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**Romantische Dystopie** Dank des sarkastischen Ryu entkommt die zwanzigjährige Belle aus dem Bunker, in den ihr fanatischer Vater sie vor Monaten gesperrt hat. Nun will Belle unbedingt auch ihre Schwester aus deren Gefängnis befreien und überzeugt Ryu, sie dabei zu unterstützen. Eine Rettungsaktion in einer zerstörten Welt scheint nicht die beste Idee zu sein, doch um ihre Schwester zu retten, geht Belle jedes Risiko ein. dabei hat sie allerdings nicht mit dem gewaltigen Knistern gerechnet, das sich zwischen ihr und Ryu ausbreitet. Ablenkungen kann sie gerade gar nicht gebrauchen - vor allem, weil schon bald nicht nur das Leben ihrer Schwester am seidenen Faden hängt, sondern auch ihr eigenes. *Eine romantische Dystopie für Leser*innen, die für starke Figuren, Spannung, Abenteuer und vor allem ganz viel Liebe brennen.*
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Seitenzahl: 349
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Chroniken der Zerstörung
Nach der Zerstörung – Raja & Lean
Prequel: Die Zerstörung – Ryū & Belle
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
Epilog Viele Jahre später
Die Erde hatte genug. Sie lehnte sich auf.
Zwei Sätze, die bedeutungslos schienen, geprägt durch Katastrophenfilme und Verschwörungstheorien.
Doch als er jetzt mittendrin stand, schossen ihm genau diese Worte durch den Kopf. Er trug einen Jutebeutel in der linken Hand, mit einem Geschenk darin, das nicht mehr in den Rucksack gepasst hatte. Seine Augen waren, so wie die der meisten Menschen um ihn herum, auf den überdimensionierten Bildschirm in dem Kaufhaus gerichtet, der normalerweise Werbung zeigte. Die Bilder, die jetzt dort flimmerten, waren so surreal, dass sie nicht echt sein konnten.
In den letzten Jahren hatten sich die Naturkatastrophen gehäuft. Man war es gewohnt, dass Dörfer überschwemmt wurden, Erdbeben Städte zerstörten und Menschen in der Hitze verdursteten.
Er sah sich kurz um und blickte auf die Passanten, zwischen denen er stand. Obwohl die Krankenhäuser wegen einer hoch ansteckenden Variante des Corona-Virus überbelegt waren, hielten sie weder Sicherheitsabstand ein,noch trugen alle Masken – zu gefesselt waren sie von dem Grauen, das sich ihnen bot.
Er blickte zurück auf den Fernseher und erstarrte. Ein Komet schlug ein. Mitten in den USA. Das war es dann wohl, was der Welt den Rest gab.
Mit offenem Mund beobachtete er, wie der Bildschirm schwarz wurde und dann in verschiedene Städte umschaltete. Überall war das gleiche Bild zu sehen. Aufreißende Straßen, aufbäumende Erde, schreiende Menschen.
Die Städte sahen zunehmend bekannter aus. War das... Berlin?
Es war, als könnte man die Beben beinahe spüren.
Und dann waren da plötzlich Schreie. Doch nicht aus dem Fernseher, sondern neben ihm. Der Kaufhausboden platzte auf. Fliesen zersprangen.
Chaos brach aus.
Der Jutebeutel blieb irgendwo hängen und fiel. Die Puppe purzelte heraus, stürzte unbeachtet in einen tiefen Riss im Asphalt.
Ohne nachzudenken, lief er los, raus aus dem Gebäude, wo Fensterscheiben splitterten und auf ihn herabregneten.
Er erreichte die Straße, als der Asphalt aufbrach. Er sprang über einen sich bildenden Riss und rannte blind mit den Menschen um sich herum weg.
Wohin?
Keine Ahnung. Einfach nur weg.
Zum ersten Mal konnte er verstehen, warum so viele Menschen aufs Land zogen. Hier mitten in der Großstadt waren überall Gebäude, überall Leute um ihn herum, die ihn aufhielten und mitzogen.
War es gut, in einer Menschenmasse zu fliehen? Oder gefährlich?
Egal. Es war die einzige Option.
Hauptsache, raus aus der Stadt.
Er beobachtete, wie Flüchtende stolperten und liegen blieben, doch er konnte nichts tun, außer denen in seiner Nähe zu helfen, wo es ging. So wie sie es auch taten. Diejenigen, die stürzten, verschwanden aus seinem Blick, und er hatte keine Wahl, als sie zurückzulassen. Er konnte nicht genauer darüber nachdenken, was mit ihnen passierte.
Als dann die Rohre brachen, Wasser aus dem Boden schoss und die Stromleitungen für Kleinbrände sorgten, während das Stromnetz mit einem elektrischen Knall abschaltete und die Stadt in Finsternis versank, brach die Hölle los.
Aber eigentlich war das nur der Anfang von dem, auf das alle gewartet und mit dem trotzdem niemand gerechnet hatte.
Belle
Es war beeindruckend, wie schnell man in einem Bunker nichts mehr zu tun hatte.
Wobei Belles Klotz, wie sie ihn liebevoll getauft hatte, recht komfortabel ausgestattet war. Sie erhob sich von dem Sofa, das an der Wand stand, und trat auf die Küchenzeile zu, in der sie bis vor vier Wochen fließendes Wasser und Gasfeuer gehabt hatte, das mittlerweile aufgebraucht war.
Belle zapfte sich etwas Trinkwasser aus dem selbst gebauten Filter in ein Glas und trank es in großen Zügen aus. Ein Vorteil daran, in einer Gemeinschaft aufzuwachsen, die sich auf das Ende der Welt vorbereitete, war, dass man lernte zu überleben. Wobei ihre erlernten Fähigkeiten eingesperrt in einem Bunker kaum halfen. Aber immerhin hatte sie den Wasserfilter bauen können. Aus Teilen, die ihr Kerkermeister Ryū gebracht hatte.
Das Glas in der Hand drehend, überlegte Belle, sich wieder ins Bett zu legen und etwas zu lesen. Ryū hatte ihr letztes Mal ein neues Buch mitgebracht. Der Stempel und die Auszeichnung auf dem Buchrücken kennzeichneten es als ein Büchereibuch, und Belle hatte sich unwillkürlich gefragt, ob er dort eingebrochen war, um es zu besorgen. Gleichzeitig war es fraglich, ob das wirklich noch so verwerflich wäre. Vermutlich kümmerte sich niemand mehr um die Bücherei und es würde keinen stören, dass jemand ein Buch von dort nahm. Wenn die Bibliothek überhaupt noch stand. Wahrscheinlich war sie, so wie die meisten Gebäude, teilweise oder gänzlich eingestürzt. Der stabilen deutschen Bauweise war es zu verdanken, dass so viele Häuser noch halbwegs standen. Nicht wenige Gebäude waren nach den Beben abgebrannt, weil die Elektronik zerstört worden oder irgendwo Gas ausgetreten war.
Der Kontakt zur Außenwelt war in Deutschland früh abgebrochen. Wobei man letztendlich keine Möglichkeit hatte, herauszufinden, ob es nun spät oder früh war. Schließlich hatte man keine Kontaktmöglichkeiten mehr. Belle hatte natürlich keine wirkliche Idee davon, wie es draußen tatsächlich aussah. Weder in Deutschland noch direkt vor der Tür ihres Bunkers, geschweige denn auf der anderen Seite der Welt. Die letzten Zahlen, die sie gehört hatte, sprachen davon, dass über die Hälfte der Menschheit ausgerottet worden war. Tendenz steigend. Und diese Zahlen waren Monate alt.
Auch bevor sie weggesperrt worden war, hatte sie in ihrem goldenen Käfig wenige echte Neuigkeiten erfahren. Bis sie von dem Plan ihres Vaters hörte, der alles verändert hatte. Oder zumindest den Standort ihres Gefängnisses.
Wenn man ihrem Vater und seinen Geschichten glaubte, hatte die große Zerstörung mit der Unzufriedenheit der Geister – oder wahlweise Mutter Natur – begonnen. Diese war gewachsen, als die Menschen aufhörten, die Natur zu achten, und sie stattdessen mehr und mehr zerstörten. Diese Unzufriedenheit war irgendwann in Wut umgeschlagen.
Aber Vater war...
Belle wollte nicht mehr an das glauben, was er ihr und Fina ihr Leben lang eingetrichtert hatte. Dieses blinde Vertrauen war in dem Moment verschwunden, als sie endlich – viel zu spät – verstanden hatte, was sein Plan war.
Sie schüttelte heftig den Kopf, sodass ihre schwarzen Haare hin- und herflogen, füllte ihr Glas erneut und trank es in einem Zug leer. Belle war mal wieder in ihren Tagträumen versunken gewesen und hatte kaum bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. Dabei hatte sie so viel zu tun.
Sie verdrehte die Augen.
Nicht.
Sie hatte erst sieben Monate ihrer zwanzig Lebensjahre in diesem Bunker verbracht und wusste schon nichts mehr mit sich anzufangen.
Seufzend stellte sie ihr Glas auf die Anrichte und ging zu der einzigen Tür, die sich, abgesehen von der verschlossenen Ausgangstür, im Raum befand. Hinter der Tür verbarg sich ein winziges Badezimmer. Sie knipste das Licht an, und die einzelne Glühbirne, die nackt von der Decke hing, beleuchtete den kleinen Betonraum. Glücklicherweise war Belle nicht klaustrophobisch veranlagt, aber in diesem Raum könnte sie es werden. Solange es sich nicht vermeiden ließ, blieb deswegen auch immer die Tür offen, wenn sie hineinging. Direkt gegenüber der Tür befand sich ein winziges Waschbecken, daneben die Toilette, die wundersamerweise funktionierte. Zumindest verschwanden das Wasser und der Rest irgendwohin. Die kleine Dusche war zum Glück mit einem Grundwassertank verbunden. Das Duschwasser war leider nicht trinkbar, deswegen auch der Wasserfilter, aber es reichte, um sich zu waschen.
Belle begrenzte die Duschzeit und wusch sich die Haare höchstens einmal in der Woche, um die Wasservorräte zu schonen. Außerdem plätscherte das Wasser so kalt aus dem Duschkopf, dass sie auch kein Interesse hatte, darunter mehr Zeit zu verbringen als nötig.
Belle stellte sich vor den Spiegel und flocht zwei feste Zöpfe aus ihren langen schwarzen Haaren. Als sie fertig war, steckte sie diese auf, konnte es sich jedoch nicht verkneifen, einige Strähnen vorn herauszuzupfen, damit sie ihr Gesicht umschmeichelten.
Sie verließ das winzige Bad, schloss die Tür und nahm das neueste Buch aus dem kleinen Regal, das am Fußende des Bettes stand. Dann legte sie sich darauf, zog das Kissen hinter ihren Rücken und die Decke über die Füße und Beine.
Ryū hatte ihr einen New Adult-Roman mitgebracht. Früher hätte sie niemals so ein Buch in die Hand genommen. Sie hatte sich gern damit gebrüstet, gehobene Literatur zu lesen. Das hatte allerdings auch damit zu tun gehabt, dass ihr Vater den Zugang zu Literatur streng überwacht hatte. Jedenfalls hatte die Liebesgeschichte sie in ihren Bann gezogen. Belle schlug das Buch auf und tauchte in die Geschichte ein.
Erst ihr knurrender Magen brachte Belle dazu, sich von den Seiten loszureißen. Mit glühenden Wangen und einem sehnsuchtsvollen Ziehen in der Magengegend klappte sie das Buch zu. Das letzte Kapitel war... heiß! Belle konnte kaum glauben, was sie in den letzten Jahren verpasst hatte. Die Sehnsucht in ihr fühlte sich für einen Moment übermächtig an, sie brauchte so dringend menschliche Nähe. Und sie wollte endlich einen Mann küssen! Ja, es war peinlich, aber sie war zwanzig und ungeküsst. Ihr Vater hatte Fina und sie so behütet und ihnen eingeimpft, wie wichtig es war, dass sie rein und unberührt blieben, dass es ihr in Fleisch und Blut übergegangen war. Lange hatte sie es nicht infrage gestellt. Aber die letzten Monate über hatte sie Zeit gehabt, die Lehren ihres Vaters zu hinterfragen.
Und wie viel Zeit sie gehabt hatte!
Einer der Entschlüsse, die sie getroffen hatte, war, dass sie diese Unberührbarkeits-Sch... Scheiße genauso brechen würde wie die Regel, dass sie nicht fluchen durfte.
Sie würde fluchen! Und sie würde sich einen Mann suchen, den sie küssen konnte und vielleicht auch mehr. Spätestens diese Bücher hatten die Lust darauf geweckt.
Belle erhob sich und warf einen Blick in ihren Vorratsschrank, der traurig leer war. Darin befanden sich noch zwei Dosen vegetarischer Ravioli. Sie nahm sich eine Konserve, öffnete sie und ließ sich damit am Tisch nieder. Um kein unnötiges Geschirr zu benutzen, nahm sie sich eine Gabel und spießte die ersten Nudeln direkt aus der Dose auf. Sie sah die Nudel lange an und träumte von frischem Gemüse, von einer Nudelpfanne mit Pesto und Zucchini,von einem Kartoffelauflauf mit Spinat und Eiern. Aber das alles blieb ein Traum. Die bittere Realität war, dass sie seit Tagen Ravioli futterte. Und es gab nichts Widerlicheres als kalte Ravioli.
Kurz entschlossen holte sich Belle das Buch vom Bett und las beim Essen weiter. Vielleicht würde es sie von dem Geschmack ablenken.
Die Raviolidose vor ihr war längst leer, als Belle das Buch zuschlug. Es war schön gewesen, mitreißend und ließ sie trotzdem seltsam unbefriedigt zurück.
Die Lampe flackerte und erinnerte sie daran, dass sie morgen dringend den Akku für das Licht mit etwas Energie füttern müsste.
Aber für heute war der Tag um. Wenn sie morgen nicht vollkommen ohne Licht aufwachen wollte, sollte sie es jetzt ausschalten.
Seufzend ging sie ins Bad, zog ihr weißes Kleid aus, faltete es ordentlich und legte es zu den anderen weißen Kleidern in der winzigen Kommode. Sie zog ihr ebenfalls weißes Nachthemd hervor, zog es an und legte sich ins Bett.
Belle starrte noch lange in die Dunkelheit und konnte nicht einschlafen, weil sie ruhelos war, doch irgendwann fielen ihr die Augen zu.
***
Kräftig trat Belle in die Pedale des Ergometers, um den Energievorrat des Akkus aufzufüllen. Sie musste mindestens alle zwei Tage auf das Fahrrad steigen, denn der Strom war schnell aufgebraucht und es war schrecklich, hier unten im Dunkeln zu sitzen. Ganz davon abgesehen, dass sie nicht sicher war, ob die Lüftung noch funktionierte, auch wenn sie glaubte, dass diese unabhängig von der Elektronik lief.
In einer Halterung vor ihr lag ein Buch. Es war ein Sachbuch über essbare Pflanzen. Sie hatte es noch nicht ganz durch und wollte es unbedingt beenden, bevor sie den nächsten Roman las. Diese Regel hatte sie sich selbst auferlegt, damit sie nicht nur ihre Zeit vertrödelte, sondern auch etwas lernte.
Eine Stunde später lief ihr der Schweiß über Gesicht und Rücken, und ihre Beine brannten. Sie trieb sich selbst an, hielt weitere zehn Minuten durch und trat dann eine Zeit lang nur noch langsam in die Pedale, bis sich ihr Puls beruhigt hatte.
Als sie der Meinung war, genug getan zu haben, stieg sie von dem Sattel des Ergometers und trank ein Glas Wasser, bevor sie im Gehen ihre Zöpfe löste und die Haarklammern auf dem Tisch ablegte – die Haargummis folgten. Belle entflocht ihr Haar und massierte ihre Kopfhaut. Dann zog sie sich aus und hängte die einzige – selbstverständlich weiße – Hose, die sie besaß, auf die Wäscheleine im Raum. Ihr Oberteil folgte, ebenso die Unterwäsche.
Nackt holte sie die Waschwanne und stellte sie neben die Dusche. Sie wusch sich einmal schnell mit dem kalten Wasser ab und seifte sich ein. Ihr Haar war mittlerweile nass genug, deswegen stellte sie das Wasser wieder ab und massierte das Shampoo in ihre Kopfhaut. Anschließend nahm sie die Waschwanne, schob sie in die Dusche und stieg selbst hinein. Da sie sauber war, konnte sie so noch ein wenig Wasser verschwenden, das sie gleich zum Waschen der Kleidung nutzen würde.
Viel zu kurze Zeit später stellte sie die Dusche wieder aus und stieg aus der Waschwanne, die nun wadenhoch mit Wasser gefüllt war. Belle trocknete sich ab, wickelte sich ein Tuch um die langen Haare und schnappte sich ihre Schmutzwäsche der letzten Tage. All ihre Kleidung war weiß – bis auf die Stricksocken, die waren bunt.
Noch immer nackt wusch sie nacheinander die Kleidungsstücke in der Wanne. Zwischenzeitlich wickelte sie das Handtuch von ihrem Kopf und hängte es weg. Als sie fertig war, ließ sie die gefüllte Wanne in der Dusche stehen. Die ausgewrungenen Kleidungsstücke hängte sie auf die Wäscheleine, ehe sie sich anzog.
Ihre noch feuchten Haare kämmte Belle mit den Fingern durch, bevor sie sie mit einem groben Kamm bearbeitete, bis die schwarzen Strähnen glatt bis zu ihrer Taille fielen. Zum Glück war es im Bunker fast immer gleichbleibend warm. Eigentlich hatte Belle kaum noch ein Gefühl für Temperaturen, da sie so lange nicht draußen gewesen war und es kein Fenster gab. Natürlich war das Wasser in der Dusche kalt, aber die Luft blieb immer ähnlich lau. Manchmal fröstelte sie - in dem Fall zog sie die Strickjacke an, mehr hatte sie jedoch nicht. Sie besaß nicht einmal Schuhe. Allerdings wüsste Belle auch nicht, wofür sie sie brauchen sollte. Es gab aktuell keinen Weg, hier herauszukommen, und im Bunker brauchte sie keine Schuhe.
Belle sah auf ihre Füße und wackelte mit den Zehen, die langsam kalt wurden. Sie zog sich ein Paar nicht zusammen passender Stricksocken an und machte es sich auf dem Bett gemütlich, um weiterzulesen.
Als Belle Hunger bekam, setzte sie sich mit dem Buch in der Hand an den Tisch und aß die letzte Dose Ravioli. Hoffentlich würde Ryū heute kommen und neue Vorräte bringen. Sie wusste immer noch nicht, wie sie ihn einschätzen sollte.
Was sie wusste, war, dass ihr Vater ihn bezahlte, damit er sie hier im Bunker gefangen hielt und einmal die Woche mit Vorräten versorgte. Er war irgendwie nett, auch wenn das so gar nicht zu seiner Rolle als Kerkermeister passen wollte. Gleichzeitig fürchtete sie sich vor ihm. Vielleicht lag es an den Tätowierungen, die seine Arme bis zu den Fingerknöcheln bedeckten und selbst den Hals hinaufreichten. Sie sah ihn selbstverständlich immer nur bekleidet, aber wenn er ein T-Shirt trug, erkannte sie mehr tätowierte Haut als nackte.
Belle hatte schon einige Male überlegt, Ryū zu bitten, sie gehen zu lassen. Er war immer freundlich zu ihr und machte trotz seiner düsteren Erscheinung keinen bösen Eindruck. Dennoch hatte sie zu große Angst vor den Konsequenzen. Was würde passieren, wenn sich Ryū gegen sie stellte und ihrem Vater erzählte, dass sie nicht mehr nach seinen Regeln spielte und ausbrechen wollte? Sie wollte es sich gar nicht vorstellen.
Belle seufzte und sah auf die Uhr. Es dauerte einen Moment, bis sie realisierte, dass sie nicht mehr funktionierte. Sie seufzte noch einmal.
Eigentlich war es auch egal, wie spät es war. Zeit spielte kaum eine Rolle. Jedoch war es schwer, einzuschätzen, wann ein Tag endete und wann er begann. Meist orientierte sie sich an Ryūs Auftauchen, der in der Regel nachmittags vorbeikam. Das hatte er ihr mal erzählt.
Der letzte Bissen schmeckte nicht besser als der erste, doch immerhin füllten die Ravioli ihren Magen. Sie warf die Dose in die Recyclingkiste, die neben der Ausgangstür stand. Die Gabel wanderte in die Schüssel im Spülbecken, wo schon das Besteck von gestern einweichte.
Belle zapfte sich ein Glas gefiltertes Wasser ab und trank es in großen Schlucken aus. Mit dem Glas in der Hand starrte sie an die gegenüberliegende Betonwand. Was Fina wohl gerade machte? Sehnsüchtig hob Belle die Hand und malte sich aus, dass ihre Schwester auf der anderen Seite stand und dasselbe tat.
Doch das war reine Wunschvorstellung.
Heftiger als beabsichtigt stellte sie das Glas auf die Anrichte. Dabei erwischte sie unglücklich die Kante, sodass das Glas zersprang. Erschrocken schrie Belle auf, machte einen Sprung rückwärts und stolperte dabei gegen den Tisch, der am Boden verschraubt war und sie schmerzhaft an die Begrenzungen des Wohnraums erinnerte. Fluchend rieb Belle über ihre Hüfte, wo sich morgen sicher ein blauer Fleck bilden würde, und bemerkte, dass ihre Hand blutete.Sie hinterließen rote Flecke auf dem weißen Stoff, die viel erschreckender aussahen, als der Schnitt vermuten ließ.
Da Belle nur Stricksocken trug, verharrte sie an Ort und Stelle und überblickte den Boden, um auszumachen, wo sich die Glassplitter überall verteilt hatten. Dabei drückte sie ihre blutende Handfläche auf ihren Mund. Zum Glück hörte die Wunde schnell auf zu bluten.
Die Kehrschaufel war in dem Schrank unter dem Wasserbehälter, der auf dem nicht mehr funktionierenden Herd stand. Und davor verteilt lagen die Glasscherben.
Für einen Moment überlegte sie, ob sie die Scherben dort einfach liegen lassen sollte, besann sich jedoch schnell eines Besseren. Die Scherben würden sich schließlich nicht in Luft auflösen.
In genau diesem Moment klopfte es, und Belle fuhr zur Bunkertür herum. Wer sollte es anderes sein als Ryū?
Es machte sie wahnsinnig, dass er klopfte! Schließlich war die Tür abgeschlossen und er derjenige, der sie aufschloss. Wieso hielt er sich damit auf, zu klopfen?
Ryū
Sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagernd, wartete Ryū an der Treppe vor der Tür auf eine Reaktion von drinnen. Er fand, dass es die Höflichkeit verlangte, zu klopfen, auch wenn er nicht sicher war, ob Belle es überhaupt durch die dicke Bunkertür hören konnte.
Wie jedes Mal wartete er einige Augenblicke, bevor er die Klinke mit dem Ellenbogen herunterdrückte und die Tür mit der Schulter aufschob. In den Armen trug er einen Pappkarton mit Vorräten und neuen Büchern für Belle.
„Die Lieferung ist da!“, sagte Ryū und betrat den Bunker, erstarrte jedoch sofort, als er Belle erblickte.
Sie stand vor dem Tisch in dem kleinen Raum, ihr weißes Kleid war voller Blut. Mit zwei großen Schritten war er bei ihr und zermalmte einige Glasscherben unter seinen Schuhsohlen. Belle hielt eine Hand in der anderen und runzelte verärgert die Stirn, was mit Sicherheit ihm galt.
Ryū stellte den Karton auf dem Tisch ab, nahm Belles Hand und ignorierte ihr schreckhaftes Zurückzucken.Vorsichtig drehte er die Hand und stellte erleichtert fest, dass es kein tiefer Schnitt war.
„Wenn du Geschirr nach mir werfen willst, solltest du vielleicht warten, bis ich hier bin“, bemerkte Ryū und grinste sie an. Sein rasendes Herz brauchte einige Augenblicke, bis bei ihm ankam, dass keine Gefahr bestand.
Für einen kurzen Moment hatte er befürchtet, dass sie...
Ryū ballte die Hand zur Faust, was Belle abermals zurückzucken ließ. Er seufzte, entspannte seine Finger und sah sich im Raum um.
„Wo ist die Kehrschaufel?“
Belle deutete auf den Schrank unter dem Spülbecken und blieb stehen, wo sie war. Die Schwärze ihrer Haare, die wie immer hochgesteckt waren, unterstrich ihre Blässe. Ihre Füße steckten in unterschiedlichen, bunten Stricksocken, die er ihr vor zwei Wochen mitgebracht hatte.
Während Ryū die Schaufel holte, sah er aus dem Augenwinkel, dass Belles Hände zitterten, obwohl sie sie hinter ihrem Rücken versteckte. Sie hatte noch kein Wort gesprochen, seit er hier war.
Ryū fegte die Glassplitter und größeren Scherben auf und kippte sie in die Kiste, in der Belle ihren Müll sammelte und die er gleich wieder mitnehmen würde.
„Geht es dir gut? Hast du dich noch irgendwo verletzt?“, fragte Ryū, ohne zu ihr zu sehen.
„Nein“, krächzte sie und räusperte sich. Kein Wunder, schließlich hatte sie außer ihm niemanden zum Reden.
„Nein, du hast dich nicht noch mehr verletzt, oder nein, es geht dir nicht gut?“ Ryū sah auf und beobachtete, wie sich ihre perfekten schwarzen Brauen zusammenzogen.
„Es ist alles in Ordnung.“
„Gesprächig wie immer“, meinte Ryū und trat nah neben sie. Belle stand noch immer vor dem Tisch und hatte sich keinen Schritt bewegt. Er griff nach den Dosen, die er dieses Mal erbeutet und mitgebracht hatte.
„Oh, wieder Ravioli. Mein Lieblingsessen“, kommentierte Belle trocken, als sie die Konserven einräumte.
Ryū sah überrascht zu ihr hinunter. Sie hatte sich einen Schritt von ihm wegbewegt, nahm die Packung Toilettenpapier und brachte sie in das winzige Badezimmer. Dort hielt sie ihre blutende Hand unter den Wasserhahn und wusch sie.
„Hast du etwa einen Witz gemacht?“, fragte Ryū und verschränkte die Arme vor der Brust. Das schwarze T-Shirt war ihm etwas zu klein und spannte.
Belle drehte sich zu ihm herum. Er sah deutlich, wie ihr Blick über seine tätowierten Oberarme und hoch zu seinem Hals wanderten.
„Bewunderst du die Aussicht?“, fragte er und grinste sie breit an.
Belles hellblaue Augen weiteten sich, und sie errötete.
„Ich... ähm...“, stammelte sie und drehte sich letztendlich beschämt von ihm weg. Sie trocknete ihre Hand ab und sah sie an. Vermutlich überlegte sie, ob sie den Schnitt verbinden sollte.
Ryū schob die Hände in seine Hosentaschen und atmete tief ein. Hier unten bildete er sich immer ein, dass die Luft abgestanden schmeckte, und nach wenigen Minuten glaubte er, mehr Sauerstoff zu brauchen. Doch Belle lebte seit einigen Monaten hier, und es ging ihr gut. Es konnte also kein reales Problem sein.
In der rechten Hosentasche seiner Shorts steckte das Kartenspiel, das er heute Morgen in dem längst geplünderten und nur noch teilweise begehbaren Supermarkt im Nachbarort gefunden hatte.
„Wie wäre es mit einem Spiel?“, schlug er vor. Es war nicht das erste Mal, dass sich Ryū bemühte, Zeit mit Belle zu verbringen. Er glaubte nicht, dass es gesund war, sie von jeglicher menschlichen Interaktion zu isolieren. Soweit er wusste, las sie den Großteil des Tages und hatte sonst nichts hier unten zu tun. Vielleicht betete sie auch oder so. Er hatte keine Ahnung.
Belle sah über die Schulter zu ihm und musterte das Kartenspiel in seiner Hand. Ihr Gesicht war noch immer leicht gerötet, aber ansonsten ausdruckslos.
Ryū wollte das Spiel schon wegpacken, als sie nickte, das Badezimmer verließ und sich an den Tisch setzte. Sie zog die Beine hoch, nur um sie dann doch wieder auf dem Boden abzusetzen, als wäre ihr eingefallen, dass sie nicht allein war.
Er blinzelte für einen Moment verwirrt, bevor er sich ihr gegenüber auf den Stuhl fallen ließ. „Kannst du Canasta spielen?“
Belle legte den Kopf schief und hob überrascht die dunklen Augenbrauen. „Ja. Du auch?“
„Bis zehntausend? Rauskommen mit fünfzig und mit siebzig bei dreitausend?“
„Mit siebzig bei viertausend und mit hundertzwanzig ab sechstausend“, verlangte Belle.
Ryū zuckte mit den Schultern und mischte die Karten. „Ist mir auch recht. Hast du was zum Schreiben?“
Belle nickte, entknotete ihre Beine, stand auf und zog einen Block sowie einen Bleistift unter einem Stapel Bücher neben dem Bett hervor.
Wieder am Tisch sitzend, schrieb sie in ordentlichen Druckbuchstaben ‚Ryū‘ und daneben ‚Belle‘. Jedoch ließ sie das Makron weg – den Strich über dem U.
Er nahm ihr den Stift aus der Hand, was sie zurückzucken ließ. Ryū bemühte sich, die Bewegung zu ignorieren. Ruhig ergänzte er den Strich, und Belle nickte.
„Von welchem Namen kommt eigentlich die Abkürzung Belle?“, fragte Ryū und mischte die Karten.
„Von Bellevue“, antwortete sie, während sie saubere, gerade Striche zog und so eine Tabelle kreierte.
Ryū runzelte die Stirn. „Ist das nicht ein Schloss?“
Belle zuckte mit den Schultern und sah auf. „Gleich hast du dich tot gemischt“, bemerkte sie. Ihr Blick blieb einen Moment zu lange an seinen tätowierten Fingern hängen.
„Die Finger waren schmerzhaft“, erklärte Ryū ungefragt und teilte die Karten aus.
Belles Augen weiteten sich, doch sie nahm erst die Spielkarten auf die Hand, sortierte sie, legte eine rote Drei zur Seite und zog für diese nach, bevor sie etwas sagte.
„Welche Stelle war am schmerzhaftesten?“, flüsterte sie.
Ryū zog ebenfalls für eine rote Drei nach und sortierte seine Karten aufsteigend. „Der Kehlkopf“, sagte er und hob das Kinn etwas, um ihr den Blick auf die abstrakte Schlange zu ermöglichen, die sich seinen Hals hochwand und deren Kopf sich unter Ryūs Ohr schmiegte. „Und die Kniekehlen.“
Belle nickte wissend, als würde sie ihm recht geben. Sie zog zwei Karten und legte eine Fünf auf den Ablagestapel.
„Bist du tätowiert?“, fragte Ryū, obwohl er ziemlich sicher war, dass sie es nicht war.
Belle schüttelte ihren Kopf, doch zu seiner Überraschung funkelte echtes Interesse in ihren Augen.
„Wärst du es gern?“
„Mein Vater würde es mir nie erlauben.“
Da gab Ryū ihr recht, doch was ihn erstaunte, war, dass sie es in Betracht zog. So wie er es verstanden hatte, war Belle eine Art Heilige ihres Glaubens und hatte sich in diesen Bunker zurückgezogen, um ihre Reinheit zu erhalten und nicht durch die Außenwelt beschmutzt zu werden.
Wie passten da Tattoos ins Bild?
Allerdings hatte er auch wirklich keine Ahnung von dem, woran sie und die Gemeinschaft ihre Vaters glaubten.
Belle kam mit Zehnen raus und legte eine schwarze Drei ab. Während Ryū zog, sagte sie plötzlich: „Jetzt ist es ohnehin zu spät.“
„Was ist zu spät?“, erwiderte er.
Belle spielte, ohne die Miene zu verziehen, ihre gesamten Karten aus, legte zwei Canasta und eine Karte ab. Damit hatte sie diese Runde gewonnen. Belle zählte ihre Punkte und sortierte die Karten in ordentlichen Hunderterstapeln,bevor sie die Gesamtpunktzahl nannte und notierte. Er machte es ihr nach und hatte dank eines Canastas zumindest keine Minuspunkte.
Belle mischte die Karten routiniert und teilte sie aus. Die nächste Runde begann.
„Sich tätowieren zu lassen“, sagte sie.
„Einige meiner Tattoos wurden mit der Handpoking-Methode gestochen. Das macht man mit Farben und Nadeln von Hand. Dafür werden keine Maschinen genutzt.“ Er zog einen Joker und eine Acht, sortierte sie ein und legte eine Sechs ab.
Belle nahm sich den Stapel. Ihr Blick war so konzentriert auf die Karten gerichtet, dass sie nicht bemerkte, wie intensiv er sie musterte.
Ryū räusperte sich, als sie keine Anstalten machte, etwas zu erwidern. „Man müsste irgendwo ein Tattoostudio finden und dort Farben und so weiter holen.“
„Und sie hierherbringen und jemanden haben, der dieses Handpoken kann.“
„Meine Frau ist Tattookünstlerin“, sagte Ryū. Sein Magen zog sich bei dem Gedanken an sein Gänseblümchen zusammen, während er triumphierend zwei Achten an seine schon ausgelegten Achten anlegte und damit einen Canasta schaffte. Für den Bruchteil eines Augenblicks glaubte er, dass sich Belles Gesicht verzog. Doch als er aufblickte, war ihre Mimik neutral und distanziert wie immer.
Sie spielten noch eine gute halbe Stunde weiter. Einmal gewann Ryū und zweimal Belle. Jedoch schwiegen sie.
Nach seiner letzten Niederlage warf Ryū frustriert seine Karten auf den Tisch und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, um sich zu strecken.
Belle verfolgte jede seiner Bewegungen und ihr entging sein lautstarkes Magenknurren nicht. Sie drehte sich noch immer sitzend zu dem Küchenschrank und holte zwei Dosen heraus.
„Ravioli, Ravioli oder... hmmm... Was haben wir denn hier? Ah, ja: Ravioli!“ Sie schob ihm eine Dose zu.
Ryū spürte die Wut in sich hochkochen. Er war schon immer leicht reizbar gewesen, doch er hatte mit der Zeit gelernt, damit umzugehen. Zumindest hatte er seine Impulsivität unter Kontrolle und setzte seine Kraft seit Lillys Geburt nur noch ein, wenn es nicht anders möglich war. Er wollte ein guter Vater sein und hatte seitdem nicht mehr die Beherrschung verloren, auch wenn es hart gewesen war. Ryū hatte nie geplant, mit siebzehn Vater zu werden, aber wahrscheinlich war sie das Beste, was ihm je passiert war. Er hatte seine Tochter seit Monaten nicht gesehen, wusste nicht einmal, ob sie noch lebte. Der letzte Kontakt zu Klara und Lilly war vor Monaten gewesen, kurz bevor das Telefonnetz zusammengebrochen war. Und er spielte hier das Kindermädchen für irgendeine Auserwählte einer absurden Religion, während seine Familie in Lebensgefahr schweben könnte!
„Ist der Prinzessin meine Auswahl nicht recht?“, fragte Ryū und ballte die Hände zu Fäusten. Er hörte selbst, dass seine Stimme bedrohlich ruhig klang und er automatisch in die Tonlage gerutscht war, die ihm unter anderem diesen Job verschafft hatte. Die Stimme, die ihn klingen ließ, als wäre er bereit, alles zu tun.
Auch Belle hörte es und wurde noch blasser, als sie es schon war.
Ryū sprang von dem Stuhl auf, weil er das Gefühl hatte, keine Sekunde länger sitzen zu können. Die Wände schienen näher zu kommen, und die Luft wurde stickiger. Er zog an dem Kragen seines Shirts, um besser atmen zu können. Dann machte er zwei Schritte zur Wand, weg von der Tür, und wieder zurück. Es waren lediglich vier Schritte von Wand zu Wand. Wie hielt sie es hier drinnen nur aus?
„Es ist schon okay“, sagte Belle leise. „Etwas Abwechslung wäre nur...“
Ryū blieb vor ihr stehen und entspannte bewusst seine Fäuste, um ihr nicht noch mehr Angst einzujagen. „Dann hol dir dein Essen doch selbst! Hast du eine Ahnung, wie lange ich unterwegs war, um überhaupt irgendwelche Konserven zu finden? Und dann auch noch irgendwas, das man gut kalt essen kann. Weil sich die Prinzessin nicht aus dem verdammten Bunker rausbewegt! Da draußen kannst du dir ein verficktes Feuer“, Belle zuckte bei seinen Flüchen zusammen, „machen und das Zeug warm essen. Du kannst durch irgendein Feld latschen und Kartoffeln grillen. Dann müsste ich wenigstens nicht mehr deinen verfickten Babysitter spielen!“ Er stürmte zur Tür und riss sie auf. „Ist dir eigentlich klar, dass ich nur noch deinetwegen hier bin? Ich wollte mich längst auf den Weg machen und meine Tochter und Frau suchen. Du bist das Einzige, was mich davon abhält, weil ich dich nicht verhungern lassen wollte.Aber ganz ehrlich? Mir reicht es! Ich kündige.“ Er verließ den Bunker, rannte die Treppe hoch. Draußen angekommen, schlug ihm heiße Luft entgegen, doch alles war besser als die stickige Luft des Bunkers.
Seine Beine führten ihn aus dem verwilderten Garten eines eingestürzten Hauses, in dem sich der Bunker befand, direkt in die Richtung des nahe gelegenen Fitnessstudios. Auf wundersame Weise stand noch etwa die Hälfte des Gebäudes. Beinahe der ganze Ort war zerstört, und kaum ein Haus war übrig geblieben. Aber ein Teil des Studios hatte es geschafft. Auf dem Parkplatz parkten einige zurückgelassene Autos, von denen mindestens noch zwei fuhren. Ryū hatte es ausprobiert. Doch mit den Teilen kam man nicht mehr weit. Die letzten Erdbeben hatten die Asphaltstraßen aufgeworfen und für Autos unüberwindbare Schluchten gebildet.
Ryū lief zielstrebig zu dem zerborstenen Fenster im Erdgeschoss, hinter dem sich ein Raum mit Kraftbänken und Boxsäcken befand. Alles war etwas durcheinander gerüttelt worden, und Ryū hatte einige Hantelscheiben zur Seite räumen müssen, als er das erste Mal hier gewesen war. Doch sein Boxsack hing noch immer zuverlässig von der Decke und erwartete ihn. Die Boxhandschuhe lagen in dem Versteck hinter einem Regal, wo Ryū sie versteckte.
Wenige Sekunden später bearbeitete er den Sack und legte seine gesamte Wut in die Schläge.
Wie ihm von klein auf eingeimpft worden war, achtete er auf seine Beinarbeit und tänzelte um seinen wehrlosen Gegner herum. Schweiß lief ihm über die Stirn und in die Augen, doch er ignorierte es. Er brauchte das hier. Er musste seine Energie loswerden.
Die Wut verrauchte schnell, so war es immer bei ihm. Langsam wurde sein Verstand wieder klar, und ihm drängte sich eine Frage auf.
Konnte er Belle wirklich einfach alleinlassen?
***
Als am Abend ein Gewitter hereinbrach, wusste Ryū, dass er es nicht konnte. Er stand in dem zerbrochenen Fenster und sah hinaus in den Regen. So wie in letzter Zeit immer, passierte alles in Extremen. Die Sonne hatte heute Mittag so heiß vom Himmel gebrannt, dass die Pflanzen die Köpfe hatten hängen lassen und die Luft über dem aufgeworfenen Asphalt geflimmert hatte. Jetzt stürzte Wasser in Massen vom Himmel und lief in Bächen durch Ritzen und Löcher, die die Erdbeben der letzten Monate gerissen hatten. Das Wasser riss Staub, Scherben, Müll und die ein oder andere Leiche mit sich und schwemmte sie fort. Blitze zuckten, jagten einander, dicht gefolgt von Donner, der die Scherben am Studioboden vibrieren ließ.
Ryū ging zu seinem grau-grünen Rucksack und der Kiste mit Vorräten, die er für sich gesammelt hatte. Er hatte ein buntes Sammelsurium von Konserven und Gläsern mit Erbsen, Essiggurken und Pilzen. Einige Aufdrucke kamen mir bekannt vor, denn er hatte mir nicht immer Ravioli gebracht. Nur eine Dose mit den verhassten gefüllten Nudeln hatte er für sich behalten. Mit einer Gabel stach er in die offene Konservendose und blieb mit seinem gepackten Rucksack in der Nähe eines Ausgangs, falls das Leid geplagte Gebäude doch noch beschloss, einzubrechen. Er wollte nicht vollkommen ohne alles dastehen und schon wieder neu anfangen müssen. Ryū schob eine Nudel in seinen Mund und kaute genüsslich. Ravioli waren einfach das Beste!
Er beobachtete das Blitzspektakel am Himmel. Der Regen ließ ganz langsam nach, und vor allem die Blitze und der Donner wurden weniger. Keinen Einschlag in der Nähe konnte man als glimpflichen Ausgang bezeichnen.
Ryūs Gedanken drehten sich um Belle, Lilly und Klara. Er musste herausfinden, ob seine Frau und seine Tochter noch lebten – und er würde es bald tun! Alles in ihm schrie danach, sich auf den Weg zu machen und sie zu suchen.
Doch er würde Belle nicht zurücklassen. Er würde zumindest noch einmal mit ihr sprechen und ihr vielleicht Vorräte für eine längere Zeit zusammensuchen. Es wäre natürlich einfacher, wenn sie den Bunker verlassen würde. Doch das war Wunschdenken. Ihr Vater hatte Ryū sehr klar vermittelt, dass sich Belle als eine Auserwählte ihres Glaubens sah und sich vor den Menschen zurückzog, um ihre Reinheit zu bewahren. Sie würde den Bunker nicht verlassen.
„Ryū!“
Sein Kopf fuhr hoch. Rief ihn jemand?
Ryū sprang auf seine Füße und sah in den Regen hinaus. Er ging auf den Parkplatz und war innerhalb kürzester Zeit durchnässt. Für einen Moment konnte er nichts erkennen.Aber dann zeichnete sich ein Körper in der Dunkelheit ab. Belle stand im Regen und rief nach ihm.
Er konnte nicht anders, er musste den Moment nutzen und sie ansehen. Sie wirkte verzweifelt und gleichzeitig so entschlossen, wie er sie noch nie gesehen hatte. Belle war barfuß und trug eines ihrer weißen Kleider. Und na ja... Was machte Regen mit weißer Kleidung? Nun, er zeigte das, was sonst gut versteckt war. Nicht, dass sich Belle irgendwie verstecken müsste. Der Körper, der sich unter dem so gut wie durchsichtigen Stoff abzeichnete, war... schwer zu ignorieren.
Ryū schluckte und atmete für einen Moment tief durch. Er zupfte an seiner Hose herum und zog an seinem Shirt, das ihm am Oberkörper klebte, so wie das Kleid an Belles gesamtem Körper. Nur, dass sein Shirt schwarz war. Trotzdem zeichnete sich jeder Muskel darunter ab. Er ließ den Kopf kreisen und schloss die Augen für einen tiefen Atemzug. Gut, dass auch er sich nicht verstecken musste.
„Belle“, sagte er.
Ihr Kopf fuhr zu ihm herum, ihre hellblauen Augen strahlten und ein Blitz erleuchtete die gesamte Szenerie, als sie die Arme ausbreitete und den Kopf in den Nacken legte. Sie öffnete den Mund und lachte. Belle lachte so ehrlich und laut, wie er es nie geglaubt hatte, von ihr zu hören. Hatte er sie überhaupt je lachen gehört?
„Es ist so wunderschön!“, rief sie mit strahlendem Lächeln über den Donner hinweg.
„Es regnet in Strömen“, sagte er. Doch er konnte gar nicht anders, als ebenfalls zu lächeln.
Belle
Zitternd saß Belle auf einem Stuhl, der zwischen den Trainingsgeräten völlig deplatziert wirkte. Unter dem Dach war es zwar trocken, aber wegen der zerbrochenen Fenster zog es, sodass sie erbärmlich fror. Sie sah Ryū für einige Momente dabei zu, wie er sich abmühte, das Feuer mit den Stöcken vor ihm anzuzünden.
„Lass mich mal“, murmelte sie, und Ryū machte bereitwillig Platz. Belle schichtete das Holz und nutzte einige zerknüllte Papierbälle als Anzünder. Mit Ryūs Streichhölzern brannte das Feuer schnell, und sie legte nach und nach einige größere Holzstücke dazu.
Die Flammen fraßen sich gierig knisternd in das Holz. Der Rauch konnte nicht richtig nach oben abziehen, aber es funktionierte. Die Rußflecken an der Decke des Fitnessstudios würden ohnehin niemanden mehr stören.
Belle blieb für einige Momente am Boden vor dem Feuer hocken und erschauderte, als die Wärme langsam ihre durchgekühlten Gliedmaßen erreichte.
Seufzend setzte sie sich zurück auf den Stuhl. Sie zog die Beine hoch und unter ihr nass klammes Kleid. Ihr Kerkermeister kramte in einer Ecke herum.
Die Flammen flackerten, tanzten umeinander. Das Holz knackte, und der Rauchgeruch war penetranter, als sie es in Erinnerung hatte. Aber sie war draußen. Sie saß vor einem Feuer in einem kaputten Fitnessstudio und nicht in ihrem Bunker!
Ihr erster Gedanke, als Ryū vorhin aus dem Bunker gestürmt war und die Tür offengelassen hatte, hatte ihrer Schwester gegolten. Sie musste Fina finden und befreien. Sie war irgendwo eingesperrt und wurde von irgendeinem Lakaien ihres Vaters versorgt. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass Fina genauso viel Glück hatte wie Belle und einen Ryū als Kerkermeister hatte?
Sie zuckte zusammen, als genau dieser in ihrem Blickfeld auftauchte. Er hielt ihr einen schwarzen Kapuzenpullover hin. „Wird dir zu groß sein, ist aber warm.“
Belle nahm den Pullover, schlüpfte ungelenk in die Ärmel und zwängte den Kopf raus. Dabei löste sich einer ihrer Zöpfe. Weil ihre Haare offen besser trocknen würden, zog sie zögerlich die Haarklammern heraus und öffnete die geflochtenen Strähnen.
„Das ist das erste Mal, dass ich kein Weiß trage“, sagte sie leise. Ihre Haare hatte sie auch noch nie vor einem Mann offen getragen. Es fühlte sich an, als würde sie etwas Verbotenes tun.
Ryūs Blick von der anderen Seite des Feuers folgte jeder ihrer Bewegungen, und seine Augen weiteten sich. „Ich habe keine weißen Sachen, aber ich kann schauen, ob ich in den Schränken was finde.“
Belle schüttelte die schwarzen Haare aus, die nassen Spitzen fielen ihr im Sitzen bis in den Schoß. Sie lockten sich wegen der Nässe. „Nein! Es wird viele erste Mal geben, und ich will...“ Sie räusperte sich. „Das ist auch das erste Mal, dass jemand meine Haare so sieht.“
Belles Herz raste, dabei wusste sie nicht einmal, warum. Sie sah, wie sich Ryūs Kehlkopf bewegte, als er hart schluckte. Die unruhigen Lichter, die das Feuer warf, zeichneten konturierte Schatten in sein Gesicht, die seine Tätowierungen zum Leben erweckten. Die Schlange an seinem Hals schien sich zu bewegen. Der Fisch auf dem Arm schwamm in den Wellen, und die organischen Muster verknoteten und entwirrten sich wieder. Doch das war nur ihre Fantasie. Nichts davon passierte wirklich. Nur die Sehnsucht, seine Haut zu berühren, blieb.
Ryū schien seine Stimme verloren zu haben. Er öffnete mehrmals den Mund, doch schloss ihn jedes Mal wieder, ohne etwas zu sagen.
„Ich wusste nicht, dass ich rauskonnte. Ich dachte, dass ich im Bunker eingesperrt bin. Dass du mich dort für meinen Vater gefangen hältst“, gestand Belle.
Ryūs braune Augen brannten sich in ihre. Erst jetzt, da sein dunkles Haar nass an seinem Kopf klebte, sah sie, dass es viel zu lang war. Er brauchte dringend einen Haarschnitt. Waren sie schwarz oder braun? Sie hatte sich zwar auf eine unbestimmte Art von ihm angezogen gefühlt, aber sich zurückgehalten, ihn näher kennenlernen zu wollen oder zu betrachten, weil sie eben geglaubt hatte, er würde sie im Bunker einsperren. Außerdem hatte sie es sich verboten, sich zu ihm hingezogen zu fühlen. Das fühlte sich viel zu sehr nach Stockholm-Syndrom an.
„Das habe ich nicht gewusst.“ Ryūs Stimme klang kratzig. „Wenn ich geahnt hätte... Ich würde nie...“ Er brach ab. „Dein Vater hat mir erzählt, dass du dich aus irgendwelchen religiösen Gründen von der Gesellschaft abschotten willst. Dass du deine Reinheit erhalten willst, um die Natur zu besänftigen. Damit die Katastrophen ein Ende finden.“
Na, wenn das so einfach wäre. Belle müsste nur ihre ominöse Reinheit bewahren und sich in eine selbst gewählte Isolierung begeben. Schon würde die Erde aufhören, sich selbst zu zerstören. Das klang viel zu gut, um wahr zu sein.
Das Traurige war, dass Belle bis vor einigen Monaten etwas Ähnliches geglaubt hatte. Sie war sicher gewesen, dass sie ihre Reinheit bewahren musste, um Mutter Erde und den Geistern zu beweisen, dass die Menschheit eine zweite Chance verdiente. Doch die Ideen ihres Vaters waren viel weiter gegangen. Alles in ihr drängte danach, es auszusprechen. Die Worte über die Lippen zu bringen, die ihr Leben und das ihrer Schwester so drastisch verändert hatten. Doch irgendetwas hielt sie davon ab.
Was, wusste sie selbst nicht so genau. Wollte sie ihren Vater schützen? Wollte sie nicht, dass Ryū noch schlechter über ihn dachte als ohnehin schon?
Sein Blick lag auf ihrem Gesicht. Belle senkte die Lider und sah auf das Feuer. Sie zog ihre Hände in die überlangen Ärmel und genoss die Wärme, die von dem Stoff in sieüberging. Der Pullover war groß genug, dass er ihr im Stehen mit Sicherheit bis zu den Oberschenkeln reichte. Sie kuschelte sich in das Kleidungsstück und holte Luft.