Empathie und Widerstand - Kristina Lunz - E-Book

Empathie und Widerstand E-Book

Kristina Lunz

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Beschreibung

Gerade in krisenhaften Zeiten ist es wichtig, einen klaren moralischen Kompass zu haben, seine Werte zu kennen und auch zu ihnen zu stehen. Die feministische Aktivistin und politische Influencerin Kristina Lunz ist überzeugt: Empathie und Widerstand sind hilfreiche Hebel, um seine Haltung zu finden, Menschlichkeit zu zeigen und Wandel zu gestalten. Was zunächst nach einem Gegensatzpaar klingt, passt perfekt in die schwierige Zeit und ist der Schlüssel für sozialen, kulturellen, politischen Fortschritt.  Basierend auf persönlichen Eindrücken, Erfahrungen und Gedanken zeigt Kristina, wie wir auf eine gerechtere Welt hinwirken und was jede:r einzelne dafür tun kann. Sie erklärt, wie man für sich selbst eine politische Haltung entwickelt und dieser auch bei Gegenwind treu bleibt – gleichzeitig aber offen ist, bei überzeugenden Argumenten seine Haltung anzupassen. Denn alles andere wäre nicht wertebasiert, sondern reine Ideologie.

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Empathie und Widerstand

Kristina Lunz, geboren 1989, ist Unternehmerin, Autorin und Aktivistin. Sie wurde nach einem Bachelor in Psychologie und einem ersten Masterabschluss in London Stipendiatin an der Universität Oxford, wo sie MSc Global Governance and Diplomacy studierte.Nach ihrem Abschluss arbeitete sie unter anderem für die Vereinten Nationen in Myanmar und für eine NGO in Kolumbien. Seit 2018 ist sie Mitgründerin und CEO des Centre for Feminist Foreign Policy (CFFP) in Berlin, von 2019 bis 2020 war sie zusätzlich als Beraterin im Auswärtigen Amt tätig.

 

Kristina hat etliche aktivistische Kampagnen (mit-)initiiert und zahlreiche Auszeichnungen sowie Fellowships renommierter Institutionen erhalten. Sie wurde 2019 von Forbes als eine der „30 unter 30“ in Europa ausgezeichnet und ist Young Leader der Atlantik-Brücke, Ashoka Fellow, BMW Foundation Responsible Leader, eine der „Vordenker*innen 2020“ von Handelsblatt und wurde vom Focus zu einer der „100 Frauen des Jahres 2020“ erklärt. Von 2022 bis 2024 war sie Mitglied der Advisory Group der Goalkeepers-Initiative der Bill and Melinda Gates Foundation zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen. Ihr wurde außerdem der German Start-Up Award als „Impact Entrepreneurin 2024“ verliehen.

 

Kristinas erstes Buch Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch (Econ 2022) avancierte zum Bestseller und wurde ins Englische übersetzt. Sie trug ein Kapitel zu den Sammelbänden Unlearn Patriarchy sowie Unlearn CO2 bei (Ullstein 2022 und 2024). 

 

www.kristinalunz.com

»Kristina ist für mich eine Pionierin des Feminismus. Von ihrem Blick auf die Realität habe ich viel lernen dürfen.« TARA-LOUISE WITTWERGerade in krisenhaften Zeiten brauchen wir einen klaren moralischen Kompass, sollten unsere Werte kennen und zu ihnen stehen. Kristina Lunz zeigt, dass Empathie und Widerstand hilfreiche Hebel sind, um eine Haltung zu finden, Menschlichkeit zu zeigen und Wandel zu gestalten. Was nach einem Gegensatzpaar klingt, ist der Motor für eine gerechtere Welt mit sozialem und politischem Fortschritt – den wir so dringend brauchen.»Mit Kristina Lunz wollen sich immer sehr viele Menschen streiten. Ich habe ihr dabei ein paarmal zusehen dürfen und kann davon nur abraten, argumentativ nämlich ist sie unschlagbar. Beim Karaokesingen sieht das schon anders aus.« BENJAMIN VON STUCKRAD-BARRE»Empathie und Widerstand trifft den Zeitgeist.« ENISSA AMANI

Kristina Lunz

Empathie und Widerstand

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Ein Buch der Ullstein-Reihe "Wie wir leben wollen", herausgegeben von Silvie Horch© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Umschlaggestaltung: Favoritbüro, MünchenUmschlagmotiv: © Navid NorouziAlle Rechte vorbehaltenDie automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.Autorenfoto: © Stevy HochkeppelE-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-8437-3266-6

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Wie ich meinen Kompass gefunden habe

Empathie

Widerstand

Das Handwerkszeug für Empathie und Widerstand

Mein Kompass in stürmischen Zeiten

Empathische und widerständige Frauen

Warum Empathie und Widerstand jetzt so wichtig sind

Danke

Anmerkungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Wie ich meinen Kompass gefunden habe

Motto

»Each time a woman stands up for herself, without knowing it possibly, without claiming it, she stands up for all women.« – Maya Angelou

»The world is changed by your example, not by your opinion.« – Paulo Coelho

Für alle, die ins Handeln kommen.

Wie ich meinen Kompass gefunden habe

Als Putin seine Atomstreitkräfte in erhöhte Einsatzbereitschaft versetzte, wartete Anne Hathaway bereits auf uns. Die US-amerikanische Schauspielerin und Oscar-Preisträgerin sollte in der ersten Reihe der Fashionshow eines italienischen Stardesigners sitzen. Für das Modelabel war auch ich im Februar 2022 nach Mailand gereist, als eines von zwölf Gesichtern einer Female-Empowerment-Kampagne, die Frauen aus aller Welt porträtierte, die ambitioniert ihren eigenen Weg gehen.

Die anderen Frauen und ich trafen die Schauspielerin noch vor der Show in der hauseigenen Bar des Hotels. Gemeinsam sollten wir durch die von Paparazzi, Fotograf:innen, Fans und Schaulustigen gesäumten Straßen zur Fashionshow gehen. Es war Fashion Week, und die italienische Modemetropole pulsierte vor Leben und Glamour.

Doch ich kam verspätet zum Treffpunkt. Die Augen noch leicht verweint, zog ich sofort den skeptischen Blick einer Managerin des Labels auf mich. »Bist du aufgeregt, nun mit Hathaway und den anderen zur Show zu laufen?«, fragte sie. Meine Stimme zitterte, als ich erklärte: »Putin hat gerade seine Atomstreitkräfte in erhöhte Einsatzbereitschaft versetzt.«

Es war ein Sonntagnachmittag, das Wochenende nach dem 24. Februar 2022, als der russische Machthaber den Befehl zum Großangriff auf die Ukraine erteilt hatte. Als direkte Reaktion darauf hatte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz bei einer Sondersitzung im deutschen Bundestag die sogenannte Zeitenwende ausgerufen und ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr angekündigt.1

Mein innerer Ausnahmezustand wurde dadurch gesteigert, dass mein erstes Buch, Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch, gerade erschienen war – ausgerechnet an jenem schicksalsträchtigen 24. Februar. Als Reaktion wurde ich mit antifeministischen und misogynen Beleidigungen, Diffamierungen und Häme überzogen, nach dem Motto »Was soll Feminismus schon gegen Putins Waffen ausrichten?«. Mir steckte zudem die Erschütterung aufgrund der russischen Gewalt und die Angst vor Eskalation in den Knochen – und nun saß ich in viel zu teuren Klamotten in der zweiten Reihe am Laufsteg. Zu allem Überfluss zog ich auch noch Unmut vor Ort auf mich, als ich mich weigerte, mit den anderen und gemeinsam mit dem berühmten Modeschöpfer für ein Foto zu posieren. Als Spiegel der Weltlage ließ meine innere Gefühlslage das an diesem Tag nicht zu. Es war ein »Once in a Lifetime«-Wochenende.

Zwei Jahre später, im Sommer 2024, erhob sich eine Frau neben mir. Sie nahm das Mikrofon und sagte: »Ich ging in den Dschungel zu den Tigern. Denn wenn du Frieden willst, musst du auch die Hand des Feindes halten.« Sie sprach als Mutter eines sri-lankischen Soldaten, der im Zuge des jahrzehntelangen Bürgerkriegs entführt worden war. Mit »Tigern« meinte sie die paramilitärischen Tamil Tigers, die für die Unabhängigkeit des von Tamilen dominierten Nordens und Ostens Sri Lankas kämpften. Ihr Sohn kämpfte auf der gegnerischen Seite.

Ich war mit etwa hundert Frauen aus der ganzen Welt – Syrien, Jemen, Ägypten, Liberia, Kolumbien, Afghanistan, um nur einige zu nennen – für eine Peacebuilding-Konferenz in der albanischen Hauptstadt Tirana zusammengekommen. Die Arbeit zu Frieden und Sicherheit war unser gemeinsamer Nenner, besonders brutal und schmerzhaft erlebbar durch die Präsenz und die Erfahrungsberichte der zu jenem Zeitpunkt – und noch immer – von Krieg und Vertreibung betroffenen palästinensischen Teilnehmerinnen.

Einige Tage später war ich beim deutsch-israelischen Programm einer deutschen Stiftung eingeladen. Die Teilnehmenden beider Nationen kamen aus Wirtschaft, Politik und NGOs. Während unseres einwöchigen Aufenthalts in Berlin wuchs das gegenseitige Vertrauen besonders durch das Teilen persönlicher Erzählungen – seien es Schilderungen aus israelischer Sicht vom schrecklichen Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 oder von den israelischen Einsätzen im Gazastreifen, die darauf folgten.

Die Wehrpflicht in Israel verlangt in der Regel von Männern einen dreijährigen und von Frauen einen zweijährigen Militärdienst. Reservist:innen werden dann zu Krisen- und Kriegszeiten in den Einsatz geschickt – darunter auch einige der Teilnehmenden des Austauschprogramms.

Mein Alltag ist geprägt von kontrastreichen Welten, von Gegensätzen und von aufeinanderprallenden Perspektiven. Die Erlebnisse in Mailand, in Tirana oder jüngst in Berlin sollen hiervon einen ersten Eindruck geben. Vormittags nehme ich an Meetings mit der Bundeswehr oder im Kanzleramt teil, wo unweigerlich die Bedeutung zunehmender Aufrüstung2 betont wird (während gleichzeitig eine langfristige nicht reaktive Strategie fehlt); nachmittags tausche ich mich in internationalen Expert:innenkreisen, die besorgt die globale Aufrüstung betrachten, zu menschlicher Sicherheit aus.

Es ist sehr herausfordernd, meine Offenheit für unterschiedliche Perspektiven, Erfahrungen und Bedürfnisse zu bewahren und gleichzeitig meine persönlichen roten Linien, etwa was die Missachtung von Menschenrechten betrifft, immer klarer zu ziehen. Genau das beschreibt für mich den Balanceakt zwischen Empathie und Widerstand, diesen Tanz zwischen verschiedenen, auch mal einander widersprechenden Perspektiven und klar definierten Grenzen und No-Gos. Ein Tanz, bei dem ich mich manchmal selbstbewusster fühle, während ich in anderen Momenten noch eine unsichere Lernende bin.

In diesem fortwährenden Prozess habe ich stets den Anspruch, mir diese Unsicherheit ein Stück weit zu bewahren, also niemals völlig von der eigenen Haltung überzeugt zu sein. Dadurch halte ich mir die Möglichkeit offen, weiterzulernen und in meiner Entwicklung nie stehen zu bleiben. Sich der eigenen Meinung und Position nicht allzu gewiss zu sein, sich selbst immer wieder infrage zu stellen, ist für mich die höchste Form der persönlichen Reife – vor allem, wenn man zugleich Rückgrat beweist und für Dinge, die einem wichtig sind, einsteht.

Bei diesem Tanz zwischen Empathie und Widerstand, beim Versuch, unsere Gesellschaft gerechter zu gestalten, hilft mir das Wissen, dass Politik letztendlich zu großen Teilen Psychologie ist. Politik entsteht im Aushandlungsprozess unterschiedlicher Emotionen und Bedürfnisse und hat sehr viel weniger mit rationalem Verhalten zu tun, als man vermuten würde. Die Neurowissenschaftlerin und Autorin von Radikal emotional – Wie Gefühle Politik machen, Maren Urner, beschreibt in ihrem Buch, dass Menschen immer emotional und Emotionen immer politisch sind: »Alles, was unser Zusammenleben ausmacht und damit den politischen Raum bestimmt, der […] immer und überall präsent ist, ist von Emotionen geprägt.«3

Das trifft auch auf Ausnahmesituationen politischen Handelns zu: Historisch gesehen sind Kriege meist nichts anderes als unreife Reaktionen hyperemotionaler, aggressiver Männer mit zu viel Macht, deren Emotionskontrolle zu wünschen übrig lässt. Daher haben Kriege rein gar nichts mit Stärke zu tun, sondern sind vielmehr ein Zeichen emotionaler Unreife und charakterlicher Schwäche.

Erste Einblicke in die Bedeutung der Psychologie für die Politik erhielt ich 2013, als ich drei Wochen lang an der Universität Stanford an einer Summer School zu politischer Psychologie teilnahm. Ich hörte Vorlesungen darüber, was erfolgreichen Friedensverhandlungen im Weg steht, wie sozialer Einfluss auf Entscheidungen wirkt und welche Voraussetzungen für Zusammenarbeit gegeben sein müssen. Ich hörte von Prädiktoren für kollektive Gewalt und Protest, erfuhr Wissenswertes über Gruppendynamiken, setzte mich mit dem Einfluss medialer Berichterstattung auf das Wahlverhalten auseinander. Nicht nur hatte ich erstmals das Gefühl, dass es passte, nach meinem Bachelor in Psychologie nun internationale Politik im Master zu studieren, sondern ich lernte auch, dass Emotionen unsere Politik bestimmen.

Alles, was ich bisher über Kommunikation, Emotionen und menschliche Interaktion – besonders auch in der langjährigen Zusammenarbeit mit meinem psychologischen Coach – gelernt habe, hilft mir in den turbulenten Zeiten, in denen wir leben. Die Kunst guter Kommunikation basiert auf Zugewandtheit und Verständnis, den Grundzutaten für Empathie. Diese Handwerkszeuge helfen mir bis heute dabei, fast jede Auseinandersetzung zu deeskalieren, ohne meine Haltung aufgeben oder Ungerechtigkeiten akzeptieren zu müssen.

Wenn Gesellschaften in Bewegung sind, die Welt voller Herausforderungen ist und die Menschheit vor vielen unzureichend gelösten Fragen steht, gilt es, unterschiedliche Gefühle und Zustände gleichzeitig aushalten zu können. Die Psychologie nennt die Eigenschaft, in einer solch komplexen Welt manövrierfähig zu bleiben, Ambiguitätstoleranz: Man muss nicht nur damit leben und es im besten Fall akzeptieren können, dass es viele unterschiedliche und auch widersprüchliche Ideen und Meinungen gibt, sondern man erkennt an, dass diese Vielfalt nicht bedrohlich ist, sondern bereichernd.

In einer komplexen Welt gibt es keine einfachen Antworten. Manche versuchen, uns weiszumachen, es gäbe diese einfachen Antworten. Das sind jedoch Populist:innen – auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Ihnen fehlt etwas, das die Fachärztin für Psychiatrie Heidi Kastner in ihrem Buch Dummheit so beschrieben hat: »Das Ertragen von Ambivalenz und Widersprüchlichkeit zählt zu den wesentlichen Entwicklungsaufgaben im Reifungsprozess, den viele allem Anschein nach nicht durchlaufen haben.«4

In diesem Buch stelle ich Nuancen in den Mittelpunkt. Es geht um unterschiedliche Gefühle und Wahrheiten, die es gleichzeitig auszuhalten gilt, auch solche, die zunächst gegensätzlich wirken. Wie Wut und Zuversicht. Diese beiden Gefühle sind die Basis, auf der bei mir Empathie und Widerstand gründen – als jene Kernelemente, aus denen sich meine (gesellschafts-)politische Haltung zusammensetzt.

Diese vor Komplexität und Herausforderungen strotzende Welt ist eine ganz andere als jene, in der ich aufgewachsen bin und eine sehr behütete Kindheit hatte: ein bodenständiges fränkisches Dorf, in dem keine hundert Menschen leben. Beide Großelternfamilien waren Bauern. Meine Oma, die neben anderen Familienmitgliedern weiterhin in dem kleinen Dorf lebt, trägt bis heute diesen Beruf als ihren Familiennamen. In unserem Bauerndorf – so beschreiben wir in der Familie selbst den Ort – aufzuwachsen, war eine ganz besondere, schöne Erfahrung voller Natur und Liebe. Ich kümmerte mich um meinen Kater, mein Zwergkaninchen und die Stallhasen. Es war jedes Mal ein erhebendes Gefühl, wenn wir kleine Babyhäschen im Nest einer Stallhäsin entdeckten. Anfangs die Augen noch geschlossen, waren sie eingekuschelt in dem Nest aus Stroh, Heu und Fell, das sich die Hasenmama zum Bau gerupft hatte. Noch größer war meine Freude, wenn wir im Frühling und im Herbst, dem Piepsen folgend, Babys der streunenden Dorfkatzen im Heu oder Stroh in der Scheune fanden. Zu meinen Kindheitserinnerungen gehören Felder, Wald, Bach, Stall, Wiesen und Tiere. Politik spielte damals noch keine Rolle für mich. Es war eine schöne, freie Kindheit. An vielen Tagen verließen mein Zwillingsbruder und ich gemeinsam mit den anderen Dorfkindern unser Zuhause, durchforsteten Wälder und Wiesen und kamen erst am frühen Abend wieder zurück.

Doch ab dem Teenageralter fühlte ich mich zunehmend unwohl, ich haderte mit den Normen meiner kleinen Welt. Beispielsweise mit der Vorstellung, dass Männer das Sagen haben sollten – und es auch hatten. Jede einzelne Machtposition, vom Bürgermeister über den Pfarrer, den Bäckermeister und den Schuldirektor, den Wirtshausbesitzer und den Dorfvorsteher, den Feuerwehrkommandanten bis zum Sportvorstand – alle waren sie männlich besetzt. Am Wochenende feuerte die ganze Gemeinde die Männerfußballmannschaft beim sonntäglichen Match an. Den Männern galten all die Hochachtung und der Respekt, während Frauen zu Hause unbezahlte Care-Arbeit leisteten, indem sie sich um die Kinder kümmerten und den Haushalt schmissen.

Respekt und Hochachtung waren so ausgeprägt, dass manche dieser Männer keine Konsequenzen zu befürchten hatten, wenn sie uns Mädchen und jungen Frauen gegenüber Grenzen überschritten, sei es im Fahrschulauto oder auf den Dorf- und Sportfesten. Ich wollte das irgendwann nicht mehr akzeptieren. Ich wollte mich widersetzen. Ich wollte weg, und das Studium bot mir den gesuchten Ausweg, auch wenn es mir anfangs sehr schwerfiel, mir eine Welt außerhalb meines Dorfs vorzustellen. Für den Bachelor studierte ich Psychologie, dann mithilfe von Stipendien zwei Politik-Masterstudiengänge, einen in London und einen in Oxford.

Und plötzlich befand ich mich zwischen zwei Welten: Da war mein Zuhause, mein fränkisches Dorf – und dort diese zunehmend internationale, teils elitäre Welt, in der man mich über die Jahre immer wieder spüren ließ, dass ich eigentlich nicht dazugehörte. Ich trug die falschen Klamotten, hatte zu wenige Bücher gelesen – der Stallgeruch passte einfach nicht. Meine Erfahrungen wurden auf einmal politisch, und ich begann darüber zu schreiben, wie es ist, als Arbeiterkind vom Dorf nach Oxford zu kommen. Mir wurde bewusst, dass die Eliten diverser werden müssen.5

Mit dem Zusammenprall dieser Welten stellte ich im Laufe der Jahre immer mehr die tradierten, vermeintlich naturgegebenen Regeln infrage. Ich wurde Feministin und Aktivistin. Eine Mischung aus Empathie und Widerstand gegen die himmelschreienden Missstände wurde zu meinem Antrieb. Ich fühlte mit denjenigen, die marginalisiert werden oder unter ungerechten Strukturen leiden. Und meine Wut lieferte die Energie, mich dagegen aufzulehnen. Um nicht in der Wut zu verharren, wollte ich sie konstruktiv einsetzen. »Wut aufgrund von Ungerechtigkeiten und Mangel an Gleichberechtigung ist im Großen und Ganzen wie Treibstoff«, schreibt Rebecca Traister in ihrem Buch Good and Mad – The Revolutionary Power of Women’s Anger.6 Traister zeigt auf, wie die Wut von Frauen – von den Suffragetten bis zur legendären Schwarzen Bürgerrechtlerin Rosa Parks, von #MeToo zum Women’s March – transformative Kraft freisetzt.