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Erziehung und Bildung stehen im Blickpunkt gesellschaftlicher, politischer und wissenschaftlicher Diskussion. Dem brisanten Thema stellt sich seit jeher auch die Philosophie. Ein moderner Klassiker der Erziehungs- und Bildungsphilosophie ist Alfred North Whitehead. In den vorliegenden Essays, die nun erstmals in deutscher Sprache erscheinen, befaßt sich der berühmte Philosoph mit zentralen Aspekten der Wissensvermittlung und Denkorganisation, dem Anspruch an Bildungsinstitutionen, mathematisch-naturwissenschaftlichen Herausforderungen sowie der Kultivierung von Ideen. Die Texte verbinden sich zu einer Erziehungs- und Bildungskonzeption, die den Lernenden als einen mit seiner Umwelt interagierenden Organismus versteht und nichts an Aktualität eingebüßt hat.
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Seitenzahl: 367
Erziehung und Bildung stehen im Blickpunkt gesellschaftlicher, politischer und wissenschaftlicher Diskussion. Dem brisanten Thema stellt sich seit jeher auch die Philosophie. Ein moderner Klassiker der Erziehungs- und Bildungsphilosophie ist Alfred North Whitehead. In den vorliegenden Essays, die nun erstmals in deutscher Sprache erscheinen, befasst sich der berühmte Philosoph mit zentralen Aspekten der Wissensvermittlung und Denkorganisation, dem Anspruch an Bildungsinstitutionen, mathematisch-naturwissenschaftlichen Herausforderungen sowie der Kultivierung von Ideen. Die Texte verbinden sich zu einer Erziehungs- und Bildungskonzeption, die den Lernenden als einen mit seiner Umwelt interagierenden Organismus versteht und nichts an Aktualität eingebüßt hat.
Alfred North Whitehead (1861-1947) war Philosoph und Mathematiker. Zuletzt war er Professor für Philosophie an der Harvard University. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt: Kulturelle Symbolisierung (stw 1497), Abenteuer der Ideen (stw 1498) und Denkweisen (stw 1532).
Christoph Kann ist Professor für Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Dennis Sölch ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Institut ebendort.
Alfred North Whitehead
Die Ziele von Erziehung und Bildungund andere Essays
Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Christoph Kann und Dennis Sölch
Suhrkamp
Titel der Originalausgabe: The Aims of Education and Other Essays
© Free Press, New York 1967
Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2012
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Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
eISBN 978-3-75930-1
www.suhrkamp.de
Christoph Kann/Dennis Sölch
Einleitung
Vorwort
I. Die Ziele von Erziehung und Bildung
II. Der Rhythmus von Erziehung und Bildung
III. Die rhythmischen Ansprüche von Freiheit und Disziplin
IV. Technikorientierte Erziehung und Bildung und ihre Beziehung zu Wissenschaft und Literatur
V. Der Stellenwert der klassischen Sprachen in Erziehung und Bildung
VI. Das mathematische Curriculum
VII. Universitäten und ihre Funktion
VIII. Die Organisation des Denkens
IX. Die Anatomie einiger wissenschaftlicher Ideen
X. Raum, Zeit und Relativität
Personenregister
Sachregister
Das seit einigen Jahren kontinuierlich wachsende Interesse an den Schriften Alfred North Whiteheads täuscht leicht darüber hinweg, dass ihre Rezeption sich zumindest im deutschen Sprachraum lange Zeit auf seine Beiträge zur Mathematik und Logik beschränkt hat. Angesichts einer Laufbahn, die von einer Stelle als Dozent für Mathematik in Cambridge zu einer Professur für angewandte Mathematik am Londoner Imperial College führte, vermag diese Konzentration auf den ersten Blick nicht unbedingt zu überraschen. Auch nach Jahrzehnten der Forschung gilt der gemeinsam mit Bertrand Russell in den Principia Mathematica unternommene Versuch, die Grundbegriffe und Sätze der Mathematik auf Grundbegriffe und Sätze der Logik zurückzuführen und so der Mathematik ein sicheres Fundament zu geben, vielen als Whiteheads bedeutendste wissenschaftliche Leistung, während sich die Würdigung seiner Beiträge zur Philosophie noch immer vergleichsweise bescheiden ausnimmt. Die Charakterisierung all jener Schriften als philosophisch, die sich nicht explizit mit logisch-mathematischen Fragestellungen beschäftigen, soll dabei keineswegs verbergen, wie umfassend und zugleich differenziert das Spektrum der Bereiche ist, denen sich Whitehead im Laufe seines Lebens auf originelle und produktive Weise gewidmet hat.
Schon seine erste größere akademische Arbeit, in der er sich mit Clerk Maxwells Theorie der Elektrodynamik befasst, macht deutlich, dass Whiteheads Interessen sich über die reine Mathematik hinaus auch auf den Bereich der Physik erstreckten. Von dort scheint der Weg zu einer kritischen Beschäftigung mit der Relativitätstheorie und der Konzeption einer eigenen Naturphilosophie beinahe organisch zur Entwicklung der Prozessmetaphysik zu führen, für die sein Hauptwerk Prozeß und Realität Namensgeber war. Die Trias aus mathematischer Logik, Physik und spekulativer Metaphysik suggeriert jene Unterscheidung dreier distinkter Schaffensphasen, die seit Victor Lowes Alfred North Whitehead. The Man and His Work[1]8gemeinhin als Struktur des Whiteheadschen œuvre akzeptiert ist. Allerdings geht gerade die Kulturphilosophie mit ihren Affinitäten zum pragmatistischen Denken eines William James oder John Dewey in der etablierten Dreiteilung nicht auf. Die Abgrenzung solcher einzelnen Schaffensperioden liefert daher noch kein adäquates Bild von der Vielfalt der Themen und Disziplinen, zu denen Whitehead teils gewichtige Beiträge geleistet hat. Hierzu zählen neben Erkenntnistheorie und Metaphysik, Wissenschaftstheorie und Sozialphilosophie, Zivilisationsgeschichte und Theologie auch Erziehungs- und Bildungsphilosophie, sodass selbst der Begriff des Universalgelehrten nicht zu hoch gegriffen scheint. Umso erstaunlicher ist es, wie viel Zeit vergehen musste, bis die zentralen Werke in Deutschland ein Echo fanden. Die Chronologie der Übersetzungen spricht eine deutliche Sprache.
Nachdem seine Einführung in die mathematische Logik (= Einleitung in die Principia Mathematica) 1932, die Einführung in die Mathematik (engl. An Introduction to Mathematics) 1948, sowie, in Auswahl, die Essaysammlung Philosophie und Mathematik (engl. Essays in Science and Philosophy) 1949 und als erstes nicht-mathematisches Werk Wissenschaft und moderne Welt (engl. Science and the Modern World) 1949 in deutscher Übersetzung vorlagen, dauerte es mehr als zwanzig Jahre, bis weitere Schriften dem hiesigen Publikum zugänglich gemacht wurden. Die Übersetzung von Adventures of Ideas (dt. Abenteuer der Ideen) machte 1971 den Anfang; es folgten 1974 The Function of Reason (dt. Die Funktion der Vernunft) und 1979 das magnum Opus Process and Reality (dt. Prozeß und Realität), in den achtziger Jahren die heute gebräuchliche Neuübersetzung von Science and the Modern World (dt. Wissenschaft und moderne Welt, 1984), Religion in the Making (dt. Wie entsteht Religion?, 1985), dann wiederum Vorwort und Einleitungen zu dem eingangs erwähnten dreibändigen Werk Principia Mathematica (dt. Principia Mathematica, 1986) und schließlich The Concept of Nature (dt. Der Begriff der Natur, 1990). Nach einer Pause von zehn Jahren nahm die Reihe der Übersetzungen erst zu Beginn dieses Jahrhunderts wieder Fahrt auf, als mit Symbolism, Its Meaning and Effect (dt. Kulturelle Symbolisierung, 2000) und Modes of Thought (dt. Denkweisen, 2001)[2]9zwei weitere Bücher für den deutschsprachigen Raum erschienen. Dieser Prozess ist heute noch immer nicht abgeschlossen, wird aber mit der vorliegenden Übersetzung der Aufsätze und Vorträge, die 1929 (New York) und 1936 (London) unter dem Titel The Aims of Education and Other Essays zusammen publiziert wurden, einen nicht unwesentlichen Schritt weitergeführt. Da die zentralen Arbeiten des Whitehead-Schülers und -Mitarbeiters Bertrand Russell zur praktischen Philosophie einschließlich seiner Beiträge zu Erziehung und Bildung im Wesentlichen seit Jahrzehnten in deutschen Übersetzungen vorliegen, wird nunmehr auch ein auffälliges und sachlich kaum begründbares Missverhältnis in der Rezeption beider Denker ausgeglichen. Indessen verdankt sich das Projekt, Whiteheads Essays über Erziehung und Bildung, von denen schon in den 50er und 60er Jahren Übersetzungen ins Italienische, Portugiesische, Japanische und Koreanische entstanden, auch in deutscher Sprache zugänglich zu machen, nicht einem bloßen Wunsch nach Vollständigkeit, sondern erweist sich in mehrfacher Hinsicht als ein gewinnbringender Beitrag zu aktuellen Diskussionen.
Zum ersten Mal wird hier mit einer deutschsprachigen Ausgabe das Augenmerk auf die Philosophie von Erziehung und Bildung als Gegenstand des Whiteheadschen Denkens gelenkt. Die Tatsache, dass die Beschäftigung mit Themen wie den Zielen von Erziehung und Bildung, dem Verhältnis von Theorie und Praxis im schulischen Alltag oder der Neubewertung der Rolle klassischer Sprachen an weiterführenden Schulen für Whitehead mehr bedeutete als ein Nebenprodukt seiner eigenen Lehrtätigkeit, zeigt sich bereits in der Kontinuität, mit der er jene Vorträge hielt und veröffentlichte. Von dem ursprünglich 1913 in London gehaltenen Vortrag »Das mathematische Curriculum« bis zu dem Aufsatz »Universitäten und ihre Funktion«, der 1928 im Atlantic Monthly gedruckt wurde, umspannen die zehn in diesem Buch enthaltenen Texte einen Zeitraum von nahezu fünfzehn Jahren. Zweifellos sind berufliche Verpflichtung und engagiertes Interesse hier eine fruchtbare Synthese eingegangen. Whitehead selbst hat mehrfach darauf verwiesen, dass er sich als Lehrer und Erzieher in einer Familientradition sieht.[3] So10wohl sein Großvater als auch sein Vater wirkten als Rektoren einer Privatschule in Ramsgate in Südengland, wo Alfred North 1861 geboren wurde, und übertrugen ihre Leidenschaft für Pädagogik nicht nur auf ihn, sondern ebenso auf seine älteren Brüder, die als Rektor und Tutor in Oxford tätig waren, und auf seine Onkel. Dass die Lehrtätigkeit für Whitehead folglich weit eher Berufung als Beruf bedeutete, zeigt sich einerseits in den respektvollen und dankbaren Urteilen seiner Schüler,[4] andererseits auch in seinem administrativen und bildungspolitischen Engagement. Als Vorsitzender des Academic Council war er zuständig für die internen Angelegenheiten des Londoner Bildungssystems, arbeitete im Ausschuss des Premierministers zur Rolle der klassischen Sprachen in Erziehung und Bildung und setzte sich in Cambridge, wenn auch ohne unmittelbaren Erfolg, für die Zulassung von Frauen zum Universitätsbetrieb ein. Doch ungeachtet dieses akademischen Rahmens seiner Untersuchungen war Whitehead die kritische und konstruktive Reflexion der Ziele, Bedingungen undMöglichkeiten pädagogischen Handelns eine Herzensangelegenheit, die ihn niemals losgelassen hat und in den Vorträgen deutlich zur Sprache kommt.
Gleichzeitig speist sich die fortwährende Auseinandersetzung mit den Problemen schulischer und universitärer Organisation aus einem Gefühl tiefen Unbehagens angesichts der Fehler, die auf Kosten ganzer Generationen von Schülern begangen werden. »Wenn man die Bedeutung dieser Frage nach der Erziehung der Jugend einer Nation in ihrer ganzen Länge und Breite bedenkt, die gebrochenen Leben, die zerstörten Hoffnungen, die Fälle nationalen Scheiterns, welche aus der leichtfertigen Passivität resultieren, mit der diese Frage behandelt wird, ist es schwer, Wut und Zorn zurückzuhalten.«[5] Über die persönliche Motivation hinaus werfen die Texte ein Licht auf das Bildungswesen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts in Großbritannien, in das Whitehead nicht nur direkt eingebunden war, sondern das er gleichermaßen analysierte und zu verbessern bestrebt war.
Dass seine Aufsätze den Nerv der Zeit trafen, zeigt sich in den zahllosen kontroversen Diskussionen, in die Whitehead entweder aktiv involviert war oder für die er mit seinen Argumenten Munition lieferte. Eine dieser Debatten entzündete sich in den 1930er 11Jahren an dem Vorhaben der Universität von Harvard, die Beherrschung der lateinischen Sprache als Zulassungsvoraussetzung für den Bachelorabschluss abzuschaffen. Innerhalb der Fakultät selbst bildeten sich zwei Lager, von denen eines die Bedeutung der klassischen Sprachen trotz der Ausweitung von Physik und anderen Naturwissenschaften hochhielt, während das andere Lager sich für die vollständige Aufhebung obligatorischer Lateinkurse aussprach. Zwar hatte man bereits 1916 Latein als Voraussetzung für den Zugang zum Studium abgeschafft, doch nicht zuletzt dank des Einsatzes von Professor Kennard Rand, der die zentrale Rede am Tag der endgültigen Abstimmung hielt, wurde das Lateinerfordernis für die Abschlussprüfung beibehalten – und Rand bediente sich in seinen Argumenten dabei großzügig der von Whitehead in dem Aufsatz über den Stellenwert der klassischen Sprachen in Erziehung und Bildung geleisteten Vorarbeit.[6] In Harvard werden für den Bachelor of Arts auch heute noch Lateinkenntnisse vorausgesetzt. Der bisweilen anklingende Vorwurf, Whitehead formuliere in seinen kulturphilosophischen Schriften überwiegend Platituden, verkennt deren grundlegende Botschaft, dass offensichtliche Ideale immer wieder neu vor Augen geführt werden müssen, bis sie praktische Umsetzung erfahren.[7] Auch wenn seine Vorschläge und Forderungen sich nicht immer unmittelbar durchsetzen konnten oder gar auf ungeteilte Zustimmung stießen,[8] hatte Whitehead ein gutes Gespür für Themen von gesellschaftlicher Relevanz. Vor diesem Hintergrund können seine Aufsätze in ihrem meist diplomatisch ausgewogenen Ton weit eher als Angebot und Grundlage zur Diskussion denn als Formulierung einer dogmatischen Position gelten.
Auch in der heutigen Zeit, die nicht gerade arm ist an Problemen der Organisation, Finanzierung und grundsätzlichen Ausrichtung ihrer Bildungsanstalten, können Whiteheads scharfsichtigen Beobachtungen ebenso wie seine bisweilen radikalen Verbesserungs12vorschläge neue Impulse geben. Gerade in Deutschland haben die mitunter überhasteten Reformen von Schule und Universität bei Lehrenden, Studierenden, Schülern und Eltern gleichermaßen für Unruhe gesorgt. Während die Verkürzung von Schulzeit und Studium den Eindruck erweckt, dass Ausbildung zunehmend auf einen rein ökonomischen Faktor reduziert wird und die individuellen und zeitlichen Bedürfnisse der Lernenden außer Acht gelassen werden, sieht sich die Bildungspolitik in Lagerkämpfe verwickelt, deren Kernthema die Frage nach der Beibehaltung oder Abschaffung einzelner Schultypen bildet. Ein klares Bekenntnis zu einem systematischen und inhaltlichen Bildungskonzept sucht man hier in der Regel vergebens. Whiteheads Gedanken zur Konzeption von Erziehung und Bildung liefern in dieser Hinsicht zwar weder eine Patentlösung noch sind seine Vorstellungen unkritisch von den historischen Gegebenheiten abzutrennen und auf unsere Zeit zu übertragen. Dennoch lassen sich zentrale Ideen und Motive der Aufsätze für die gegenwärtige Situation fruchtbar machen und erweisen sich aus dieser Perspektive als überaus treffend und modern, wie etwa die Forderung nach größtmöglicher finanzieller und administrativer Unabhängigkeit der einzelnen Lernanstalten bis in die Bereiche der Personalauswahl und der schulspezifischen Lehrplanentwicklung.
Bereits in den sechziger Jahren begann die Didaktik der Mathematik sich für die erziehungsphilosophische Konzeption Whiteheads zu interessieren, was angesichts des sie auszeichnenden Zusammentreffens von fachlicher Expertise und ausgiebiger Reflexion über die pädagogische Praxis kaum verwunderlich ist. Im Rahmen jener – zeitlich allerdings eng begrenzten – fachspezifischen Auseinandersetzung erschien auch die bisher einzige Übersetzung eines der vorliegenden Aufsätze ins Deutsche,[9] die allerdings aufgrund ihres vergleichsweise freien Übersetzungsstils aus Sicht des gegenwärtigen Stands der Whitehead-Forschung revisionsbedürftig ist. Seit den neunziger Jahren befassen sich die Erziehungswissenschaften, 13und von dort ausgehend auch einzelne Fachbereiche, inzwischen wieder in konstruktiver Weise mit Whitehead.[10] Damit zeichnet sich ein bemerkenswerter Trend ab, zu dessen Weiterführung die vorliegende Übersetzung einen Beitrag leisten will.
Die hier versammelten Aufsätze konzentrieren sich jeweils auf bestimmte Schwerpunkte, beispielsweise die Abstimmung von Unterrichtsinhalten und -methoden auf einen natürlichen Rhythmus der menschlichen Entwicklung, speziell der Selbstentwicklung (self-development), oder die Frage nach dem angemessenen Verhältnis von technikorientierter und literarischer Ausbildung. Im Gegensatz zu den klassischen Autoren der pädagogischen und philosophischen Tradition, wie etwa Locke, Rousseau, Montessori und Piaget, entwickelt Whitehead kein explizit ausgearbeitetes System, das als Gesamtentwurf anthropologische, psychologische, didaktische, kulturelle und pädagogische Aspekte in einem kohärenten Modell zusammenführen würde. Doch auch wenn die zentralen Konzepte in den verschiedenen Aufsätzen nicht ausdrücklich systematisiert werden, bieten die einzelnen Texte eine Grundlage für eine konsistente und stimmige, allerdings von gängigen Ismen und Typisierungen weitgehend unabhängige Philosophie von Erziehung und Bildung.[11] Whitehead selbst greift Themen früherer Vorträge an späterer Stelle wieder auf, präzisiert und vertieft bestimmte Ansätze, ohne dabei mit vorherigen Ansichten zu brechen. Es scheint folglich plausibel, die unterschiedlichen Beiträge zu dem großen Komplex pädagogischer und philosophischer Fragen als Teile eines organischen Ganzen zu verstehen, das von Whitehead selbst zwar nicht ausformuliert wird, aber seinen sämtlichen Betrachtungen zugrunde liegt.
14Die ersichtliche Zusammengehörigkeit und wechselseitige Bezogenheit der Aufsätze hat unmittelbare Auswirkungen auf das Projekt einer Übersetzung. Whitehead verwendet seine Terminologie bisweilen nicht so konsequent, wie dies in einem von vornherein als Monographie konzipierten Buch sicherlich der Fall wäre und wie seine späteren Werke es erwarten lassen würden. Nicht ohne Bedeutung dürfte auch sein, dass fast alle Aufsätze ursprünglich als Vorträge konzipiert waren und für die Veröffentlichung meist nur geringfügig überarbeitet worden sind. Entsprechenden kleineren Unstimmigkeiten trägt die vorliegende Übersetzung Rechnung, indem sie dort vereinheitlicht, wo es zum Verständnis des Zusammenhangs unumgänglich ist, ansonsten allerdings die sprachliche Variation beizubehalten sucht, welche die Texte bzw. die ihnen zugrunde liegenden Vorträge so lebendig und eindringlich macht. In einigen Fällen war es zudem notwendig, englische Ausdrücke unterschiedlich zu übersetzen, wenn die Bedeutung eines englischen Wortes im Deutschen semantisch differenziert wird. Augenfälligstes Beispiel hierfür ist bereits der Titel der Schrift, der das englische »education« durch die einander ergänzenden Begriffe »Erziehung und Bildung« wiedergibt. Die Abweichung von der sonst üblichen Beschränkung auf den Begriff der Erziehung im Titel pädagogischer Schriften – man denke an Rousseaus Emile oder Über die Erziehung, Lockes Gedanken über Erziehung oder Russells Erziehung, vornehmlich in frühester Kindheit[12] – geschieht bewusst und mit guten Gründen. Im Deutschen meint »Erziehung« die Gesamtheit der pädagogischen Einflüsse, die den Menschen formen und ihn bestimmte Fähigkeiten ausbilden lassen, was auch die Möglichkeit der Selbsterziehung einschließt. »Bildung« hingegen bezeichnet einerseits den Prozess der geistigen Formung, darüber hinaus aber insbesondere den mit jenem Prozess angestrebten Endzustand und transzendiert so die Ebene der erzieherischen Praxis. Für einen Denker wie Jean-Jacques Rousseau ist diese Differenzierung verhältnismäßig unproblematisch. Die Aufgabe der Erziehung besteht darin, schädliche Einflüsse vom Zögling fernzuhalten, um ihm seine natürliche Entwicklung hin zu einem wahren Menschsein zu ermöglichen. Gesellschaftliche Ansprüche in der Form besonderer 15technischer oder intellektueller Fähigkeiten sind für ihn irrelevant, da die Gesellschaft per se das Ergebnis einer unnatürlichen Entwicklung darstellt und folglich kaum ein pädagogisches Mitspracherecht besitzt. John Lockes stoisch geprägtes Erziehungsmodell intendiert im Sinne eines Mittelwegs zwischen zu viel und zu wenig Disziplinierung ebenfalls die natürliche Formung des Heranwachsenden, wobei als wesentliches Ziel der Erziehung ganz selbstverständlich die Tugendhaftigkeit angesehen wird. Das Ergebnis des Erziehungsprozesses wird auch bei ihm nicht reflektiert, weil die gesellschaftliche Stellung des Aristokraten jene Anforderungen, die später an den Schüler gestellt werden, bereits im Voraus festlegt.
Ganz anders verhält es sich im Fall der Überlegungen Whiteheads. Die politische, kulturelle und wirtschaftliche Situation im England des frühen zwanzigsten Jahrhunderts war, wie fast überall in Europa, geprägt von spürbaren sozialen Umbrüchen. Der Erste Weltkrieg verschlimmerte die finanzielle Situation eines Großteils der Bevölkerung, landesweite Streiks nahmen zu, Frauenbewegungen erkämpften ein Wahlrecht für Frauen ab dem dreißigsten Lebensjahr, und mit dem Education Act von 1918 wurde der Schulbesuch für Kinder zwischen dem fünften und vierzehnten Lebensjahr verpflichtend. Die Ausweitung des Systems weiterführender Schulen, die nicht zuletzt durch den gestiegenen Bedarf an technisch ausgebildetem Fachpersonal gestützt wurde, forderte die Auseinandersetzung sowohl mit den Inhalten als auch mit den Methoden der Lehre. Welche Unterrichtsinhalte sollen bewahrt werden, und welche müssen weichen, um Raum für die Vermittlung neuen Wissens zu schaffen? Legen wir größeren Wert auf umfangreiches Faktenwissen oder auf die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erschließen? Woran soll sich die Abfolge von Unterrichtsstoffen, woran das Lerntempo orientieren? Worin besteht die Aufgabe von Universitäten in einer Zeit, die hinreichende Möglichkeiten zum Selbststudium bereitstellt? Welchen Bezug hat das in den Wissenschaften organisierte Wissen zu der Welt, die wir in unserem täglichen Denken und Handeln erfahren? Fragen solcher Art sind nicht beschränkt auf die Zeit zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, und in Whiteheads Vorträgen wird greifbar, dass es auch nicht mehr nur um die Frage nach der Art und Weise pädagogischer Aktivität geht. Zunehmend rücken die Ziele und Aufgaben des Erziehungswesens als eines Ganzen in den Vordergrund, ebenso wie 16die Bedeutsamkeit erfolgreich erworbener Bildung für den einzelnen Menschen. Die Ausarbeitung dieser engen Verknüpfung von Pädagogik und Gesellschaftstheorie ist seit dem späten neunzehnten Jahrhundert ein wichtiger Topos amerikanischer Philosophie, und ihren wirkmächtigsten Vertreter hat sie bisher in John Dewey gefunden – vielleicht dem Philosophen von Erziehung und Bildung in Amerika.[13] Diese umfassende Perspektive, die Dewey und Whitehead gemeinsam ist,[14] spiegelt sich auch in der Übersetzung der vorliegenden Essays wider: Dort, wo das englische »education« deutlich den Prozess der Aneignung von Fähigkeiten meint, wird es mit »Erziehung« wiedergegeben, meint es hingegen das Ziel schulischer Erziehung oder den Zustand erworbener Qualifikation, steht das deutsche »Bildung«. Sind beide Bereiche gemeinsam angesprochen, findet sich der Ausdruck »Erziehung und Bildung«. Entsprechend seiner vielfältigen Verwendung von »education« sucht man eine bündige Definition des Terminus bei Whitehead vergebens.[15]
Ein anderes und sicherlich gewichtigeres Problem ergibt sich im Hinblick auf die Konsistenz mit den bisher erschienenen deutschen Whitehead-Übersetzungen und den durch sie etablierten wesentlichen Bestandteilen der schwierigen Whiteheadschen Terminologie. Da die vorliegenden Essays allesamt vor den dezidiert metaphysischen Abhandlungen erschienen sind, stellt sich die grundsätzliche Frage, ob bzw. in welchem Maße die Verwendungsweise zentraler Begriffe wie »Abenteuer« (adventure), »Erfassen« (apprehension) oder »Idee« (idea) in TheAims of Education and Other Essays mit 17jener der späteren Schriften übereinstimmt. Die bereits hier sichtbare Häufigkeit dieser Ausdrücke und die bewusst subjektive oder anthropomorphe Färbung des Vokabulars legen die Vermutung nahe, dass ihr spezifisch terminologischer Gebrauch sich aus der weniger präzisierten Verwendung in den Aufsätzen über Erziehung und Bildung entwickelt hat. Stellt man jedoch den Vortragscharakter der Texte in Rechnung, der den Akzent mitunter stärker auf die unmittelbare Verständlichkeit und Anschaulichkeit der Argumente richtet als auf die Konsistenz der philosophischen Terminologie, scheint es legitim, die Termini nicht einfach zu übernehmen, sondern die Eigenheiten ihrer Verwendung in dem jeweiligen Kontext zu berücksichtigen und ggf. von bisher etablierten Ausdrücken abzuweichen, um der Intention des Autors gerecht zu werden. In diesem Sinne mag man sich den bisherigen Übersetzungen noch einmal zuwenden und divergierenden terminologischen Nuancen nachgehen. Abweichungen betreffen insbesondere den Begriff »actual«, der aufgrund seiner zentralen Stellung in Whiteheads Philosophie einer kurzen Erläuterung bedarf.
Gemäß der Übersetzung des metaphysisch und methodologisch zentralen Hauptwerks Prozeß und Realität durch Hans Günter Holl ist es üblich geworden, »actual«, besonders in Whiteheads terminologischen Neuschöpfungen »actual entity« und »actual occasion«, mit dem deutschen Begriff »wirklich« zu übersetzen. Das hat zweifellos seine Berechtigung, insofern »actual entities« als fundamentale Prozesseinheiten nach Whitehead unsere Wirklichkeit als Ganzes konstituieren. Von Realität kann nur dort gesprochen werden, wo sich etwas ereignet: »Die Realität ist der Prozeß.«[16] Dennoch birgt die Übersetzung eine gewisse Problematik, da sie einen Teil der im Englischen mitschwingenden Bedeutung nicht zu fassen vermag. Wirkliche Einzelwesen befinden sich immer in actu, im Akt oder Prozess der Konkreszenz hin zu ihrem Sein als neue Gegebenheiten, und sind in der Phase des Werdens für alle anderen im Stadium der Konkreszenz befindlichen Einzelwesen gerade nicht wirklich. In diesem Zusammenhang erlaubt das deutsche »aktual« eine wesentlich präzisere Wiedergabe der Konnotation von Gegenwärtigkeit und Unabgeschlossenheit, die hier ausdrücklich intendiert ist. Auf der anderen Seite erfassen die wirklichen Einzelwesen nicht 18nur andere wirkliche Einzelwesen und damit die kausal wirksame Vergangenheit, was eine bloße Perpetuierung des bestehenden Zustands bedeuten würde, sondern auch ewige Objekte (eternal objects), wodurch es zur Verwirklichung bisher nicht realisierter Möglichkeiten kommt. Als Universalien, konzipiert in erklärter Ähnlichkeit zu den platonischen Ideen,[17] sind die ewigen Objekte nicht wirklich im Sinne einer konkreten Existenz. Ewige Objekte werden jeweils in wirklichen Einzelwesen aktual. Da sie aber kausal wirksam sind, scheint für sie der Terminus »wirklich« mindestens ebenso zutreffend wie für die Prozesseinheiten.
Die mit dem Begriff der Wirklichkeit verbundenen Schwierigkeiten treten auch dort zutage, wo das Wirkliche bzw. das Aktuale als Gegenbegriff zum Hypothetischen verwendet wird. So unterscheidet Whitehead »zwischen einem aktualen Gedankenausdruck, das heißt einem aktual gebildeten Urteil, und einer bloßen Proposition, welche ein hypothetischer Gedankenausdruck ist, das heißt eine vorgestellte Möglichkeit eines Gedankenausdrucks.«[18] Der Gedankenausdruck ist die – nicht zwingend sprachliche – Feststellung der phänomenalen Gegebenheit eines Wahrnehmungsobjekts. Der Gedankenausdruck ist nur insofern wirklich, als er aktual gegeben ist, nicht aber wirklich im Sinne einer tatsächlichen Abbildung der Realität. Die Wahrnehmung einer grünen Wiese mag sich mir aufdrängen und meinen aktualen Gedankenausdruck bilden, doch ist damit nicht ausgeschlossen, dass sich die Wahrnehmung später als Illusion oder Fata Morgana erweist. Der hypothetische Gedankenausdruck, der mich in Abwesenheit der entsprechenden Wahrnehmung von einer grünen Wiese sprechen lässt, ist hinsichtlich seiner Wirksamkeit für mein Urteil durchaus wirklich und unterscheidet sich von dem wirklichen Gedankenausdruck lediglich darin, dass er nicht aktual gegeben ist. Das Hypothetische verlangt nach einer Konkretisierung, die es aktual werden lässt, während das Wirkliche seinen Gegenbegriff im Unwirklichen hat. Wenn in der vorliegenden Übersetzung dennoch häufig »wirklich« für das englische »actual« steht, ist dies einerseits der eingeschränkten Verwendungsmöglichkeit von »aktual« als Adverb geschuldet, die eine konstante Übersetzung verhindert, andererseits auch der Notwendigkeit, 19angesichts der bestehenden und etablierten deutschen Termini technici eine Verwirrung beim Leser zu vermeiden.
Die knappe Erörterung zu Whiteheads komplexer Terminologie[19] deutet bereits an, dass sich die vorliegenden Aufsätze nicht auf das Thema von Erziehung und Bildung beschränken. Dieses steht zwar im Mittelpunkt und wird in den ersten sieben Texten aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, rückt jedoch in den drei letzten Aufsätzen zugunsten mathematisch-logischer sowie wissenschafts- und erkenntnistheoretischer Betrachtungen, einer »pre-speculative epistemology«[20] weit in den Hintergrund. Als die erste Ausgabe von TheAims of Education and Other Essays in den USA vergriffen war, dachte Whitehead darüber nach, die beiden letzten Kapitel durch solche zu ersetzen, die sich spezifisch bildungspolitischen Themen widmen,[21] setzte diesen Gedanken jedoch auch später nicht mehr um. Allein angesichts der grundsätzlich wünschenswerten Kongruenz von Originalausgaben und Übersetzungen im Sinne der Übersichtlichkeit und Benutzerfreundlichkeit lag es nahe, auch für den vorliegenden Band die ursprüngliche Sammlung von Texten, zu deren Genese, Inhalt und Zusammenstellung Whitehead selbst in seinem Vorwort von 1929 einige Hinweise gibt,[22] in unveränderter Konstellation beizubehalten. Die einzelnen Beiträge seien im Folgenden kurz vorgestellt.
(I) In dem Beitrag »Die Ziele von Erziehung und Bildung«[23] entwickelt Whitehead ein breites Spektrum von Überlegungen, wie 20Erziehung und Bildung angelegt sein und welchen Zielen sie folgen sollen. Der wesentliche Anspruch eines Bildungssystems müsse darin bestehen, Expertenwissen und Spezialistentum einerseits sowie ein breites Überblickswissen andererseits in ein funktionierendes Gleichgewicht im Dienste von Kultiviertheit und Perspektivenerweiterung zu bringen. Diese Programmatik verbindet Whitehead mit den zentralen Motiven der Bedeutsamkeit, Anwendbarkeit und Nutzbarmachung von Ideen: Passive Ideen (inert ideas), die nicht in lebendige Zusammenhänge eingeordnet werden, sondern tote, ungenutzte Werkzeuge bleiben, lähmen den Geist und verfehlen den zentralen Anspruch, dem Erziehung und Bildung sich seit jeher stellen müssen. Erfolgreiche Erziehung und Bildung mündet in einem vitalen Sinn für Stil als einer Fertigkeit, die praktische Effektivität in allen Lebens- und Wissenschaftsbereichen mit ästhetischem Empfinden und Moralität verbindet. Whitehead bezieht seine Überlegungen konkret auf Disziplinen wie Geometrie und Algebra ebenso wie auf literarische Bildung, reflektiert auf unterschiedliche Altersstufen der Schüler und entsprechende Unterrichtserfordernisse und verbindet kritische Überlegungen zum englischen Bildungs- und Prüfungssystem seiner Zeit mit Hinweisen auf die Kultur- und Zivilisationsgeschichte und ihren bleibenden Wert.
(II) In »Der Rhythmus von Erziehung und Bildung« vertritt Whitehead die These, dass Fortschritt von Schülern weder kontinuierlich noch linear von leichteren zu schwereren Inhalten verläuft, sondern in periodischen Vorgängen, sog. Zyklen, besteht. Als drei Stadien eines Zyklus geistiger Reifung werden (i) Schwärmerei als ein anfänglich systemfreies, aber schon erste Beziehungen von Einzeltatsachen konstituierendes Stadium vager Einsicht, (ii) Präzision als Stadium der ordnenden, systematisierenden Hinzufügung weiterer Tatsachen und schließlich (iii) Verallgemeinerung als eigentliches Stadium produktiver Entfaltung unterschieden. Diese drei idealtypisch unterschiedenen Stadien, die Whitehead beiläufig mit Hegels Trias von These, Antithese und Synthese assoziiert, kehren einerseits in den unterschiedlichen Entwicklungsstadien, d. h. in den diversen Phasen von früher Kindheit und Jugendzeit, und andererseits in den jeweiligen fachwissenschaftlichen Ausbildungsgängen – sprachlich-literarischen und naturwissenschaftlichen – mit unterschiedlicher Gewichtung wieder. Im Aufzeigen 21der wechselnden Dominanz jener Stadien innerhalb unter- und übergeordneter Zyklen veranschaulicht Whitehead den durchgängig rhythmischen Charakter von Wachstumsprozessen als ein Prinzip, das in allen Phasen von Erziehung und Bildung wirksam wird, aber, obwohl aus der Praxis latent geläufig, noch auf seine reflektierte erziehungskonzeptionelle Berücksichtigung wartet.
(III) In »Die rhythmischen Ansprüche von Freiheit und Disziplin« werden die Überlegungen zum Rhythmus von Erziehung und Bildung aus (II) weitergeführt und vertieft. Begreift man den Geist der Schüler im Sinne von Whiteheads Grundmotiv als Organismus, wird plausibel, dass Freiheit und Disziplin keinen strikten Antagonismus bilden, sondern sich im Rahmen wechselnder Phasen gegenseitig bedingen und ergänzen. Das Bild des rhythmischen Wechselspiels von Freiheit und Disziplin ergänzt Whitehead auch hier durch jenes von über- und untergeordneten Zyklen, für deren Binnenstruktur die früher eingeführte Trias von Schwärmerei, Präzision und Verallgemeinerung grundlegend ist. Zugleich bezieht er seine Vorstellung des Rhythmus auf die diskursive Aktivität des Schülers – auf die komplementären Vorgänge von Fragen und Antworten, Suchen und Entdecken. Der Lehrer muss die aktiven Interessen der Schüler lebendig halten und dafür sorgen, dass Schwärmerei auch auf der Stufe der Präzision wirksam bleibt, um ein Abstumpfen von Staunen, Aktivität und Initiative zu verhindern. Entsprechend ist auch für die Stufe der Verallgemeinerung, die Details in den Hintergrund und Prinzipien in den Vordergrund treten lässt, ein erneuter Rekurs auf Schwärmerei essenziell. Whitehead greift die Zuordnung des Schemas von Schwärmerei, Präzision und Verallgemeinerung zu Lebensaltern des Lernenden sowie zu fachlichen Ausrichtungen wieder auf, um schließlich die rhythmischen Gesetze des Wachstums auch auf moralische und religiöse Bildung zu beziehen und in ein Plädoyer für ästhetische Empfindung, Sinn für Schönheit und Einsicht in Werte münden zu lassen.
(IV) In »Technikorientierte Erziehung und Bildung und ihre Beziehung zu Wissenschaft und Literatur« erläutert Whitehead, der sich hier anders als in den anderen Beiträgen auf Lernende aller Altersstufen bezieht, seine Vorstellung visionärer, an Ideen ausgerichteter Arbeit, die aus dieser Ideenausrichtung ihre spezifische stimulierende Freude gewinnt. In diesem Sinne gibt das traditionelle Ideal der Benediktinermönche mit seiner Kombination von 22Erfindergeist und Handeln, von geistiger Aktivität und intellektueller Neugierde, das Konzept richtig verstandener technikorientierter Erziehung vor. Ausgehend von einem Antagonismus dieser technikorientierten Erziehung, repräsentiert durch Benedikt von Nursia, zu einer sog. liberalen Erziehung,[24] repräsentiert durch Platon, wendet sich Whitehead gegen jede Einseitigkeit, insbesondere gegen das mit der platonischen Kultur und ihrer Vernachlässigung von technikorientierter Erziehung und Bildung identifizierte dekadenzanfällige Festhalten am Klischee interessenloser Intellektualität. Die wechselseitige Angewiesenheit von liberaler und technikorientierter Erziehung motiviert Whiteheads Forderung nach einer engen Verbindung bzw. eines Ineinandergreifens von literarischem, wissenschaftlichem und technischem Curriculum. Denken soll sich auf Beobachtung aus erster Hand beziehen, da es nur so in manuelle Fertigkeiten übersetzbar sei. Damit wird die Konkretheit als besonderer Vorzug der technikorientierten Erziehung, dem Konzept koordinierten Denkens und Handelns, betont. Whitehead entwirft eine Typologie von sechs Arten solcher Erziehung – geometrische, mechanische, physikalische, chemische, biologische und handlungsbezogene Techniken –, die gleichsam als Gattungen konkreter unter sie fallender Tätigkeiten fungieren und diese theoretisch erhellen. Der Eingangsaspekt von Freude oder Vergnügen wird schließlich im Hinblick auf literarische Wissenschaften vertieft: Literatur und Kunst sind als wichtige Stimuli für Energien des Lebens und nicht zuletzt seiner ökonomischen Zusammenhänge zu würdigen.
(V) In »Der Stellenwert der klassischen Sprachen in Erziehung und Bildung« distanziert sich Whitehead von der traditionellen Zentralstellung des Unterrichts der Sprachen Griechisch und Latein und ihrer literarischen Werke. Anspruch und Pathos einer kompletten Ausbildung zum klassischen Gelehrten hält Whitehead den Erfordernissen seiner Zeit nicht mehr für angemessen. Angesichts eines gesellschaftlichen Umfeldes, in dem die klassisch-literarische Ausbildung nur noch in Randbereichen zu den ausbildungs- oder berufsrelevanten Inhalten gehört, macht er unter Hinweis auf aristotelische Praxisansprüche geltend, dass sich der Stellenwert 23der Klassiker danach zu bemessen habe, wie effektiv, alternativlos und ökonomisch diese in moderne Lehrinhalte zu integrieren seien. Zugleich würdigt Whitehead in konventioneller Weise den Lateinunterricht, indem er der lateinischen Sprache im Vergleich zur englischen und französischen ein ideales Maß an strukturellem Kontrast zuschreibt. Die drei genannten Sprachen, an denen, im Zusammenhang betrachtet, bereits Grundzüge von Philosophie-, Kultur-, Mentalitäts- und Zivilisationsgeschichte abzulesen seien, bieten für Whitehead die Möglichkeit dessen, was er wiederholt und leitmotivisch als Lernen »durch Kontakt« bezeichnet. Demnach fordert er eine zeitgerecht erneuerte, auf direkten Kontakt mit paradigmatischen Originaltext-Auszügen konzentrierte Gestaltung des klassischen Unterrichts. Für die römische Literatur, die im Wesentlichen nur ein einziges Thema – Rom – kenne, findet Whitehead eher nüchtern-kritische Worte. Gleichwohl ermöglicht aus seiner Sicht der literarisch vermittelte Kontakt mit dem antiken Rom Einsichten in eine visionäre Synthese von Technologie, Wissenschaft, Kunst und Religion, die sich in der an Herrschaft und Wohlstand orientierten historisch einmaligen Zentralstellung jenes Imperiums innerhalb der europäischen Geschichte manifestiert.
(VI) In »Das mathematische Curriculum« plädiert Whitehead für eine umfassende Revision von Lehrplänen, die allzu häufig an überholten methodischen und inhaltlichen Vorstellungen festhalten. Erziehung und Bildung können nur dann lebendig und wirksam sein, wenn die vermittelten Fähigkeiten und Ideen für die jeweilige Zeit und Gesellschaft relevant sind. Das Gelernte muss sich im Handeln äußern und bewähren können, und die Unterrichtsinhalte jedes Fachs sollen sich daran messen lassen, inwiefern sie zur Erreichung dieses Ziels geeignet sind. Insbesondere der Mathematikunterricht sieht sich nach Whitehead mit dem Problem konfrontiert, dass gerade seine Inhalte häufig zu verstiegen[25] und zu speziell sind, um für das allgemeine Denken fruchtbar zu sein. Als Schulfach kann die Mathematik ihren Nutzen nur dann wirklich entfalten, wenn sie den Stoffumfang auf das Wesentliche reduziert, um eine Ausbildung in der Anwendung allgemeiner Ideen 24auf konkrete Probleme zu leisten. Die Anwendung mathematischer Methoden auf soziale oder ökonomische Phänomene würde auch die in (IV) geforderte Verbindung zwischen technikorientierter und liberaler Erziehung und Bildung herstellen. Anstatt also, wie im damaligen englischen Schulsystem üblich, Formeln und Theoreme für vorgeschriebene Prüfungen auswendig zu lernen, sollten Schüler die Beziehungen von Zahl, Quantität und Raum, welche für Whitehead den Ausgangspunkt allen philosophischen Denkens bilden, anhand exemplarischer Aufgaben kennenlernen, sodass eine bestimmte Formel nur noch das explizit zu machen braucht, was der vorherigen Arbeit implizit zugrunde gelegen hat. Gelänge es der Mathematik darüber hinaus, ein Verständnis für die Kunst logischen Schlussfolgerns zu vermitteln, würde sie nicht länger als verstiegene Technik zur Lösung spezieller Probleme erscheinen, sondern zu einem zentralen Gegenstand praxisrelevanter Erfahrung werden.
(VII) In »Universitäten und ihre Funktion« nimmt Whitehead den Umzug der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät von Harvard nach Allston / Boston im Jahre 1926 zum Anlass für eine Reflexion der gesellschaftlichen Funktion von Universitäten. Ihre Aufgabe erschöpft sich nicht in Lehre und Forschung, sondern besteht wesentlich in der Art und Weise der Wissensvermittlung. Gute Universitäten und erfolgreiche Dozenten ermutigen zum phantasievollen Umgang mit erworbenen Kenntnissen, um allgemeine Prinzipien und Möglichkeiten ihrer fruchtbaren Anwendung, Reflexion oder Kritik zu eröffnen. Keineswegs allein in den Geisteswissenschaften, sondern auch in technischen und wirtschaftlichen Disziplinen sind entsprechend phantasievolle Gelehrte gefordert, die Whitehead etwa in William James verkörpert sieht. Konkret erweist sich die Synthese von Phantasie und Erfahrung etwa in den Verflechtungen einer globalen Wirtschaft als notwendig, um die komplexen Interessen und Strukturen von Gesellschaften zu erfassen. Insofern Gelehrsamkeit und Kreativität Lebensweisen darstellen, verweigern sie sich einer direkten Analyse ihres Nutzens anhand des quantifizierbaren Outputs in Form von Publikationen oder Absolventen. Das moderne Universitätssystem der westlichen Welt kann laut Whitehead nur dann erfolgreich sein, wenn es nicht wie ein Wirtschaftsunternehmen betrachtet wird, sondern größtmögliche Freiheit in Forschung und Lehre erhält und sich gleich25zeitig dem fortwährenden intellektuellen Austausch innerhalb der Institution und mit der Öffentlichkeit verschreibt.
(VIII) Das Kapitel »Die Organisation des Denkens« definiert Wissenschaft als Aktivität der Organisation von Erfahrung. Die zentrale Aufgabe gedanklicher Organisation besteht in der Aufdeckung der Beziehungen zwischen dem fragmentarischen Kontinuum unmittelbarer Sinneserfahrung und den exakten Konzepten abstrakten Denkens. Whitehead versteht Konzepte als Summe unserer zusammenhängenden aktualen und idealen Erfahrungen, wobei die Struktur der für die Konzeptbildung relevanten Erfahrungen unseren gesunden Menschenverstand ausmacht. Wissenschaft klassifiziert diese Erfahrungen und ordnet sie in logischen Systemen, von denen ausgehend weitere Konzepte deduktiv erschlossen werden können. Eine umfangreiche Skizzierung der Arithmetik, der Algebra, der allgemeinen Funktionentheorie und der Analysis als Sektionen moderner Logik, wobei kursorisch auf die Leistungen Russells verwiesen wird, führt Whitehead zu der Bedeutsamkeit der logischen Methode als Organisationsprinzip, das die abgeleiteten Konzepte kritisiert, die Struktur von Propositionen analysiert und wissenschaftliche Vorhersagen ermöglicht. So verdanken sich etwa die Konzepte eines Punktes oder eines Moleküls nicht der unmittelbaren Anschauung, erlauben jedoch aufgrund der Einfachheit ihrer logischen Beziehungen eine exaktere Untersuchung der Erfahrungswelt als der bloße Commonsense. Eine Logik, die Einblick in die Zusammenhänge dieser Beziehungen gewährt, leitet die Wissenschaft zu neuen Beobachtungen an und ist somit konstitutiv für wissenschaftliches Denken.
(IX) In »Die Anatomie einiger wissenschaftlicher Ideen« geht Whitehead programmatisch auf Aspekte des Ausschlusses von Werturteilen und von Metaphysik bzw. Ontologie aus der Wissenschaft ein. Den Hauptteil des Beitrags bilden ausführliche, teils spezifische Analysen zentraler philosophisch-wissenschaftlicher Konzepte und ihrer Bedeutung in der Physik anhand der Einteilung in (i) Tatsachen, (ii) Objekte, (iii) Zeit und Raum sowie (iv) Kraftfelder. (i) Tatsachen der Physik, so Whitehead, sind Gedanken, die er in primäre (Wahrnehmungs-)Gedanken und sekundäre Gedanken unterteilt. Primäre (Wahrnehmungs-)Gedanken richten sich auf Objekte im Kontext der Gesamtheit des wahrnehmenden Bewusstseins; sekundäre Gedanken beziehen sich auf andere Ge26danken bzw. leiten sich aus solchen her. Der Wissenschaft geht es u. a. um die erklärende Vermittlung zwischen Beobachtung und Theorie und damit um Harmonisierung von primären und sekundären Gedanken bzw. letztlich von Dingen der Alltagswahrnehmung mit Denk-Objekten der Wissenschaft (Molekülen, Atomen, Elektronen usw.). (ii) Den Objekten als Gegenständen vorwissenschaftlicher Wahrnehmung korrespondieren in der wissenschaftlichen Erklärung Ereignisfolgen oder Molekülgruppen. Für die vorwissenschaftliche Wahrnehmung sind Objekte als einzelne Sinnesdaten und Objekte als aus Sinnesdaten schlussfolgernd gewonnene und synthetisierte Gegenstände phantasievollen Denkens zu unterscheiden. Das erkennende Subjekt ist nämlich stets einem Strom von Sinnes-Vergegenwärtigungen ausgesetzt, die nur infolge von Selektion bzw. Abstraktion als einheitliche, konstante und so der Wiedererkennung zugängliche Objekte angesprochen werden können, wobei sog. Prinzipien der Konvergenz und der Vereinigung wirksam werden. (iii) Zeit- und Raumbeziehungen zwischen Sinnes-Objekten der Wahrnehmung sind als vergleichsweise einfache Relationen prädestiniert für die epistemische Konstitution grober Denk-Objekte der Wahrnehmung sowie für ihre Trennung oder Unterscheidung. Ein Sinnes-Objekt ist nicht nur Teil des vollständigen Stromes der Sinnes-Vergegenwärtigung, sondern kann auch zu anderen Sinnes-Objekten in direkten räumlichen oder zeitlichen Ganzes-Teil-Beziehungen stehen, während Denk-Objekte der Wahrnehmung nur abgeleitete Raum-Zeit-Beziehungen aufweisen. Will man die Ganzes-Teil-Beziehung zwischen Objekten auf die Alle-Einige-Beziehung zwischen logischen Klassen zurückführen, ist man nach Whitehead auf das Hilfsmittel von Punkten, d. h. auf die intellektuelle Konstruktion von Punkt-Objekten im Raum und in der Zeit angewiesen, weshalb er ausführlich auf den Punkt als ideale Grenze rekurriert. Ergänzend zur intellektuellen Konstruktion und Verwendung von Punkten geht Whitehead auf gerade Linien und Flächen ein, insofern diese als jeweils eine unendliche Anzahl von Punkten enthaltend verstanden werden. Während sich der Punkt im beschriebenen Sinn auf – allerdings weitgehend hypothetische – Denk-Objekte der Wahrnehmung bezieht und somit als besetzter idealer Punkt zu charakterisieren ist, kann in dem von solchen Objekten unabhängigen leeren Raum ein idealer Punkt die bloße Möglichkeit räumlicher Beziehung kennzeichnen. Die An27nahme der Wissenschaft, dass Denk-Objekte der Wahrnehmung als ein relativ stabiler Zustand einer Gruppe von Molekülen zu verstehen sind und dass wir in diesem Sinn niemals Dinge, sondern Ereignisse wahrnehmen, führt Whitehead schließlich (iv) zu dem Konzept des Kraftfeldes als modernem, einheitlichem Denk-Objekt der Physik. Seine im Wesentlichen dem Übergang von Denk-Objekten der Wahrnehmung zu Denk-Objekten der Wissenschaft gewidmeten Überlegungen führen Whitehead zu dem Fazit, dass eine Wissenschaft wie die Physik nicht nur auf Urteilen basiert, die aktuale Wahrnehmungen registrieren, sondern auch auf Urteilen, die hypothetische Wahrnehmungen registrieren, was letztlich auf die Unverzichtbarkeit metaphysischer Analyse verweist.
(X) In »Raum, Zeit und Relativität« geht es Whitehead darum, die unterschiedlichen physikalischen, psychologischen, metaphysischen und geometrischen Perspektiven auf grundlegende Probleme von Raum und Zeit, wie sie sich in der Relativitätstheorie manifestieren, miteinander zu harmonisieren, um dem Manko einer fehlenden Verknüpfung der einzelnen Forschungen und Forschungsrichtungen abzuhelfen. Dabei zeigt sich, dass der leere und unveränderliche Raum stets ein abgeleitetes Phänomen ist, das sich direkter Beobachtung entzieht. Die von Newton vertretene absolute Theorie des Raumes steht dabei der mit Leibniz assoziierten relativen oder relationalen Theorie gegenüber – Konzeptionen, denen im Hinblick auf die Beziehung von Raum und Zeit zu menschlicher Erfahrung die kantische Transzendentalphilosophie und die empiristische Philosophie korrespondieren. Skizzenhaft reflektiert Whitehead die Analogie von räumlicher und zeitlicher Ausdehnung und deutet an, dass einer entsprechenden Lokalisierung ein Urteil über Externalität vorausgehen muss. Es folgt ein Gedankenexperiment: Zwei Wesen, die innerhalb eines Messsystems von unterschiedlichen Längeneinheiten ausgehen, gelangen notwendig zu unterschiedlichen Auffassungen bezüglich der quantitativen Veränderlichkeit von Objekten. Whitehead geht über die Beschreibung solch divergenter Standpunkte als unterschiedlicher Raum-Zeit-Systeme hinaus und will Raum und Zeit als Einheitlichkeit der Textur von Erfahrung verstanden wissen, d. h. als hypothetische Konstrukte, die sich interindividuell aus der fragmentarischen Erfahrung abstrahieren lassen. Für die Metaphysik bedeutet dies, dass die Welt als Ganzes nicht als gegeben angenommen werden muss, 28sondern sich der spekulativen Herleitung aus direkter, fragmentarischer Erfahrung verdankt, organisiert durch die Logik physikalischer und mathematischer Beziehungen.
Das thematische Spektrum der Essays, insofern sie auf Erziehungs- und Bildungsphilosophie konzentriert sind, macht, wie schon eingangs gesagt, ihre Zuordnung zu Whiteheads meistgenannten Arbeitsgebieten, d. h. der mathematischen Logik, der Physik und der spekulativen Metaphysik, schwierig. Insbesondere dokumentieren die Essays aber auch die Fragwürdigkeit der etablierten Annahme deutlicher zeitlich-chronologischer Zäsuren in der Abfolge von Whiteheads Interessen. Denn die Essays greifen nicht nur ausgiebig auf die logischen, mathematischen und mengentheoretischen Werke des frühen Whitehead zurück, sondern verweisen ebenso auf wesentliche Motive der spekulativ-metaphysischen Philosophie des späten Whitehead.
Michael Hampe deutet die Möglichkeit an, die Whiteheadsche Metaphysik als »höchst komplexe[n] Kommentar« zu seiner »organismischen Pädagogik«[26] zu begreifen – eine Lesart, die Whiteheads eigene Bemerkung zu den Verflechtungen seiner Schriften gegen Ende des Vorwortes von 1929 zu bestätigen scheint.[27] So provokant es auf den ersten Blick scheinen mag, die Entwicklung eines elaborierten metaphysischen Systems auf Reflexionen über Erziehung und Bildung zurückführen zu wollen, erhält die These eine bemerkenswerte Bestätigung durch Whiteheads lerntheoretisch-epistemologische Position selbst: Geistige Entwicklung ist nicht als linearer Vorgang zu verstehen, vielmehr nehmen die Prozesse des Lernens und des Reifens einen periodischen Verlauf mit unterschiedlichen Stadien des Einblicks in und des Überblicks über einen Gegenstand. Die erste Stufe, das Stadium der Schwärmerei, eröffnet den Blick für die zahllosen Möglichkeiten der Verknüpfung und Neukontextualisierung von materiellen und geistigen Objekten. Das platonisch-aristotelische Diktum vom Staunen als 29Beginn jedes Philosophierens wird von Whitehead damit an den Anfang menschlichen Denkens überhaupt gestellt. Erziehung und Bildung kann nicht im Vakuum bzw. in einer Welt vollkommen isolierter Entitäten stattfinden, sondern benötigt das kognitive und emotionale Erfassen der Relationalität von Dingen und Vorstellungen als ihre notwendige Voraussetzung. Diese vielfältigen Beziehungen werden im Stadium der Präzision mittels grammatischer, mathematischer und logischer Strukturen geordnet und genauer bestimmt, um den Blick für eine systematische Fortführung des schwärmerischen Sammelns von Tatsachen zu schärfen. In dem Stadium der Verallgemeinerung gehen die beiden vorherigen Stadien eine fruchtbare Synthese ein, indem sie es erlauben, neue Ideen, Fakten und Methoden in das geistige Netz einzufügen, aus einer umfassenderen Perspektive heraus die vorherigen Verknüpfungen zu betrachten und somit den Grundstein für eine neue Phase der Schwärmerei zu bilden, die zugleich den Beginn eines weiteren Zyklus markiert. Dieser rhythmischen Abfolge entsprechend vollzieht sich auch die geistige Durchdringung eines Themas nicht im Modus einer stetig größer werdenden Anhäufung von Fakten, sondern geschieht, wie der Ausdruck »Stadium« (stage) bereits andeutet, auf organische Weise: »Der Geist des Schülers ist ein im Wachstum begriffener Organismus.«[28] Insofern stellt Whiteheads intensive und produktive Auseinandersetzung mit der Metaphysik keinen plötzlichen Umschwung des Interesses dar, sondern erscheint als das Resultat einer langjährigen gedanklichen Entwicklung. Es würde den Rahmen einer Einleitung sprengen, die Genese der metaphysischen Spekulation aus der philosophischen Pädagogik detailliert zu rekonstruieren, doch lassen die inhaltlichen und terminologischen Parallelen – die emphatische Verwendung von Begriffen wie »actual« und »actuality« bzw. »actual event«, »organism« oder »adventure« – durchaus den Schluss zu, dass Grundmotive von Prozeß und Realität bereits in der vorliegenden Aufsatzsammlung zu finden sind.[29] Dies gilt auch für methodologische Gesichtspunkte: 30So lässt sich die in Whiteheads Hauptwerk entwickelte Methode der deskriptiven bzw. spekulativen Verallgemeinerung in kritischer Abgrenzung von einem ausschließlichen Fokus auf logische Präzision durchaus als Weiterführung der erziehungsphilosophischen Stadienfolge verstehen. In diesem Sinne hat Whitehead 1945 selbst retrospektiv festgehalten, dass seine philosophischen Ideen keineswegs erst mit dem Wechsel nach Harvard ihren Anfang nahmen. »Meine philosophischen Schriften […] entstanden alle, nachdem ich in dieses Land kam, aber die Ideen hatten in mir schon den größten Teil meines Lebens gekeimt. Einige von ihnen hatte ich gehabt, als ich zur Schule ging; bevor ich jemals zur Universität gegangen war.«[30]
Angesichts der skizzierten Kontinuitäten im Denken Whiteheads wird es nicht verwundern, dass eine Vielzahl von Motiven dem mit Whitehead vertrauten Leser bekannt vorkommen dürfte. Themen wie Zivilisationsgeschichte und Professionalismuskritik verbinden die Essays mit Abenteuer der Ideen; Aspekte von methodisch geleiteter Praxis und Rationalität verweisen auf Die Funktion der Vernunft; Leitmotive wie Kritik der Abstraktionen, Teleologie oder Kreativität im Naturgeschehen, Zeit und Zeiterfahrung, Erscheinung und Wirklichkeit usw. schlagen eine Brücke zu dem Hauptwerk Prozeß und Realität. Während eine umfassende Bestandsaufnahme von Verbindungen bzw. Überschneidungen als Desiderat bestehen bleibt, sei im Folgenden auf konkrete thematische Berührungspunkte einzelner Kapitel von Die Ziele von Erziehung und Bildung und andere Essays mit weiteren Hauptwerken Whiteheads exemplarisch und stichwortartig hingewiesen.
Die Kritik an lebloser Erkenntnis, an passiven Ideen (I), von Whitehead selbst in seinem Vorwort als zentraler Topos der vorliegenden Essays hervorgehoben, steht in engem Zusammenhang mit dem facettenreichen Ideenbegriff der metaphysischen Spätwerke. In diesen geht es um Ideen und ihre ›Lebensgeschichte‹ innerhalb der Geschichte der Zivilisation sowie um Abenteuer, die (in platonisierendem Sinn) eine Idee durchlebt, indem sie Eingang in die 31Werdewelt findet. Whitehead verbindet das Erfordernis der Lebendigkeit von Ideen und ihrer intellektuellen Nutzbarmachung auch in Die Ziele von Erziehung und Bildung und andere Essays mit ästhetisierenden Würdigungen und greift wiederholt auf den Abenteuerbegriff zurück, etwa wenn er vom Abenteuer des Lebens oder, konkreter, vom Abenteuer der Schwärmerei im Rahmen eines Erziehungs- und Bildungsstadiums spricht (III). Für das Gegenbild im Sinne träger Ideen und ihrer Defizite an Vitalität und innovativem Anwendungspotential steht in den vorliegenden Texten (III, IV, VII) der Begriff der Routine, der in Die Funktion der Vernunft Vorgänge des simplen, anspruchslosen Weiterlebens in naturphilosophisch-metaphysischer Bedeutung bezeichnet. Analog findet sich in den vorliegenden Essays immer wieder ein unterrichtstheoretisch verwendeter Methodenbegriff, der in Die Funktion der Vernunft auf die naturphilosophisch-metaphysische Bedeutung einer Lebensmethode (method of life) hin ausgeweitet wird. Erneuerung bzw. Frische durch Kontrast, aus Prozeß und Realität und Die Funktion der Vernunft als metaphysisch-naturphilosophisches Moment geläufig, fungiert in den Essays als Erfordernis an literarische Kultur (V) – die ästhetische Wertschätzung literarischer Qualität findet Parallelen in den kulturgeschichtlichen Betrachtungen von Wissenschaft und moderne Welt, Abenteuer der Ideen und Denkweisen. Fühlungen (feelings), in den vorliegenden Texten verstanden als Sinnesvorgänge (VIII), werden in Prozeß und Realität