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Kein Frieden ohne Feminismus Immer noch dominieren alte, weiße, westliche Männer die Politik sowie Theorie und Praxis der internationalen Beziehungen. Dadurch werden die Bedürfnisse von Frauen und Minderheiten permanent ignoriert. Die Welt ist voller Kriege, Krisen und Unrecht. Kristina Lunz tritt mit ihrem "Centre for Feminist Foreign Policy" an, das zu ändern. Die Politikwissenschaftlerin, Aktivistin und Entrepreneurin denkt Frieden, Menschenrechte und Gerechtigkeit mit Außenpolitik zusammen und will so einen Paradigmenwechsel einleiten: Machtgebaren und militärischen Muskelspielen setzt sie Mediation in Friedensverhandlungen, feministische Machtanalysen und Klimagerechtigkeit entgegen. Realpolitik wird gegen Utopien ausgetauscht, und Botschafterinnen gibt es genauso viele wie Botschafter. So kann das Gegeneinander der Nationen endlich abgelöst werden, und alle werden in größerer Sicherheit und mit weniger Konflikten leben können. »Eine kühne Vision für eine nachhaltige Zukunft« - Margot Wallström, Außenministerin von Schweden (2014-2019) »Mit ihrem Buch deckt Kristina Lunz in brillanter Weise die brutalen Muster der männlichen Dominanz auf globaler Ebene auf. Anhand von konkreten Beispielen zeigt sie, wie patriarchale Strukturen unsere Welt durch Gier, Gewalt und Machtmissbrauch allmählich zerstören. Lunz zeigt die Möglichkeit einer gerechteren und sicheren Welt - und somit einen Weg aus der gegenwärtigen Krise.« - Emilia Roig »Nach diesem Buch werden Sie anders auf die Welt blicken. Und eine Einladung zu mutiger Mitmenschlichkeit erhalten haben: das Silencing, mit dem strukturelle Gewalt normalisiert wird, können wir nur solidarisch brechen.« – Maja Göpel »Mit diesem Buch legt Kristina Lunz den Finger in die Wunde und führt eloquent und scharfsinnig vor: Eine feministische Außenpolitik ist dringlich und notwendig. Und zwar nicht zur Konstruktion kolonialer Überlegenheit, sondern zur Dekonstruktion ebendieser.« - Kübra Gümüsay »Kristina Lunz zeigt auf, wie eine künftige Außenpolitik aussehen könnte, die Menschenrechte und menschliche Sicherheit in den Mittelpunkt stellt. Ein mutiger und lesenswerter Entwurf!« - Düsen Tekkal »Geschlechtergerechtigkeit Realität werden zu lassen – dafür lohnt es sich zu engagieren. Denn Fortschritt passiert nicht von allein. Kristina Lunz zeigt engagiert, zugespitzt und deutlich: Geschichte wird von Menschen gemacht.« - Michelle Müntefering »Dieses Buch wird Sie dazu bringen, den Status quo der Sicherheits- und Außenpolitik zu hinterfragen und ihn humaner, effektiver und inklusiver neu zu denken.« - Madeleine Rees, Generalsekretärin der Women's International League for Peace and Freedom
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»Kristina Lunz zeigt die Möglichkeit einer gerechteren und sicheren Welt – und somit einen Weg aus der gegenwärtigen Krise.«
— Emilia Roig
Das Buch
Menschen wollen in Frieden und Sicherheit leben. Doch weil das Patriarchat die Welt regiert, sind Gewalt, Unrecht und Kriege an der Tagesordnung. Bedürfnisse und Rechte von Frauen sowie anderen politisch unterrepräsentierten Gruppen kommen rund um den Globus unter die Räder. Kristina Lunz will diese gesellschaftlichen Verhältnisse ändern. In ihrem grundlegenden Buch zur Weltpolitik im 21. Jahrhundert denkt sie Frieden und Feminismus, Menschenrechte und Gerechtigkeit mit Außenpolitik zusammen und will so einen Paradigmenwechsel einleiten.
Die Autorin
KRISTINA LUNZ, geboren 1989, wurde nach einem Bachelor in Psychologie und einem ersten Masterabschluss in London Stipendiatin an der Universität Oxford, wo sie MSc Global Governance and Diplomacy studierte und sich für feministische Außenpolitik zu interessieren begann. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie u.a. für die Vereinten Nationen in Myanmar und für eine NGO in Kolumbien, bevor sie das Centre for Feminist Foreign Policy in Berlin mitbegründete und Beraterin für das Auswärtige Amt wurde. Kristina Lunz hat etliche aktivistische Kampagnen wie »Nein heißt Nein« und gegen den Sexismus in der BILD-Zeitung (mit-)initiiert und etliche Auszeichnungen sowie Fellowships in renommierten Institutionen erhalten.
www.kristinalunz.com
Kristina Lunz
Die zukunft der Außenpolitik ist feministisch
Wie globale Krisen gelöst werden müssen
ULLSTEIN
Zwischen dem Schreiben und der Veröffentlichung vergeht etwas Zeit, während der sich die (politische) Welt weiterdreht. Das Buch thematisiert viele politische Entwicklungen. Daher kann es sein, dass zu dem Zeitpunkt, wenn Sie es in den Händen halten, sich manche Welten bereits etwas weitergedreht haben. Sehen Sie es mir nach. Wir leben in schnellen Zeiten.
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ISBN 978-3-8437-2721-1
Aktualisierte und erweiterte Ausgabe im Ullstein Taschenbuch
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022 / Econ Verlag
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © Nes Kapucu, © F. Castro (Foto)
Layout und Satz: Red Cape Production, Berlin
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Tür aufgestoßen. Ich hoffe, es schreiten viele hindurch.
Für alle, denen ihre Expertise regelmäßig abgesprochen wird, da sie es wagen, unsere Gesellschaft neu – feministisch! – zu denken:
weg vom patriarchalen Status quo, hin zu einer gerechten Gesellschaft.
Sie sind die einzige Hoffnung, die wir haben.
VORWORT ZUR TASCHENBUCH-AUSGABE
»Merkwürdig und ein gutes Zeichen, dass ein Buch gleichzeitig völlig deplatziert erscheinen kann und brandaktuell«,1 so kommentierte ein TV-Beitrag mein Buch kurz nach seinem Erscheinen Anfang 2022. Genau gesagt war das Veröffentlichungsdatum der 24. Februar 2022, also ausgerechnet der Tag, an dem Wladimir Putin seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann. Die zahlreichen Zeitungs-, Radio- und TV-Interviews, die zum Erscheinen meines Buches bereits vereinbart waren, drehten sich dann fast ausschließlich um den Krieg und kaum mehr um die Vision einer Feministischen Außenpolitik. Als am 27. Februar 2022 Bundeskanzler Olaf Scholz die außenpolitische »Zeitenwende« und ein 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr verkündete, schien die Stoßrichtung für zukünftiges außenpolitisches Handeln vorgegeben: mehr Militarisierung und ein verstärkter Fokus auf militärische Sicherheit. Wenn auf einen Notfall, wie das Morden und den Krieg in der Ukraine, überwiegend eine bestimmte Antwort als scheinbar einzig richtige gegeben wird – eben mehr Waffen und eine stärkere Armee –, dann werden andere Zukunftskonzepte und Lösungsansätze in derart emotionalen Zeiten sehr schnell abgewertet, verunglimpft und die damit in Verbindung stehenden Personen angegangen oder auch verbal angegriffen. Dieses stark emotionale Reagieren lässt zu einem großen Teil die Augen vor Ursachen des Mordens verschließen. Genau das passierte mir, und ähnlich ging es anderen Akteur:innen. Dazu zählt Beatrice Finh, die stellvertretend für ihre Organisation International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) 2017 für den Atomwaffenverbotsvertrag den Friedensnobelpreis verliehen bekam. Am 27. Februar 2022 meldeten Nachrichtenportale, dass Putin seine Atomstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt hatte. Organisationen, die sich seit Jahren und Jahrzehnten für ein Ende der nuklearen Abschreckung einsetzen, wurde schnell die Daseinsberechtigung abgesprochen, ihre Arbeit sei sinnlos. Für mich wurde in diesen Tagen jedoch klar wie nie zuvor, dass es genau die Arbeit von Organisationen wie ICAN ist, von der wir viel mehr brauchen.
Es steht außer Frage, dass Menschen, die akut von brachialer und tödlicher Gewalt betroffen sind, so geholfen werden muss, wie sie in der Selbstverteidigung unterstützt werden können. Gleichzeitig ist aber auch richtig und empirisch evident, dass ein Mehr an Waffen und Militarisierung heute zu mehr Gewalt, Kriegen und Konflikten in der Zukunft führen wird. Der hypermilitarisierte Zustand unserer Welt ist kein Naturgesetz, sondern das Resultat jahrzehnte- bis jahrhundertealter politischer Entscheidungen. Im Jahr 2021 (mitten in der Pandemie, als das Geld für weltweit gerechte Impfstoffverteilung, ausreichend Krankenhausbetten oder Pflegepersonal nicht reichte) wurden weltweit mehr als 2 Billionen US-Dollar für Verteidigung und Militarisierung ausgegeben – der höchste je verzeichnete Wert.2 Im Vergleich dazu wurden im Juni 2022, nur etwa 6,45 Milliarden US-Dollar für die Friedensmissionen der Vereinten Nationen für ein Jahr zur Verfügung gestellt.3 Das sind weniger als 0,4 Prozent der Militärausgaben. Probleme können nicht mit derselben Denkweise gelöst werden, mit der sie verursacht wurden, so sagte es angeblich einst Albert Einstein. Doch unsere Gesellschaft tut genau das unablässig.
Feminist:innen in der Außen- und Sicherheitspolitik sind sehr gut darin, zwischen kurz-, mittel- und langfristigen Zielen zu unterscheiden. Während in einer bereits hypermilitarisierten Welt binnen kurzer Frist die Lieferung von Waffen richtig ist, um bedrohte Menschen dringend zu retten und zu unterstützen, so braucht es mittel- und langfristig nachhaltigere Lösungen. Dazu gehören Sondervermögen für zivile Krisenprävention, (nukleare) Abrüstung, Stärkung des Völkerrechts und der Menschenrechte, Anpassung an die und Eindämmung der Klimakrise, Unterstützung von Menschenrechtsverteidiger:innen und (feministischer) Zivilgesellschaft weltweit usw.
In dieser Taschenbuch-Ausgabe habe ich Antworten auf die vielen Fragen, die seit Kriegsausbruch an mich gestellt wurden, eingearbeitet. Es gibt im Vergleich zur gebundenen Ausgabe also viele Aktualisierungen und auch neue (Unter-)Kapitel. Das für diese Taschenbuch-Ausgabe neu verfasste Kapitel 13 widmet sich der Relevanz von Feministischer Außenpolitik in Zeiten von Krieg und Konflikten anhand der Beispiele von Putins Angriffskriegs auf die Ukraine sowie der feministischen Revolution im Iran. Die gebundene Ausgabe, mit Redaktionsschluss Anfang Dezember 2021, ging ebenso kaum auf eine weitere, für mein Themenfeld sehr wichtige Entwicklung ein: Ende November 2021 verkündete die deutsche Ampel-Regierung in ihrem Koalitionsvertrag, dass Deutschland von nun an eine Feministische Außenpolitik verfolge. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock – die erste Außenministerin in der 151-jährigen Geschichte des Auswärtigen Amtes – lenkt den Fokus seitdem stetig auf Frauen- und Minderheitenrechte und betont menschliche Sicherheit als wichtige Erweiterung des engen Sicherheitsbegriffs, der sich auf militärische Sicherheit fokussiert. Seit der Verkündung der Feministischen Außenpolitik ging sie immer wieder neue und für das deutsche Außenministerium ungewöhnliche Wege. Beispiele sind die Ernennung der ehemaligen Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan als Staatssekretärin für Klimaaußenpolitik, die erfolgreiche Einreichung – gemeinsam mit Island – einer Resolution in den UN-Menschenrechtsrat, um die Gewalt des iranischen Regimes gegen Protestierende zu dokumentieren, und vieles mehr. Im überarbeiteten Kapitel 7 widme ich mich Deutschlands Feministischer Außenpolitik.
Wir dürfen nicht vergessen, dass bereits vor dem russischen Angriffskrieg die Gleichzeitigkeit vieler Krisen fatal war und die Menschheit maximal herausfordert: die seit Langem wirkende Klimakatastrophe, die Pandemie sowie aller Orten und stetig zunehmende bewaffnete, staatliche Konflikte. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl solcher Konflikte fast verdoppelt, von 30 im Jahr 2010 auf 56 im Jahr 2020. Damit einher ging eine Verdoppelung der in Konflikten und Kriegen getöteten Menschen sowie die Anzahl von Geflüchteten weltweit. 2010 waren 41 Millionen Menschen auf der Flucht, im Jahr 2020 waren es bereits 82,4 Millionen.4 Russlands Krieg spitzt all das nochmals zu. Wenn nicht jetzt, wann denn bitte dann wird uns als Gesellschaft endlich klar, dass es kein »weiter so« geben kann, geben darf. Dass traditionelle politische Ansätze nicht zu einer gerechten, friedlichen oder nachhaltigen Welt führen. Wir müssen endlich damit aufhören, »Lösungen« anzuwenden, die die Probleme von morgen werden.
Kristina Lunz
Berlin, im Januar 2023
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ZUM GELEIT: GRUSSWORTE
Ich kenne Kristina seit vielen Jahren – als Mitstreiterin, Kritikerin und Verbündete. Im Laufe der Jahre haben wir die Siege der feministischen Zivilgesellschaft gefeiert, zum Nach- und Umdenken anregende Gespräche geführt und darüber reflektiert, wie wir alle in unseren verschiedenen Funktionen – als Aktivist:innen, zivilgesellschaftliche Akteur:innen, feministische Expert:innen und Verbündete – systemische Veränderungen bewirken können. Ich habe Kristina auch herausgefordert und mit ihr debattiert; sie als Person, Feministin und Führungspersönlichkeit wachsen sehen. Nun fühle ich mich geehrt und freue mich, dieses Vorwort zu ihrem Buch schreiben zu dürfen – zum ersten von vielen, die ohne Zweifel noch folgen werden. Ich bin davon überzeugt, dass dieses Buch Sie dazu bringen wird, den Status quo der Sicherheits- und Außenpolitik zu hinterfragen und sie humaner, effektiver und inklusiver neu zu denken. Es veranschaulicht die Zusammenhänge und Feinheiten der dringlichsten Themen unserer Zeit – Klimakrise, Pandemien, zunehmende Ungleichheiten auf allen gesellschaftlichen Ebenen – und unterstreicht, was feministische Zivilgesellschaft schon lange wusste: Kein Frieden ohne Feminismus; keine politische Entscheidung sollte ohne diejenigen getroffen werden, die sie betrifft – nothing about us without us.
Kristina ist eine bemerkenswert mutige Denkerin in der Außenpolitik. Sie ist hartnäckig, hart arbeitend, reflektiert, empathisch, zielstrebig und akzeptiert kein ungerechtfertigtes Nein als Antwort. Entscheidend ist, dass Kristina sich der Schultern, auf denen sie steht, und der Arbeit ihrer Vorgänger:innen bewusst ist. Sie weiß, dass es nicht Einzelpersonen sind, sondern soziale Bewegungen, die die Geschichte verändern und history zu herstory machen. Kristina und das Centre for Feminist Foreign Policy, heute eine international renommierte Organisation, die sie von Grund auf neu mitaufgebaut hat, hinterfragen die Gegenwart der Außenpolitik – eine Politik, die für die wenigsten funktioniert und die am stärksten Betroffenen marginalisiert. Sie bieten gleichzeitig nachhaltige intersektionale feministische Lösungen für eine bessere Zukunft: eine Zukunft, die von und für alle geschaffen wird. Kurzum, Kristina weiß, dass die Zukunft der Außenpolitik feministisch ist!
Madeleine Rees,
Generalsekretärin der Women’s International League for Peace and Freedom
Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch. Als ich 2014 Schwedens Feministische Außenpolitik als damalige Außenministerin verkündete und Schweden damit zum ersten Land der Welt machte, das eine Feministische Außenpolitik einführte und verfolgte, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass viele Länder, darunter Mexiko und Kanada, diesem Beispiel folgen würden. Heute stehen wir auf den Schultern aller bahnbrechenden Aktivist:innen, die den Weg für eine neue nachhaltige und auf menschliche Sicherheit ausgerichtete Vision der Außenpolitik geebnet haben: Feministische Außenpolitik. Offen gesagt können wir nicht über Außenpolitik sprechen, ohne über Feministische Außenpolitik zu sprechen.
Ich bin dankbar, dass die Zivilgesellschaft die feministische außenpolitische Agenda beharrlich weiter vorantreibt und ausbaut. Kristinas Buch und die Arbeit des Centre for Feminist Foreign Policy tun genau das – sie beschreiben eine kühne Vision für eine nachhaltige Zukunft, die menschliche Sicherheit in den Mittelpunkt stellt. Kristina hinterfragt den Status quo der Außenpolitik und Sicherheit und erforscht die Herausforderungen und Chancen, die an der Schnittstelle zwischen Diplomatie und Aktivismus liegen. Sie porträtiert Vordenkerinnen der Außenpolitik und regt Leser:innen dazu an, eine Außenpolitik im Dienste der Betroffenen zu fordern. In diesem Buch veranschaulicht sie, was eine Feministische Außenpolitik beinhaltet, erklärt, warum sie der effektivste Weg ist, den Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen, und betont die Notwendigkeit für alle Länder, eine Feministische Außenpolitik zu verfolgen.
Margot Wallström,
ehemalige Außenministerin Schwedens
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PROLOG: DAS PRIVATE IST POLITISCH
What I most regretted were my silences. … And there are so many silences to be broken.
Audre Lorde
Naivität hilft. Manchmal ist sie gar ein Segen. Wäre mir im Jahr 2014 klar gewesen, was passiert, wenn man als Frau öffentlich Stellung bezieht und Ungerechtigkeiten anprangert, hätte ich wohl keine Kampagne gegen Sexismus und die Degradierung von Frauen in der BILD-Zeitung initiiert. Aber ich war naiv. Ich hatte keine Ahnung, dass Frauen in der Öffentlichkeit – vor allem, wenn sie den Status quo kritisieren – mit extremem Hass und Gewalt konfrontiert werden.
So kam es also, dass ich im Oktober 2014 die Petition Zeigt allen Respekt – Schluss mit Sexismus in BILD! aufsetzte. Sie war ein Produkt meiner großen Wut, die ich gegenüber der BILD-Zeitung spürte. »Wut aufgrund von Ungerechtigkeiten und Mangel an Gleichberechtigung ist im Großen und Ganzen wie Treibstoff«1, schreibt Rebecca Traister in ihrem Buch Good and Mad – the Revolutionary Power of Women’s Anger. Darin zeigt sie auf, wie die Wut von Frauen – von den Suffragetten bis zur legendären Schwarzen Bürgerrechtlerin Rosa Parks, #MeToo oder dem Women’s March – transformative Kraft freisetzt. Das ist auch die Erfahrung meiner Freundin und Mentorin Dr. Scilla Elworthy. Die 1943 geborene Gründerin zahlreicher Organisationen und dreimal für den Friedensnobelpreis nominierte Schottin gab mir Folgendes mit auf den Weg: Wut ist wie Benzin. Sprüht man sie unbedacht und wild herum, kann sie Feuer entfachen und zu einer Menge Zerstörung beitragen. Doch wenn man sie gezielt einsetzt, kann sie der Treibstoff für den inneren Motor sein.
Mein feministisches Erwachen
Da war sie also, diese Wut. Ich war gerade Mitte zwanzig und studierte für meinen ersten Masterabschluss am University College London. Das allein war ungewöhnlich, denn meine Eltern hatten nicht studiert. Und in Deutschland entscheiden vor allem das Einkommen sowie der Bildungsgrad der Eltern über den beruflichen Werdegang der Kinder. Während 79 Prozent der Kinder von Akademiker:innen ein Studium aufnehmen, sind es bei den Kindern von Eltern ohne Hochschulabschluss nur 27 Prozent. Einen Master machen nur 11 Prozent der Nichtakademiker:innenkinder; bei den Akademiker:innenkinder sind es 43 Prozent. Die Schicht, in die wir hineingeboren werden, bestimmt zu einem bedeutenden Teil unser Leben. Das individuelle soziale Kapital – zu welcher gesellschaftlichen Gruppe man gehört, wen man kennt– ist ein Türöffner.2
In London war ich so ziemlich mit allem überfordert: mit der Größe der Stadt, der Sprache und dem elitären Umfeld. Ich war eingeschüchtert und fühlte mich ständig unzulänglich. Meine Kommiliton:innen hatten ihre Bachelorstudiengänge in Cambridge, Oxford oder an anderen internationalen Unis absolviert; ich kam von einer gewöhnlichen Universität in Deutschland. Ich vergrub mich in Büchern, ich hatte einiges aufzuholen. Vor allem las ich feministische Literatur, mit der ich bis dahin kaum Berührungspunkte gehabt hatte, die aber für viele Mitstudierende Standard war.
Die Überforderung hatte auch mit meiner Herkunft zu tun. Ich bin in einem 80-Einwohner:innen-Dorf in der Fränkischen Schweiz in Bayern als drittes Kind – mein Zwillingsbruder ist nur fünf Minuten älter – aufgewachsen. Es war eine behütete Kindheit, in einer sehr liebevollen und warmherzigen Familie. Doch ab dem Teenie-Alter fühlte ich mich immer öfter unwohl in meiner Umgebung, weil in der Gemeinde alles sehr traditionell geprägt war. Alle Machtpositionen wie Pfarrer, Wirtshausbesitzer, Sportvorstände, Bürgermeister, Landarzt oder Fahrschullehrer waren – und sind heute noch – von Männern besetzt; und sie werden mit großem Respekt behandelt. Gleichzeitig waren einige davon mir und anderen jungen Frauen gegenüber übergriffig und respektlos. Bei Dorffeiern und Sportfesten kamen sie uns an der Bar viel zu nahe, machten sexualisierte Anspielungen und überschritten Grenzen. Als ich meinen Führerschein machen wollte, war es ein offenes Geheimnis, dass wir junge Frauen nicht Unterricht beim Fahrschulchef nehmen sollten. Es war allgemein bekannt, dass er übergriffig war. Aber dagegen getan hat zu meiner Zeit niemand etwas – denn das war Normalität.
Für meine Eltern war es in der Erziehung von meinen Geschwistern und mir äußerst wichtig, uns einen sehr respektvollen Umgang mit unseren Mitmenschen auf den Weg zu geben. »Idiot« oder andere herablassende Bezeichnungen wurden bei uns nicht ausgesprochen. Auch wenn es mal Meinungsverschiedenheiten gab, so kam es nie vor, dass einander angeschrien oder miteinander despektierlich umgegangen wurde. Wertschätzung, Zuverlässigkeit und Hilfsbereitschaft waren Tugenden, an denen wir gemessen wurden. Mein Papa, als er noch lebte, war trotz seiner sehr langen Arbeitstage unter der Woche immer für die Familie und andere Dorfbewohner:innen da, wenn sie an den Feierabenden oder am Wochenende Hilfe beim Krawattenknotenbinden oder Stromverlegen (er war gelernter Elektriker) brauchten. Das englische Wort Kindness (ein Zusammenkommen aus Wohlwollen, Freundlichkeit und Güte) beschreibt das vordergründige Gefühl, das uns mitgegeben wurde, wohl am besten. Und genau mit diesem Gefühl ließ sich das sehr unangenehme Gefühl, das ich so vielen Männern gegenüber als Mädchen und Teenagerin empfand, nicht vereinbaren. Einerseits wurde diesen Männern in Führungspositionen viel Respekt gezollt, andererseits schien es, dass manche von ihnen diesen Status ausnutzten und sich alles andere als kind vor allem uns jungen Mädchen und Frauen gegenüber verhielten. Das war nicht das, was mein Papa mir vorlebte. Dank ihm wusste ich von klein auf, dass es anders geht.
In London, mithilfe der feministischen Literatur und in einem internationalen, weltoffenen Umfeld, eröffnete sich eine neue Welt für mich. Auf einmal gab es Begriffe und Erklärungen für die vielen unangenehmen Situationen und Ungerechtigkeiten, die ich seit Jahren spürte, aber nie in einen Rahmen fassen oder gar artikulieren konnte. Die Zeit in London war mein Feminist Awakening. Ich lernte beispielsweise, dass, wann immer eine Menschengruppe zum Gesamtobjekt erklärt wird – beispielsweise indem man sie sexualisiert –, diese Individuen dehumanisiert werden. Diese Objektifizierung senkt die Hemmschwelle, Gewalt gegenüber diesen Menschen auszuüben. Anfang 2021 hat eine Untersuchung von UN Women in Großbritannien ergeben, dass 97 Prozent der Frauen zwischen 18 und 24 Jahren bereits sexualisierte Gewalt in Form von Belästigungen im öffentlichen Raum erlebt haben.3 Mädchen in Brasilien sind im Schnitt zwischen neun und zehn Jahre alt, wenn sie das erste Mal sexuell belästigt werden.4 Fast keiner der Täter wird jemals zur Rechenschaft gezogen. Es wird geschätzt, dass in Deutschland weniger als ein Prozent (!) aller Vergewaltiger (nicht nur der angezeigten) für ihre Tat zur Rechenschaft gezogen werden.5 Hierzulande versucht ebenso jeden Tag ein Mann, seine (Ex-)Partnerin zu töten. Jeden dritten Tag gelingt es ihm. Es ist ein Skandal, dass Femizid in Deutschland vor Gericht kein eigener Straftatbestand ist und nicht strengstmöglich bestraft wird.
Die Auswüchse des Patriarchats waren mir also viel klarer, als ich während der Semesterferien 2014 in meine Heimatgemeinde zurückkehrte und beim Bezahlen in der Tankstelle die BILD-Zeitung vor mir liegen sah. Auf der Titelseite wurde neben Fotos von den Dekolletés berühmter Frauen dazu aufgerufen, über den »schönsten TV-Busen Deutschlands« abzustimmen. Ich war angewidert von der Degradierung dieser Prominenten und aller Frauen an sich. Als auflagenstärkste Zeitung in Deutschland trägt dieses Blatt zu der absurd hohen Gewaltrate von Männern gegenüber Frauen bei. Ich hatte damals keine Ahnung, was Aktivismus ist und wie man Dinge verändern kann. Aber ich wollte diese Diskriminierung und Sexualisierung von Frauen nicht dulden, egal wie akzeptiert sie in unserer Gesellschaft ist.
Als ich im Freundes- und Bekanntenkreis von meiner Wut erzählte, fanden viele, ich solle mich nicht so haben. Das sei schließlich normal. Doch wer definiert, was normal und akzeptiert ist? Ich erinnerte mich an mein ohnmächtiges Gefühl als junges Mädchen, wenn die BILD-Zeitung beim samstäglichen Bratwurstessen bei meiner Oma auf dem Küchentisch lag und auch die männlichen Familienmitglieder mit am Tisch saßen. Auf der ersten Seite war neben Nachrichten vor allem über Männer das »BILD-Girl« zu sehen – die sexualisierte Darstellung eines Frauenkörpers. Ich schämte mich und fühlte mich belästigt und erniedrigt. Würde auch ich später begafft, mein Körper kommentiert und sexualisiert werden? Würde ich als Objekt gesehen werden, während die Männer um mich herum als handelnde Subjekte wertgeschätzt sind, in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur agieren und regieren?
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und formulierte einen offenen Brief an den damaligen Chefredakteur der BILD-Zeitung, Kai Diekmann, der dann zur Petition und Kampagne wurde. Ich schrieb: »Es müssen endlich alle Menschen in der Berichterstattung von BILD und BILD.demit derselben Wertschätzung dargestellt werden: Frauen sind nicht die Lustobjekte einer Gesellschaft!« Knapp 60 000 Menschen unterschrieben. Es war ein nötiger Schritt gegen das seit Jahrtausenden praktizierte Silencing von Frauen. Denn das Patriarchat erdrückt jede Wahrheit, die ihm nicht dient.
Das zeigen auch die vielen öffentlich diskutierten Beispiele sexualisierter Gewalt gegen Frauen – neben all den anonymen oder nicht angezeigten Fällen: Erfahrungen wie die von Chanel Miller (wurde 2015 auf dem Campus der Universität Stanford von Brock Allen Turner vergewaltigt), Nafissatou Diallo (warf 2011 dem damaligen IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn sexuellen Übergriff vor), Christine Blasey Ford (warf dem Supreme-Court Richter Brett Kavanaugh 2018 sexuellen Übergriff vor), Nika Irani (beschuldigte im Juni 2021 den Rapper Samra, sie vergewaltigt zu haben). Und es geht weiter mit den vielen Geschädigten durch den Filmproduzenten Harvey Weinstein, durch Donald Trump oder mit den unzähligen Frauen, die die Gewalt von Bill Cosby überlebten. Jedes Mal, wenn Frauen sich gegen ihre männlichen Peiniger stellen, werden sie und ihre Glaubwürdigkeit infrage gestellt und diskreditiert; nicht selten werden sie mit (erneuter) Vergewaltigung und Mord bedroht. Gleichzeitig wundern wir uns, weshalb um die 90 Prozent der Vergewaltigungsopfer die Tat nicht anzeigen. Das hat System in patriarchalen Gesellschaften: Halt deine Klappe, oder du wirst noch mehr Gewalt erfahren.
Schmierblätter wie die BILD und Rapper mit Texten wie »Ich fick sie fast tot, sie liegt im Wachkoma«6 zeigen, wie weit verbreitet der Frauenhass ist. Männer sind die Macher; die Frauen werden zu Lustobjekten. Diese in Medien, Politik und Kultur sichtbare toxische Männlichkeit ist gesellschaftlich geduldet und wird auch im privaten und beruflichen Umfeld gelebt. Der Machtmissbrauch gegenüber jungen Mitarbeiterinnen durch den ehemaligen BILD-Chef Julian Reichelt – der bereits im März 2021 vom SPIEGEL unter dem Titel »Vögeln, fördern, feuern« publik gemacht wurde und erst nach einem Artikel der New York Times* Mitte Oktober 2021 zum Rauswurf von Reichelt bei BILD führte – ist insofern keine Überraschung. Wieso sollte jemand, der als Verantwortlicher Frauen in einem Massenmedium abwertet, im echten Leben anders mit ihnen umgehen? Und je mächtiger der Mann, desto größer sind die Auswirkungen: Donald Trump, den mindestens 26 Frauen des sexuellen Missbrauchs beschuldigen, hatte mit Beginn seiner Amtszeit sehr vehement Frauenrechte per Dekret eingeschränkt.7 Es sind natürlich nicht nur diese individuellen Frauenverachter, die das Problem sind. Sondern ganze Systeme – patriarchale Systeme –, die diese Männer decken, dulden und agieren lassen.
Aufgrund meiner Naivität wusste ich damals noch nicht, was Feministinnen, Aktivistinnen und Frauen, die öffentlich Stellung beziehen, fast täglich ertragen müssen. Ich wusste nicht, dass 88 Prozent der Internet-Nutzer:innen, die schon einmal Zeug:innen digitaler Gewalt geworden sind, angaben, dass sich der Hass gegen Frauen richtete.8 Dass laut einer 2020 publizierten Studie von Plan International 58 Prozent der befragten Mädchen und jungen Frauen bereits online belästigt wurden.9 Oder dass im Jahr 2016 The Guardian 70 Millionen Leser:innen-Kommentare untersuchte, wobei sich herausstellte, dass acht der zehn am meisten bedrohten Journalist:innen Frauen und die beiden Männer unter den Top Ten People of Colour waren. Die am meisten gehasste und attackierte Person war die feministische Autorin Jessica Valenti.10 Weiße Männer kennen diese Gewalt nicht.
* In Deutschland haben vor allem investigative Recherchen des Ippen-Teams rund um Juliane Löffler die Verdachtspunkte bestätigt und konkretisiert.
Hätte ich all das gewusst – wer weiß, ob ich mich getraut hätte, dennoch meine Stimme zu erheben. So überrollte mich eine Welle der digitalen Gewalt, als Kai Diekmann mich und meine Petition auf seinem Twitter-Account verhöhnte mit der Aufforderung, ich solle ihm weitere »BILD-Girls« besorgen. Meine Posteingänge und Social-Media-Accounts füllten sich mit Nachrichten von Männern, die mir eine Vergewaltigung wünschten oder androhten und auch meiner Familie Gewalt antun wollten. Ich war wie paralysiert, brach zusammen und weinte viel. Im ersten Moment war ich überzeugt, mich künftig auf die Rolle der stillen Beobachterin des unterdrückenden patriarchalen Systems zu beschränken. Ich konnte nicht begreifen, dass meine Bitte um respektvolle Darstellung von Frauen mit bildhaften Beschreibungen von Männern, wie sie mich sexuell missbrauchen möchten, beantwortet worden war. Erst durch die Solidarität anderer Aktivist:innen fasste ich den Mut weiterzumachen. Auch weil ich verstand, dass dieses Silencing – also der Versuch, mich durch (Online-)Gewalt als Frau zum Schweigen zu bringen – das Ziel dieser Männer war. Den Gefallen wollte ich ihnen nicht tun. Ich war nicht nur wütend und verletzt. Sondern auch entschlossen.
… und wohin es führte
Die Solidarität mit anderen Frauen und Aktivist:innen bewirkte, dass ich mich trotz dieser Gewalt nicht zum Schweigen bringen ließ. Schon im Jahr 2000 hatten mehrere Wissenschaftler:innen von der University of California in Los Angeles nachgewiesen: Das gängige Narrativ, demzufolge Menschen unter Stress entweder zu Fight (Angriff) oder Flight (Flucht) tendieren, ist lückenhaft. Ihre Studie11 zeigt, dass Frauen stattdessen eher zu Tend and Befriend neigen, sich also umeinander in Solidarität kümmern, sich unterstützen und einander Rat bieten. Dies ermöglicht Schutz, reduziert Stress und verfestigt Netzwerke. Bis heute wende ich mich zuerst an mein Netzwerk großartiger Frauen, wenn ich Unterstützung und Rückhalt benötige. Und wann immer eine von uns selbiges braucht, gebe ich mir alle Mühe, ihr diesen Schutz und einen emotionalen Ruheort zu bieten. Miteinander reden, Erlebtes – vor allem Gewalterfahrungen – teilen, einander zuhören und sich stützen: Das ist die Stärke von Freundschaften unter Frauen. »Die Frauenbewegung war geboren, als Frauen anfingen, miteinander zu sprechen«,12 so die große Feministin Gloria Steinem. Und ebenso gewinnt die feministische Bewegung an Stärke hinzu. »Wir sind Vulkane«, sagte einst die US-amerikanische Autorin Ursula K. Le Guin. »Wenn wir Frauen unsere Erfahrungen als unsere Wahrheit teilen, als menschliche Wahrheit, dann ändern sich alle Landkarten. Neue Berge entstehen.« Genau wie der Druck durch Klima und Gezeiten langsam die Landschaft ändert, wurde 2018 unter Julian Reichelt das »BILD-Girl« abgeschafft. Das Boulevardblatt begründete diese Entscheidung mit dem Gefühl, »dass viele Frauen diese Bilder als kränkend und herabwürdigend empfinden, sowohl bei uns in der Redaktion, aber auch unter unseren Leserinnen«13. Unterschiedliche Medien sahen einen Zusammenhang mit meinem Engagement.
Die Kampagne gegen die BILD-Zeitung war der Beginn meines feministischen Aktivismus. Viele weitere folgten. Ich beteiligte mich an einem feministischen Kollektiv von 21 Frauen, das in der Folge der sexualisierten Übergriffe auf Hunderte von Frauen in der Kölner Silvesternacht 2015/16 unter dem Motto »Gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus. Immer. Überall. #ausnahmslos« 14 Forderungen an Politik, Gesellschaft und Medien aufstellte. Wir schrieben: »Es ist für alle schädlich, wenn feministische Anliegen von Populist_innen instrumentalisiert werden, um gegen einzelne Bevölkerungsgruppen zu hetzen, wie das aktuell in der Debatte um die Silvesternacht getan wird. Sexualisierte Gewalt darf nicht nur dann thematisiert werden, wenn die Täter die vermeintlich ›Anderen‹ sind.« Als wir Anfang Januar 2016 die Pressemitteilung verschickten, wurde unser Appell auf den Online-Titelseiten der meisten großen Medien publiziert; einige Wochen später wurde uns der Clara-Zetkin-Preis für Politische Intervention verliehen. Unsere Kampagne war die erste intersektional feministische Kampagne, die derart viel Aufmerksamkeit erhielt. Wir schrieben an dem Tag feministische Geschichte. In den darauffolgenden Monaten nahm die Kampagne #NeinheißtNein an Fahrt auf. Für die Änderung des deutschen Sexualstrafrechts beriet ich UN Women Deutschland und konzipierte deren Kampagne mit. Wir wollten ein neues Kriterium zur Definition des Straftatbestands »Vergewaltigung« durchsetzen. Künftig sollte endlich fehlender Konsens zum Geschlechtsakt ausschlaggebend sein. Statt sich körperlich gegen seinen (meistens stärkeren) Peiniger wehren zu müssen, sollte das Wort »Nein« genügen. In meinem Artikel zum Kampagnenstart schrieb ich damals für Zeit Online: »Es gibt kein vernünftiges Argument dagegen, außer die verzweifelte Aufrechterhaltung eines Systems, in dem die Rechte von Männern mehr zählen als die von Frauen.« Als im Juli 2016 der Bundestag die Verschärfung des Sexualstrafrechts einstimmig beschloss, war die Freude in der feministischen Zivilgesellschaft riesig. Manche Organisationen wie der Deutsche Juristinnenbund, der Deutsche Frauenrat oder bff – Frauen gegen Gewalt e. V. kämpften bereits seit Jahren dafür, diesen wichtigen Meilenstein der feministischen Bewegung zu verwirklichen. Während ich mich in Deutschland feministisch engagierte, lebte ich in Oxford, zuerst für mein Studium der Diplomatie als Vollstipendiatin der Uni. Daran anschließend kurze Zeit als Mitarbeiterin der Blavatnik School of Government, einem Institut, das über und zu internationaler Politik und dem Regierungssektor lehrt und forscht.
Im Studium jedoch erlebte ich ein Kontrastprogramm. Ich hörte Vorlesungen über fragile Staaten, Entwicklungspolitik und Diplomatie, alles aus einer eher traditionellen Sichtweise. Ich lernte über Niccolò Machiavelli (1469–1527) und andere »große« Diplomaten. Der Historiker, Philosoph und vor allem einer der ersten einflussreichen Diplomaten betrachtete männliche Eigenschaften als Voraussetzung dafür, um Beziehungen zwischen Staaten zu entwickeln und zu lenken. Und er war nur ein Beispiel für fehlende Diversität im diplomatischen Bereich. Als ob sich die Welt in den letzten 500 Jahren nicht geändert hätte.
Ich wunderte mich regelmäßig über fehlende Perspektiven anderer Menschen jenseits der Kategorie »männlich, weiß, alt« in meinem Studium. Dazu beigetragen haben Kampagnen wie #RhodesMustFall zur Dekolonialisierung des Curriculums, die, inspiriert durch Studierende in Südafrika, an die Uni in Oxford schwappten und die ich unterstützte.
2016 und 2017 gab es einige prägende politische Ereignisse. Im Herbst 2016 arbeitete ich für einige Monate für die feministische Organisation Sisma Mujer in Bogotá, Kolumbien. Sisma trug stark dazu bei, dass der Friedensvertrag zwischen der Guerilla FARC und der kolumbianischen Regierung zur Beendigung einer der längsten Bürgerkriege auf dem lateinamerikanischen Kontinent historisch inklusiv gefasst wurde. Leider wurde das Referendum einen Tag nach meiner Anreise knapp von der Bevölkerung abgelehnt. Während meiner Zeit in Bogotá demonstrierten wir regelmäßig mit Tausenden Menschen auf den Straßen für Frieden und versuchten, dem antidemokratischen und antifeministischen Angriff auf den Friedensprozess die Stirn zu bieten.
2016 beschäftigten mich auch der Brexit und der Wahlsieg Donald Trumps sehr stark. Am Tag seiner Amtseinführung im Januar 2017 landete ich in NYC, um für die nächsten Monate beim Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) zu arbeiten. Ich buchte meinen Flug so, dass ich wenige Stunden nach der Ankunft mitten in der Nacht in einen der vielen Busse nach Washington, D. C., zum historischen Women’s March steigen konnte. Der Tag gab mir Hoffnung, elektrisierte mich. Auf allen Kontinenten fanden an diesem Tag Women’s Marches statt, Millionen von Menschen skandierten feministische Forderungen. Es war ein großartiges und historisches Beispiel von Widerstand, der unsere Gesellschaft verändern wird.
Im Frühling 2017 zog ich dann nach Yangon, Myanmar, um dort meine Arbeit für UNDP fortzusetzen. Es war das Jahr des Genozids des myanmarischen Militärs an der muslimischen Minderheit der Rohingya in Rakhine im Westen des Landes. Ich arbeitete also für die Vereinten Nationen, die sich das »Nie wieder« in Bezug auf Genozide und das Wegsehen der internationalen Gemeinschaft auf die Fahne schreibt, in einem Land, als erneut ein Genozid stattfand und die UN sich vielmals vorwerfen lassen musste, wieder nicht genug getan zu haben, um die Bevölkerung zu schützen. Ein Gefühl der Ohnmacht begleitete mich durch meine Arbeitstage; sowie ein Vertrauensverlust in die internationalen Vorkehrungen zum Schutz von Menschen- und besonders Minderheitsrechten. Sexualisierte Gewalt und Vergewaltigung als Kriegswaffe waren weit verbreitet. Genau dieses Militär verübte Anfang Februar 2021 einen Putsch und deklarierte einen zweijährigen Ausnahmezustand. In den Folgemonaten wurden Tausende Menschen bei Protesten gegen den Coup vom Militär getötet. Beim Widerstand gegen das Militär stehen auch Feminist:innen in den ersten Reihen. Wie meine Bekannte Nandar. Nandar ist eine der bekanntesten Feministinnen in Myanmar. Sie war vorne mit dabei, um dem Militär die Stirn zu bieten. Denn sie und alle Feminist:innen wissen, dass das Militär, vor allem dann, wenn es gegen die eigene Bevölkerung vorgeht, eine der schlimmsten Ausprägungen des patriarchalen Staates ist.
Meine mehrjährige Expertise als feministische Aktivistin gepaart mit meinen Erfahrungen im Bereich der internationalen Politik in Großbritannien, Kolumbien, USA und Myanmar ließen immer stärker den Wunsch in mir reifen, feministische Kritik auch in den Bereich der Diplomatie und internationalen Politik zu bringen. Es war mir wichtiger, dort ein Umdenken zu bewirken, als weiterhin eine Karriere bei einer etablierten Organisation anzupeilen. Ich erinnere mich noch gut an einen der Auslöser: die UNDP-Weihnachtsfeier im Dezember 2017 im sommerlichen Yangon. Wir standen barfüßig im Garten des UN-Gebäudes, während sich Myanmar aufgrund der Ermordung und Vertreibung von Hunderttausenden Menschen im Ausnahmezustand befand. Ein Vertreter der Führungsebene bedankte sich bei uns, der Belegschaft, für die »Opfer«, die wir brächten, um den Menschen in diesem armen Land zu helfen. Ich spürte ein starkes Unwohlsein. Ja, sicher arbeiteten sehr viele beim UNDP sehr hart, um die Entwicklung des Landes zu unterstützen. Aber ich denke nicht, dass »Opfer bringen« ein angemessener Begriff dafür ist – nicht für die internationale, westliche privilegierte Belegschaft. Als Angestellte oder Consultants mit UN-Verträgen verdienten wir sehr gut, bewohnten die schönsten und weit überdurchschnittlich teuren Wohnungen oder Häuser, gingen in die besten Restaurants der Stadt und kauften die feinsten Produkte. Wir trugen zur Verzerrung von Mietpreisen bei und zum Entstehen einer Zweiklassengesellschaft: die überwiegend weißen Helfer:innen auf der einen, die überwiegend finanziell arme einheimische Bevölkerung auf der anderen Seite. Das sind typische Muster, die auch heute noch stark in der sogenannten Entwicklungszusammenarbeit existieren.
Diese Nord-Süd-Beziehungen, die ich am eigenen Leib bei der Weihnachtsfeier in Myanmar gespürt habe, und die daraus resultierende finanzielle und politische Abhängigkeit werden oft als »Neokolonialismus« bezeichnet. Zwar wurde der imperiale Kolonialismus in der Dekolonisationswelle der 1950er- und 1960er-Jahre (und in Lateinamerika bereits im 19. Jahrhundert) in den meisten Ländern beendet, doch Abhängigkeiten, Ausbeutung und Unterdrückung bestehen weiter fort, wobei die ehemaligen Kolonien stets die Leidtragenden sind. Dies zeigt sich vielgestaltig, etwa in der Kreditvergabe und den Schuldenprogrammen bei internationalen Finanzinstitutionen, durch die Abladung von Müll, die Ausbeutung von Rohstoffen, fehlende Mitsprache in wichtigen internationalen Gremien wie dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen oder Nuklearwaffentests auf dem Territorium ehemaliger Kolonien. All dies zementiert das Machtgefälle zwischen Nord und Süd und somit die weiße Vorherrschaft.
Mein Wunsch, feministische Kritik auch in die internationale Politik zu bringen, wurde Realität, als ich mich 2017 dazu entschloss, gemeinsam mit Marissa Conway das Centre for Feminist Foreign Policy (CFFP) zu gründen. Die in London lebende US-Amerikanerin lernte ich digital über einen gemeinsamen Freund kennen, als ich in NYC arbeitete. Ich hatte bereits zu Feministischer Außenpolitik publiziert. Wenige Monate zuvor war Marissa mit einem Twitter-Account und einer Webseite zu A Feminist Foreign Policy den ersten Schritt in Richtung unseres Centres gegangen. Seit 2018 gibt es das CFFP nun auch in Deutschland, wo ich es gemeinsam mit meiner zweiten Mitbegründerin Nina Bernarding* leite (inzwischen gibt es CFFP ausschließlich in Deutschland, alle Kräfte werden dort gebündelt).
* Ein Porträt über Nina Bernarding findet sich am Ende von Kapitel 4.
Die Gründung des CFFP hat mein Leben auf den Kopf gestellt. Nie zuvor habe ich etwas getan, was mich gleichzeitig derart maximal überfordert und erfüllt. Ein Unternehmen oder eine Organisation gründen, Verantwortung für Angestellte übernehmen, Strategien ausformulieren, die die Organisation langfristig und gesund am Leben halten sollen, und sich gleichzeitig mit Anfeindungen sowie vielerlei Hürden auseinandersetzen, eben weil wir den Status quo infrage stellen. All das ist ermüdend. Und gleichzeitig das größte Geschenk – ich möchte die Freiheit im Denken und Handeln, die der Aufbau und die Führung des CFFP mit sich bringt, niemals mehr missen wollen.
Ende 2022, im vierten vollen Geschäftsjahr unseres Centre for Feminist Foreign Policy gGmbH in Berlin, haben wir nun sechzehn Angestellte. Darauf sind wir angesichts der Tatsache, dass Gründerinnen und feministische Arbeit kaum Gelder erhalten und zivilgesellschaftliche Gruppierungen insgesamt systematisch unterfinanziert und geringgeschätzt werden, mächtig stolz. Grassroots-Gründungen von politischen und gemeinnützigen Start-ups von Frauen mit wenig Kapital, die den Status quo infrage stellen, gibt es kaum, denn: Das Patriarchat finanziert nicht diejenigen, die es stürzen wollen.
Die Männer, die ihre Macht in meiner Heimatgemeinde missbrauchten und Grenzen überschritten, sind letztlich nicht anders als die Bolsonaros, Trumps, Erdoğans und Co. Sie mögen unterschiedlich einflussreich sein, aber das Entitlement, ihre Anspruchshaltung, ist dieselbe. Denn sie wissen, dass ihr Verhalten in unserer patriarchalen Gesellschaft keine Konsequenzen haben wird, sondern wahrscheinlich straflos bleibt. Ich bin nicht bereit, ihr Wirken, ihre Destruktivität zu akzeptieren oder mich entmutigen zu lassen. Es gibt immer »Naysayer«, die unzählige Gründe finden, weshalb etwas nicht angepackt werden sollte. Egal welche Kampagne, welche Initiative, was auch immer ich in meinem Leben gemacht habe – auf die kleine Zahl der Personen, die mir Mut zusprachen, kamen zig Naysayer, die mir in aller Ausführlichkeit erklärten, warum meine Vorhaben dumm, naiv und zum Scheitern verurteilt seien. Doch es braucht mehr Menschen, die neugierig sind. Die infrage stellen, weshalb wir was als »Standard« ansehen, wie beispielsweise Nuklearwaffen in der Außenpolitik.
Die dann schauen, ob es bessere Optionen gibt, und entsprechend handeln – die bereit sind, als lächerlich angesehen zu werden und Wellen zu schlagen. Das ist mein persönlicher Anspruch, sowohl in meiner täglichen Arbeit als Mitgeschäftsführerin beim Centre for Feminist Foreign Policy als auch mit diesem Buch. Ich hoffe, es eckt an, bereitet Freude und wird kritisiert. Konstruktive und wohlwollende Kritik erlaubt uns, Ideen und ganze Themenfelder weiterzuentwickeln. Wir brauchen Menschen, die ihre Vision zu Realität machen. Ins Ungewisse springen. Gesellschaft ändert sich schließlich nur mit denen, die sie tatkräftig infrage stellen. Ich wünsche mir daher, dass mein Buch wirklich nur das erste und nicht das letzte Buch dezidiert zu Feministischer Außenpolitik sein wird. Ich mochte den Ausspruch von Kamala Harris – »I may be the first, but won’t be the last« –, als im November 2020 klar war, dass sie Vizepräsidentin der USA würde. Als erste Frau, als erste Woman of Colour noch dazu. Für mich bedeutet ihre Aussage: Tür aufgestoßen. Erste Schritte, die vielleicht noch nicht perfekt sind. Aber zumindest ist die Tür offen, damit hoffentlich noch viele andere nachkommen, die und deren Ideen bislang mit aller Kraft der patriarchalen Deutungshoheit und Vorherrschaft ausgeschlossen wurden. Dieses Buch ist natürlich nicht mit einem Vizepräsidentinnen-Amt zu vergleichen. Dennoch bedeuten mir Kamala Harris’ Worte im Prozess des Schreibens dieses ersten Buches zu Feministischer Außenpolitik sehr viel, und ich bin dankbar dafür. Genauso wie für die intellektuelle Arbeit, die viele Forscher:innen auf diesem Gebiet bereits geleistet haben und auf die ich mich stütze.
Ich bin nicht perfekt, und das wird auch auf dieses Buch zutreffen. Ich habe die Kapazität einer Person, um zu lesen, zu forschen und nachzudenken – und das alles aufzuschreiben. Und gleichzeitig ist das Feld der Außen- und Sicherheitspolitik mit seiner Geschichte, seinen internationalen Verträgen, Akteur:innen sowie thematischen und regionalen Expertisen so wahnsinnig weit, dass es mehrere tausendseitige Standardwerke zu Feministischer Außenpolitik bräuchte, um alle Teilbereiche einmal neu zu denken. Genau deshalb hoffe ich, dass dieses Buch konstruktiv kritisiert wird und wir gemeinsam beginnen, diese Standardwerke zu Feministischer Außenpolitik zu schreiben. Wenn das Buch gelesen würde mit einem Mindset des »Ja, und« statt »Ja, aber«, wären wir einen großen Schritt vorangekommen. Denn Frauen zu diffamieren und ihnen Professionalität abzusprechen, ist so alt wie das Patriarchat. Deshalb haben haltlose Vorwürfe, Unterstellungen und Diffamierungen – die ich während des Schreibprozesses bereits erleben musste – in der Debatte um einen Neuanfang in der Außenpolitik keinen Platz. Das kostet uns öffentlich agierende Frauen jedes Mal wichtige emotionale Ressourcen, die an anderer Stelle besser aufgehoben wären.
Ich schreibe dieses Buch über Diplomatie und Außenpolitik, obwohl meine Vita ziemlich anders ist als die der meisten Akteur:innen auf diesem Gebiet. Und genau deshalb schreibe ich dieses Buch. Für all diejenigen, die mit Anfang 20 auch noch keine Ahnung hatten, was eine Diplomatin eigentlich macht. Für all diejenigen, die Außenpolitik mitunter spannend finden, aber abgestoßen sind von den Ideen und grundlegenden Annahmen hinter außenpolitischem Handeln. Ich selbst sah Außenpolitik viele Jahre lang nicht als Themenfeld, das für mich relevant sein oder wo ich einen Platz haben könnte. Zu elitär, zu abgehoben von meiner Lebensrealität und heimatlichen Prägung, durchzogen von Ideen und Überzeugungen, die ein pures Entsetzen in mir auslösten. Wie etwa die Idee, dass die tödlichsten von Menschen erdachten Waffen – Massenvernichtungswaffen wie Atombomben – zu internationaler Sicherheit beitrügen. Dieser Gedanke ist mir so zuwider, dass ich jahrelang außenpolitische Themen fast vollständig ausblendete. Für alle, denen es ähnlich ging und geht: Dieses Buch ist auch für Sie.
Die feministische Bewegung ist seit über 200 Jahren ausgesprochen erfolgreich, radikalen und nachhaltigen sozialen Wandel herbeizuführen. Vor über 100 Jahren fingen Feministinnen an, internationale Politik radikal neu zu denken. Mit diesem Buch möchte ich einen Beitrag zur feministischen Bewegung innerhalb der internationalen Politik leisten. Denn die größten Herausforderungen unserer Zeit – ob die Angriffe auf das Frauen- und Menschenrechtssystem, (nukleare) Aufrüstung, die Klimakrise oder Pandemien – können nie und nimmer nationalstaatlich, sondern nur international gelöst werden. Ohne feministischen Ansatz würden alle Lösungsversuche bestehende Ungerechtigkeiten und Machtgefälle vergrößern. Die Zukunft der Außenpolitik kann daher nur feministisch sein.
Margot Wallström: »Aktivismus und Diplomatie, also Mut und Geduld, ergänzen einander.«
Margot Wallström, die ehemalige schwedische Außenministerin, ist davon überzeugt, dass aktivistischer Mut in der Politik nicht fehlen darf. Nur durch Mut und Kompromissbereitschaft könne man als Diplomatin glaubwürdig und zielgerichtet strukturelle Änderungen in der Außenpolitik bewirken. Als erste UN-Sonderbeauftragte für sexuelle Gewalt in Konflikten (2010–2012) erlebte Margot, wie gravierend sich Krieg auf Frauen und Mädchen auswirkt. Diese Erfahrung erfüllte sie mit Schwermut. Gleichzeitig gaben ihr die Begegnungen mit Überlebenden und vor allem deren Entschiedenheit, gesellschaftlichen Wandel zu bewirken, Hoffnung.
Als Außenministerin Schwedens entschied Margot sich dazu, eine innovative Form der Außenpolitik zu schaffen, die die Rechte von Frauen und Gleichberechtigung erstmals in den Mittelpunkt stellte: Feministische Außenpolitik. Schweden stellte diese Priorisierung unter Beweis, als es 2017 bis 2018 einen UN-Sicherheitsratssitz einnahm. In jeder Sitzung, im Kontext jeder Resolution und in jedem Briefing stellte Schweden die Frage: »Wo sind die Frauen?« Dadurch trug das Land unter Margots feministischer Führung dazu bei, eine politische Kultur zu schaffen, in der Frauen endlich mitgedacht werden.
Sehr einprägsam war es für Margot, als Frauen aus Mali bei einer Reise des kompletten Sicherheitsrats in das afrikanische Land der schwedischen Delegation für ebendiese Arbeit dankten – ohne die Beharrlichkeit Schwedens wäre ein entsprechender Passus zur Partizipation von Frauen nicht in eine Sicherheitsratsresolution zum Konflikt in Mali aufgenommen worden. Nur so sei es den Frauen möglich gewesen, den Präsidenten ihres Landes zu treffen. Dies werde es beim nächsten Mal erschweren, Frauen bei weiteren Treffen erneut auszuschließen, und beweise ein erstes Umdenken über die Rolle von Frauen. Margot sagt, es seien Momente wie diese und auch zu sehen, dass andere Regierungen und zivilgesellschaftliche Organisationen wie auch das CFFP feministische Arbeit weiterentwickeln, die sie am stärksten mit Stolz erfüllen.
Ein Buch, das Margot beeindruckt, ist Say Nothing, eine wahre Geschichte über den Nordirland-Konflikt, von Patrick Radden Keefe.
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WARUM AUSSENPOLITIK FEMINISTISCH WERDEN MUSS
I’m not interested in a feminism that thinks simply placing women at the top of oppressive systems is progress – not your convenient figurehead
Rupi Kaur
Außen- und Sicherheitspolitik sind komplex. Das gilt auch für den Feminismus. Erstere auf den Kopf stellen, um sie mit Letzterem in Einklang zu bringen, ist sogar noch komplexer. Daher führe ich in diesem Kapitel einige Begriffe und Ideen ein, die hilfreich sein werden, wenn wir später ans Eingemachte gehen. Es geht hier unter anderem um das Patriarchat, feministischen Frieden, den Nationalstaat, menschliche sowie feministische Sicherheit und Intersektionalität.
Aber bevor uns allen der Kopf schwirrt, versuche ich es erst mal ganz basal: Internationale Politik und Diplomatie bedeutet, dass Entitäten (wie Staaten oder Organisationen) versuchen, irgendwie miteinander klarzukommen. Die Frage ist nur: Wie schaffen sie das am besten?
Die Anfänge der feministischen Außenpolitik
»Die See war rau. Nicht nur Eisberge, sondern auch militärische Gefahren lauerten auf der Nordatlantikroute des holländischen Schiffs ›S. S. Noordam‹«, schreibt der Historiker Wolfgang U. Eckart über die Fahrt dieses Schiffes im Frühjahr 1915.1Seit wenigen Wochen befand sich das Deutsche Kaiserreich im U- Boot-Krieg gegen die westlichen Mächte. An Bord des Schiffes waren unter anderem Diplomaten, Kaufleute und Privatreisende. Und auch 47 Frauen, Pazifistinnen und Feministinnen aus den USA. Sie waren auf dem Weg nach Den Haag, wo sie knapp 1200 Gleichgesinnte aus neutralen sowie in den Ersten Weltkrieg verwickelten Ländern treffen wollten. Damals herrschte Kriegseuphorie in Europa. Doch es gab auch Querulantinnen, die sich diesem Jubel nicht anschlossen. Vom 28. April bis 1. Mai 1915 trafen sie sich zum Ersten Internationalen Frauenkongress in Den Haag. Die Visionärinnen und Frauenrechtlerinnen Anita Augspurg, ihre Arbeits- und Lebensgefährtin Lida Gustava Heymann und die niederländische Ärztin Aletta Jacobs luden gemeinsam zum Kongress ein.
Feministische Außenpolitik und meine Arbeit dazu sind nur dank dieses historischen Fundaments möglich: den Feministinnen, die vor uns kamen. Meine Organisation, das CFFP, und ich stehen auf den Schultern von Riesinnen. Der Kongress von 1915 sowie der Folgekongress 1919 in Zürich mündeten in der Gründung der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit – der Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF). Der Mut, die Resilienz und die Unnachgiebigkeit der Feministinnen in Den Haag befeuerten und ermutigten auch mich, den Kampf für Gerechtigkeit an der Schnittstelle von Aktivismus und Diplomatie zu führen. Ohne sie gäbe es dieses Buch nicht.
Was die Frauen schon damals zeigten: Aktivismus und Diplomatie passen wunderbar zusammen. Meist werden sie allerdings als fast konträre Konzepte wahrgenommen. Demnach seien Aktivist:innen Unruhestifter:innen, die laut und ohne Rücksicht auf Verluste ihre Ideale durchsetzen wollten. Diplomatisch hingegen verhalte sich, wer trotz unterschiedlicher Vorstellungen und Interessen Kompromisse findet, mit denen alle Parteien leben können. Dieser Gegenüberstellung stimme ich natürlich nicht zu – dieses komplette Buch widerspricht dieser Annahme. Gerade wir Frauen müssen die zugrunde liegenden Traditionen und Denkmuster hinterfragen und deutlich machen, dass sie keine Gesetzmäßigkeiten sind, sondern dass wir Dinge ändern können. Das gilt im Privaten ebenso wie im Politischen und auch auf internationaler Ebene: Wer hat beispielsweise bestimmt, welche Staaten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Veto-Stimme haben? Wie konnte es jemals als fair angesehen werden, dass dort bis heute kein afrikanischer, nahöstlicher oder lateinamerikanischer Staat ständig vertreten ist? Wer hat entschieden, welche Straftaten »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« sind oder dass es legitimes diplomatisches Verhalten ist, wenn Staaten drohen, Massenvernichtungswaffen einzusetzen?
Feministische Bewegungen haben immer wieder gezeigt, dass sie ganz gewiss nicht von der Idee befangen sind, nichts ändern zu können. Im Gegenteil: Feministische Bewegungen sind der entscheidende Faktor – und oft auch der einzige –, der Veränderung in Bezug auf Frauen- und damit Menschenrechte bringt.2 Die Mobilisierung feministischer Zivilgesellschaft, so eine Studie von Mala Htun und Laurel Weldon, durchgeführt mit Datensätzen aus 70 Ländern und über vier Jahrzehnte, ist der entscheidende Faktor, wenn Maßnahmen und Gesetze verabschiedet werden, um Gewalt gegen Frauen einzudämmen und zu ahnden. Eine starke Frauenbewegung ist laut der Studie folglich viel wichtiger für solche Veränderungen als beispielsweise nationaler Wohlstand, linke Parteien oder die Präsenz von Frauen in der Regierung.3 Eine weitere Studie zeigt, dass eine Gesetzesreform zu Frauenrechten weniger wahrscheinlich ist, wenn sich die feministische Zivilgesellschaft nicht einmischt.4 Feministische Koalitionen haben einen fundamentalen Wandel herbeigeführt, wie über die Gleichstellung der Geschlechter gedacht und welcher Stellenwert ihr beigemessen wird. Von der Schaffung der Kommission der Vereinten Nationen zur Rechtsstellung der Frau (CSW) im Jahr 1946 bis zu den Verhandlungen, die 2015 zu den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung mit dem eigenständigen Teilziel der Geschlechtergerechtigkeit führten – immer kam der Druck auf Regierungen, die Gleichstellung der Geschlechter und die Rechte der Frauen in internationalen Abkommen und Normen einzubeziehen, aus der feministischen Zivilgesellschaft.5
Feminismus für alle
Immer wieder werde ich gefragt, ob denn Feminismus der richtige Begriff für das sei, was ich tue. Ich (und das CFFP) träten schließlich nicht nur für Frauenrechte ein. Vielleicht müsse da ein neuer Begriff erfunden werden? Nein, überhaupt nicht. Denn für mich ist Feminismus ein Sammelbegriff für Theorien und Bewegungen, die politische Organisierung und Aktivismus fordern und antreiben. Er ist ein Werkzeug zur Analyse und hinterfragt bestehende Machthierarchien. Er artikuliert Utopien und Visionen für eine gleichberechtigte und gerechte Gesellschaft, in der alle Menschen frei von Unterdrückung, Marginalisierung und Ausgrenzung leben. Dazu gehören ein Ende von Ungerechtigkeiten und Machthierarchien, inklusive Sexismus, Rassismus, Kolonialismus und Klassismus, also die noch nicht so gut erforschte Benachteiligung aufgrund von Schichtzugehörigkeit. Solche diskriminierenden Phänomene sind leider auch innerhalb der feministischen Bewegung aufgetreten – man denke nur schmerzlich daran, wie Women of Colour ausgeschlossen wurden, als für das Frauenwahlrecht gekämpft wurde. Deshalb geht es mir und dem CFFP um die Alltagserfahrungen marginalisierter Menschen mit diversen Hintergründen, Erfahrungen und Identitäten. Also ja, es stimmt: Die feministische Bewegung hat ihren Ursprung im Kampf für Frauenrechte, daher auch die entsprechende Bezeichnung. Und der Einsatz für die Rechte der Frauen ist weiterhin ein großer Schwerpunkt der Bewegung – denn Frauen sind die größte politisch marginalisierte Gruppe in unserer Gesellschaft. Doch der Feminismus heute hat sich weiterentwickelt und schließt nun alle Formen der Unterdrückung und Marginalisierung mit ein. Darum ist Intersektionalität ein Kernelement des Feminismus, wie ich ihn verstehe und praktiziere.
Der Begriff Intersektionalität wurde Ende der 1980er-Jahre von der Juraprofessorin Kimberlé Crenshaw geprägt, wobei bereits in den 1970er-Jahren entscheidende Ideen von Schwarzen Aktivist:innen und Lehrenden formuliert wurden. Crenshaw war in ihrer Arbeit auf einen juristischen Streit von 1976 gestoßen: Emma DeGraffenreid hatte zusammen mit mehreren anderen Schwarzen Frauen die Firma General Motors wegen Diskriminierung verklagt. Sie begründete das damit, dass Schwarze Frauen nicht eingestellt würden. Das Gericht aber sah darin keine Diskriminierung, schließlich stellte General Motors Schwarze Männer sowie weiße Frauen ein. Es läge also weder Rassen- noch Geschlechtsdiskriminierung vor. Das von DeGraffenreid und ihren Mitstreiterinnen empfundene Unrecht war ein blinder Fleck der Justiz – und Crenshaw beschloss, das zu ändern. Ihr Konzept beschreibt, wie unterschiedliche Formen von Diskriminierung zusammenkommen (eben wie an einer Kreuzung – im Englischen Intersection). Diskriminierungserfahrungen überlappen sich, und aus diesen Überschneidungen ergeben sich neue Formen und Qualitäten der Diskriminierung. Crenshaw wollte ursprünglich damit vor allem auf die Whiteness im Mainstream-Feminismus hinweisen. Denn die Stimmen von nicht weißen und insbesondere von Schwarzen Frauen wurden oft überhört und zur Seite gedrängt, da die Erfahrungen schwarzer Männer mit Rassismus und die Erfahrungen weißer Frauen mit Sexismus als Norm galten.6 Intersektionaler Feminismus analysiert und hinterfragt Machtstrukturen und fordert lautstark, dass Macht, Ressourcen und Zugänge in unsere Gesellschaft gerecht verteilt werden. Das geht nur, wenn das Patriarchat abgeschafft wird.
Wenn schon intersektionaler Feminismus, warum dann nicht gleich Humanismus? Richtig: Menschenrechte sollen für alle da sein. Aber weil sie es eben seit Tausenden von Jahren nicht sind, sondern die Rechte einer kleinen Gruppe stets über die der numerischen Mehrheit gestellt wurden, braucht es einen Begriff, der die jahrtausendelange Unterdrückung und Ausbeutung verdeutlicht. Humanismus tut das nicht. Kann er nicht, solange Frauen, People of Colour, Menschen mit Behinderungen oder queerer Geschlechtsidentität und viele andere eben nicht denselben Schutz und die Rechte genießen wie die männliche weiße Elite. Wer fordert, emanzipatorische Bewegungen wie die feministische oder die antirassistische »Humanismus« zu nennen, versagt darin, die Unterdrückung zu sehen. Es mangelt an Verständnis oder Wissen, dass beispielsweise die Humanisten zur Aufklärungszeit teilweise selbst frauenverachtend und rassistisch waren. Auch erinnern mich solche Forderungen zu sehr an Aussagen wie »All Lives Matter« als Reaktion auf »Black Lives Matter« oder »#NotAllMen« als Reaktion auf »#MeToo«. Hätten wir eine Gesellschaft, in der die Leben und die Unversehrtheit von People of Colour und Schwarzen Menschen genauso wertgeschätzt würden wie die weißer Menschen, in der nicht fast jede junge Frau sexuell belästigt würde und in der nicht jede dritte Frau deutlichere Formen von männlicher Gewalt erleben müsste, dann könnten wir von Humanismus statt Feminismus sprechen. Aber wir sind weit von so einer Gesellschaft entfernt, solange eine mächtige Minderheit privilegiert ist und Probleme negiert oder relativiert, nur weil sie selbst nicht davon betroffen ist.
Die Politikwissenschaftlerin Emilia Roig schreibt in Why We Matter – Das Ende der Unterdrückung, dass Forderungen nach »All Lives Matter« oder »Humanismus« statt Feminismus nicht nur kontraproduktiv seien, »sondern auch unterdrückend, weil sie das Ergebnis von Trennung und Spaltung negieren. Die Stimmen im Kampf für soziale Gerechtigkeit werden durch solche Ansagen zum Schweigen gebracht und delegitimiert«. Roig zufolge zielen Befreiungsbewegungen eben nicht auf Spaltung ab, sondern wollen die Schäden reparieren, die durch Trennung, Spaltung und Klassifizierung angerichtet wurden.7 Diese neue Form des Feminismus geht viel weiter als frühere Konzepte und ist doch nicht dasselbe wie Humanismus. Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser, die Autorinnen von Feminism for the 99%, schreiben: »Die Zeit der Neutralität und der Zurückhaltung ist vorbei, und Feminist:innen müssen Stellung beziehen: Werden wir weiterhin die ›Chancengleichheit‹ anstreben, während der Planet brennt? Oder werden wir die Geschlechtergerechtigkeit in einer antikapitalistischen Form neu interpretieren – eine, die über die gegenwärtige Krise hinaus zu einer neuen Gesellschaft führt?«8 Für mich als Feministin, die in Diplomatie und Außenpolitik tätig ist, besteht kein Zweifel daran, dass das auch unser Ziel ist. Die Feministische Außenpolitik ist ein intersektionales Vorgehen.
MARGINALISIERUNG UND VULNERABILITÄT
Vulnerabilität ist ein Fachbegriff für Verletzlichkeit. Sie meint nicht nur Mangel, sondern einen gesellschaftlichen Zustand, der durch Unsicherheit und Schutzlosigkeit geprägt ist.9 Verwundbare Menschen und Bevölkerungsgruppen sind Schocks und Stressfaktoren ausgesetzt und haben Schwierigkeiten, diese zu bewältigen. Gerade diese Gruppen aber werden oft an den Rand der gesellschaftlichen Wahrnehmung gedrängt, sie sind gleichzeitig marginalisiert.
In vielen Berichten und Studien, vor allem von internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen, bleibt es aber bei der Etikettierung. Dort steht dann Folgendes: Die finanziell Armen und Marginalisierten in unseren Gesellschaften seien besonders vulnerabel. Mich verärgert diese Verkürzung: Vergleichbar mit Begrifflichkeiten wie »Gewalt gegen Frauen« trifft sie keinerlei Aussagen darüber, wie es zu dieser direkten oder strukturellen Marginalisierung kommt. Dass die finanziell armen und marginalisierten Gruppen in vielen Gesellschaften strukturell vulnerabel sind, mag zwar stimmen. Doch diese Aussage verschleiert den wohl wichtigsten Aspekt: Was ist die Ursache dafür, dass sie vulnerabel sind? Oder wie im Fall von »Gewalt gegen Frauen«: Wer wendet diese Gewalt an? Es ist kein Naturgesetz, dass sich unsere Gesellschaften so entwickelt haben, dass ein Großteil der Menschen strukturelle Gewalt – also Marginalisierung – erlebt. Unsere Gesellschaften wurden absichtlich so gebaut, dass sie nur eine kleine Gruppe der Menschheit dauerhaft privilegiert. »The system is not broken – it was built to be unjust«, so die philippinische Klimaaktivistin Mitzi Jonelle Tan.10
Gegen das Patriarchat, für mehr Sicherheit
Die Historikerin Gerda Lerner schreibt in Die Entstehung des Patriarchats, dass die Zeit der »Errichtung des Patriarchats« kein einmaliges »Ereignis« gewesen sei, sondern ein Prozess, der sich über einen Zeitraum von fast 2500 Jahren zwischen etwa 3100 bis 600 v. Chr. entwickelte. Patriarchat bedeutet wörtlich »Väterherrschaft, Vaterrecht«. Es beschreibt eine Gesellschaftsordnung, in der das männliche Familienoberhaupt die rechtliche und ökonomische Macht über die von ihm abhängigen weiblichen und männlichen Familienmitglieder ausübt.* Für die Namensgebung und die soziale Stellung ist die männliche Linie (Patrilinearität) ausschlaggebend. Patrilokalität bedeutet, dass die Frau nach der Heirat in den Haushalt der Familie des Ehemannes zieht (weiterhin die Norm, besonders in Asien, Afrika und dem Mittleren Osten). Das stellt seit Jahrtausenden sicher, dass männliche Netzwerke gefestigt und soziale Netze der Frau mit der Heirat zerstört werden, da sie wegziehen müssen – was den Aufbau von Frauennetzwerken zum feministischen Akt macht. Im Ergebnis ist das Patriarchat die jahrtausendealte Gesellschaftsordnung, in der der Mann eine bevorzugte Stellung in Familie und Staat einnimmt.11
* In Indien besitzen Frauen beispielsweise nur 13 Prozent des Landes, wenn gleichzeitig Studien gezeigt haben, dass Frauen, die Land besitzen, zu Hause mehr Verhandlungsmacht haben und weniger häufig von männlicher Gewalt zu Hause betroffen sind.11
Die Kategorien »Mann« und »Frau« werden nicht im biologischen Sinne verstanden (»sex« für Geschlechtszugehörigkeit im Englischen). Stattdessen wird das Geschlecht als soziales Konstrukt (»Gender«bzw. Geschlechterverhältnis) gesehen, als eine Art Produkt unserer Sozialisierung. Für die amerikanische Philosophin Judith Butler ist die Einteilung in zwei Geschlechter das Ergebnis eines kulturellen Herstellungsaktes. Um es in den Worten der feministischen Vordenkerin Simone de Beauvoir zu sagen: »On ne naît pas femme, on le devient.«12 Man wird nicht als Frau geboren, sondern wird erst zur Frau. Die verhältnismäßig kleinen Unterschiede zwischen Geschlechtern definieren aufgrund des Zusammenwirkens von Sprache, Wissen und Macht unsere sozialen Beziehungen. Butler spricht von der »Performativität« des Geschlechts in der Tradition von de Beauvoir: Unser Geschlecht wird nicht nur durch biologische Parameter bestimmt, sondern entsteht letztlich im Sprechen und Handeln. Sie nennt das auch »doing gender«. Ich werde also nicht aufgrund meines biologischen Geschlechts primär als Frau gelesen, sondern weil ich mich überwiegend »typisch weiblich« verhalte – also so, wie unsere patriarchale Gesellschaft es definiert.13 Alle, die nicht dem Stereotyp des Männlichen entsprechen, werden abgewertet, unterdrückt und diskriminiert. Das trifft Frauen, Transsexuelle, Angehörige der LGBTQI*-Community* oder Menschen, die verletzlich sind oder bei der Performance des männlichen Rollenbildes nicht mitspielen.
* LGBTQI* steht für Lesbian, Gay, Bisexuell, Trans, Queer und Intersexuell, das Sternchen ergänzt weitere Identitäten.
Dabei ist das Patriarchat an sich auch hierarchisch strukturiert. Männer unterschiedlicher Klassen, Rassen**