es eine schreckliche Geschichte.
Und noch ein Schritt. Ein höllisches Getöse, der Boden erzittert, es fühlt sich an wie ein Erdbeben. Vor ihm wird ein Mann von Flammen verschlungen. Eine menschliche Fackel, so nah, dass er ihn berühren könnte. Er spürt die Hitze auf seiner eigenen Haut, als er den brennenden Mann packt und ins Wasser zerrt; seinen Helm benutzt er, um die Flammen zu ersticken, die den Kopf des Soldaten umschließen wie eine glühende Krone. Er wendet den Blick ab, schließt für einen Moment die Augen. Der Geruch. Wie beim Grillen. Ein raucherfüllter Oktoberabend. Und noch etwas, das er noch nie zuvor gerochen hat. Ihm dreht sich der Magen um.
»Alles in Ordnung, alles in Ordnung«, ruft er, obwohl ihm bewusst ist, dass das nicht stimmt. Was sollte er auch sonst sagen? Wahrscheinlich hört der Mann es nicht einmal. Die Artillerie wütet um ihn her. Er muss es über den Strand schaffen. Rückwärts gehend, schiebt er den verbrannten Mann zur nächstgelegenen Panzersperre, dessen metallische Struktur ihre einzige Deckung ist. Es erinnert ihn an ein Spiel, das er als Kind gespielt hatte. Warum bloß muss er jetzt daran denken? Er lässt den verbrannten Mann im Sand liegen und wendet sich wieder seiner Aufgabe zu. Sie müssen die Klippen hinaufklettern. Sand und Wellen zerren an seinen Beinen, und er fällt rückwärts ins Wasser. Landet auf dem Gesäß. Das wird man ihm später unter die Nase reiben. Er kann schon fast hören, wie Hank behauptet, er hätte sich im Dienst hingesetzt.
Hank. Wo ist er? Er kann nicht viel sehen, denn der aufstiebende Sand fliegt ihm in die Augen.
Als er aufsteht, ist er sich der Tatsache bewusst, dass er nun ein größeres Ziel bietet. Er zurrt seinen Helm fest. »Ich möchte leben«, flüstert er wie ein kleines Gebet. Er hat viel, wofür es sich zu leben lohnt. Eine Familie. Ein Mädchen. Aber er will nicht an sie denken. Er will sie nicht zu sich in diesen Albtraum holen. Sie hat es nicht verdient. Seine Stiefel kommen ihm jetzt schwer vor; vielleicht sind sie voller Wasser. Er ist sich nicht sicher. Es dauert einen Moment, bis er sich orientiert hat. Er fühlt sich benommen und muss sich konzentrieren, um seine Beine zum Gehen zu bewegen. Ein Schritt. Zwei. Er glaubt mitten im Konzert der pfeifenden Kugeln zu hören, wie sein Name gerufen wird. Er macht einen weiteren Schritt.
»Sanitäter! Sanitäter!«, hört er. Er kennt diese Stimme und blickt sich um, um herauszufinden, wo die Rufe herkommen. Etwas Warmes und Nasses spritzt auf sein Gesicht. Blut. Sein eigenes? Keine Zeit, sich darum zu kümmern. Noch ein Schritt. Etwas liegt im Weg. Er stolpert, blickt nach unten. Ein Bein. Ohne Körper. Das Fleisch vollkommen zerrissen. Er weiß, was es ist, kann das Blut riechen, die Knochen sehen, aber es könnte genauso gut ein Autoreifen oder ein Geburtstagskuchen sein, so wenig nimmt er es wahr. Jetzt tritt er auf Fleisch. Er kann nicht darüber nachdenken, er muss vorwärtsgehen. Sie müssen den Strand freimachen, so lautet der Befehl. Das ist es, was sie tun müssen. Noch ein paar Schritte, dann ist er in Sicherheit. Dann hat er es geschafft. Aber die Klippe liegt nun schemenhaft in der Ferne. Es kommt ihm vor, als würde sie sich immer weiter entfernen, wie eine Fata Morgana.
Der Lärm ist unerträglich. Die Granaten schlagen ein, und die Erschütterung lässt seinen Körper vibrieren, bringt ihn kurzzeitig aus dem Gleichgewicht. Er kämpft sich vorwärts. Vor sich sieht er Hank. Sie sind seit der Grundausbildung zusammen, und er hätte seine gebeugten Schultern überall erkannt, seine seltsame Art zu gehen, so weit vorgebeugt, dass man glaubt, er würde gleich stürzen.
Der Geruch des Wassers füllt seine Nase, seine Lungen. Es erinnert ihn an die Meeresgischt in Cape Cod. Wenn sie überleben, wird er Hank mit nach Cape Cod nehmen. Sie wohnen nur ein paar Stunden voneinander entfernt, wären sich aber ohne diesen Krieg nie begegnet. Jetzt sind sie Freunde. Sie werden segeln gehen und Austern essen. Hummer. Er wird Hank alles bieten.
Der Meeresgeruch ist jetzt stärker. Er lässt ihn an Perlen denken. An Spaziergänge am Strand. An sein Mädchen. Das Leben, das sie zusammen geplant hatten. Er spürt, wie es ihm entgleitet.
Der Lärm ist nicht mehr so laut. Er beginnt zu frieren. Wer hätte geahnt, dass es in Frankreich im Juni so kalt ist? Wie weit ist die Sandbank noch entfernt? Er könnte sich dort einen Moment ausruhen und auf Befehle warten. Er rutscht aus, blickt aber nicht nach unten. Er will nicht wissen, auf was er dieses Mal getreten ist. Er rutscht nochmal aus und fällt zu Boden. Komisch, aber er kommt nicht auf die Beine. Er umfasst seine Waffe fester, zieht sie an die Brust. Er wird gezogen. Hört, wie immer wieder sein Name gesagt wird. Er kennt die Stimme. Er muss aufstehen. Aber irgendwie kann er sich nicht rühren. Jemand setzt ihm seinen Helm wieder auf. Er hat nicht gemerkt, dass er heruntergefallen war.
»Alles in Ordnung, Kumpel, alles in Ordnung.« Es ist Hank.
»Ich bin getroffen worden«, sagt er zu Hank. Er ist fast überrascht. Aus irgendeinem Grund hatte er geglaubt, er könnte es schaffen. Aber er weiß, dass es nicht so sein wird. Die Gedanken an zuhause werden stärker. Er riecht Speck, Eier, Zimt und den leichten Meeresgeruch, der immer in der Luft lag. Er hört seinen Vater beim Zeitunglesen pfeifen, seine Mutter in der Küche herumwirtschaften. Den Aufprall eines Balles auf einem Handschuh – jahrelang hatte er Baseball mit seinem kleinen Bruder gespielt, dem jegliches Ballgefühl fehlte. Er hatte ihn deswegen aufgezogen. Das tat ihm jetzt leid.
Der Schmerz, den er bisher nicht gefühlt hat, schießt in ihn, er schnappt nach Luft. Er versucht die Hand an seinen Brustkorb zu bringen, aber die einfache Bewegung ist ihm unmöglich. Er wird sie nicht wiedersehen. Wird die Süße ihrer Küsse nie mehr schmecken. Wird sie nie mehr in den Armen halten. Er spürt Tränen aufsteigen und macht sich nicht die Mühe, sie zurückzuhalten. Könnte das wohl gar nicht, selbst wenn er es versuchte. Er weiß, dass er es aus dem Wasser geschafft hat, aber trotzdem fühlt es sich an, als würde er ertrinken.
Er spürt Arme, die sich um ihn legen.
»Alles in Ordnung«, sagt Hank erneut. Aber er sieht die Panik in den Augen des Freundes. Über ihm ruft jemand nach einem Sanitäter. Oder vielleicht ruft Hank. Aber er soll damit aufhören. Hank muss aufhören zu schreien, denn bevor er stirbt, will er ihm noch etwas sagen.
»Hank«, sagt er, bemüht, sich in dem Chaos Gehör zu verschaffen. Was er zu sagen hat, ist wichtig. Er streckt den Arm nach Hank aus, ergreift ihn, und sein Freund blickt zu ihm herunter, zwingt sich zu einem Lächeln.
Gott, es tut jetzt so weh – nicht die Wunde, sondern der Gedanke an alles, was er verloren hat. Hank nimmt seine Hand, hält sie ganz fest, als wollte er ihn zwingen zu bleiben. Ihn aus der Leere zurückholen. Aber er hat etwas im Hals. Blut, denkt er. Wenn er spricht, scheinen die Worte aus einem sprudelnden Brunnen zu kommen.
»Weißt du, mein Mädchen, über das wir gesprochen haben … wirst du dich um sie kümmern?« Seine gurgelnden Laute klingen verzweifelt, qualvoll.
»Du kommst schon wieder in Ordnung«, sagt Hank, doch seine Augen sprechen eine andere Sprache. Der Druck seiner eigenen Hand wird jetzt schwächer, die Hände sind zu kalt zum Festhalten, aber er spürt Hanks Griff, sicher, zuverlässig, stark.
»Hank«, sagt er und versucht seine Hände zu bewegen. Hände, die jahrelang Klavierunterricht genommen haben. Hände, die Zeichenstifte hielten, Häuser und Gebäude skizzierten, ihr Gesicht streichelten. Hände, von denen er geglaubt hatte, sie würden Kinder halten. Jetzt folgen sie seinem Willen nicht mehr.
»Natürlich werde ich das. Natürlich, ich verspreche es dir.« Hanks wilder Blick passt nicht zu seinen bestimmten Worten.
Nun fühlt er sich besser. Hank wird für sie sorgen. Er sieht sie jetzt vor sich, wie sie an jenem Abend in Paris aussah, in diesem einfachen cremefarbenen Kleid, voller Energie, Schönheit und Liebe. Er hofft, dass sie spüren kann, wie sehr er sie liebt.
»Du musst segeln gehen in Cape Cod, wie wir es besprochen haben«, sagt er. Dann schließt er die Augen und nimmt den Atemzug, von dem er weiß, dass es der letzte ist. Er hätte gern gelebt, denkt er nochmal. Es gab so vieles, was er tun wollte. So vieles, für das es sich zu leben lohnte.
»Geh auch mit ihr zum Segeln.« Hank hält seine Hand noch fester.
Jetzt ist es still, der Artilleriebeschuss, das Geschützfeuer, das Geräusch von zerreißenden Körpern. Die Schreie der Männer. Eine der Kugeln hat eben doch für ihn gesungen.
Auf dem Weg zur Bäckerei spürt Elise die Sonne auf dem Rücken. Sie hört den Wind in den Blättern der Bäume. Platanen, Pappeln. In der Ferne Monsieur Gravels Windspiel, das leise Klirren, das sie immer an Feen denken lässt. Es ist ein schöner Frühlingstag, ein perfekter Tag, und sie wird heute sechzehn und geht zur Bäckerei, um einen Kuchen zu kaufen. Sie hat seit drei Jahren keinen Kuchen mehr gegessen, seit Papa gestorben ist. Obwohl sie wusste, dass ihre Maman keinen Kuchen backen würde, hat sie am Vorabend noch gehofft, heute einen auf dem Tisch zu entdecken, auf der Kuchenplatte, geschützt von der Glasglocke, durch die die roten Kirschen aussehen wie Muster im Glas. Daneben ein Geschenk, oder mehrere, je nachdem, in welcher Stimmung Maman wäre. Dass Papa ihr ein Ständchen bringen würde, während er vor der Arbeit seinen café trank. Als er noch lebte, war es schön gewesen, Geburtstag zu haben. Alles war damals besser gewesen. Nicht perfekt, aber besser. Jetzt lagen die Dinge anders. Papa war nicht mehr da. Ihr Bruder Philippe studierte in Paris –, und er hatte sich seit Papas Tod vollkommen verändert. Er war ein Fremder geworden, verloren in einer Welt von Alkohol und Zigaretten. Jetzt gab es nur noch Maman und sie. Sie versucht nicht daran zu denken. Sie blickt wieder zu den Blättern hoch und konzentriert sich auf das Geräusch des Feengeklingels.
Es ist nicht weit zur Bäckerei, also verlangsamt sie ihren Schritt; es besteht kein Grund zur Eile, und es ist schön, allein unterwegs zu sein, weg von zuhause. Unterwegs in den von Häusern gesäumten Straßen, durch die Hauptstraße mit all den Läden. Zu bald schon steht sie vor dem kleinen Steingebäude gegenüber dem Park, in dem sich die Dorfbäckerei befindet. Sie bleibt einen Augenblick stehen und atmet den Duft frisch gebackenen Brotes tief ein. Er ist so dicht und deutlich, dass sie meint, sie bräuchte nur die Hand ausstrecken und Butter auf die Luft um sie herum zu schmieren. Bei dem Gedanken muss sie lächeln, während sie die drei abgetretenen Stufen zum Eingang hinaufgeht. Ein Klingeln ertönt, als sie die hölzerne Tür öffnet. Hinter dem Tresen sitzt Monsieur Allard. Bei ihrem Anblick weicht sein gewöhnlich starrer Gesichtsausdruck, mit dem er konzentriert und ungeduldig drei Dinge auf einmal erledigt, einem breiten Lächeln. Er freut sich immer, Elise zu sehen, und das beruht auf Gegenseitigkeit.
»Ma belle«, sagt er und reckt ihr zur Begrüßung die Arme entgegen, obwohl der hölzerne Tresen sie trennt. Als er dagegenstößt, lachen sie beide. Elise hegt den leisen Verdacht, dass er solche Sachen nur anstellt, um sie zum Kichern zu bringen. Im Dorf gilt er als ein wenig mürrisch, doch Elise weiß, dass das nicht stimmt, es ist einfach seine Art. Jetzt lacht sie, damit er sich freut.
Er zieht ein Gesicht, als überraschte es ihn, dass der Tresen zwischen ihnen ist. Schnell geht er herum und kommt auf sie zu. Trotz seines Umfangs und seines seit irgendeiner Kinderkrankheit verdrehten Fußes bewegt er sich voller Anmut.
»Bonne fête, chérie!«, sagt er und zieht sie an sich. Sie spürt die dicke Baumwolle seiner Schürze und seine Wärme, weil er am Ofen gearbeitet hat. Er riecht nach frischem Brot und Zucker und Zimt. Diese Düfte trösten sie ebenso wie seine Umarmung, und sie hat das Gefühl, von einem riesigen, frisch gebackenen Zimtbrötchen umfangen zu werden.
Elise kann kaum glauben, dass er daran gedacht hat. Es rührt sie fast zu Tränen. Statt zu weinen, erwidert sie seine Umarmung ganz fest. Er ist so beleibt, dass sie ihn nur halb mit den Armen umschlingen kann, und letztendlich drückt sie hauptsächlich seine Flanken. Das bringt sie erneut zum Lachen.
Einen Arm um sie gelegt, führt er sie hinter den Tresen und die schmale Treppe zu der kleinen Wohnung über dem Laden hinauf, in der er mit seiner Familie wohnt. Die Tür öffnet sich und sie erblickt Marianne, Monsieur Allards Frau. Sie sagt etwas, das Elise nicht versteht, und lacht dann, ein schnelles, klares Lachen.
»So gratuliert man auf Deutsch zum Geburtstag.« Marianne ist aus München, und als sie ins Dorf zog, war das ein großes Gesprächsthema. Neuzugezogene waren immer ein beliebtes Klatschobjekt. Derzeit sind Deutschland und sein kleiner Führer in aller Munde. Elise schenkt dem kaum Aufmerksamkeit. Er ist ein hässlicher Mann und sie hat kein Interesse an ihm. Und überhaupt, was hat Deutschland schon mit Frankreich zu tun?
»Merci«, sagt sie. »Danke, richtig?«
Michel, Mariannes Sohn, sitzt auf ihrer Hüfte. Als Marianne die Kerzen anzündet, starrt er zunächst fasziniert auf die flammende Spitze des Streichholzes, bis er Elise entdeckt und die Ärmchen nach ihr ausstreckt. Sie nimmt ihn auf den Arm. Mariannes Gesicht zeigt Erleichterung. Sie sieht müde aus, denkt Elise. Vielleicht kann sie es einrichten, öfter zum Babysitten zu kommen, damit Marianne sich ausruhen kann. Monsieur Allard legt ihr die Hände auf die Schultern, um sie zum Hinsetzen zu bewegen. Elise lacht, und Michel auch. So ein fröhliches Baby. Sie nimmt seine Händchen und drückt schmatzende Küsse darauf, was ihn noch mehr zum Lachen bringt.
»Achtung, Achtung«, sagt Monsieur Allard. Elise blickt zu ihm hoch, während Marianne eine Tasse Kaffee vor sie hinstellt. Der leichte Wind von draußen spielt mit dem weißen Musselinvorhang am Fenster und kommt den brennenden Kerzen auf dem Kuchen gefährlich nah. Elise schiebt ihn weg, um die Gefahr abzuwenden. »Heute ist ein sehr wichtiger Tag.« Er räuspert sich und strafft die Schultern. Elise beschleicht das Gefühl, er hätte das alles einstudiert, und sie liebt ihn umso mehr. »Unsere schöne Elise wird sechzehn. Sie ist jetzt eine Frau!«, sagt er, und aus irgendeinem Grund errötet sie daraufhin. »Für meine Marmeladentörtchen wirst du dich nicht mehr interessieren und auch nicht den warmen Pudding aus dem Gebäck drücken.« In seiner Stimme schwingt gespielte Verzweiflung mit, und Elise denkt, er hätte nicht Bäcker, sondern Schauspieler werden sollen. Marianne starrt ihren Mann, diesen großen Bären, an, als hegte sie die gleichen Gedanken.
»Vor unseren Augen bist du zu einer schönen Frau geworden. Einer schönen Frau«, betont er nochmal. »Möge das beginnende Jahr das beste von allen bisherigen sein! Herzlichen Glückwunsch, Elise!«
Marianne gibt ihr einen herzlichen, mütterlichen Kuss, obwohl sie nur fünf Jahre älter ist als Elise. Monsieur Allard legt seine großen, warmen Hände auf ihre Wangen, zieht sie an sich und verpasst ihr nicht einen, nicht zwei, sondern drei Küsse, bis Marianne lachend sagt: »Das reicht!«
»Wünsch dir etwas!«, sagen die beiden. Elise gehorcht, schließt die Augen. Einen Augenblick überkommt sie Traurigkeit. Sie weiß, was sie sich wünscht, nämlich dass Papa nach Hause kommt, aber sie weiß auch, dass das unmöglich ist. Also konzentriert sie sich auf einen anderen Wunsch, einen verrückten, lächerlichen Wunsch nach Liebe und Abenteuer, dessen Erfüllung an diesem ruhigen kleinen Ort, wo sie zuhause ist, unmöglich scheint. Die Hand auf Michels kleinem Kopf, drückt sie ihn enger an die Brust, um ihn vor dem Wachs zu schützen, als sie die Kerzen ausbläst. Während schmale Rauchfähnchen emporsteigen, beginnt Marianne den Kuchen anzuschneiden und auf kleine weiße Teller zu verteilen, die mit leuchtend roten Rosen und Goldrand verziert sind. Elise weiß, dass das ihr Hochzeitsgeschirr ist, und die Tatsache, dass Marianne es jetzt benutzt, rührt sie fast zu Tränen. Sie zieht Michel noch enger an sich und vergräbt ihr Gesicht in seinem warmen Babygeruch.
»Iss!«, sagt Marianne und reibt Elises Hand mit einer Geste, die besagt, ich sehe deine Traurigkeit und wünschte, ich könnte dir helfen.
Elise steckt ein Stück Kuchen in den Mund und nimmt einen Schluck Kaffee. Monsieur Allard holt eine Flasche Calvados und schenkt allen einen kleinen Aperitif ein. Die Ladenglocke klingelt und Monsieur Allard springt auf.
Elise nimmt das Glas entgegen. Sie hat ihn noch nie probiert, den Apfelbranntwein, den jeder in ihrem kleinen Dorf trinkt. Vorsichtig nippt sie und spürt das Brennen in der Kehle.
»Oh«, sagt sie und greift nach der Kaffeetasse, um den scheußlichen Geschmack loszuwerden. Michel schaut hoch und lacht über das Gesicht, das sie macht.
»Man gewöhnt sich daran«, sagt Marianne achselzuckend.
»Warum sollte man das wollen?«, erwidert Elise lachend. Aber es stimmt, was Marianne sagt. Man gewöhnt sich an schreckliche Dinge und akzeptiert sie. Sie ist zwar erst sechzehn, aber das weiß sie.
»Also«, sagt Monsieur Allard, der gerade ins Zimmer zurückkommt. »Jetzt beginnt der Ernst des Lebens. Das Leben ist kein Zuckerschlecken.« Er sieht Elise an. »Jetzt, wo du eine junge Frau von Welt bist, wirst du Geld brauchen«, sagt er und steckt die Hände in seine Schürzentaschen.
Elise vermutet, er wird sie bitten, sich um Michel zu kümmern. Der Gedanke gefällt ihr, aber sie weiß nicht, wie Maman reagieren wird. Auf das, was er schließlich sagt, ist sie nicht vorbereitet. »Hättest du Lust, in der Bäckerei zu arbeiten, vor allem samstags, aber auch nach der Schule?« Er sieht sie hoffnungsvoll an.
Elise strahlt. Sie ist überwältigt. Arbeiten in der Bäckerei. Geld! Sie kann sich einen neuen Hut kaufen, ins Kino gehen. Doch dann bricht die Realität über sie herein, als hätte man einen Eimer nassen Zements über ihr ausgeleert, kalt und klebrig und lähmend. Maman wird das nie und nimmer zulassen. Sie wird sagen, dass Elise daheim gebraucht wird. Nach Papas Tod ist sie immer abhängiger von Elise geworden. Inzwischen erträgt sie es kaum noch, Elise aus den Augen zu lassen.
»Ich würde sehr gern hier arbeiten. Nur zu gern. Aber …« Sie verstummt. Elise hat versucht, das Familiengeheimnis zu wahren, aber, na ja, in dieser Stadt bleibt nichts geheim. Monsieur Allard weiß Bescheid, denkt sie, aber er soll nicht erfahren, wie schlimm die Dinge stehen. Papa hatte Geld hinterlassen, seine Eltern ebenfalls, so kamen sie also über die Runden. Es war genug da, um ihrem Bruder und ihr selbst die Ausbildung zu finanzieren. Aber das Haus musste renoviert werden. Maman zog sich an den meisten Tagen nicht einmal an. Elise ist verlegen, als wäre die Frau gerade leibhaftig in ihrem schäbigen Bademantel aufgetaucht. Die Röte steigt ihr ins Gesicht. Sie spürt es, kein scharfes Brennen wie vom Calvados, sondern schlimmer. Ein Brennen, das nicht weggeht. Ein Brennen, das in jeden Teil ihres Alltags kriecht, ohne dass ein Ende in Sicht wäre.
»Ich habe mit deiner Maman gesprochen.« Ein Schleier von Wut verdunkelt einen Augenblick lang seine Augen, aber er fasst sich sofort, während Elises Herz zu rasen beginnt. War er bei ihr zuhause, als sie in der Schule war? In welchem Zustand war Maman? In die Bäckerei war sie bestimmt nicht gekommen. Sie hatte das Haus seit zwei Jahren nicht verlassen!
»Deine liebe Maman ist einverstanden. Sie versteht, dass eine junge Frau ihren eigenen Lebensweg antreten muss. Und sie weiß, dass wir die Hilfe benötigen.« Er deutet vage in Richtung Küche, aber seine große Armbewegung umfasst auch Marianne, die Elise strahlend anlächelt, wie um zu sagen: Es ist in Ordnung. Hab Vertrauen. Doch Elises Verstand arbeitet nach wie vor wie im Fieber. War Maman angezogen, als er kam, oder trug sie das scheußliche braune Nachthemd? Monsieur Allard legt seine große, warme Hand auf die von Elise. »Es ist okay. Alles ist gut! Nächste Woche fängst du an, ja?«
Elise würde am liebsten aufspringen und diesen guten Mann küssen. Aber sie hat das Baby auf dem Arm und vor ihr steht Kaffee. Zudem ist da die bohrende Angst, Maman könnte ihr das irgendwie kaputtmachen. Und doch, jetzt in diesem Moment … ist es eine Riesensache. Sie hat Tränen in den Augen, als sie zu Monsieur Allard hochblickt, und sagt: »Danke.« Ihre Worte und das Leuchten in ihren Augen lassen ihn dahinschmelzen, und er sieht Elise mit väterlicher Zärtlichkeit an. Elise kann sich kaum erinnern, mal einen solchen Blick abbekommen zu haben.
Die Ladenglocke klingelt und Monsieur Allard eilt die Stufen hinunter, um seinen nächsten Kunden zu bedienen. Marianne wendet sich Elise zu und sagt: »Ist er dir zu schwer? Soll ich ihn dir abnehmen?«
Elise schüttelt den Kopf. »Nein, es ist wunderbar so«, sagt sie und schnuppert an Michels Hinterkopf.
»Sechzehn also. Irgendwelche großen Pläne?« Marianne lässt sich auf einem Stuhl nieder und lächelt Elise an.
»Philippe kommt«, sagt sie und versucht es klingen zu lassen, als käme er zu ihrem Geburtstag, obwohl ihr Bruder wahrscheinlich nicht einmal dieses Datum im Kopf hat. Aber sie freut sich, dass er zu Besuch kommt. Es muntert Maman auf.
»Das wird bestimmt nett«, sagt Marianne. »Und nächste Woche fängst du hier an. Ich freue mich darauf, dich nun öfter zu sehen!«
Plötzlich fällt Elise die Zeit ein und sie rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. »Ich muss gehen«, sagt sie, bleibt aber sitzen, will die schöne Zeit nicht enden lassen. Will nicht nach Hause gehen.
»Ich werde dir deinen Kuchen einpacken«, sagt Marianne.
Elise denkt an die wenigen Centimes, die sie in der Tasche hat. Jetzt kann sie sie für eine neue Winterjacke zurücklegen. Aus der letzten ist sie herausgewachsen und trägt nun die ihres Vaters.
»Wirklich? Maman isst bestimmt gern ein Stück zum Tee.«
Marianne holt ein Stück Packpapier und beginnt den Teller einzupacken.
»Ich kann doch nicht dein gutes Geschirr mitnehmen!«, ruft Elise aus.
Marianne winkt ab. »Du bringst ihn einfach zurück.«
Elise übergibt Michel wieder Marianne und nimmt den Teller. Sie küsst das Baby und auch Marianne und verlässt den Laden.
»Danke für den Kuchen«, sagt sie zu Monsieur Allard, bittet um ein Baguette und reicht ihm ein paar Münzen.
»Nicht an deinem Geburtstag!«, weist er das Geld zurück. Obwohl sie weiß, dass es hoffnungslos ist, versucht sie es erneut, aber er bleibt hart.
Noch ein paar Küsse, und dann ist sie aus der Tür; hinter ihr klingelt die Glocke. Sie beeilt sich jetzt und hält dabei den Teller ganz fest. Das Papier klebt schon am Zuckerguss. Auf dem Weg wünscht sie sich inständig, dass Papa noch leben würde und sie ihm erzählen könnte, dass sie jetzt eine Arbeit hat. Ein vertrauter Schmerz sticht ihr ins Herz, als müsste sie daran erinnert werden, dass er nicht mehr da ist. Sie geht schneller, wie um davor davonzulaufen. Der Wind wird jetzt stärker und Monsieur Gravels Windspiel klirrt so, als wollte es eine große Ankunft oder ein wichtiges Ereignis ankündigen.
Elise kann ihn vor sich sehen, wie er aus seinem Fenster blickt, den Stumpf seines linken Armes, den er im Weltkrieg verloren hat, nach hinten gedreht, und sich Sorgen macht, sein Windspiel könnte weggeweht werden. Die Nachbarn, des unaufhörlichen Gebimmels längst müde, würde das nicht betrüben.
Auf dem gepflasterten Weg zu ihrem Haus tritt sie vorsichtig auf, weil die Steine immer so schlüpfrig werden. Sie öffnet mit einer Hand und einem Stoß mit der Hüfte die Tür, setzt den Kuchen auf dem kleinen Tisch in der Diele ab und erhascht dabei in dem gesprungenen Spiegel darüber einen Blick auf sich selbst. Während sie ihr Haar löst und den Kopf schüttelt, entdeckt sie auf dem Boden die braune Ledertasche ihres Bruders. Sie ist an den Ecken so abgestoßen, dass sie sie überall erkennen würde. Sie ist nicht alt, aber ungepflegt. Philippe kümmert sich um gar nichts mehr. Nicht einmal um sich selbst. Es gab eine Zeit, in der er charmant und eitel war und gerne lachte. Spaß machte. Diese Tage sind vorüber, aber Elise hofft, dass sie zurückkehren. Daneben steht ein marineblauer Koffer, schick und neu. Wem gehört der wohl? Schnell bindet sie ihre Haare wieder zusammen, nimmt den Teller in die Hand und geht Richtung Küche.
Ein paar Schritte, und sie sieht Maman im Wohnzimmer stehen. Irgendetwas an ihr ist anders. Sie berührt mit einer Hand ihre Haare, wie um schöner auszusehen. Ein Lächeln spielt um ihre Lippen – das ist so selten, dass Elise stutzt. Während sie noch große Augen macht, tritt jemand Neues ins Bild. Ein hochgewachsener Mann in eleganter Kleidung. Wer ist das? Dort, wo er steht, betrachtet er offenbar das Bild von Papa, mutmaßt Elise. Ihr Herz beginnt schneller zu schlagen, während sie still weiter beobachtet. Der Mann ist größer als Maman, sogar größer als Philippe – bisher war er der größte Mensch, den Elise kannte. Immer noch den Teller in der Hand, immer noch reglos, starrt sie den Fremden an. Er trägt weiche graue Hosen und ein frisches weißes Hemd, unter dem man seine breiten Schultern ahnt. Sein dunkles Haar reflektiert das wenige Licht, das durchs Fenster hereindringt, und sein Glanz erinnert Elise an Baumrinde nach einem starken Regen. Langsam dreht er sich um. Alle Luft scheint aus dem Zimmer zu weichen, und ihr Griff um den Teller wird unerklärlicherweise fester. Er sieht gut aus, nein, mehr als das: Er ist schön, mit großen, grau-blauen Augen, die Farbe des Meeres vor einem Sturm. Er sieht sie an und lächelt. Sie. Ein Ruck durchfährt Elise, als sie sich an den Wunsch erinnert, den sie getan hat, ehe sie die Kerzen auf ihrem Kuchen ausblies. Könnte es sein …?
Die Hintertür fällt zu und Elise weiß, dass ihr Bruder draußen eine Zigarette geraucht hat. »Minou!«, sagt Philippe und kommt auf Elise zu. »Wir haben uns schon gefragt, wo du bist. Oh, was hast du denn da?«
Elise weiß, dass ihr Bruder mit ihr spricht und dass sie antworten sollte. Aber irgendwie bringt sie weder ein Wort heraus noch kann sie die Augen von dem Fremden wenden.
»Elise! Dein Bruder spricht mit dir!«, seufzt Maman, und der Mann sieht kurzzeitig überrascht aus. Elise ist daran gewöhnt, denn Philippe ist Mamans ganzer Stolz und macht niemals etwas falsch, ganz im Gegensatz zu Elise. Man verabscheut den Menschen, von dem man abhängig ist, das lernt sie gerade.
»Kuchen. Monsieur Allard hat mir zum Geburtstag einen Kuchen gebacken«, sagt sie mit einer hohen, etwas flötenden Stimme, die gar nicht wie ihre eigene klingt.
»Ach so, ja, alles Gute zum Geburtstag«, sagt Philippe. »Ich habe was für dich.« Er klopft seine Taschen ab, als könnte dort ein Geschenk stecken. »In meinem Gepäck.« Elise zweifelt stark daran. Philippe hat sie immer an Plundergebäck erinnert: außen süß und schön anzusehen, aber innen hohl, bis man Schokolade oder Zitronencreme hineinfüllt. In letzter Zeit füllen Philippe nur noch Zigarettenrauch und Alkohol. Sie wartet darauf, dass sie seinem Freund vorgestellt wird, aber nichts geschieht.
»Möchte jemand Kuchen? Soll ich Kaffee machen?« Elise fasst sich, geht bereits Richtung Küche. Ihr Herz klopft so heftig, dass sie sich ruckartig bewegt. In der Küche stellt sie den Teller ab und holt tief Luft. Dann linst sie um die Ecke, um ihn nochmal zu sehen. Maman spricht mit ihm und er beugt sich zu ihr, eine Locke fällt ihm in die Augen. Er sieht aus wie James Stewart. Während Elise die beiden im Gespräch beobachtet, werden seine Augen schmal und ernst; was erzählt Maman diesem Mann bloß? Unvermittelt blickt er auf und sieht, dass sie ihn beobachtet. Er lächelt sie direkt an, zeigt seine weißen Zähne, und in seinen Augen leuchtet etwas, das Elise nicht identifizieren kann. Wieder fällt ihm das Haar ins Gesicht und er streicht es nach hinten.
Elise ist es schrecklich peinlich, dabei erwischt worden zu sein, wie sie ihn anstarrt, und sie fährt auf dem Absatz herum und wendet ihm nun den Rücken zu. Sie packt den Kuchen aus und versucht ihn auf dem Teller so anzurichten, dass es schön aussieht. Der Zuckerguss bleibt an ihren Händen kleben. Während sie ihn ableckt, entdeckt sie auf dem Schrank ein Tablett. Es wird nie benutzt, ist aber wohl groß genug für den Kuchen, die Teller und die Tassen. Auf Zehenspitzen streckt sie sich hinauf, zieht es vorsichtig herunter und erhascht einen Blick auf die alte grüne Kuchenplatte samt Deckel dahinter. Sie schnappt sich einen Stuhl, klettert hinauf, und holt vorsichtig auch dieses Geschirr herunter. Es ist von einer dicken Staubschicht überzogen. Wann wurde es zum letzten Mal benutzt? Jedenfalls nicht seit ihrem dreizehnten Geburtstag. Ein schreckliches Jahr, aber an jenem Tag, ihrem Geburtstag, wussten sie noch nicht, was auf sie zukam. Sie spült es mit heißem Wasser und trocknet es ab, dann richtet sie Monsieur Allards Kuchen auf der Platte an und deckt ihn ab. Die rosa Rosen leuchten nicht so stark durch das grüne Glas wie damals die roten Kirschen, aber es macht sie trotzdem glücklich. Genau das hat sie sich gewünscht. Na ja, so ziemlich. Doch als das Tablett beladen ist, ist es ihr zu schwer, um es anzuheben.
»Philippe«, ruft sie und streckt den Kopf aus der Tür. Aber ihr Bruder ist nirgends zu sehen.
Der Mann kommt auf sie zu, mit entspannten Bewegungen und sicherem Schritt. Elises Herz schlägt schneller – so laut, dass sie sich fragt, ob er es hören kann, als er neben ihr steht.
»Kann ich vielleicht behilflich sein?« Seine Stimme ist warm, höflich und freundlich. Elise ist erneut sprachlos, aber aus einem ganz anderen Grund. Dieser entzückende Akzent! Sie könnte ihm den ganzen Tag lang zuhören. Wahrscheinlich ist er Amerikaner, mutmaßt sie, obwohl er ein sehr schönes Französisch spricht.
»Ähm, könnten Sie, könnten Sie bitte das Tablett zum Tisch tragen? Ich weiß nicht, wo Philippe steckt.«
»Er ist draußen beim Rauchen«, erklärt er und hebt das Tablett mühelos an. Elise weiß, dass Philippe des Hinausgehens schon bald müde sein und Maman ihm sagen wird, es sei in Ordnung, wenn er im Haus raucht. Schon bei dem bloßen Gedanken ziehen sich Elises Lungen zusammen. Sie denken nie daran, dass der Rauch bei ihr Asthmaanfälle auslöst. Aber Philippe kommt selten nach Hause, und wenn, dann verwöhnt Maman ihn, ihren Erstgeborenen.
»Nach Ihnen«, sagt er mit einer angedeuteten Verbeugung. Elise geht glücklich vor ihm her und wünscht sich inständig, sie hätte ihren hübschen marineblauen Rock angezogen anstelle des tristen grauen.
»Ich bin Elise«, sagt sie. »Philippes Schwester«, fügt sie erklärend hinzu.
»Und heute ist Ihr Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch. Ich bin William.« Er setzt das Tablett ab und streckt die Hand aus. Einen Augenblick lang weiß Elise nicht recht, was sie tun soll. Zögernd streckt auch sie ihm die Hand entgegen, doch dann öffnet sich schwungvoll die Tür und Philippe erscheint, in eine Rauchwolke gehüllt, die sofort ihren Rachen reizt. Sie zieht die Hand zurück und hustet hinein. Williams Stirn runzelt sich eine Sekunde lang, und sie ist beschämt. Wie ordinär, in die Hand husten! Doch sein Blick gilt ihrem Bruder, nicht ihr selbst.
Gläser stoßen klirrend aneinander, während Philippe im Schrank etwas sucht.
»Ha!«, sagt er mit einer überschwänglichen Geste und fördert eine Flasche Rotwein und eine Flasche Calvados zutage. Den Kaffee ignoriert er.
Sie setzen sich alle an den Tisch, und einen köstlichen und aufregenden Moment lang berührt Williams Bein das ihre. Sie spürt den weichen Stoff seiner Hose, die kräftigen Muskeln darunter. Seine Wärme. Er zieht das Bein rasch weg, lächelt sie von der Seite halb entschuldigend, halb gleichmütig an und ihr Herz beginnt schnell und flatternd zu schlagen. Sechzehn zu werden ist wirklich das Beste, was ihr je passiert ist.
Es ist ein strahlender Sommertag, aber anstatt durch den Common-Park zu spazieren oder am Fluss zu sitzen, trinkt Lucy Wasser aus einem Messbecher und wartet auf die Umzugsleute.
Warum hatte sie als Erstes das ganze Geschirr eingepackt? Sie wusste nicht einmal mehr, wo dieser Messbecher herkam. Vielleicht war er schon da gewesen, als sie hier einzog. Sie lässt ihn ins Waschbecken fallen und blickt auf die Uhr, dann aus dem Fenster. Drei Jahre lang hat sie die gleiche Aussicht gehabt, viele Stunden damit zugebracht, auf die Bäume in der Ferne zu starren, als wären sie alte Freunde, die an schlechten Tagen Trost spenden. Die all ihre Fragen beantworten, zum Beispiel nach einem Freisemester. Nach Zusatzunterricht. Die Entscheidung, nicht zur Abschlussfeier zu gehen, hatte sie getroffen, als die ersten Knospen an der Amerikanischen Spitzeiche herauskamen. Ein Baum, so hatte ihr Großvater gesagt, der eine größere Wahrscheinlichkeit hat, vom Blitz getroffen zu werden, als alle anderen Arten. Sie wird es vermissen, zuzusehen, wie die Blätter sich flammend rot färben. Sie wird den Herbst in Massachusetts vermissen. Die vielen wissenswerten Kleinigkeiten, die ihr Großvater immer parat hatte, vermisst sie jetzt schon. Aber die Bäume haben keine Antwort auf die Fragen, die in ihrem Kopf kreisen. Und an Großvater kann sie sich jetzt nicht mehr wenden.
Sie dreht sich vom Fenster weg und betrachtet ihr Leben, das sich, ordentlich in Kisten und Koffer gepackt, in einer Ecke ihres kleinen Apartments stapelt. Ihr Bett und ihr Schreibtisch, der eigentlich als Esstisch gedachte Tisch, der ihr als zweiter Arbeitsplatz diente, und ein paar Stühle stehen mitten im Raum wie eine Gruppe von Sportlern, die sich nach dem Spiel umarmen. Sie lagert alles ein, bis sie an die Westküste zieht. Jetzt muss sie erst einmal den Rest des Sommers herumbringen.
Die Türglocke lässt sie zusammenfahren, ein lauter, schriller Ton wie von einer Million wütender Bienen. Sooft sie ihn gehört hat, er erschreckt sie immer noch. Das wird sie nicht vermissen. Lucy blickt aus dem Fenster, um sicherzugehen, dass es nicht Hal ist, der sich verzweifelt um die Verzeihung bemüht, die sie ihm nicht geben kann. Sie ist erleichtert und zugleich ein wenig enttäuscht, dass er es nicht ist.
Die Umzugsleute wirken verärgert, weil sie so wenig besitzt.
»Dafür reichen ein paar Freunde und ein Transporter«, sagt einer, als wollte er sie tadeln, weil sie ihnen die Zeit raubt.
»Nun, zufällig kenne ich niemanden, der einen Transporter hat. Und bezahlt habe ich auch schon. Können Sie also diese Sachen mitnehmen oder nicht?« Ihre Härte schockiert sie selbst. Sie ist müde. Es ist ihr alles zu viel, tröstet sie sich selbst.
Der Typ, der den Kommentar abgegeben hat, sieht sie bloß an, während der andere sagt: »Selbstverständlich, junge Frau.«
Sie müssen nur zweimal gehen. Als sie sich verabschieden, fragt sie, ob sie die vier Flaschen Sam Adams aus ihrem Kühlschrank haben wollen. Die stehen da seit Wochen und sie weiß, dass sie sie nicht trinken wird. Die Männer nehmen das Bier und ziehen davon.
Lucy blickt sich in ihrer jetzt fast vollständig leeren Wohnung um und beschließt, laufen zu gehen.
Der Sommerhimmel ist strahlend hell und schimmert golden. Lucy liebt es, durch die stillen, von alten Bäumen gesäumten Straßen zu laufen. Gegen Ende des Sommers werden einige davon Blätter in der Größe von Frisbee-Scheiben haben und in windigen Nächten sausende Geräusche machen. Das fehlt ihr jetzt schon, und sie ertappt sich dabei, wie sie sich im Vorbeilaufen von ihren Lieblingshäusern verabschiedet. Sie stellt sich gern vor, wie es darin aussieht und wie das Leben dort sein mag. Und dass die Straße, die sie entlangläuft, einst ein Feld war, dann ein Feldweg, der schließlich für den Autoverkehr zur Straße verbreitert und am Ende asphaltiert wurde. Sie läuft gern frühmorgens oder gegen Abend wie jetzt, wenn sie fast allein auf der Straße ist. Sie findet ihren Rhythmus und freut sich auf eine schöne Strecke, um all die Stunden wettzumachen, die sie in der Bibliothek gesessen hat.
Am Ende läuft sie 17 km und kommt erst bei Dunkelheit nach Hause. Sie sieht es sofort, etwas auf der Schwelle, in Papier verpackte Blumen. Ihr Herz macht gleichzeitig einen Freudensprung und zuckt erschrocken zusammen.
Schwer atmend, weil sie die letzten Meter gesprintet ist, bückt sie sich und hebt den Strauß auf. Oben ragt eine Karte heraus. Darauf steht in schwarzer Tinte ihr Name, in jenen Druckbuchstaben, die ihr so vertraut sind. Drei Jahre lang Geburtstagskarten, Weihnachtskarten, Karten zum Valentinstag. Ihre allerersten Liebesbriefe. Jetzt: Entschuldigungen. Bitten um Verzeihung, Verzeihung, die zuzugestehen sie sich weigert.
Sie blickt sich um, überlegt, ob sie den Strauß gleich in den Müll werfen soll, aber die Blumen sind zu schön, eine Frühlingsmischung mit Gelb- und Rosatönen. Sie zieht die Karte heraus, geht zur Nachbarwohnung und klopft an die Tür.
Lucy hört von drinnen die vertrauten Geräusche und lauscht. Das Radio wird leiser gedreht, als hätte die Lautstärke Einfluss auf das, was an der Tür geschieht. Lucy weiß, dass auch der Fernseher läuft, wenn auch ohne Ton. Ihre Nachbarin hat ihr erzählt, dass sie gern das Gefühl hat, die Menschen auf dem Bildschirm hätten ein Auge auf sie, würden sie besuchen, wobei es ihr egal ist, was sie reden. »Zu viel schlechte Ausdrucksweise heutzutage.«
Die Tür öffnet sich.
»Lucy!«
»Hallo, Mrs Morgan«, sagt Lucy.
»Komm rein, komm rein. Du siehst verschwitzt aus. Möchtest du ein Glas Wasser?«
»Danke, ich brauche nichts. Ich wollte Ihnen bloß diese Blumen bringen«, sagt sie und zeigt sie der älteren Frau. »Soll ich sie in eine Vase stellen?«
»Du weißt ja, wo alles ist«, sagt sie.
Lucy geht in die Küche und öffnet einen Schrank, holt die einfache Glasvase heraus, die sie immer benutzt, und füllt sie mit Wasser. Mrs Morgan steht hinter ihr und sieht zu.
»Dein Freund hat dir wieder Blumen geschickt, nicht wahr?«
Lucy dreht sich um und sieht sie an.
»Dir entgeht selten etwas, nicht wahr, Abigail?« Mrs Morgan hatte Lucy vor Jahren angeboten, sie Abigail zu nennen, aber Lucy wechselt zwischen beiden Anreden und zwischen du und Sie. Sie will nicht zu vertraulich werden, aber ihre Nachbarin soll sich auch nicht alt vorkommen. Lucy weiß, dass sie die Einzige im Haus ist, die sich ein wenig um die alte Dame kümmert, deren Sohn in Seattle wohnt. Lucy ist gleichzeitig ihre Freundin und ihre Betreuerin. Da sie nicht weiß, wie man einen Menschen anspricht, der diese Kriterien erfüllt, wechselt sie immer wieder die Anrede.
»Schenk uns doch einen Sherry ein, dann plaudern wir ein wenig«, sagt Abigail.
Lucy hat das Bedürfnis zu duschen, tut aber trotzdem, wie ihr geheißen, denn sie will nicht zurück in ihre leere Wohnung.
Abigail macht es sich in ihrem Stuhl bequem, während Lucy die Sherryflasche und zwei Gläser holt.
»Was steht denn auf der Karte?«
Lucy hatte, nachdem Hal ihr keine Ruhe gelassen und eine Frau, die einst ihre beste Freundin gewesen war, am Telefon erklärt hatte, sie habe das gar nicht gewollt, mit verweinten Augen vor Abigails Tür gestanden. Der Gedanke, dass die beiden zusammen gewesen waren, während sie ihren Großvater zu Grabe getragen hatte, ließ sie nicht mehr los. Sie hatte sich gefühlt, als wäre das Haus über ihr eingestürzt, als sie bei der Nachbarin anklopfte.
»Ich habe sie nicht gelesen.«
»Na, dann lies sie jetzt.«
»Ich bin sicher, es steht das Gleiche drauf wie immer. Es tut ihm leid, dass er mich verletzt hat. Bla bla bla.«
»Will er dich zurück?«
»Er will, dass ich ihm verzeihe. Ist das das Gleiche?«
»Verzeihen solltest du ihm um deinetwillen, nicht ihm zuliebe.« Sie nippt an ihrem Sherry. »Aber lass es dir von jemandem gesagt sein, der schon viel länger auf der Welt ist als du – er taugt nichts. Sei froh, dass dir das vor der Hochzeit klar geworden ist. Und diese Freundin? Ein Miststück.«
Lucy zuckt bei dieser Bemerkung zusammen. Sie hat Hal geliebt, auch wenn sie wusste, dass ihr Großvater ihn nicht mochte. Abigail hatte sie ebenfalls gewarnt, aber Molly hatte gesagt, sie sei ein Glückspilz und Hal ein toller Typ. Lucy fragt sich, ob sie überhaupt in der Lage ist, jemanden einzuschätzen, also Spreu von Weizen zu unterscheiden, wie ihr Großvater zu sagen pflegte.
»Ich will nicht an ihn denken, aber irgendwie kann ich nicht anders.«
»Es braucht Zeit, aber du wirst ihn bestimmt vergessen.«
»Und wurde dir schon irgendwann einmal das Herz gebrochen?«
»Schon oft. Von Männern, die ich vor meinem Ehemann kannte, auch oft von meinem Ehemann, von Freunden. Das Leben, Lucy, ist ein einziges großes Herzeleid.«
»Dann geht es für mich also gerade erst los, was?«, scherzt Lucy. Auch ihr Großvater hatte ihr oft erklärt, dass man lernen müsse, durch die Fährnisse des Lebens zu navigieren. Sie wünscht, sie könnte sich an seine genauen Worte erinnern. Warum hat sie nicht besser zugehört?
»Etwas in der Art hat Großvater auch zu mir gesagt«, erzählt Lucy. »Kurz bevor er starb.«
»Dein Großvater war ein weiser Mann mit einem großen Herzen. Das ist wichtig. Er hat dir vorgelebt, was ein guter Mensch ist.«
Lucy blinzelt die Tränen weg.
»Er war ein guter Mensch. Ich vermisse ihn schrecklich«, sagt sie.
»Der Schmerz wird schwächer, die Erinnerungen stärker«, sagt Mrs Morgan. »So ist das Leben.« Sie leert ihr Glas. »Wann verlieren wir dich?«
»Übermorgen muss ich hier raus.«
»Wo ziehst du hin?«
»In das Haus in Florida.«
»Dass du dort allein sein wirst, gefällt mir nicht.«
»Ich habe das Meer zur Gesellschaft«, sagt Lucy.
»Du solltest eine Reise machen. Etwas tun, was dir Spaß macht. Warst du schon mal in Las Vegas?«
Lucy lacht. »Ja, war ich. Einmal reicht mir«, sagt sie. Sie war mit Hal dort gewesen, aber dessen Namen will sie nicht laut aussprechen. Sie hatten im Paris Hotel übernachtet, weil beide zu sehr mit dem Studium beschäftigt waren, um nach Europa zu reisen. Plötzlich hat sie eine Idee.
»Granddad wollte immer mit mir nach Frankreich, um mir zu zeigen, wo er gekämpft hat. Wo meine Großmutter herkam. Als er es zum ersten Mal vorschlug, hatte ich einen Sommerkurs gebucht und arbeitete in einer Bar. Beim zweiten Mal wollte ich den Sommer mit Hal verbringen.« Sie hält inne. »Das ist eines der Dinge, für die ich Hal jetzt besonders hasse.«
»Meine Liebe, hüte dich vor Hass. Der macht dich bloß krank.«
»Ich wünschte, ich wäre mit ihm hingefahren«, sagt sie. Bedauern quält sie, macht ihr das Herz schwer.
»Dann fahr doch jetzt. Was hält dich ab?«
Ein Fünkchen Leben regt sich in ihr.
»Nach Frankreich?«
»Warum nicht? Flüge gibt es jeden Tag und Geld hast du auch genug.«
Lucy weiß zwar nicht, woher Mrs Morgan das weiß, aber sie hat recht. Ihr Großvater hat ihr ein stattliches Erbe hinterlassen, um seinen Anwalt zu zitieren.
»Sieh dir an, wo er gekämpft hat. Sieh dir an, wo deine Großmutter aufgewachsen ist.«
»Vielleicht ist das eine Möglichkeit der Wiedergutmachung«, sagt Lucy.
»So schuldig, wie du dich fühlst, kann ich kaum glauben, dass du nicht katholisch bist.« Abigail schüttelt den Kopf. »Ein Tapetenwechsel wird dir einen neuen Blick auf die Dinge eröffnen. Weißt du, wo deine Großmutter geboren wurde?«
»Ja, ich weiß, wie die Stadt heißt. Sonst nicht viel. Ich kenne nicht einmal ihren Nachnamen. Aber ich weiß, dass der beste Freund meines Großvaters in Omaha Beach begraben wurde. Er wollte da immer hin.«
»Also dann fahr und schau dir alles an. Und der Geist deines Großvaters wird dich begleiten. Dann kommst du zurück, beendest dein Studium und lernst einen guten Mann kennen. Bald wird dir all das hier vorkommen wie ein böser Traum.« Ihre Worte klingen so bestimmt, dass Lucy in Erwägung zieht, es wirklich zu tun.
»Du wirst feststellen, Lucy, dass es im Leben unentwegt Entscheidungen zu treffen gilt. Du wirst richtige treffen und auch ein paar falsche. Lerne daraus und schreite voran«, sagt sie.
Lucy weiß nicht recht, was sie damit anfangen soll. Was soll sie daraus lernen, dass Hal ihr das Herz gebrochen hat? Aus allem, was sie verloren hat? Wenn es da eine Lektion zu lernen gibt, wüsste sie gern, welche.
»Schenk mir doch bitte nochmal ein, meine Liebe. Es ist ja das letzte Mal, dass wir so zusammensitzen.«
Lucy tut, worum sie bittet.
***
Mrs Morgan schläft nach ihrem zweiten Glas Sherry ein. Lucy breitet eine Decke über sie, dreht das Radio leise und schlüpft hinaus wie Tausende Male zuvor. Ein anderes Gefühl von Traurigkeit nagt jetzt an ihr, denn sie weiß, dass es das letzte Mal sein wird. Sie nimmt sich vor, Mrs Morgan vor ihrer Abreise noch eine Flasche Sherry vorbeizubringen.
Ihre leere Wohnung kommt ihr unheimlich vor. So, als wäre es nicht mehr ihre, so, als wäre sie schon fort. Sie schaltet den Computer ein und sucht nach Flügen nach Paris, Frankreich. Am übernächsten Tag gibt es einen, der nicht unmäßig teuer ist. Sie interpretiert das als Zeichen und bucht. Dann reserviert sie ein Zimmer in einem günstigen Hotel in der Nähe der Gare du Nord. Als sie ins Bad geht, um zu duschen, mischt sich ein Gefühl der Vorfreude, wie sie es lange nicht empfunden hat, in die Trauer und den Schmerz. In ein Handtuch gewickelt, geht sie in die Küche und trinkt noch etwas Wasser aus dem Messbecher, spült ihn ab und lässt ihn für den nächsten Bewohner auf der Arbeitsplatte stehen.
Sie sieht Hals Karte und denkt nach. Ihr Handy in der Hand, überlegt sie, ihm eine Nachricht zu schreiben. Aber nein, sie schafft es nicht. Sie mag nicht. Sie legt das Handy weg und wirft die Karte in den Müll.
»Danke für die Blumen, Hal«, sagt sie zu den Bäumen. Ohne den Strauß wäre sie nie auf den Gedanken gekommen, nach Frankreich zu fahren.
Der Kuchen ist aufgegessen. Philippe hat das letzte Stück verspeist. Jetzt schläft er laut schnarchend in einem Sessel.
Maman hat sich unter dem Vorwand, sie habe Kopfschmerzen, zurückgezogen, aber Elise ahnt, dass sie erschöpft ist, weil sie für Philippes Freund so getan hat, als sei alles in Ordnung.
Nun ist sie mit William allein. Er blickt aus dem Fenster und Elise beobachtet ihn, seine hochgewachsene, schlanke Gestalt, die im weichen Abendlicht beinahe ätherisch wirkt.
»Möchten Sie vielleicht einen Spaziergang machen und sich Esperance ansehen?«, fragt sie und versucht vergeblich, es beiläufig klingen zu lassen.
Er wendet sich vom Fenster ab und wird greifbarer, während er sich auf sie zubewegt. »Das wäre schön«, sagt er und geht an dem hingestreckten Philippe vorbei, als wäre er gar nicht da.
Elise zieht einen Pullover über und William hält ihr die Tür auf. Er bleibt hinter ihr bis zur Straße. Dann passt er sich ihrem Tempo an, sein Arm streift den ihren. Sie gehen schweigend dahin und Elise überlegt, was sie sagen könnte. Als sie sich dem Stadtzentrum nähern, sagt William: »Es gibt hier eine Kirche, die ich gern sehen würde. Ich habe in einem Reiseführer etwas darüber gelesen.«
»Oh«, ist alles, was sie zurückgibt. Sie kennt die Kirche von außen – sie ist unübersehbar und dominiert das Stadtbild. Erbaut wurde sie, als die Textilfabrik noch produzierte und die Stadt ein lebhaftes Handelszentrum war. Inzwischen ist es eher ein Dorf als eine Stadt, und Industrie gibt es schon lange nicht mehr. Eigentlich ist die Kirche, zu groß und zu prachtvoll für ihre Umgebung, jetzt das einzig Bemerkenswerte im Ort.
Während sie im goldenen Abendlicht dahinschlendern, erzählt Elise William, dass sie die Kirche noch nie von innen gesehen hat. »Maman ist nicht mehr in die Kirche gegangen, seitdem ihre beiden Brüder im Krieg umgekommen sind, und Papa las am Sonntagmorgen lieber.« Elise weiß, dass das für Esperance außergewöhnlich ist: nicht in die Kirche zu gehen. Sie hofft, dass sie William nicht schockiert hat, und beschließt das Thema zu wechseln, indem sie fragt, aus welchem Teil Amerikas er kommt.
»Massachusetts, haben Sie davon gehört?«, fragt er, und Elise lacht entzückt auf. »Wie meine Lieblingsdichterin, Emily Dickinson.« Während sie spricht, zeigt sich der erste Stern des Abends, und sie wünscht sich etwas.
»Sie mögen Emily Dickinson?« Sie hört die freudige Überraschung in seinen Worten.
»Papa hat uns Englisch beigebracht, indem er uns Gedichte lesen ließ.«
Sie biegen um eine Ecke und gelangen zur Kirche. Der Sandstein leuchtet im Licht des langsam emporsteigenden Mondes. Es ist ein himmlischer, geisterhafter Anblick. Ätherisch, beschließt sie, denn das englische Wort »ethereal« hat ihr immer gefallen. Es hat ewig gedauert, bis sie gelernt hatte, es auszusprechen.
»Die Kirche lässt mich immer an Quasimodo denken, auch wenn sie nicht so prachtvoll ist wie Notre-Dame.«
»Hugo mögen Sie auch?« William wendet den Blick von der Kirche ab und ihr zu, und ihr wird unter seinem Blick ganz warm.
»Ich lese gern«, sagt sie achselzuckend und versucht es beiläufig klingen zu lassen. Einen Augenblick lang überlegt sie, ihm von all der Zeit zu erzählen, die sie allein mit Papas Büchern zubringt. Würde er sie dann seltsam finden? Besser schweigen, entscheidet sie.
»Philippe ist ganz anders als bei unserer letzten Begegnung«, sagt William.
»Papas Tod hat ihn verändert.« So versucht sie es zu erklären – und ihn zu verteidigen. Als sie die Straße überqueren, nähert sich ein Radfahrer, der nicht aufpasst, weil er nur Augen für seine Ladung hat, einen Korb voller Brot. William legt die Hand auf Elises Arm, damit sie ihm nicht in den Weg läuft. Die Berührung ist kurz, aber sie spürt sie noch, nachdem er seine Hand weggezogen hat, wie eine wunderbare Energie, die sie durchflutet.
»Der Eingang ist hier um die Ecke«, sagt sie und geht voraus. Die Türme ragen so hoch in den purpurnen Abendhimmel, dass die Spitzen mit ihm verschmelzen. Jemand hat ein Feuer entfacht, und der rauchige Geruch zieht durch das Dorf. Es ist eine schöne Nacht, Frieden und Verheißung liegen in der Luft.
William stößt die schwere Tür auf und lässt Elise eintreten. Als sie sich an ihm vorbeischiebt, nimmt sie wieder seinen Geruch wahr, der sie an einen Wald nach dem Regen erinnert. Langsam gehen sie nebeneinanderher. Elise staunt angesichts des Raums. Die Kirche thront groß und achtunggebietend über dem Ort, aber innen wirkt sie noch größer, erhabener. Da würde ganz Frankreich reinpassen, denkt sie. Und die Fenster! Sie scheinen eine Geschichte zu erzählen, und die Farben erinnern sie an die Bonbongläser in der Dorfapotheke.
Sie beobachtet, wie William sich durch die Kirche bewegt, die Arme locker an den Seiten, die Hose immer noch faltenlos trotz seiner langen Reise. Er neigt den Kopf zurück und leicht zur Seite, während er etwas genau betrachtet. Als er merkt, dass sie zu ihm hinsieht, winkt er sie herüber.
»Das ist ein schönes Beispiel für normannischen Stil«, sagt er. »Wir haben in Amerika nichts dergleichen, jedenfalls nicht original. Dieses Bauwerk steht hier seit Tausenden von Jahren!« Im Flüsterton weist er darauf hin, dass der Altar neoklassizistisch ist, und Elise merkt sich das Wort, um es zuhause in der Enzyklopädie nachzuschlagen. Momentan interessiert sie sich mehr für den Klang seiner Stimme, die Art, wie er die Vokale in die Länge zieht, die Art, wie sein Atem warm über ihre Wange streicht und ihr Herz schneller schlagen lässt als je in ihrem Leben. Die Kirche ist schön, mit ihrer blau-goldenen Decke, die im flackernden Kerzenlicht sanft zu glühen scheint. Aber nur die Tatsache, wie glücklich das William macht, lässt sie Stolz darüber empfinden, dass dieser Ort ihre Heimat ist.
»Die Kirche wurde erbaut, als der Ort ein bedeutendes Handelszentrum war. Inzwischen ist sie viel zu groß für das Dorf«, sagt sie. Das hat ihr Vater einmal gesagt, und sie wiederholt es nun, als wisse sie etwas über die Lokalgeschichte.
Elise hört, wie sich die große Kirchentür öffnet. Clotilde und Brigitte France kommen herein. Sie sieht die beiden Schwestern das Seitenschiff entlanghumpeln und sich dann so langsam hinknien, als wären sie Hunderte von Jahren alt. Der Abend ist kühl, aber sie sind für weit kälteres Wetter angezogen, tragen Schichten kratziger Wolle und alter Kleidung. Sie seufzt leise. Die Schwestern sind im Dorf legendär. Sie waren mit zwei Brüdern verlobt, die beide im Krieg fielen. Elise weiß, dass sie die Kirche seitdem täglich besuchen. Sie wendet den Kopf, um nicht Zeugin ihrer Trauer und Einsamkeit zu werden. Dumme Frauen. Sie müssten nach vorn blicken.
Während William sich in der Kirche umsieht, betrachtet Elise William. Wie lebt er wohl in Amerika? Was studiert er? Wie sind seine Eltern? Furcht überkommt sie, als würde giftiges Gas in den Raum dringen: Hat er eine Freundin? Irgendwie muss sie das herausfinden.
Elise setzt sich in eine der Kirchenbänke, wartet auf William, der etwas auf einen kleinen Notizblock zeichnet, wünscht und hofft, dass er keine Freundin hat, bis er schließlich zu ihr kommt und sagt, er würde gern die Krypta sehen.
»Ich wusste nicht, dass es eine gibt. Die muss wohl darunter sein?«
Ein Lächeln umspielt seine Lippen, während er ihr bedeutet vorauszugehen, und sie die Stufen finden, die hinunterführen ins Dunkel. Sie mag schon das Wort nicht, Krypta, und ist nervös, bis sich ein riesengroßer Raum mit Gemälden an den Wänden vor ihnen öffnet. Die Farben überraschen sie, die Rottöne sind noch voll und die Blaus kräftig. Der Raum wirkt dadurch heller. Seltsam, sie wohnt ganz in der Nähe und wusste nichts davon: eine Art Kunstmuseum unter der Kirche.
»Ich habe nichts davon geahnt«, sagt sie, während sie herumlaufen und sich eingehend umsehen. »Das ist außergewöhnlich«, flüstert sie.
»Ja«, stimmt er zu. »Ist es. So viel tausendjährige Schönheit und Kunstfertigkeit.«
Es gibt raffinierte Säulen mit vielen Details an den Kapitellen. William, der hinter ihr steht, weist sie darauf hin, dass man diesen Stil korinthisch nennt. Elise hört aufmerksam zu, während sie die gemalten Engel betrachtet. Männliche Engel, ohne Hemd, sehr muskulös und mit riesigen Flügeln.
»Ich stelle mir Engel immer plump vor, nicht wie Boxer.«
William lacht leise. Dann macht er sie darauf aufmerksam, wie die Heiligenscheine dargestellt wurden: als Halbkreis um den Kopf.
Elise bemerkt einen Engel, der besonders kräftig aussieht. So stark, als bräuchte er sich bloß gegen die Kirche zu lehnen, um sie von ihren Grundmauern zu stoßen. Er hat etwas Besonderes, und sie weiß, dass sie ihn wieder besuchen kommen wird.
»Wunderschön. Einfach wunderschön«, sagt William, während er Elise die Treppe hinauf folgt, durch die Kirche und hinaus in den Abend. Elise sieht ihren Heimatort in neuem Licht und ist überglücklich darüber, wie beeindruckt dieser gutaussehende Amerikaner davon ist.
Auf der Treppe blickt sie hinauf in den Himmel und sucht den Stern, bei dessen Auftauchen sie ihren Wunsch getan hat, kann ihn aber nicht mehr finden, weil jetzt Tausende leuchten. Also schickt sie einen zweiten Wunsch gen Himmel: Bitte mach, dass William keine Freundin hat. Sie hält einen Augenblick inne und fügt dann hinzu, und wenn, dann mich.
»Möchten Sie sich noch ein bisschen umsehen?«, fragt sie.
»Würde ich gerne, aber Sie sehen aus, als wäre Ihnen kalt. Wie wäre es zuerst mit einem warmen Getränk?«
»Es gibt ein nettes Lokal beim Wasserrad, und das haben Sie auch noch nicht gesehen.«
»Führen Sie mich«, sagt er mit seinem wunderbaren Akzent.