Die zweite Haut - Ryan David Jahn - E-Book

Die zweite Haut E-Book

Ryan David Jahn

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Beschreibung

Das Leben des Anderen

Simon hat einen Menschen getötet. In Notwehr hat er den Mann erschlagen, der nachts die Tür zu seiner Bude aufgebrochen und ihn brutal attackiert hat. Jetzt steht er atemlos über der Leiche und überlegt, was zu tun ist. Er zweifelt an seinem Verstand. Denn der Tote wirkt vertraut. Und Simon weiß auch, warum: Sein Angreifer ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.

Wer war der mysteriöse Doppelgänger und was wollte er? Auf der Suche nach Antworten gerät Simon in einen Strudel der Ereignisse, der ihn unaufhaltsam in den Abgrund reißt.

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Seitenzahl: 368

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Das Buch

Simon haust in einer verwahrlosten Bude in L. A. und fristet ein Leben ohne nennenswerte soziale Kontakte. Bis eines Nachts ein Mann in sein Apartment eindringt und ohne Umschweife auf ihn losgeht. Nach kurzem, erbittertem Kampf im Dunkeln gelingt es Simon, den Angreifer mit seiner Taschenlampe niederzuschlagen. Als er daraufhin das Licht anknipst, muss er zwei Tatsachen ins Auge sehen. Erstens: Er hat einen Menschen getötet. Zweitens: Der Tote ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Wer war der mysteriöse Doppelgänger, und was wollte er? Auf der Suche nach Antworten gerät Simon in einen Strudel der Ereignisse, der ihn unaufhaltsam in den Abgrund reißt.

Der Autor

Ryan David Jahn wuchs in Arizona, Texas und Kalifornien auf. Mit sechzehn Jahren verließ er die Schule, um in einem Plattenladen zu arbeiten. Seit 2004 arbeitet er als Drehbuchautor für Film und Fernsehen. Für seinen ersten Roman Ein Akt der Gewalt wurde er mit dem renommierten Debut Dagger Award ausgezeichnet.

www.ryandavidjahn.com

Lieferbare Titel

Akt der Gewalt – Der Cop

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel

LOW LIFE

bei Macmillan, London

Unter www.heyne-hardcore.de finden Sie das kompletteHardcore-Programm, den monatlichen Newslettersowie unser halbjährlich erscheinendes CORE-Magazinmit Themen rund um das Hardcore-Universum.

Weitere News unter facebook.com/heyne.hardcore

Vollständige deutsche Erstausgabe 08/2014

Copyright © 2010 by Ryan David Jahn

Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Ulf Müller

Umschlaggestaltung: Melville Brand Design GmbH, München,

unter Verwendung eines Motivs von © Shutterstock

Satz: Schaber Datentechnik, Wels

ISBN: 978-3-641-04151-9V002

www.heyne-hardcore.de

Für Dave Morton und Jacque Morton –die mir meine erste Schreibmaschine kauften

Dank an

Will Atkins

Liz Cowen

Gordy Hoffman

Mary Jahn

Andy Pagana

Sophie Portas

Heather Schor

1

SIMON

Der Morgen jenes Tages, an dem Simon zum ersten Mal einen Menschen tötete, kam ihm vor wie jeder andere.

Er lag auf einer schäbigen Matratze, die direkt auf einem von Nägeln durchlöcherten Hartholzfußboden lagerte. Ein Wecker, seine Brille und ein orangefarbenes Fläschchen mit rezeptpflichtigen Pillen befanden sich in Reichweite. Das einzige weitere Möbelstück im Raum war eine Frisierkommode, der man ansah, dass sie eigentlich schon vor Jahren am Straßenrand hätte abgestellt werden sollen. Simon lag unter einer dünnen braunen Decke flach auf dem Rücken, die Arme neben dem Körper ausgestreckt. Allem Anschein nach schlief er, sein Gesicht wirkte ruhig und entspannt. Seine Wangen waren blass und von Aknenarben verunstaltet. Hätte man die Augen wegradiert und die Nase und den Mund, so hätte man glauben können, auf die Mondoberfläche zu sehen oder vielleicht auf ein entfernt gelegenes Atombombenversuchsgelände. Er war erst vierunddreißig, doch sein frühzeitig ergrautes Haar war dünn, weißlich und spröde wie das eines Achtzigjährigen und blieb ständig zerzaust, obwohl er es sorgfältig rechts scheitelte und mit Pomade glatt zu kämmen versuchte. Er schnitt es auch selbst. Er hasste Friseure. Als er noch zu ihnen ging, kam er sich stets vor wie ein Gefangener dieser bewaffneten Männer, gezwungen, sich das dümmliche Gelaber über das Alltagsleben einer Person anzuhören, die ihm scheißegal war, und, schlimmer noch, bedrängt, Auskünfte über sein eigenes Leben zu geben.

Simon hatte es nicht so mit Small Talk.

Er schlug die Augen auf.

Graues Licht stahl sich um die Ränder eines blauen Vorhangs, der eigentlich gar kein Vorhang war, sondern nur eine Decke, die er einem Straßenhändler abgekauft und mithilfe eines Kaffeebechers über dem Fenster festgenagelt hatte. Simon hatte nur darauf gewartet, dass sein Porzellanhammer zersplitterte, als er damit zuschlug, aber er hatte gehalten.

Bin ich wach?

Er blinzelte.

Bestimmt bin ich wach, dachte er. Alles ergibt Sinn.

Sein Wecker gab einen hohlen Laut von sich. Gleich darauf klingelte er.

Er setzte sich auf. Die Decke rutschte ihm von der Brust. Die Morgenluft war kühl, obwohl es Spätsommer war. Das genaue Datum hätte er nicht nennen können; jeder Tag glich dem anderen so sehr, dass Wochentage und Daten nicht mehr von Bedeutung schienen. Er konnte exakt die Anzahl der Schritte nennen, die er an seinem Arbeitsplatz für die Strecke vom Fahrstuhl zu seiner Bürozelle benötigte – vierundsiebzig bei guter Laune, zweiundachtzig, wenn er niedergeschlagen war –, aber das Datum hätte er nicht nennen können. Es war frühmorgens, und im Raum herrschte trotz Spätsommer nächtliche Kühle. Das war alles.

Oder vielleicht war es ja bereits Frühherbst. Jedenfalls war er sich ziemlich sicher, dass der September schon angebrochen war.

Er schnappte sich den Wecker, brachte ihn zum Schweigen und stellte ihn wieder auf den Fußboden. Er hob seine Brille auf und setzte sie sich auf die Nase. Es war eins von diesen Dingern mit Metallgestell, wie Piloten sie tragen. Er war kurzsichtig, und die dicken Gläser ließen seine Augen um die Hälfte kleiner wirken. Er zuckte zusammen und sog zischend die Luft ein. Obwohl er eine Brille trug, seit er zehn war, und diese hier keineswegs neu war, hatte sich im Lauf der letzten Wochen hinter seinem rechten Ohr eine wunde Stelle gebildet, dort, wo sich der Plastikbügel in die Haut grub. Die Wunde war offen und blutete, und wenn er mit der Fingerkuppe drauftupfte, verspürte er einen stechenden Schmerz. Er hatte versucht, das Gestell zurechtzubiegen, aber vergebens.

Simon stand auf. Die Dielen unter seinen Füßen waren kalt. Er war mit Socken schlafen gegangen, aber irgendwann nachts musste er sie ausgezogen haben, denn sie lagen jetzt umgestülpt in der Ecke des Zimmers und sahen aus wie zwei tote Nagetiere.

In einem T-Shirt und grün karierten Pyjamahosen stand er an dem schmutzigen blauen Waschbecken in seinem Badezimmer. Wasser tropf-tropf-tropfte langsam aus dem lecken Hahn. Er betrachtete sich im von Zahnpastaflecken gesprenkelten Spiegel des Medizinschränkchens. Die Spiegelfolie auf der Innenseite der Glasscheibe schälte sich ab wie sonnenverbrannte Haut und gab den Blick auf Tuben und Fläschchen mit Salben und Pillen frei. Simon ließ die Borsten der Zahnbürste über die Oberfläche seiner Zähne kratzen. Das Zahnfleisch schmerzte, und als er ins Waschbecken spuckte, mischten sich Fäden von Rot in das Zahnpastaweiß. Er drehte den Wasserhahn auf und spülte die Reste weg.

Nach einer lauwarmen Dusche – das Wasser wurde nie richtig heiß – stieg er in seine Boxershorts und zog zu braunen Hosen ein weißes Hemd an. Er schlang sich einen verschlissenen Paisleyschlips mit hellblauem Muster auf braunem Grund um den Hals und schlüpfte in ein braunes Cordsakko mit Lederflicken an den Ellenbogen. Er streifte sich durchlöcherte Socken über und zog alte, fleckige braune Wildlederschuhe an, deren abgewetztes Leder an manchen Stellen glänzte. Die dünnen Ledersenkel, mit denen er sich die Schuhe schnürte, waren an mehreren Stellen gerissen und wieder zusammengeknotet.

Er ging in die Küche, wo er sich zwei mit Leberwurst bestrichene Sandwichs zubereitete, die er mit weißen Zwiebeln und Schweizer Käse garnierte. Er wickelte zwei saure Gurken und eine Handvoll Kartoffelchips getrennt voneinander in Frischhaltefolie. Dann steckte er alles in eine braune Papiertüte, die er oben zweimal entlang der schon vom letzten Gebrauch vorhandenen Falzen knickte.

Anschließend sah er auf die Uhr – es war sieben Uhr dreißig, die Arbeit begann um acht – und ging zur Wohnungstür.

Draußen drehte er sich um, schob den Schlüssel in das zerkratzte, ein wenig locker sitzende Messingschloss und versuchte zuzusperren. Aber wer auch immer das Schloss eingebaut hatte, war nachlässig gewesen, sodass der Riegel und die Öffnung, in die er gleiten sollte, nicht auf gleicher Höhe lagen. Simon musste die Türklinke mit einer Hand anheben und rütteln, während er mit der anderen den Schlüssel drehte. Begleitet von halblautem Fluchen – Nun komm schon, du Miststück! – fiel die Tür endlich ins Schloss.

Der Korridorfußboden war mit einem Teppich ausgelegt, der einmal beigefarben gewesen sein mochte, jetzt aber mit seinen vielen Flecken einem Leopardenfell glich. Dort, wo er sich nicht schon in Fransen aufgelöst hatte, war er platt getrampelt, und an den Rändern, wo man mit dem Staubsauger nicht hinkam, und im am meisten strapazierten Mittelteil glänzte er tiefschwarz. Die Wände schimmerten nikotingelb, abgesehen von den Stellen, an denen kürzlich Graffiti übermalt worden waren. Trotzdem gab es da ein neues Graffito, das höchstens zwei Tage alt war. Es prangte an der Wand gegenüber der Treppe, die hinunter ins Erdgeschoss in die rund um die Uhr unbeaufsichtigte Eingangshalle führte.

WELL, TAKE HIM

hieß es da. Die Wörter waren mit dicht an die Wand gehaltener Düse aufgesprayt worden. Um die Buchstaben herum waren Spritzer zu sehen, und schwere Farbtropfen hatten beim Hinunterlaufen Spuren hinterlassen. Über dem Graffito befand sich ein mit dem Finger gemaltes »s«. Simon nahm an, dass der Urheber der Botschaft mit dem Finger in den Strahl der Düse geraten war und dann versucht hatte, die Farbe von seinem Zeigefinger an die Wand zu reiben.

Well, take him. Wen nehmen? Und wohin mitnehmen?

Simon ging auf das Graffito zu, wandte sich dann wieder ab und nahm sich vor, seinen Vermieter Leonard anzurufen und ihm davon zu berichten (er würde nicht gerade erfreut sein: Schließlich hatte er erst vor wenigen Tagen an derselben Stelle ein anderes Graffito übermalt). Dann nahm er die knarrende Treppe, die so schmal war, dass zwei Menschen nicht ohne Tuchfühlung aneinander vorbeikamen. Die Glühbirne an der Decke war schon vor zwei Monaten durchgebrannt und immer noch nicht ersetzt worden, und daher herrschte, während draußen hell die Morgensonne schien, auf der Treppe finstere Nacht. Als er die Holzstufen hinunterstieg und dabei auf das leise Stöhnen lauschte, mit dem sie über sein Gewicht klagten, stieg ihm der vertraute Geruch von Urin in die Nase. Die Tür zur Eingangshalle blieb immer unverschlossen, was dazu führte, dass Graffiti auf den Wänden hinterlassen wurden und gelegentlich ein Stadtstreicher im Treppenhaus schlief.

Am Fuß der Treppe: die Eingangshalle. Vor fünfundneunzig Jahren, als das Gebäude errichtet worden war, mochte sie Charme verströmt haben, aber jetzt rottete sie langsam dahin. Die Fußbodenfliesen hatten Risse und Flecken, die Fugenfüllungen waren entweder schwarz vor Schmutz oder fehlten ganz; die Täfelung war völlig verzogen und von eingeschnitzten Initialen verschandelt; die Fenster waren trüb von Dreck, die langsam unter der Decke rotierenden Ventilatorblätter überzogen von einer zentimeterdicken Schicht aus Staub, der sich über die Jahrzehnte dort angesammelt hatte. Staub, der manchmal zu schwer wurde, um sich auf dem Blatt zu halten, und in großen grauen Ballen herunterfiel wie tote Tauben.

Simon durchquerte die Halle, stieß die von Fingerabdrücken übersäten Glastüren auf und trat hinaus auf den Wilshire Boulevard, an dem sich die Filboyd Apartments befanden, eine der zahlreichen Bausünden, die sich zwölf Stockwerke hoch in den sonnengebleichten Himmel von Los Angeles reckten, rechteckig und zweckmäßig wie eine Kaserne, mit einer Feuerleiter an der Rückseite, die wie die Radierung einer schiefen Wirbelsäule wirkte. Sofort überfielen ihn der Lärm und die Ausdünstungen der Stadt – Imbissgeruch und Abgase, Autohupen und Hubschrauber.

Einen halben Block entfernt schlief ein Stadtstreicher auf einer Bank vor dem Captain Bligh’s (einem Restaurant, in dem ein unmöglich zu bewältigender pfundschwerer Bounty Burger serviert wurde). Der Verkehr auf dem Wilshire floss wie ein Strom aus Stahl, an diversen Kreuzungen aufgestaut und hier und da zum Rinnsal verlangsamt. Die andere Seite der verkehrsreichen Straße säumte eine Reihe niedriger Gebäude – ein Elektronikhandel, ein Waschsalon, eine koreanische Grillstube.

Simon wandte sich auf dem Gehsteig nach rechts und ging den Wilshire in westlicher Richtung entlang zu seinem Wagen. Er hatte gerade die halbe Strecke hinter sich, als er den Hund erblickte, ein räudiges Tier mit rötlich braunem Fell. Sein linkes Ohr sah aus wie der angekaute Fettrand eines Rumpsteaks, sein Fell war von Blut und Schmutz verfilzt, und sein blindes rechtes Auge war bis auf eine rote Ader, die sich im Winkel blähte, milchig weiß.

Simon stoppte abrupt.

Er betrachtete den Hund, und der Hund, der anscheinend ziellos die Straße entlanggehumpelt war, blieb stehen und erwiderte den Blick. Sein gesundes Auge blitzte lebhaft und traurig zugleich, und er hatte etwas an sich, das Simons Herz anrührte. Er ging in die Hocke und stellte die Provianttüte zwischen seinen Füßen ab. Er faltete sie auf, griff hinein und zog unter den Gewürzgurken, die bereits durch ihre Folienhülle tropften, eines der Sandwichs mit Leberwurst hervor. Er klappte es auf und streckte es dem Hund entgegen.

»Komm her, Junge.«

Der Hund neigte den Kopf nach links und sah Simon an.

»Komm schon, es ist Leberwurst.«

Der Köter machte ein paar zögernde Schritte in seine Richtung, seitwärts, als habe er Angst, direkt auf ihn zuzugehen. Seine gelben Krallen klapperten auf dem Pflaster. Als er nur noch einen halben Meter von Simons ausgestrecktem Arm entfernt war, blieb er stehen und sah sich um. Die Angst, er habe sich vielleicht etwas zuschulden kommen lassen, flackerte in seinem Auge, und er schien mit einem plötzlichen strafenden Tritt von jemandem zu rechnen, der bisher noch unsichtbar war. Dann reckte er den Hals nach dem Sandwich, schnappte es sich und humpelte hastig ein Stück zur Seite, bevor er es auf den Gehsteig fallen ließ und dann mit wenigen Bissen hinunterschlang.

»Das war nett von Ihnen.« Eine dünne, quäkende Stimme.

Simon stand auf – ein leichter Schwindelanfall ergriff ihn, schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen – und drehte sich um. Vor ihm stand ein alter Mann, mindestens neunzig, vielleicht sogar älter. Sein Gesicht war zerfurcht und sein Mund von Falten umrahmt. Lose Hautlappen schlackerten um seinen Hals, und die Tränensäcke unter seinen Augen schienen groß genug, um je einen halben Liter Bier aufzunehmen. Seine Lippen waren farblos. Er trug eine mottenzerfressene gelbe Strickjacke, eine makellos gebügelte, wenn auch recht zerschlissene Anzughose und auf Hochglanz polierte Lederschuhe, die er wahrscheinlich nicht mehr ausgezogen hatte, seit er 1956, oder wann auch immer es gewesen sein mochte, aus Deutschland gekommen war. Sein Akzent war schwach, aber ohne Schwierigkeiten zu erkennen. Er sah Simon aus blassblauen Augen freimütig an.

Simon sagte »Danke« und schaute weg.

Der alte Mann nickte, rührte sich aber nicht und sagte keinen Ton. Sein Blick blieb fest. Simon hatte den Eindruck, dass er etwas von ihm erwartete.

»Ich muss zur Arbeit.«

Der alte Mann nickte erneut, blieb aber stumm.

»Okay«, sagte Simon. »Einen schönen Tag noch.«

Er drehte sich um und ging davon. Einmal blickte er noch über die Schulter zurück, bevor er seinen alten Volvo erreichte, einstieg, verbotenerweise wendete – in aller Eile, solange die Ampeln für alle rot waren – und in Richtung Innenstadt fuhr, deren Gebäude sich wie eine Ansammlung schiefer Zähne am Horizont abzeichneten.

Den Morgen verbrachte er damit, über Zahlen zu brüten. Er arbeitete für ein großes Lohnabrechnungsunternehmen, das die gesamte zwanzigste Etage eines Gebäudes belegte, dessen Hauptaufgabe darin zu bestehen schien, Schatten zu werfen. Er saß auf seinem schwarzen Stuhl an seinem braunen Tisch in seiner grauen Bürozelle und hackte in die Nummerntasten seiner weißen Tastatur.

Zur Mittagspause stand er von seinem Schreibtisch auf, griff sich sein Lunchpaket aus dem Bürokühlschrank – der nach vergammelten Lebensmitteln roch, die man immer weiter nach hinten geschoben hatte –, ging den Flur entlang zum Fahrstuhl und wartete. Das Gebäude hatte fünfzig Stockwerke und fünf Aufzüge, die jeweils zehn Etagen abdeckten: eins bis zehn, elf bis zwanzig, einundzwanzig bis dreißig und so weiter, die sämtlich zum Ein- und Ausstieg auf der Lobby-Ebene hielten. Die Fahrstühle kamen und gingen. Die Leute, zwischen denen er stand, stiegen ein und fuhren davon – er wartete weiter. Nach einigen Minuten hielt ein leerer Fahrstuhl, und außer Simon wartete niemand mehr. Er stieg ein, wohl wissend, dass die Wartezeit verschenkt war, weil sich ein leerer Fahrstuhl sowieso füllen würde, bis er die Lobby erreichte. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt.

Der Fahrstuhl hielt im siebzehnten Stock und nahm zwei Frauen mit.

Er drehte sich der Fahrstuhlecke aus gebürstetem Edelstahl zu und schloss die Augen. Sie brannten, und er kniff sie fester zusammen. Es schien ihm die Brust zusammenzuschnüren. Er legte den Kopf in den Nacken, zum Neonlicht an der Decke, und aus dem schwarzen Schatten seiner Augenlider wurde ein roter Vorhang.

»… und dann sagt Vince: ›Was kümmert es mich, mit wem du schläfst?‹«

»Unglaublich.«

»Ja, oder?«

»Wie hast du reagiert?«

»Ich habe ihm gesagt, dass ich mit seinem Bruder geschlafen habe.«

»Und, hast du?«

»Nein. Vince’ Bruder stinkt wie ein Müllcontainer. Ich wollte nur wissen, wie er reagiert.«

»Und?«

Im fünfzehnten Stock gesellten sich weitere Personen zu ihnen – ebenso im zwölften und elften.

Als Simon die Lobby erreichte, war er schweißnass. Ihm war heiß und leicht übel. Der Fahrstuhl war inzwischen voll besetzt.

Er bahnte sich eilig einen Weg nach draußen, stieß dabei ein paar trödelnde Leute zur Seite – wobei er sich »He, Freundchen« und »Arschloch« anhören musste – und hastete durch die mit Marmor ausgelegte Lobby hinaus ins Freie, in die nicht recycelte Luft und das Tageslicht. Er rang nach Atem. Er kam sich albern vor, wegen eines voll besetzten Fahrstuhls in Panik zu geraten, aber er wusste auch nicht, wie er es verhindern sollte. Zwanzig Stockwerke zu Fuß waren eine ganze Menge. Also nahm er einfach den Fahrstuhl und ertrug dafür viermal am Tag die Übelkeit – einmal morgens, zweimal zur Mittagspause und einmal, wenn der Arbeitstag vorüber war.

Er blinzelte ins Mittagslicht. Seine Pupillen verengten sich zu Nadelspitzen. Robert und Chris standen vor dem Gebäude und rauchten.

Robert war groß und dünn, trug Anzüge, die wie Müllsäcke über seinen spindeldürren Gliedmaßen hingen, und schmückte sich mit einem Zopf, der wie ein Pferdeschweif an seinem Hinterkopf baumelte. Er hatte ein fliehendes Kinn und eine hohe Stirn, was ihn früher wohl als degeneriert hätte gelten lassen. Seine Hände waren für einen Mann seiner Körpergröße verblüffend klein und feingliedrig.

Chris war knapp eins sechzig groß, ein sehniger kleiner Texaner mit Zähnen wie rottende Zaunpfähle und dünnem blondem Haar, das er sich in die Stirn kämmte. Sein Gesicht wirkte zu groß für den Kopf, auf den man es geklatscht hatte, die Augen waren riesig wie die eines Lemuren, und sein Mund war ein breites Fischmaul. Seine Muskeln zuckten oft, scheinbar grundlos und besonders dann, wenn er sich ereiferte, was häufig geschah.

Simon hatte keine Ahnung, wie alt die beiden sein mochten – vielleicht fünfunddreißig, vielleicht vierzig.

Robert sah auf die Uhr. »Hast du doch endlich aufgegeben und beschlossen, die Treppe zu nehmen?«

Das eigene Lächeln kam Simon aufgesetzt und falsch vor. Seine Augen trübten sich in ihren Höhlen.

Obwohl er Robert und Chris als Freunde betrachtete – eigentlich sogar als seine einzigen Freunde –, wusste er nicht, wie er auf sie reagieren sollte. In der Welt der zwischenmenschlichen Beziehungen fühlte er sich verloren. Nach vierunddreißig Lebensjahren meinte er, manchmal zu wissen, was in gesellschaftlichen Situationen von ihm erwartet wurde – mit einigem Herumprobieren hatte er die korrekten Reaktionen erlernt –, aber es fühlte sich nie wie natürliches Verhalten an, sondern wie ein einstudierter Auftritt. Es wurde ein Lächeln von ihm erwartet, also lächelte er. Es wurde erwartet, dass er über einen Witz lachte, also lachte er. Es wurde erwartet, dass er sich mit seinen Freunden über Fernsehsendungen unterhielt, also sah er fern, um mitreden zu können. Aber er fühlte sich von alledem ausgeschlossen – abgetrennt durch eine unsichtbare Membran, gefangen sogar außerhalb seiner selbst, an einem Nicht-Ort, sodass er sich aus der Distanz dabei beobachten konnte, wie er mit der Welt interagierte – nicht imstande, sich zu beteiligen, auch wenn er den Anschein erweckte, es zu tun.

Sie machten sich auf den Weg zu Wally’s am Broadway und schnappten sich einen Tisch. Robert und Chris bestellten. Simon saß da und wartete, dass ihre Sandwichs gebracht wurden, bevor er sein eigenes auspackte. Als er hier zum ersten Mal mit Robert und Chris zu Mittag aß – vor vier Monaten, drei Monate nachdem er zusammen mit ihnen im selben Gebäude zu arbeiten begonnen hatte, auch wenn es ihm so vorkam, als arbeite er schon eine Ewigkeit hier: Ein Tag war wie der andere, und aneinandergereiht schienen sie unendlich weit in die Vergangenheit zurückzureichen, wie eine Reihe Dominosteine –, damals also hatte es Ärger mit dem Geschäftsführer des Restaurants gegeben. Er befinde sich hier in einem Restaurant, nicht im Park. Er dürfe nicht einfach seine Speisen mitbringen und sich hier ausbreiten. Aber dann hatten sie sich geeinigt, und seither drückte der Geschäftsführer ein Auge zu.

Als Babette Simon wie jeden Tag sein 7-Up servierte, lächelte sie und sagte Hallo. Simon erwiderte das Lächeln, zog die Papierhülle von seinem Strohhalm und trank. Die Limonade war kalt und süß und half, seinen Magen zu beruhigen.

Er ließ sich in seinen Wagen fallen, der Arbeitstag war vorbei. Auf der Motorhaube des Wagens, eines grauen 1987er Volvos, blätterte die Farbe ab, wo sie durch die Motorhitze Blasen geworfen hatte, und genauso auf der Kofferraumklappe, wo diverse frühere Besitzer den Tankdeckel abgelegt hatten, wenn sie Benzin nachfüllten. Er ließ den Motor an, drückte den Knopf links vom Ganghebel und zog diesen in die »Drive«-Position nach hinten. Dann fädelte er sich langsam in den träge fließenden Verkehr ein, tastete sich mit dem rechten Kotflügel vor – er befand sich in einer Einbahnstraße – und zwang den Wagen hinter sich, entweder anzuhalten oder ihn zu rammen. Such’s dir aus, Kumpel. Nach fünf Minuten war er wieder auf dem Wilshire und auf dem Weg nach Hause. Aber dann fuhr er einfach an den Filboyd Apartments vorbei und am Ambassador Hotel, in dem Robert Kennedy vor vierzig Jahre einem Attentat zum Opfer gefallen war. Und weiter geradeaus. Das Ambassador wurde gerade zu einer Schule umgebaut, und zusammen mit den Mauern tilgte man auch die Geschichte. Lebwohl Coconut-Grove-Nachtclub, willkommen Zuchtanstalt, und vom Hotel war nichts übrig als ein Stahlskelett, umsäumt von tiefen Ausschachtungen und abgegrenzt durch einen Maschendrahtzaun. Los Angeles war eine Stadt, die ihre Vergangenheit kontinuierlich ausradierte. Geschichte war nur etwas für die Menschen, die es noch nicht hierher geschafft hatten. Das hier war der äußerste Rand der neuen Welt, und er würde es auch bleiben. Bis hierher und nicht weiter, aber wer würde auch weiter wollen? Man achte einfach nicht auf die Slums und den Dreck und die Armen und vermeide es, über einen der zerbrochenen Träume zu stolpern, wenn man den Hollywood Boulevard entlanggeht.

Nach wenigen Meilen erreichte er sein Ziel. Auf der Fassade des Gebäudes stand:

ADULT BOOKS & VIDEO ARCADE

und auch wenn er in dem Laden noch nie ein richtiges Buch gesehen hatte, wurden hier doch massenhaft Magazine angeboten.

Er parkte seinen Wagen in einer Nebenstraße des Wilshire, prüfte die Parkuhr und stellte fest, dass, wer auch immer vor ihm hier geparkt hatte, so nett gewesen war, ihm ein Guthaben von dreiundzwanzig Minuten Parkzeit zu hinterlassen. Er legte noch einen Quarter nach und ging dann über den rissigen Gehsteig zu dem Laden.

Das Metalltor, das als Eingangstür diente, war verschlossen. Wie immer. Simon drückte auf einen Knopf rechts an der Wand und hörte drinnen eine Glocke läuten. Er sah hinauf in die Kamera, die über der Tür angebracht war. Kurz darauf ertönte ein Summen. Er zog an der Tür. Sie öffnete sich.

Die Luft im Innern war stickig, und es roch nach salzigem Ozeanwasser und modernder Unterwasservegetation oder – eher noch – nach etwas, das einer Mischung dieser Gerüche ähnelte; der nächstgelegene Strand war fünfzehn Meilen entfernt, in Santa Monica, wo sich das Riesenrad träge drehte und Frauen in Bikinis sich auf grellfarbigen Handtüchern rekelten. Und die einzigen Seevögel, die sich so weit landeinwärts getraut hatten, waren Möwen, die hinter dem Fischrestaurant an der Fourth und Vermont lungerten und sich durch die Garnelenschalen und Hummerschwänze in der Abfalltonne pickten.

Am Tresen, hinter dem ein gelangweilter Typ im burgunderroten Trainingsanzug stand und in einem Wrestling-Magazin blätterte, wechselte Simon einen Zwanzigdollarschein in zwanzig Eindollarscheine und durchquerte dann den vorderen Raum, in dem die Umschlagseiten zahlloser Magazine irgendwelche Fetische präsentierten – Großaufnahmen hübsch pedikürter Füße mit polierten roten und blauen Zehennägeln; die winzigen Brüste, geschwollenen Nippel und rasierten Vulven von Frauen, die vorgaben, vorpubertäre Mädchen zu sein; devote Frauen, deren Taillen von Korsetts eingeschnürt waren und auf deren Hintern rote Striemen prangten, die sie offenbar zahlreichen Rohrstockhieben verdankten; Krankenschwestern, die Klistiere schwenkten; Frauen mit Mädchenzöpfen, in Windeln und an Schnullern saugend. Simon ging durch eine Türöffnung und stieg eine Stufe hinauf in den hinteren Raum, über dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift VIDEO ARCADE angebracht war.

Ein paar einsame Männer mittleren Alters mit glitzernden schwarzen Augen drückten sich vor den Kabinen herum. Offenbar waren sie auf der Suche nach jemandem, der ein wenig Zeit da drinnen mit ihnen teilen wollte, bevor sie sich wieder auf den Heimweg zu ihrer Ehefrau machten (Simon waren mehrere Eheringe aufgefallen). Er vermied jeden Blickkontakt, weil er nicht wollte, dass jemand auf falsche Gedanken kam, und steuerte auf eine Kabine zu, über deren Eingang ein grünes Licht schimmerte. Bei rotem Licht waren die Kabinen besetzt und abgeschlossen. Durch die Ritzen unter den Türen drangen leise Videosexgeräusche.

Im Innern der Kabine war in einer der Wände ein Fernsehschirm eingelassen, und rechts davon befand sich ein Schlitz für Dollarscheine. An der Wand gegenüber dem Bildschirm war eine Holzbank eingebaut. Auf dem Boden daneben stand ein Mülleimer, der schon halb mit zusammengeknüllten Kleenex und Papierhandtüchern und Imbissservietten gefüllt war. Der Geruch nach faulendem Sperma war betäubend.

Simon fädelte einen Dollarschein in den Schlitz neben dem Bildschirm, und die Mattscheibe leuchtete auf. Sie erfüllte den kleinen Raum mit unangenehm fahlem Licht.

Das Gerät bot sechs verschiedene Pornokanäle für sechs deutlich unterschiedliche Vorlieben. Simon wählte Kanal drei – eine Frau mit schwarzer Ledermaske peitschte einen splitternackten Mann aus, der sich ihr auf dem rauen Betonfußboden in irgendeinem anonymen Lagerhaus auf Händen und Knien präsentierte. (Wahrscheinlich war es ein Lagerhaus auf der anderen Seite des Berges in Sherman Oaks oder Encino.) Während sie ihn peitschte, beschimpfte sie ihn mit den übelsten Ausdrücken.

Simon setzte sich nicht, aber er hatte wacklige Knie.

Als er zu den Filboyd Apartments zurückkam, fand er auf dem Wilshire keinen Parkplatz. Also bog er nach links in eine Seitenstraße ein, die von Apartmenthäusern gesäumt war, und fuhr in Richtung Sixth Street. Kurz vor dem Ende des Blocks fand er einen Parkplatz unter einer kaputten Straßenlaterne – in diesem Block funktionierte nicht eine einzige Lampe, während auf der anderen Seite der Sixth alle Laternen im abendlichen Dämmerlicht aufflammten. Es gelang ihm mit Mühe, seinen Wagen in die Lücke hineinzuquetschen. Lediglich sein rechter vorderer Kotflügel ragte ein ganz klein wenig in die rote Zone hinein. In einem braunen Rasenstück gut drei Meter entfernt von ihm stand ein Hydrant.

Er stieg aus dem Volvo aus, knallte die Tür zu, steckte den Schlüssel in das zerkratzte Schlüsselloch und drehte ihn von zwölf auf drei Uhr. Zufrieden spürte er den Widerstand, alle vier Türen wurden auf einen Schlag verriegelt. Er drehte sich um, steckte die Schlüssel in die Tasche und machte sich auf den Nachhauseweg.

Die Sonne und der Mond waren zu sehen, bei ihrem Schichtwechsel am Himmel: Der Mond stieg auf, und die Sonne sank hinter den Horizont. Die Wolken glichen zerrupfter Watte. Die besonders nahen Sterne – oder vielleicht waren es auch Planeten – blitzten am langsam dunkel werdenden Himmel wie Taschenlampen in einem fernen Wald.

Einige Schritte von seinem Wagen entfernt blieb er stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Als sie brannte, ließ er den Deckel seines silbernen Zippos zuschnappen und steckte das noch warme Feuerzeug in die Hosentasche. Er spürte die Hitze an seinem Oberschenkel. Er nahm einen Zug von der Zigarette und merkte, wie der Rauch in seinen Lungen zirkulierte, schwer und heiß und irgendwie beruhigend. Er stieß den Rauch durch die Nase aus. Sein Vater – genauer gesagt, sein Adoptivvater: Simon wusste nicht, wer seine leiblichen Eltern waren, auch wenn er sich als Jugendlicher immer wieder neue Geschichten über sie ausgedacht hatte, besonders dazu, warum sie ihn im Alter von drei Monaten einfach an einem Polizeirevier in Austin, Texas, zurückgelassen hatten –, sein Adoptivvater hatte immer Camel Filter geraucht und den Rauch oft durch die Nase ausgeatmet. Als kleiner Junge hielt er es für die coolste Sache der Welt, wenn jemand Rauch durch den Mund einatmen und durch die Nase wieder ausströmen lassen konnte. Das grenzte an Zauberei.

Er ging weiter Richtung Apartment, kam aber nur sieben Schritte weit, bevor etwas Fürchterliches geschah.

Es fing damit an, dass jemand fragte: »Wissen Sie, wie spät es ist?« Aber nicht an ihn gerichtet. Die Stimme kam von der anderen Straßenseite. Simon blickte hinüber und sah einen großen Kerl mit einer Tätowierung am Hals, nicht mehr als einen halben Meter von einem alten Mann in einer gelben, mottenzerfressenen Strickjacke entfernt.

»Lassen Sie mich nachsehen«, sagte der alte Mann. Er hatte einen deutschen Akzent, und seine Stimme klang dünn und quäkend.

Er schob den linken Ärmel seiner Strickjacke hoch, sodass eine silberne Uhr zum Vorschein kam, die im letzten Tageslicht glänzte. Mit zusammengekniffenen Augen schaute er auf die Uhr, streckte den Arm aus und legte den Kopf in den Nacken. Offenbar war er weitsichtig und hatte keine Brille dabei.

»Ich glaube, es ist ungefähr …«

Zwei weitere Männer traten aus dem Schatten eines Backsteinwohnhauses hervor – einer mit Dodgers-Kappe auf dem Kopf, der andere mit einem kahlen Schädel, der glänzte wie eine Bowlingkugel –, packten von hinten die Arme des Alten und schlugen trommelnd auf seine Nieren ein. Er stieß ein, zwei Schmerzensschreie aus, aber dann bekam er kaum mehr Luft und brachte nur noch leise Jammerlaute heraus. Seine Beine gaben nach, die Knie knickten ein, aber die dazugekommenen Männer hielten ihn aufrecht und schlugen noch eine Weile auf ihn ein. Seine Füße schleiften über den Beton, während er geprügelt und gestoßen wurde, und machten schlurfende Geräusche, die wie ein Flüstern klangen. Dann leerten die Männer seine Taschen, fanden eine Brieftasche und nahmen ihm die Uhr ab. Schließlich ließen sie ihn auf dem Gehsteig in sich zusammensacken. Der Mann mit der Tätowierung versetzte ihm noch drei Tritte in den Magen und sagte dann zu einem der anderen: »Bring mir seine Schuhe. Die zieh ich zur Kirche an.«

»Hol sie dir doch selbst. Mir passen die nicht.«

Der Typ mit der Tätowierung fluchte. »Faule Sau.« Er zog dem alten Mann die Schuhe von den Füßen, und gelb karierte Socken kamen zum Vorschein, die zur Strickjacke passten.

»He«, sagte Simon, aus entsetzter Starre aufgeschreckt. »Was macht ihr da?«

Aber sie machten nichts mehr. Sie waren jetzt fertig.

»Willst du auch was abhaben?«, fragte die Glatze.

»Nein, danke.«

»Vergiss den Kerl«, sagte der Tätowierte.

»Zwei auf einen Streich wär doch auch nicht übel.«

»Scheiß auf den. Ich bin hungrig. Gönnen wir uns ’n Taco.«

»Hast dieses Mal noch Schwein gehabt, Arschloch.«

Sie drehten sich um und gingen weg. Simon blieb noch einen Augenblick reglos stehen, um sich zu vergewissern, dass sie nicht wiederkamen, dann überquerte er im Laufschritt die Straße, hinüber zu der Stelle, wo der alte Mann bewegungslos am Boden lag.

Er kniete nieder – von der Zigarette zwischen seinen trockenen Lippen stieg ihm beißender Rauch in die Augen – und tastete nach dem Puls. Nichts zu spüren. Wenn es da je einen Pulsschlag gegeben hatte, war er verklungen. Der alte Mann lebte nicht mehr.

Am Wilshire fand er ein Telefon, einen kleinen Metallkasten an einer Backsteinmauer, und rief die Polizei. Er wollte nicht von seinem Apparat zu Hause anrufen, denn ihm war nicht danach, die Polizei zu empfangen und stundenlang über einen Vorfall befragt zu werden, der gerade mal dreißig Sekunden gedauert hatte. Er sagte der Frau, die das Gespräch entgegennahm, er sei Zeuge eines Straßenraubs geworden. Drei Männer seien über einen alten Mann mit deutschem Akzent hergefallen. Er sagte, wo es geschehen war, und beschrieb die drei Männer so gut er sie auf die Entfernung und bei dem schwachen Licht hatte erkennen können. Er sagte ihr, der alte Mann sei tot. Als ihn die Frau nach seinem Namen fragte, hängte er auf und ging davon.

Er durchquerte die leere Eingangshalle, stieg die knarrenden Stufen hinauf und ging über den leopardenfleckigen Bodenbelag des Korridors zu seiner Wohnung. Er hörte, wie sich die koreanischen Eheleute vier Türen weiter gegenseitig anschrien (konnte sie aber nicht verstehen), und irgendwo in der Nähe sah sich jemand eine Fernsehkomödie an. Das Stakkatogelächter vom Band, das in Abständen aufbrauste, klang wie ein Rasenmäher, der sich weigerte anzuspringen. Er schloss die Wohnungstür auf und trat ein. Bevor er die Tür wieder hinter sich zuzog und so das Vierzigwattlicht der nackten Glühbirnen an der Flurdecke aussperrte, tastete er im Dunkeln nach dem Schalter an der Zimmerwand und betätigte ihn. Mit einem Klicken erwachte die alte gelbe Lampe mit dem fleckigen Papierschirm zum Leben und beleuchtete den Raum und die Hochglanzeinbände einiger Taschenbuchromane, die auf dem Beistelltisch unter ihr lagen. Simon schloss die Tür und schob die Kette vor.

Das Wohnzimmer war ungefähr doppelt so groß wie das Schlafzimmer. Die Tapeten an den Wänden waren vergilbt, und noch immer waren weiße Flecken zu erkennen, wo der Vormieter Bilder aufgehängt hatte, rechteckige Beweise dafür, dass hier einmal jemand anders gewohnt hatte. Immer wenn jemand im Haus seine Toilette spülte oder sein Geschirr abwusch, schüttelten sich die rostigen Rohre hinter den Wänden, schepperten und wehklagten mit Gespensterstimmen. Das braunrot gestreifte Sofa war in der Mitte durchgesessen, und durch die Löcher im Bezug quoll das Rosshaarpolster hervor. Der Couchtisch vor dem Sofa war mit Holzimitat beschichtet, das sich an den Ecken löste und hier und da abgesprungen war, sodass der Pressspan darunter zum Vorschein kam. Auf dem Tisch stand ein mit Wasser gefülltes Einmachglas, in dem ein Goldfisch schwamm.

»Hallo, Francine. Wie geht es dir?«

Er streute Futterflocken ins Wasser, die sich auf der Oberfläche zu einem hauchdünnen Schleier webten. Francine öffnete ihr winziges schwarzes Maul und nippte kleine Häppchen. Er stand ein paar Minuten schweigend daneben und sah ihr beim Fressen zu, dann ging er in die Küche, um sich das Abendessen zuzubereiten.

Der Whiskey war gut und stark und kalt auf den Eiswürfeln im Tumbler. Simon leerte es und schenkte sich ein weiteres ein, bevor er ins Wohnzimmer zurückging, das Glas in der einen Hand und die halb volle Flasche in der anderen.

Im Schein der Lampe setzte er sich auf das Sofa, schlürfte seinen kalten Whiskey und lauschte einer welligen Schallplatte von Skip Jones. Die Musik tönte durch den rostigen Trichter eines alten Victrola-Phonographen, den er drei Monate zuvor in einer Seitengasse gefunden, mit nach oben gebracht und repariert hatte. Er trank noch zwei weitere Gläser Whiskey, während die Schallplatte lief. Als sie zu Ende war, trank er in aller Stille den Rest Whiskey aus.

Im Schlafzimmer zog er sich bis auf Unterwäsche und T-Shirt aus. Er schlüpfte in seine grünen Pyjamahosen und kroch unter seine braune Decke. Es war ein schönes Gefühl, im Bett zu liegen. Er stellte den Wecker, schluckte trocken eine Tablette, setzte seine Brille ab und legte sie auf den Fußboden. Er berührte die wunde Stelle hinter dem Ohr und spürte den stechenden Schmerz, den die Berührung auslöste. Die Arme neben sich ausgestreckt, starrte er an die von Rissen überzogene Decke. Die gelegentlichen leichten Erdbeben hatten sie brüchig gemacht. Bei geschlossenem Schlafzimmerfenster waren die Geräusche vom Wilshire nur gedämpft wahrzunehmen, und wenn man nicht genau hinhörte, ergaben sie zusammen nur ein leises elektrisches Summen, wie man es von einem Eisschrank kennt. Aber Simon hörte hin. Er lauschte auf die Gespräche der Menschen, die unten auf dem graffitibedeckten Gehsteig vorübergingen. Der Klang ihrer Stimmen wirkte beruhigend. Sie machten ihm bewusst, dass er zwar irgendwie ausgegrenzt, der Rest der Welt aber immer noch nahe war. Es war eigenartig: Gewöhnlich fühlte er sich unter Menschen nicht wohl, aber ihm gefiel die Gewissheit, dass sie da waren.

»… schwirrten umher wie Radiowellen und …«

»… was ich nicht verstehe, ist …«

»… und sie bringen dir bei, es für ganz normal zu halten. Das nenn ich Gehirnwäsche, und das ist …«

Simon schloss die Augen. Er hörte das Herz in seiner Brust schlagen. Er war mit einem Herzgeräusch zur Welt gekommen. Die Aortenklappe schloss sich nicht vollständig, nachdem das Blut hindurchgeströmt war, sodass etwas davon mit hörbarem Geräusch zurückfloss und drohte, das ganze System lahmzulegen. Simon war noch ein Teenager gewesen, als man seine angestammte Herzklappe durch eine künstliche ersetzte, eine sogenannte Kugelkäfigprothese. Er nahm täglich Gerinnungshemmer; sie befanden sich in der orangefarbenen Flasche, die auf dem Boden neben seinem Bett stand. Eine Narbe lief mitten über seine Brust – dick wie ein Seil und knorpelig.

Allmählich verwandelte sich der Ton seines Herzschlags in den Klang einer Trommel, und Simon fand sich auf dem Gehsteig wieder, als Beobachter einer Umzugsparade. Die Kapelle marschierte vorüber, angeführt von einem Mann, der eine große Basstrommel vor der Brust trug: Bumm-Bumm, Bumm-Bumm. Er sah sich um, ließ den Blick über die anderen Zuschauer schweifen und stellte fest, dass oben auf ihren Hälsen kegelförmige Trichter saßen, die, wie er irgendwie wusste, in andere Universen führten. Alle Trichter waren auf ihn gerichtet, sahen ihn an, drohten, ihn in ihre wirbelnde Leere zu saugen. Ihre Körper waren normal. Sie trugen Anzüge und Krawatten und Shorts und Kleider, aber alle waren sie gekrönt von diesem wirbelnden Vakuum. Sie kamen auf ihn zu, Simon wandte sich von der Parade ab und sah sich nach einem Fluchtweg um, aber …

Eine Erschütterung ließ die Wohnung erbeben und riss ihn aus den Anfängen des Traums. Er öffnete die Augen und sah die Decke des Raums und hörte Holzsplitter wie Schrapnell über den Fußboden des Wohnzimmers prasseln.

Dann war es wieder still.

Er setzte sich auf, wobei seine Bettdecke verrutschte, und lauschte.

In seinem Hirn schwappte der Whiskey, er sah die Welt wie durch ein Weichzeichnerobjektiv, an den Rändern mit Vaseline zugekleistert.

»Ich weiß, dass du da bist«, sagte eine Stimme. »Ich hab gesehen, wie du gekommen bist.«

Simon hörte Schritte, ein dumpfes Geräusch, als etwas zu Boden fiel. Im Wohnzimmer? In der Küche? Dann wieder Stille.

Er streckte die Hand aus und tastete über die schmutzigen Fußbodenbretter hin und her, bis seine Finger die Brille fanden. Er hob sie auf und setzte sie sich auf die Nase. Unwillkürlich sog er zischend die Luft ein, als er den Schmerz hinter seinem Ohr spürte. Er stand auf und bewegte sich so leise wie möglich zum Lichtschalter an der Wand. Er legte ihn um, aber es ertönte nur ein Klicken, während das Zimmer dunkel blieb.

Wusste der Eindringling, wo sich der Sicherungskasten befand? Hatte er …

Er ging zur Kommode hinüber. Er meinte, dort eine Taschenlampe zu haben, inmitten der vielen anderen Dinge, die keinen eigenen Platz besaßen. Er tastete über die dunkle Oberfläche, bemüht, die Taschenlampe zu finden, ohne etwas anderes umzustoßen oder ein Geräusch zu machen. Er spürte Schweißtropfen auf der Stirn, und der kürzlich noch beruhigende Klang seines Herzschlags hatte sich in das Stampfen und Toben eines wilden Tieres verwandelt, das sich aus seinem Käfig zu befreien versucht. In seinen Ohren klang jeder Laut, den er verursachte, wie kolossales Getöse. Er war sicher, dass der Eindringling alles hörte – seinen Herzschlag und den schweren Atem und das Geräusch seiner Finger, die über die diversen vermeintlichen Taschenlampen auf der Ablagefläche seiner Kommode tasteten.

Schließlich berührten seine Finger einen Gegenstand mit glatter Plastikoberfläche – das, was er suchte. Er nahm ihn auf, drückte mit dem Daumen auf einen schwarzen Plastikknopf, und aus der Taschenlampe schoss ein greller Lichtstrahl durch die Dunkelheit. Panisch – Scheiße, das sieht er doch – schaltete er die Lampe sofort wieder aus.

Gleich darauf klickte er sie wieder an.

Er drehte sich um und ließ den Strahl durch die Dunkelheit streifen, sodass die wandernden Lichtkreise das Schlafzimmer allmählich sichtbar machten – leere Ecke, Wandschrank, kahle weiße Wand, Matratze, bedeckt von zerknüllter Decke, rissige Tür zum schmalen Wohnungsflur, der in der einen Richtung zum Bad führte und in der anderen zum Wohnzimmer.

Auf der anderen Seite der Schlafzimmertür herrschte stumme Dunkelheit.

Er fürchtete fast, wenn er die Tür öffnete, würde sich vor ihm eine unendliche Leere auftun, gesprenkelt von stecknadelkopfkleinen Sternen und übersät von grauen Planeten, die gespenstergleich in giftigen Nebelwolken dahintrieben.

Er schluckte.

Warum war von dem Eindringling nicht das geringste Geräusch zu hören? Was trieb er da draußen?

Simon ging zur Schlafzimmertür und zog sie vorsichtig auf. Die Scharniere quietschten. Auf der anderen Seite befand sich nur der Flur – keine unendliche Leere, keine stecknadelkopfkleinen Sterne und keine Gespensterplaneten –, nur ein schmaler Streifen Fußboden, der von einem Raum zum anderen führte.

Er trat in den Flur hinaus und wandte sich nach rechts, zum Bad, wo die Wohnung an einer Backsteinwand endete. Er würde von dort aus das Apartment systematisch durchkämmen.

Er probierte den Schalter an der Tür, und wieder geschah nichts.

Im Dunkeln bestätigte er sich selbst mit einem Nicken: Der Eindringling hatte sich tatsächlich am Sicherungskasten zu schaffen gemacht. Nur durch das Badfenster drang jedoch ein wenig Licht herein, und man konnte draußen die Wand eines weiteren Apartmenthauses sehen.

Vor dem Fenster wand sich eine rostige Feuertreppe, auf der ein Topf mit einem toten Ficus stand, der aussah wie Charlie Browns Weihnachtsbaum und bereits dort gestanden hatte, als er eingezogen war, wahrscheinlich hatte ihn der letzte Mieter oder gar der vorletzte dort zurückgelassen. Im Frühling, als Simon in die Filboyd Apartments eingezogen war, hatte eine Trauertaube ihre Eier in den Topf gelegt, und Simon hatte verfolgt, wie sie sie ausbrütete und die jungen Vögel schließlich flügge wurden. Seltsam, dass sich sogar in einer Millionenstadt, die nur noch aus Beton und Glas und unmenschlicher Technik bestand, kleine Nischen fanden, in denen der Lauf der Dinge weiterhin von der Natur bestimmt wurde.

In der Wohnung direkt gegenüber brannte noch Licht, und hinter dem geschlossenen weißen Rollo erkannte Simon eine Silhouette, die sich wie ein Mensch bewegte. Es war die Silhouette eines Mannes. Sie tat etwas, wozu sie anscheinend häufig mit dem Arm wedeln musste. Simon wandte sich vom Fenster ab. Er führte den Lichtkegel der Taschenlampe über die Wände seines Badezimmers, schaute in alle Ecken, schaute in die Badewanne und stellte fest, dass der Raum leer war. Bis auf ihn selbst.

Er verließ das Bad und schloss behutsam die Tür hinter sich. Er schluckte und ging den Flur hinunter zum Wohnzimmer. Im Vorübergehen überzeugte er sich noch davon, dass sein Schlafzimmer immer noch leer war. Jeder Schritt auf den knarrenden Fußbodendielen verriet dem Eindringling, wo er sich gerade befand, während er selbst nicht den geringsten Laut von dem Mann vernahm, der in seiner Wohnung war.

Er fürchtete, in eine Falle zu laufen, aber es gab nur die Alternative, im Schlafzimmer zu hocken und darauf zu warten, dass der Eindringling hereinkam. Keine Alternative.

Am Ende des Flurs schwenkte er den Lichtstrahl links und rechts über die Wohnzimmerwände, richtete ihn in die Ecken, erblickte niemanden und nichts. Die Eingangstür stand offen, und die Vierzigwattbirne aus dem Korridor warf Licht ins Zimmer, schälte das Sofa aus der Dunkelheit und den Beistelltisch und Francine, den Goldfisch, in ihrem Einmachglas, dem litergroßen Lebensraum, der ihre gesamte Welt ausmachte.

Er ging zur Eingangstür und sah hinaus in den Korridor, erst links, dann rechts – niemand da, keine Gefahr –, und stieß dann die Tür zu. Sie fiel nicht ins Schloss. Sondern schwang wieder zurück, bis sie eine Handbreit offen stand und Licht vom Korridor hereinließ.

Wer auch immer in seine Wohnung eingebrochen war, überlegte er, musste sich wohl umgesehen und festgestellt haben, dass er hier falsch war – so ein Scheiß aber auch –, und war dann wieder verschwunden. Simon wandte sich von der Tür ab. Er könnte einen Stuhl davorstellen, damit sie für den Rest der Nacht nicht wieder aufging. Morgen würde er Leonard anrufen und berichten, was geschehen war. Es brachte nichts, die Polizei zu rufen, wenn der Mann bereits fort war; soweit er es beurteilen konnte, war nichts gestohlen worden. Außer seiner Schallplattensammlung besaß er nichts, was sich zu stehlen lohnte.

Aber dann schnellte ein schwarzer Schatten aus dem Dunkel der Küche hervor und legte seine Hände um Simons Kehle, und diese Hände waren ganz gewiss keine Schatten. Sie fühlten sich an wie Fleisch und Knochen. Sie fühlten sich an wie Mord.

»Stirb, du Dreckskerl.«