Diener der Dunkelheit - Donato Carrisi - E-Book

Diener der Dunkelheit E-Book

Donato Carrisi

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Beschreibung

An einer Landstraße wird eine orientierungslose junge Frau aufgegriffen. Sie wird in ein Krankenhaus gebracht, wo sich herausstellt, dass es sich um Samantha Andretti handelt, die 15 Jahre zuvor als damals 13-Jährige spurlos verschwand. Nach und nach kehrt Samanthas Erinnerungsvermögen zurück: Sie wurde in einem unterirdischen Labyrinth gefangen gehalten, von einem Mann, der eine Hasenmaske trug. Dieser verstörende Bericht ruft Bruno Genko auf den Plan, der vor 15 Jahren von Samanthas verzweifelten Eltern als Privatdetektiv engagiert worden war. Genko ist unheilbar krank und weiß, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Er beschließt, die Zeit, die ihm noch bleibt, zu nutzen, um Samanthas Fall doch noch zu lösen. Als er seine alten Fährten wieder aufnimmt, stößt er in einem Keller auf einen Karton mit grausigen Kinderzeichnungen. Unwissentlich setzt Genko damit eine Kette von Ereignissen in Gang, die auf erschütternde Weise alles infrage stellen, was er, die Polizei und sogar Samantha selbst über den Mann mit der Hasenmaske zu wissen glaubten.

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Seitenzahl: 370

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Donato Carrisi

Diener der Dunkelheit

Thriller

Aus dem Italienischen von Verena von Koskull

Für Antonio,

meinen Sohn, meine schönste Geschichte

1

Während für den Großteil der Menschheit an jenem 23. Februar ein Tag wie jeder andere begann, brach für Samantha Andretti der womöglich wichtigste Tag ihres jungen Lebens an.

Tony Baretta wollte mit ihr reden.

Wie die Teufelsbesessene aus einem Horrorfilm hatte sich Sam die ganze Nacht im Bett hin und her gewälzt und versucht, sich einen Reim darauf zu machen, was einen der süßesten Jungs der Schule – und der gesamten Schöpfung – dazu trieb, ausgerechnet mit ihr ein paar zusammenhängende Sätze wechseln zu wollen.

Angefangen hatte alles am Tag zuvor. Sie war natürlich nicht direkt und von ihm persönlich gefragt worden. Für gewisse Dinge galten unter Teenagern schließlich feste Regeln. Klar, die Initiative ging immer vom Interessenten aus. Doch dann folgte ein ganzer Rattenschwanz von Aktionen. Tony hatte sich an Mike aus seiner Clique gewandt, der es an Sams Banknachbarin Tina weitergegeben hatte. Und Tina hatte es ihr gesagt. Ein einfacher, klarer Satz, der jedoch im unergründlichen Universum der Mittelstufe alles Mögliche bedeuten konnte.

»Tony Baretta will mit dir reden«, hatte Tina ihr während der Sportstunde freudig hopsend mit leuchtenden Augen und strahlender Stimme ins Ohr geflüstert – eine wahre Freundin freut sich schließlich von ganzem Herzen, wenn einem etwas Schönes passiert.

»Woher weißt du das?«, hatte Sam gierig gefragt.

»Von Mike Levin, er hats mir gesagt, als ich vom Klo kam.«

Wenn Mike sich an Tina gewandt hatte, dann war die Sache vertraulich und sollte es auch bleiben.

»Was genau hat er denn gesagt?«, hatte Sam nachgehakt, um sicherzugehen, dass Tina ihn wirklich richtig verstanden hatte. Die gesamte Schule erinnerte sich noch allzu gut an die Geschichte von der armen Gina D’Abbraccio: Als ein Junge sie gefragt hatte, ob sie schon einen Begleiter für den Abschlussball habe, hatte sie seine Neugier mit einer Einladung verwechselt und dann in bodenlangem, pfirsichfarbenem Tüll in Tränen aufgelöst auf ein Phantom gewartet.

»Er hat gesagt: ›Sag Samantha, dass Tony mit ihr reden will‹«, hatte Tina wortgetreu wiederholt.

Und Samantha hatte sie den Satz wieder und wieder hersagen lassen, um sicherzugehen, dass Tina nichts verdrehte oder nicht irgendein Alien beschlossen hatte, ihre Freundin zu klonen, um sie reinzulegen.

Dass es über das »Wann« und »Wo« der Unterhaltung mit Tony keine Klarheit gab, machte Sam zusätzlich zu schaffen. Vielleicht würde sie im Chemielabor stattfinden oder in der Bibliothek, überlegte sie. Oder hinter der Tribüne der Sporthalle, in der Tony Baretta mit seiner Basketballmannschaft und Samantha mit ihrem Volleyballteam trainierten. Beim Betreten oder Verlassen der Schule passierte es ganz bestimmt nicht, und auch nicht in der Mensa oder auf den Fluren – zu viele neugierige Augen und Ohren. Doch die Qual, nichts Genaueres zu wissen, hatte auch etwas Schönes. Anders hätte Sam das seltsame Auf und Ab zwischen Euphorie und Herzensschwere, das diese schlichte Aufforderung ausgelöst hatte, nicht beschreiben können, denn immerhin konnte der Anlass des Treffens genauso gut eine Enttäuschung wie eine schöne Überraschung sein. Dennoch war sie dankbar – ja, dankbar – für das, was ihr gerade widerfuhr.

Und es passierte ausgerechnet ihr, Samantha Andretti, und keiner anderen!

Ihre Mutter hatte unrecht, wenn sie sagte, gewisse Dinge, die man mit dreizehn erlebe, wisse man erst als Erwachsene richtig zu schätzen. Denn in diesem Moment wärmte sich Sam an einem Glück, das ganz allein ihr gehörte und das niemand sonst auf der Welt hätte empfinden oder begreifen können. Es machte sie zu einer Auserwählten … Oder vielleicht war sie nur eine törichte Träumerin, die kurz davor war, mit der Nase auf eine grausame Wahrheit gestoßen zu werden. Immerhin war Tony Baretta berüchtigt dafür, sich bei Mädchen wichtigzumachen.

Tatsächlich hatte Tony sie nie großartig interessiert. Zumindest nicht so. Die Natur hatte mit ihrem geheimnisvollen Werk an ihrem Körper begonnen, und Sam hatte sich schon an die kleine monatliche Strafe gewöhnt, die sie einen Großteil ihres Lebens würde abbüßen müssen, doch bis zu dem Moment waren ihr die positiven Seiten dieser »Wandlung« verborgen geblieben. Samantha empfand sich nicht als besonders hübsch – vielleicht ein bisschen, aber es hatte bislang keine Bedeutung gehabt. Die knospenden Rundungen, die die Jungs plötzlich neugierig machten, waren für sie selbst ebenso überraschend.

Waren sie Tony aufgefallen? Hatte er es darauf abgesehen? Wollte er ihr unters T-Shirt fassen oder sogar – jesusvergibmir – weiter unten hin?

Deshalb war Sam am Morgen des 23. Februar – dem Tag der Tage! –, während sie übermüdet von der schlaflosen Nacht zusah, wie das erste Morgenlicht über ihre Zimmerdecke kroch, zu dem Schluss gekommen, dass Tony Barettas Satz nicht wirklich gefallen war und Einbildung sein musste. Oder womöglich hatte sie zu viel darüber nachgedacht, und die Vorstellung hatte auf den verschlungenen Pfaden ihrer blühenden Teenagerfantasie an Glaubwürdigkeit verloren. Es gab allerdings nur eine Möglichkeit, der Sache auf den Grund zu gehen. Und so blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre müden Glieder aus dem verschwitzten Bett zu quälen, sich fertig zu machen und zur Schule zu gehen.

Sam ignorierte die Vorwürfe ihrer Mutter, sie habe nicht genug gefrühstückt – sie konnte kaum atmen, geschweige denn etwas essen, verdammt! –, warf sich den Rucksack über die Schulter und schlüpfte hastig aus der Wohnungstür, um mit fatalistischer Furchtlosigkeit ihrem unausweichlichen Schicksal entgegenzugehen.

Um kurz vor acht waren die Straßen des Viertels, in dem die Familie Andretti lebte, so gut wie menschenleer. Wer einer Arbeit nachging, war schon vor einer ganzen Weile aufgebrochen, die Arbeitslosen waren damit beschäftigt, den Rausch der vergangenen Nacht auszuschlafen, die Alten warteten auf die wärmsten Stunden des Tages, um ihren gewohnten Spaziergang zu machen, und die Studenten würden sich erst in allerletzter Minute auf den Weg machen. Auch für Sam war es eine unübliche Zeit. Sie wäre gern bei Tina vorbeigegangen, wie sie es sonst häufig tat. Doch dann überlegte sie, dass ihre Freundin wahrscheinlich noch nicht fertig wäre und sie nicht die Geduld hatte, auf sie zu warten.

Nicht heute.

Auf ihrem Weg den grau gepflasterten Gehsteig entlang begegnete sie nur einem Postboten, der nach der richtigen Adresse suchte, um seine Lieferung loszuwerden. Sie bemerkte ihn nicht einmal, und der Mann sah das Mädchen kaum, das gelassen an ihm vorbeischlenderte – niemand hätte ihr den inneren Aufruhr angesehen. Sam ging an dem grünen Haus der Macinskys mit dem grässlichen schwarzen Köter vorbei, der sich hinter die Hecke kauerte und sie jedes Mal zu Tode erschreckte, dann an der kleinen Villa, die früher einmal Frau Robinson gehört hatte und jetzt in sich zusammenfiel, weil die Angehörigen sich über das Erbe stritten. Sie passierte den Fußballplatz hinter der Kirche der Heiligen Barmherzigkeit. Dort gab es eine Grünanlage mit einem kleinen Spielplatz mit Schaukeln, einer Rutsche und einer großen Linde, an der Pater Edward die Bekanntmachungen mit den Gemeindeaktivitäten anschlug. Trotz der Stille ringsum konnte man am Ende der menschenleeren Straße bereits die mehrspurige Allee sehen, wo der Verkehr hektisch in Richtung Zentrum floss.

Doch Sam nahm all das nicht wahr.

Die Landschaft vor ihren Augen war wie eine Leinwand, auf die ihr Geist das lächelnde Gesicht von Tony Baretta projizierte. Ihre Füße folgten dem verinnerlichten, Hunderte Male gegangenen Schulweg wie von selbst.

Sie hatte die halbe Strecke bereits hinter sich, als Sam plötzlich der Zweifel ergriff, ob sie für das Treffen gut genug aussah. Sie trug ihre Lieblingsjeans – die mit dem Strass auf den hinteren Taschen und den kleinen Rissen über den Knien – und unter der ein paar Nummern zu großen schwarzen Bomberjacke das weiße Sweatshirt, das ihr Vater ihr von seiner letzten Dienstreise mitgebracht hatte. Doch das eigentliche Problem waren die Augenringe von der schlaflosen Nacht. Sie hatte versucht, sie mit dem Make-up ihrer Mutter zu kaschieren, doch so richtig überzeugt war sie nicht – sie durfte sich noch nicht schminken und hatte deshalb keine Übung darin.

Sie verlangsamte ihren Schritt und musterte die am Straßenrand geparkten Autos. Den metallicgrauen Dodge und den beigefarbenen Volvo schloss sie sofort aus, die waren zu dreckig. Dann entdeckte sie einen weißen Minivan mit verspiegelten Fenstern. Samantha überquerte die Straße und betrachtete sich. Nachdem sie festgestellt hatte, dass das Make-up die Augenringe gut verdeckte, verharrte sie noch vor dem Van und bewunderte ihr langes, kastanienbraunes Haar. Sie liebte ihre Haare. Und trotzdem fragte sie sich, ob sie wirklich hübsch genug für Tony war, und versuchte, sich mit seinen Augen zu sehen. Was findet er an mir? Und während sie noch darüber nachdachte, glitt ihr Blick für einen winzigen Moment durch das Spiegelglas.

Was ist das denn?, fragte sie sich. Sie schaute genauer hin.

Im Dunkel auf der anderen Seite der Scheibe hockte ein riesiger Hase und starrte sie reglos an.

Sicher, Samantha hätte weglaufen können – etwas in ihr drängte sie, die Beine in die Hand zu nehmen, und zwar schleunigst –, doch sie tat es nicht. Dieser abgrundtiefe, hypnotische Blick faszinierte sie. Das kann doch nicht wahr sein, sagte sie sich. Das kann gar nicht wahr sein, wiederholte sie mit der typischen Ungläubigkeit des Opfers, das von seinem Schicksal unerklärlich angezogen ist, statt ihm zu entfliehen.

Voll krankhafter Neugier starrten sich das junge Mädchen und der Hase eine endlose Weile lang an.

Dann, ganz plötzlich, glitt die Schiebetür des Minivans zur Seite, und Sams Spiegelbild entzog sich ihrem Blick. Während ihr Kindergesicht vor ihren Augen verschwand, konnte sie keine Angst darin entdecken. Allenfalls einen Funken Überraschung.

Als der Hase sie in seinen Bau zerrte, ahnte Sam nicht, dass sie sich für lange, lange Zeit zum allerletzten Mal gesehen haben sollte.

2

Das Erste, was aus dem Dunkel auftauchte, waren die Geräusche, wie ein Orchester, das vor einem Konzert seine Instrumente stimmt. Wirre und doch harmonische, sanfte Klänge. Gleichmäßige, mechanische Töne. Das Hin und Her von Rollwagen, das Klirren von aneinanderstoßendem Glas. Gedämpftes Telefonklingeln. Leichte, geschäftige Schritte. Dazwischen unverständliche, ferne, aber eindeutig menschliche Stimmen – Gott, wie lange hatte sie keine Stimmen mehr gehört? Und sie hörte ihren eigenen Atem. Rhythmisch und dumpf. Wie das Atmen in einer Höhle. Etwas drückte auf ihr Gesicht.

Das Zweite, was ihr matter Verstand wahrnahm, war der Geruch. Desinfektionsmittel. Und Medizin. Ja, Medizin, dachte sie.

Sie versuchte, sich zu orientieren. Sie hatte kein Körpergefühl, begriff nur, dass sie auf dem Rücken lag. Sie hielt die Augen geschlossen, denn ihre Lider waren schwer, so schwer. Doch sie musste sich zwingen, sie zu öffnen. Sie musste sich beeilen, ehe die Ereignisse sie einholten.

Die Gefahr kontrollieren. Das ist die einzige Möglichkeit.

Die Stimme, die gerade gesprochen hatte, kam irgendwo aus ihrem Inneren. Sie war keine Erinnerung. Sie war ein Instinkt, von der Zeit und der Erfahrung geschärft. Sie hatte lernen müssen zu überleben. Deshalb war ein Teil von ihr aller Benommenheit zum Trotz hellwach.

Mach die Augen auf – mach die verdammten Augen auf! Sieh dich um.

In ihrem Blickfeld öffnete sich ein winziger Schlitz. Tränen verschleierten die Iris – nicht aus Rührung, sondern aus Unwillen; inzwischen gönnte sie diesem Mistkerl nur noch selten die Genugtuung, sie weinen zu sehen. Einen Moment lang fürchtete sie, auf Dunkelheit zu treffen, doch dann nahm sie ein bläuliches Licht wahr, das den Raum um sie herum erfüllte.

Als wäre sie auf dem Grund des Ozeans. Ruhig und geborgen.

Das konnte ein mieser Trick sein, das wusste sie genau, sie hatte am eigenen Leib erfahren, wie gefährlich es war, einer Sache zu trauen. Kaum hatten sich ihre Augen an die fremden Einflüsse gewöhnt, bewegte sie sie hin und her, um die Umgebung zu erfassen.

Sie lag auf einem Bett. Das blaue Licht stammte von Neonröhren an der Decke. Um sie herum ein geräumiges Zimmer mit weißen Wänden. Kein Fenster. Doch dort auf der linken Seite war eine riesige Spiegelwand.

Er mag keine Spiegel, sagte ihre innere Stimme. Wie war das möglich?

Und dann sah sie eine angelehnte Tür, und dahinter einen erleuchteten Flur. Dorther rührten also die Geräusche.

Das war nicht real. Es ergab überhaupt keinen Sinn. Wo bin ich?

Vor der Tür stand, mit dem Rücken zum Zimmer, eine dunkel gekleidete menschliche Gestalt – sie konnte sie im schmalen Türspalt erkennen. Eine Pistole hing an ihrer Hüfte. Was hat das zu bedeuten?

Jetzt erst bemerkte sie, dass unweit des Bettes ein Tischchen mit einem Mikrofon und einem Aufnahmegerät stand. Daneben ein leerer Metallstuhl. Über der Rückenlehne hing ein Herrenjackett. Er ist hier, dachte sie. Er wird zurückkommen. Eine Woge der Angst stieg in ihr auf.

Bloß keine Panik, sagte sie sich. Die Angst ist der eigentliche Feind. Ich muss weg von hier.

Das würde allerdings nicht einfach werden, bestimmt fehlte ihr die Kraft. Sie versuchte, die Arme zu bewegen, und bohrte die Ellenbogen in die Matratze, um sich aufzurichten. Langes, kastanienbraunes Haar fiel ihr über das Gesicht. Ihre Glieder waren schwer, sie hob den Oberkörper ein wenig an und sackte sofort wieder zurück. Etwas klammerte sich an ihr Gesicht: eine Sauerstoffmaske, die mit einem Wandanschluss verbunden war. An ihrem Arm hing ein Tropf. Sie zog an dem Schlauch, und die Nadel rutschte aus der Vene. Als sie sich von der Maske mit dem wohltuenden Gas befreite, blieb ihr der Atem weg. Hustend versuchte sie, die Luft einzusaugen, die viel dichter war als der frische Hauch, den sie eben noch geatmet hatte. Wimmelnde schwarze Pünktchen begannen vor ihren Augen zu tanzen.

Die Dunkelheit kehrte zurück, doch sie gab nicht auf.

Sie schob das Laken zur Seite, das sie von der Taille abwärts bedeckte, und konnte durch die Schattenflecken, die ihren Blick trübten, einen schmalen Schlauch erkennen, der von ihrer Leiste in einen durchsichtigen, mit gelblicher Flüssigkeit gefüllten Beutel führte.

Noch immer auf dem Rücken liegend, bewegte sie das rechte Bein, um aus dem Bett zu steigen. Doch etwas hielt das linke Bein zurück. Ein Gewicht. Überrascht von dem unerwarteten Ballast verlor sie das Gleichgewicht und stürzte. Sie landete auf einer harten, kalten Oberfläche und schlug mit dem Gesicht auf. Beim Aufprall des linken Beines ertönte ein dumpfes, hartes Poltern.

Irgendjemand musste den Lärm mitbekommen haben, denn sie konnte hören, wie die Tür aufgestoßen und dann geschlossen wurde. Dann nahm sie eine Gestalt wahr, die hastig auf sie zukam. Etwas klimperte an deren Hüfte – ein Karabiner voller Schlüssel. Die Person griff ihr unter die Achseln. »Ganz ruhig«, sagte eine männliche Stimme, und dann zog der Mann sie hoch. »Ganz ruhig«, wiederholte er, ihren schlaffen Körper behutsam stützend. »Es ist nichts passiert.«

Sie meinte zu ersticken, ihr wurde schwarz vor Augen. Kraftlos ließ sie den Kopf gegen die Brust des Mannes sacken. Er roch nach Aftershave und trug einen Schlips, was ihr grausam und absurd vorkam.

Monster tragen keinen Schlips.

Der Mann hievte sie aufs Bett, strich ihr das Haar aus dem Gesicht und setzte ihr die Atemmaske wieder auf. Wohltuend strömte der Sauerstoff in ihre Lungen. Nachdem er sie sorgfältig hingelegt hatte, schob er ihr ein Kissen unter das linke Bein, das vom Knöchel bis über das Knie eingegipst war. »So ist es bequemer«, sagte er fürsorglich. Dann griff er nach der Infusionskanüle und schob die Nadel wieder in ihren Arm.

Verdattert folgte sie jedem seiner Handgriffe mit den Augen. Sie war Freundlichkeit nicht mehr gewohnt. Erst recht nicht die Gegenwart eines Menschen.

Sie versuchte, ihn richtig in den Blick zu bekommen. Kannte sie ihn? Sie meinte, ihn noch nie gesehen zu haben. Er war vielleicht um die sechzig, ein sportlicher Typ. Er trug eine runde Brille mit dunklem Gestell. Sein Haar war zerzaust. Außer dem am Gürtel baumelnden Karabiner fiel ihr die Ausweiskarte mit Foto auf, die an der Brusttasche seines blauen, bis zu den Ellenbogen aufgekrempelten Hemdes klemmte.

Als er fertig war, griff der Mann nach einer dampfenden Tasse, die er zuvor auf dem Fußboden abgestellt haben musste, und stellte sie auf den Nachttisch, auf dem auch ein weißes Telefon stand.

Ein Telefon?Das kann nicht sein!

»Wie fühlst du dich?«, fragte er.

Sie antwortete nicht.

»Kannst du sprechen?«

Sie schwieg und starrte ihn mit großen Augen an, bereit, ihm an die Kehle zu gehen.

Er beugte sich vor. »Verstehst du, was ich sage?«

»Ist das ein Spiel?« Der Satz kam heiser heraus, erstickt von der Sauerstoffmaske.

»Wie bitte?«, fragte er.

Sie räusperte sich. »Ist das ein Spiel?«, wiederholte sie.

»Tut mir leid, ich weiß nicht, was du meinst.« Dann fügte er hinzu: »Ich bin Doktor Green.«

Sie kannte keinen Doktor Green.

»Du bist im Saint Catherine, das ist ein Krankenhaus. Alles ist in Ordnung.«

Sie versuchte, das Gesagte zu begreifen, doch es gelang ihr nicht. Saint Catherine, Krankenhaus – Informationen, die außerhalb ihrer Reichweite lagen.

Nein, es ist nicht alles in Ordnung. Wer bist du? Was willst du von mir?

»Ich verstehe, dass das alles verwirrend für dich ist«, sagte der Mann. »Das ist ganz normal, es ist noch zu früh.« Einen Moment lang blickte er sie schweigend und voller Mitgefühl an.

Niemand schaut mich so an.

»Du wurdest vor zwei Tagen hierhergebracht«, fuhr er fort. »Du hast fast achtundvierzig Stunden geschlafen. Aber jetzt bist du wach, Sam.«

Sam? Wer ist Sam?

»Ist das ein Spiel?«, fragte sie zum dritten Mal.

Offenbar war dem Mann die Verstörtheit in ihrem Gesicht nicht entgangen, denn er wirkte besorgt. »Du weißt doch, wer du bist, oder?«

Sie überlegte einen Moment und wagte nicht zu antworten.

Der Mann zwang sich zu einem Lächeln. »Okay, eines nach dem anderen … Wo, glaubst du, befindest du dich gerade?«

»Im Labyrinth.«

Green warf einen kurzen Blick in Richtung Spiegel und wandte sich ihr dann wieder zu. »Ich habe doch gesagt, dass wir in einem Krankenhaus sind, glaubst du mir nicht?«

»Ich weiß nicht.«

»Okay.« Er nahm auf dem Metallstuhl Platz, beugte sich vertraulich vor, stützte die Ellenbogen auf die Knie und verschränkte die Finger. »Wieso glaubst du, in einem Labyrinth zu sein?«

Sie blickte sich um. »Es gibt keine Fenster.«

»Du hast recht, das ist seltsam. Das liegt daran, dass dies hier ein Spezialzimmer ist. Wir sind auf der Station für Brandverletzungen. Du wurdest hierhergebracht, weil deine Augen das Tageslicht nicht mehr gewohnt sind, es könnte ähnlich heftige Auswirkungen für dich haben wie eine Verbrennung. Deshalb auch die UV-Lampen.«

Beide ließen den Blick zu den blauen Neonröhren an der Decke wandern.

Dann drehte sich der Mann zu der Spiegelwand. »Von dort können die Ärzte und Angehörigen den Patienten sehen, ohne ihn dem Risiko einer Infektion auszusetzen … Ich weiß, es sieht aus wie ein Verhörraum bei der Polizei, wie man es aus dem Fernsehen oder dem Kino kennt«, sagte er scherzhaft. »Ich muss immer sofort daran denken.«

»Aber er mag keine Spiegel.«

Doktor Green wurde schlagartig ernst. »Er?«

»Spiegel sind verboten.« Tatsächlich hatte sie es bis zu diesem Augenblick vermieden, an die linke Wand zu sehen.

»Wer hat Spiegel verboten?«

Sie sagte nichts, das Schweigen musste genügen. Abermals schenkte der Mann ihr einen nachsichtigen Blick. Er war sanft wie eine Liebkosung, und trotzdem verspürte sie Wut. Sie wollte von diesem Mann nicht liebkost werden.

Ich lasse mich nicht verarschen.

»Na, dann gehen wir es mal anders an«, sagte Green, ohne eine Antwort abzuwarten. »Wenn Spiegel nicht mehr verboten sind und es hier einen gibt, dann bist du vielleicht nicht mehr im Labyrinth. Habe ich recht?«

Das klang einleuchtend. Doch nach so vielen Täuschungen – so vielen Spielchen – fiel es ihr schwer, das für möglich zu halten.

»Erinnerst du dich, wie du in das Labyrinth gekommen bist?«

Nein, nicht einmal daran erinnerte sie sich. Sie wusste, dass es ein »Draußen« gab, doch solange sie denken konnte, war sie immer dort drin gewesen.

»Sam.« Wieder sagte er diesen Namen. »Wir müssen jetzt ein paar Dinge besprechen, und wir haben leider nicht viel Zeit.«

Was meinte er?

»Auch wenn wir in einem Krankenhaus sind, bin ich kein richtiger Arzt. Ich bin nicht dafür zuständig, dich gesund zu machen, dafür gibt es hier sehr viel fähigere Leute, die sich um dich kümmern. Mein Job besteht darin, üble Kerle zu finden wie den, der dich entführt und im Labyrinth gefangen gehalten hat.«

Entführt? Wovon redet er?

Ihr drehte sich der Kopf, sie war sich nicht sicher, ob sie noch mehr hören wollte.

»Ich weiß, das ist schmerzhaft für dich, doch wir haben keine andere Wahl. Es ist unsere einzige Chance, ihn zu stoppen.«

Was sollte das heißen, »ihn stoppen«? Sie war sich nicht sicher, ob sie das wollte.

»Wie bin ich hierhergekommen?«

»Vermutlich konntest du fliehen«, entgegnete Green. »Vor zwei Tagen hat eine Streife dich in einer unbewohnten Gegend auf der Straße gefunden, unweit der Sümpfe. Du hattest ein gebrochenes Bein und warst unbekleidet.« Dann fügte er hinzu: »Deinen Schürfwunden nach zu urteilen, warst du vermutlich auf der Flucht.«

Sie musterte ihre mit kleinen Verletzungen übersäten Arme.

»Dass du es geschafft hast, ist ein wahres Wunder.«

Sie erinnerte sich an nichts.

»Du standst unter Schock. Die Beamten haben dich ins Krankenhaus gebracht und ihre Behörde verständigt. Sie haben die Vermisstenanzeigen durchsucht und sind auf deine Identität gestoßen – Samantha Andretti.«

Der Mann schob eine Hand in die Jacke über der Stuhllehne, zog einen Zettel hervor und hielt ihn ihr hin.

Sie musterte ihn. Es war ein Flyer mit dem Foto eines lächelnden Mädchens mit braunem Haar und braunen Augen. Unter dem Bild stand ein Wort in roten Druckbuchstaben.

VERMISST.

Ihr Magen zog sich zusammen. »Das bin ich nicht«, sagte sie und gab ihm den Zettel zurück.

»Es ist ganz normal, dass du so reagierst«, sagte Green. »Um dich gefügig zu machen und dich besser kontrollieren zu können, hat der Entführer dich mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt, man hat eine erhebliche Menge davon in deinem Blut gefunden. Aber keine Sorge, du hast schon große Fortschritte gemacht, seit man dich gefunden hat.« Er deutete auf den Tropf an ihrem Arm. »Du bekommst jetzt eine Art Gegenmittel. Und es funktioniert, denn jetzt bist du wach. Und bald wird auch die Erinnerung zurückkehren.«

Sie wollte ihm glauben – Gott, sie wollte es so sehr.

»Du bist in Sicherheit, Sam.«

Diese Worte erfüllten sie mit einer eigentümlichen Ruhe. »Sicher«, murmelte sie. In ihrem Augenwinkel sammelte sich eine winzige Träne. Sie hoffte, sie würde dort bleiben und sich nicht lösen, denn sie konnte sich nicht erlauben, die Deckung fallen zu lassen.

»Leider können wir nicht warten, bis die Behandlung ihre volle Wirkung entfaltet, und deshalb bin ich hier.« Er sah sie an. »Du musst mir helfen.«

»Ich?«, fragte sie verdattert. »Wie soll ich Ihnen helfen?«

»Indem du dich an möglichst viel erinnerst, selbst die banalsten Kleinigkeiten können helfen.« Wieder deutete er zur Spiegelwand. »Hinter der Scheibe sitzen Polizeibeamte, sie werden unsere Unterhaltung mitverfolgen und jedes Detail, das ihnen wichtig erscheint, an die Kollegen weiterleiten, die dort draußen alles daransetzen, deinen Entführer zu schnappen.«

»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.« Sie war müde und verängstigt und wollte nur schlafen.

»Hör zu, Sam. Du willst doch, dass dieser Kerl für das bezahlt, was er dir angetan hat, oder? Und vor allem möchtest du auf keinen Fall, dass er anderen das Gleiche antut …«

Jetzt rann die Träne über ihre Wange und blieb am Rand der Atemmaske hängen.

»Ich sagte dir ja, ich bin kein Arzt, aber ich bin auch kein Polizist«, fuhr er fort. »Ich habe keine Pistole, und es ist auch nicht meine Aufgabe, Verbrechern nachzurennen oder mir eine Kugel auf den Pelz brennen zu lassen. Ehrlich gesagt bin ich ein ziemlicher Schisser.« Er lachte über seinen eigenen Witz. »Aber eines kann ich dir versichern: Zusammen schnappen wir ihn, du und ich. Denn es gibt einen Ort, von dem er nicht entkommen kann, auch wenn er das nicht ahnt. Und genau dort jagen wir ihn: nicht da draußen, sondern in deinem Kopf.«

Doktor Greens letzter Satz ließ sie erschaudern. Auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, hatte sie immer gewusst, dass er sich in ihren Kopf gefressen hatte – wie ein Parasit.

»Was meinst du, Sam: Kannst du mir vertrauen?«

Nach kurzem Zögern hielt sie ihm die Hand hin.

Green quittierte ihre Entscheidung mit einem Nicken und gab ihr das Flugblatt zurück. »Sehr gut.«

Während sie versuchte, sich mit dem Gesicht auf dem Foto vertraut zu machen, drehte sich Doktor Green zu dem Tischchen mit dem Mikrofon und dem Aufnahmegerät um und schaltete es ein.

»Wie alt bist du, Sam?«

Eingehend musterte sie das Foto. »Äh … Dreizehn? Vierzehn?«

»Sam, hast du eine Ahnung, wie lange du im Labyrinth warst?«

Sie schüttelte den Kopf. Nein, ich weiß es nicht.

Doktor Green machte sich eine Notiz. »Bist du sicher, dass du auf dem Foto nichts von dir wiedererkennst?«

Sie betrachtete das Bild noch genauer. »Die Haare«, sagte sie und strich sich mit der Hand über eine Strähne. »Ich liebe sie.«

Mein Haar zu streicheln, war meine Lieblingsbeschäftigung im Labyrinth.

Die Erinnerung traf sie urplötzlich, wie ein Blitz aus heiterem Himmel.

Ich kämme sie mit den Fingern, um mir die Zeit zu vertreiben, während ich auf ein neues Spiel warte.

»Sonst nichts?«

Ich hätte gern einen Spiegel. Aber er will mir keinen geben.

In ihr rührte sich ein Zweifel. »Bin ich … hübsch?«, fragte sie bang.

»Ja, das bist du«, bestätigte Doktor Green sanft. »Aber ich will ehrlich mit dir sein … Ich weiß, weshalb er dir Spiegel verboten hat.«

Sie bekam Angst.

»Ich möchte, dass du dich dort zu der Wand drehst und es selbst siehst …« Er zeigte auf den großen Spiegel.

In der Stille, die folgte, nahm sie nur ihren schneller werdenden Atem wahr – ein keuchendes Ringen nach Sauerstoff. Sie blickte Doktor Green in die Augen, um zu begreifen, ob sie Angst haben musste. Doch er verzog keine Miene. Offenbar war dies eine Prüfung, um die sie nicht herumkam. Also drehte sie den Kopf auf dem Kissen zur Seite. Das Gummiband der Atemmaske schnitt ihr in die Wange.

Jetzt sehe ich das Mädchen von dem Flyer und werde mich nicht wiedererkennen, sagte sie sich. Doch die Wahrheit war tausendmal schlimmer.

Als sie auf ihr Spiegelbild traf, brauchte sie einen Moment, um das, was sie sah, zu erfassen.

»Du bist an einem Februarmorgen auf dem Weg zur Schule entführt worden«, erklärte der Doktor.

Das alte Kind mit dem kastanienbraunen Haar im Spiegel begann zu weinen.

»Es tut mir leid, Samantha«, sagte Green. »Das ist fünfzehn Jahre her.«

3

»… Fünfzehn Jahre ohne eine Neuigkeit, einen Hinweis, eine Hoffnung. Fünfzehn Jahre Schweigen. Ein endloser Albtraum, der ein unverhofft glückliches Ende gefunden hat. Denn bis vor zwei Tagen hätte es niemand für möglich gehalten, dass Samantha Andretti noch am Leben ist …«

Bruno versuchte, dem Bericht der Nachrichtenkorrespondentin zu folgen, die vor dem Eingang des Saint Catherine stand, doch weil der alte Quimby mit einem Besenstiel auf die nicht minder betagte Klimaanlage der Bar eindrosch, um sie wieder zum Laufen zu kriegen, gingen ihre Worte in dem Radau unter.

»Himmel, Quimby, kannst du’s mal lassen? Dein Geprügel macht sie auch nicht wieder heil«, rief Dauerstammgast Gomez aus seiner Sitznische am Ende des Raumes.

»Was verstehst du denn schon von Klimaanlagen?«, knurrte der Barmann zurück.

»Zum Beispiel, dass du Geld in die Hand nehmen müsstest, um deinen Gästen ein bisschen Frischluft zu verschaffen«, konterte der verschwitzte Fettwanst und griff sich aus der Sammlung vor ihm auf dem Tisch die Flasche heraus, in der noch Bier drin war.

»Klar, das könnte ich machen, wenn alle hier zahlen würden, wie es sich gehört.«

Das Hickhack zwischen Quimby und seinen Gästen war für die Besucher der Q-Bar nichts Neues. Es brauchte nicht viel, um den Wirt in Rage zu bringen. Doch abgesehen von Gomez war Bruno Genko augenblicklich der einzige Gast, und an diesem Nachmittag war er nicht in der Stimmung für dämliches Geplänkel.

Ein Glas Tequila in der Hand, saß Genko auf einem Barhocker am Tresen und starrte unverwandt auf den Fernseher, der an der Wand hing. Die Ventilatorenflügel über ihm quirlten die warme, feuchte, von Zigarettenqualm gesättigte Luft. Vor einer halben Stunde hatte er sich in der Gasse am Hinterausgang die Seele aus dem Leib gekotzt, und noch immer hatte der Alkohol den galligen Geschmack nicht ganz vertreiben können. Er war zum Kotzen extra rausgehastet, weil niemand mitbekommen sollte, wie dreckig es ihm ging.

Trotzdem musste er furchterregend aussehen, und gerade wollte ihm wieder speiübel werden, als ihm der Inhalt der rechten Tasche seines Leinenjacketts durch den Kopf schoss.

Der Talisman.

Genko kippte den Schnaps in einem Zug hinunter, um das Bild zu verscheuchen. Das ist nur die Hitze, beschwichtigte er sich, während die Erinnerung verglomm. Niemand darf davon wissen. Also ignorierte er die Zänkerei, den hämmernden Besenstiel und das Ächzen der Klimaanlage und versuchte, sich auf die Fernsehnachrichten zu konzentrieren.

Die Neuigkeit von der wiederaufgetauchten Samantha Andretti hielt die lokalen und nationalen Sender seit achtundvierzig Stunden in Atem und hatte sogar die ungewöhnliche Hitzewelle, die die Region mit überdurchschnittlich hohen Temperaturen und ungekannter Luftfeuchtigkeit herausforderte, auf den zweiten Platz verdrängt.

»… polizeilichen Angaben zufolge wird die achtundzwanzigjährige Samantha Andretti von der Profiling-Koryphäe Dr. Green psychologisch betreut. Die Ermittler hoffen, bald nützliche Hinweise zur Ergreifung des Mannes liefern zu können, der sie entführt und fünfzehn Jahre lang gefangen gehalten hat … In Kürze sei in dem Fall mit entscheidenden Entwicklungen zu rechnen, heißt es …«

»Pah, diese Nachrichtenfuzzis wissen einen Scheiß.« Quimby bedachte die Berichterstatterin auf dem Bildschirm mit einer wegwerfenden Handbewegung, die sämtlichen Journalisten galt. Dann bezog er wieder seinen Posten hinter dem Tresen. »Aber wenn man umschaltet, kommt die gleiche Leier. Ich höre das jetzt schon zum fünften oder sechsten Mal: Ständig wiederholen sie die Floskel mit den ›entscheidenden Entwicklungen in Kürze‹, weil sie nicht wissen, was sie sonst sagen sollen.«

»Trotzdem hätte ich wetten können, dass sich die Bullen darum prügeln, den Medien was zu stecken«, sagte Bruno.

»Der Hauptkommissar hält die Ermittlungen geheim, um diesem Hurensohn keinen Vorsprung zu liefern … Wenn sie ihn nicht schnappen, wird irgendjemand die Polizei dafür bluten lassen, jahrelang ignoriert zu haben, dass Samantha Andretti noch lebt. Da würden die Bullen schön alt aussehen.« Von einer plötzlichen Erkenntnis durchzuckt, hielt Quimby inne. »Mein Gott, fünfzehn Jahre … Unvorstellbar.«

»Absolut«, brummte Genko und winkte mit dem leeren Glas.

Quimby griff nach der Tequilaflasche und verabreichte ihm eine weitere Dosis der süßen Medizin. »Die Frage ist, wie sie es geschafft hat, so lange zu überleben …«

Bruno Genko kannte die Antwort, behielt sie jedoch für sich. Vermutlich wollte Quimby sie auch gar nicht hören. Wie die meisten normalen Menschen wollte der Barmann ebenfalls an das Märchen der mutigen Heldin glauben, der es gelungen war, am Leben zu bleiben und schließlich ihrem Peiniger zu entkommen. Doch in Wirklichkeit hatte sie es nur geschafft, weil ihr Kerkermeister es so gewollt hatte. Sie nicht umzubringen, war ebenso sein Entschluss gewesen, wie sie zu ernähren und dafür zu sorgen, dass sie nicht krank wurde.

Mit anderen Worten, er hatte sich um sie gekümmert. Tag für Tag hatte er sie mit seiner kranken Fürsorge bedacht. Genauso wie es die Menschen mit Zootieren machen, überlegte Bruno und führte das Glas an die Lippen. Selbst wenn wir gut zu ihnen sind, sind wir im Grunde unseres Herzens davon überzeugt, dass ihr Leben weniger wert ist als unseres. Und Samantha Andretti hatte die Grausamkeit dieser Allmachtsfantasien zu spüren bekommen. Sie war das Tier im Käfig gewesen, die zu bestaunende Kreatur. Über ihr Leben oder ihren Tod bestimmen zu können, war die wahre Befriedigung, die den Sadismus ihres Entführers nährte. Jeden Tag hatte er aufs Neue beschlossen, sie leben zu lassen. Bestimmt hatte er sich deshalb edelmütig gefühlt, geradezu großherzig.

Doch all das konnten Quimby und all die anderen Leute, die sich jetzt ein Urteil bildeten, nicht wissen. Sie hatten die Höllenkreise nicht erlebt, die Bruno kennengelernt hatte. Deshalb taten sie ihm leid, und normalerweise ließ er sie einfach reden; in ihrem Geplapper konnten sich immer kostbare Informationen verbergen, die bei einer Ermittlung womöglich zum entscheidenden Durchbruch führten.

Bruno Genko war Privatermittler, und im Grunde bestand sein Job vor allem darin, die Ohren offen zu halten.

Die Q-Bar war der perfekte Ort, um Gerede, Klatsch und Hinweise aufzuschnappen. Sie war der Treff der Gesetzeshüter, seit Lieutenant Quimby während einer Routine-Razzia vor zwanzig Jahren eine Kugel in die Niere bekommen hatte. Vorzeitiger Ruhestand, Endstation. Doch mit dem Geld der Versicherung hatte er diesen Pub gekauft. Seitdem traf man sich jedes Mal, wenn es bei der Polizei etwas zu feiern gab – die Pensionierung eines Kollegen, die Geburt eines Erben, ein Diplom oder einen Jahrestag –, in der Q-Bar.

Obwohl er nie eine Uniform getragen hatte, schlug Bruno regelmäßig in der Kneipe auf und gehörte inzwischen zur Familie, auch wenn er von Frotzeleien und blöden Sprüchen nicht verschont blieb. Doch das ging in Ordnung, es war der Preis für die aufgeschnappten Informationen, die ihm bei seiner Arbeit nützlich werden konnten. Quimby war sein wichtigster Vertrauensmann. Jeder Bulle und selbst Exbullen wissen, dass man einem Privatschnüffler niemals trauen darf. Doch der Alte war nicht auf irgendeinen Vorteil bedacht. Er war einfach ein eitler Typ, dem oft langweilig war. Offenbar gab ihm das Ausplaudern geheimer Informationen das Gefühl, noch zur Truppe zu gehören. Und das kam Bruno wunderbar gelegen. Natürlich drängte er Quimby nie zum Reden, denn auf eine direkte Frage hätte auch dieser Exbulle kein Wort rausgelassen. Genko beschränkte sich einfach darauf, mitunter stundenlang in der Kneipe zu hocken und darauf zu warten, dass Quimby von alleine loslegte.

So auch heute. Der einzige Unterschied war, dass Bruno Genko heute weniger geduldig als normalerweise war.

Mir bleibt verdammt noch mal nicht viel Zeit.

Während er also auf weitere Informationen seiner unfreiwilligen Quelle wartete, steckte er die Hand in die Jackentasche, um ein Taschentuch hervorzuholen und sich damit den Schweiß aus dem Nacken zu wischen. Seine Finger streiften den zerknitterten Zettel – weil er sich nie davon trennte, hatte er ihn »Talisman« getauft. Sein Magen zog sich zusammen, und fast wäre ihm wieder schlecht geworden.

»Gestern Abend sind Bauer und Delacroix vor ihrer Extraschicht vorbeigekommen«, sagte Quimby plötzlich.

Bruno unterdrückte die Übelkeit und vergaß den Zettel. Bauer und Delacroix waren die beiden Bullen, die mit dem Fall Samantha Andretti betraut waren. Na bitte, geht doch, sagte er sich. Stundenlang hatte er auf diesen Moment gewartet, jetzt wurde er belohnt.

Unaufgefordert schenkte Quimby ihm noch einmal Tequila nach und stützte sich wichtigtuerisch auf den Tresen. Dann raunte er Genko zu: »Sie haben mir von dem Experten erzählt, der mit dem Mädchen spricht, diesem Dr. Green. Soll wohl ein knallharter Profiler sein. Ist auf die Ergreifung von Serienkillern spezialisiert, und sie haben ihn extra von irgendwoher einfliegen lassen«, erklärte er. »Muss ziemlich unorthodoxe Methoden haben …«

Genko wusste, dass es statistisch unwahrscheinlich war, einem Psychopathen lebendig zu entkommen. Doch wenn es passierte, hatte die Polizei einen wertvollen Zeugen und damit eine Eintrittskarte zu den verschlungenen Irrwegen seiner Verbrecherseele, einem undurchdringlichen Gewirr aus Fantasien, unkontrollierten Trieben, Instinkten und abgründigen Perversionen. Deshalb hatten sie sich einen Profi dazugeholt, um Samantha Andrettis Verstand auszuloten.

Bruno fiel auf, dass Quimby von ihr noch immer wie von einer Dreizehnjährigen sprach. Damit war er nicht der Einzige. Auch im Fernsehen war permanent von »dem Mädchen« oder »der Kleinen« die Rede. Eine Folge der Berichterstattung: Die Menschen hatten noch immer ihr letztes Foto vor Augen, das unmittelbar nach ihrem Verschwinden verbreitet worden war und auch jetzt wieder im Fernsehen gezeigt wurde. So gelangte es nicht ins Bewusstsein der Menschen, dass das Mädchen inzwischen eine erwachsene Frau war.

»Die Kleine steht noch unter Schock«, sagte Quimby jetzt. »Aber beim Dezernat sind sie optimistisch.«

Bruno wollte nicht zu neugierig erscheinen, doch er hätte wetten können, dass Quimby etwas wusste. »Wie, optimistisch?«

»Du kennst doch Delacroix. Er ist maulfaul und lässt nie was durchblicken … Aber Bauer ist überzeugt, dass sie das Schwein kriegen.«

»Bauer ist ein Angeber«, meinte Bruno gespielt gleichgültig und wandte sich wieder dem Fernseher zu.

Quimby biss an. »Schon, aber ich glaube, sie haben eine Spur …«

Eine Spur? War es möglich, dass Samantha bereits entscheidende Hinweise geliefert hatte?

»Ich hab gehört, sie suchen nach dem Ort, wo er sie gefangen gehalten hat«, sagte Bruno beiläufig, um die Unterhaltung wieder ein wenig in Schwung zu bringen. »Sie haben unten bei den Sümpfen ziemlich weiträumig abgesperrt. Dort hat der Streifenwagen Samantha aufgegabelt, stimmts?«

»Richtig … Sie haben eine Sicherheitszone eingerichtet und lassen niemanden rein, um sich die Gaffer vom Leib zu halten.«

»Die finden den Ort nie.« Bruno versuchte, skeptisch zu klingen, damit Quimby sich bemüßigt fühlte, ihm zu widersprechen. »Den haben sie in fünfzehn Jahren nicht gefunden, wer weiß, wie der sich tarnt.«

»Samantha Andretti war zu Fuß unterwegs und hat sich sogar ein Bein gebrochen, also kann sie nach der Flucht nicht besonders weit gekommen sein, meinst du nicht?« Brunos Skepsis schien Quimby gegen den Strich zu gehen.

Der Ermittler beschloss, dem verletzten Polizisten-Ego einen Knochen hinzuwerfen. »Ich glaube, der Schlüssel zu allem ist Samantha. Wenn sie kooperiert, dann gibt es Hoffnung, den Kerl zu schnappen.«

»Sie wird kooperieren«, sagte Quimby überzeugt. »Aber die haben auch noch anderes zu tun …«

Also hatte nicht das Mädchen die Spur geliefert. Aber wer dann? Bruno schwieg und nippte an seinem Glas. Die strategische Pause sollte dem Barmann Zeit geben zu entscheiden, ob er auch mit dem Rest herausrücken wollte.

»In Wirklichkeit deckt sich die Geschichte ihrer Auffindung nicht vollkommen mit der Version, die sie haben durchsickern lassen«, bestätigte Quimby. »Die Streife, die sie unbekleidet und mit einem gebrochenen Bein am Straßenrand aufgegabelt hat, ist da nicht zufällig vorbeigefahren …«

Blitzschnell überlegte Bruno, was diese Information zu bedeuten hatte. Wieso über die Umstände der Auffindung der Frau lügen? Was hielten sie damit zurück?

»Es gab einen Hinweis«, sagte er laut. »Jemand hat gemeldet, dass Samantha dort ist?«

Quimby beschränkte sich auf ein Nicken.

»Ein barmherziger Samariter also.«

»Ein anonymer Anruf«, verbesserte ihn der Barmann.

4

Kaum trat Genko aus der Q-Bar, machte sich die Schwüle über ihn her und drückte ihm die Kehle und den Brustkorb zusammen. Die Hitze war ein lebendiges Wesen, eine unsichtbare Bestie, vor der es kein Entrinnen gab. Obwohl er Mühe hatte zu atmen, steckte Bruno sich eine Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie an und wartete, bis ihm das Nikotin ins Blut schoss.

Was konnte es ihm schon noch anhaben?

Er blickte sich um. Um drei Uhr nachmittags waren die Straßen der Innenstadt wie leer gefegt. Läden und Büros waren geschlossen. Kein einziger Fußgänger war zu sehen. Es herrschte gespenstische Stille. Nur die Ampeln regelten den nicht vorhandenen Verkehr in den verwaisten Straßen.

Aufgrund der dramatisch hohen Temperaturen hatten die Behörden zum Schutz der allgemeinen Gesundheit zu außergewöhnlichen Maßnahmen gegriffen. Der Bevölkerung wurde geraten, tagsüber zu schlafen und das Haus nur in den Nachtstunden zu verlassen. Um die Umstellung zu erleichtern, waren die Schichtpläne der Polizei, der Feuerwehr und des Krankenhauspersonals geändert worden. Die Behörden öffneten am späten Nachmittag und schlossen im Morgengrauen. Sogar die Gerichte nahmen ihre Arbeit erst in den Abendstunden auf. Die meisten Firmen und Betriebe hatten sich den Änderungen angepasst. Gegen zwanzig Uhr wimmelten die Straßen von Arbeitern und Angestellten, die wie zur normalen Rushhour auf dem Weg zur Arbeit waren. Niemand beschwerte sich. Kaufhäuser und Geschäfte hatten sogar einen Umsatzanstieg verzeichnet, weil die Leute es gar nicht abwarten konnten, ihre vier Wände zu verlassen, wenn die Hitze am Abend endlich etwas nachließ. Sobald die Sonne sank, kamen sie wie die Ratten aus ihren Löchern.

Seit rund einer Woche begannen die Tage bei Dämmerung.

Das Wetter spielt völlig verrückt, sagte sich Bruno und erinnerte sich an die Meldung aus Rom im Jahr zuvor, wo ein Sturm die Stadt heimgesucht und für einen Blackout und eine verheerende Überschwemmung gesorgt hatte. Folgen der Umweltverschmutzung, der Erderwärmung und des beschissenen Umgangs der Menschen mit diesem Planeten. Wer weiß, wie lange es dauern würde, bis die verdammte menschliche Spezies sich selbst ausrotten würde, ohne es überhaupt zu merken. Es war zum Heulen. Doch dann fiel ihm der Talisman in seiner Tasche wieder ein, und er fand, dass ihn das Problem nichts mehr anging.

Er konnte es sich erlauben, sich nicht mehr drum zu scheren und einen weiteren Beitrag zum allgemeinen Niedergang zu leisten. Er zog ein paarmal an seiner Zigarette, schnippte den Stummel auf den glühenden Asphalt und drückte ihn unter der Schuhsohle aus. Dann machte er sich auf den Weg zu seinem Auto.

Ein anonymer Anruf also.

Während er den alten Saab durch die leeren Straßen steuerte, grübelte Genko über das nach, was er von Quimby erfahren hatte. Weil die Klimaanlage im Auto seit Jahren nicht mehr funktionierte, hatte er sämtliche Fenster heruntergekurbelt. Plötzliche Hitzewellen wallten herein und verflüchtigten sich wieder, als würde er durch ein Feuer fahren. Bruno brauchte einen Rückzugsort – nicht nur, um vor der Hitze zu flüchten, sondern auch vor seinen rotierenden Gedanken.

Hör auf, darüber nachzudenken, es geht dich nichts an.

Doch der nagende Zweifel ließ ihn nicht los. Wer hatte den Anruf getätigt? Wieso hatte der Anrufer Samantha nicht selbst geholfen? Warum hatte er seine Personalien verschwiegen? Dieser Unbekannte hätte der Held der Stunde werden können, doch stattdessen hatte er es vorgezogen, im Dunkeln zu bleiben. Wovor hatte er Angst? Was wollte er verbergen? Oder wen schützen?

Genko wusste, dass er nicht klar genug denken konnte. Zu viel Tequila, oder vielleicht lag es auch einfach an diesem verdammten Zettel in seiner Tasche. Er hätte sich in dem Hotelzimmer verkriechen können, das er vor einer Woche angemietet hatte, um dort sein in der Q-Bar angefangenes Besäufnis zu vervollständigen und in der Hoffnung, nicht mehr aufzuwachen, in Tiefschlaf zu fallen.

So einfach gehts nicht, alter Freund, finde dich damit ab.

Es war besser, jetzt nicht allein zu sein. Und es gab genau einen Menschen auf der Welt, der ihn in diesem Zustand ertrug.

 

Als Linda ihm die Tür öffnete, konnte Bruno ihrer Miene ablesen, dass er grauenhaft aussah.

»Himmel, bist du verrückt, bei dieser Hitze unterwegs zu sein?«, sagte sie vorwurfsvoll und zog ihn in die Wohnung. »Und getrunken hast du auch.« Angewidert verzog sie das Gesicht. »Was ist denn mit dir los, Bruno?«

»Darf ich reinkommen?«

»Du bist doch schon drin.«

»Okay, ich meine, kann ich ein bisschen bleiben, oder hast du zu tun?« Seine Klamotten starrten vor Schweiß, und ihm war schwindelig.

»In einer Stunde habe ich einen Kunden«, sagte sie und zog sich den blauen Seidenkimono über dem bronzefarbenen Dekolleté zurecht. Im Ausschnitt blitzten ihre kleinen, festen Brüste auf.

»Ich muss mich nur einen Moment ausruhen, mehr nicht.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, steuerte er auf das Wohnzimmer zu. Im Gegensatz zur Q-Bar funktionierte hier die Klimaanlage, die Fensterläden waren geschlossen, und es herrschte ein angenehmes Dämmerlicht.

»Du stinkst nach Kotze, weißt du das?«, sagte Linda hinter ihm. »Wie wärs mit einer Dusche?«

»Ich will dir nicht lästig fallen.«

»Du fällst mir lästiger, wenn du mir die Wohnung verpestest.«

Bruno setzte sich auf das weiße Sofa, das farblich zum Teppichboden passte und in der Mitte des Wohnzimmers zwischen schwarz lackierten Möbeln und einer Sammlung von Einhörnern prangte, die in verschiedensten Ausführungen den Raum bevölkerten – als Poster, Standfiguren, Plüschtiere oder in Schneekugeln gefangen. Sie waren Lindas Leidenschaft. »Ich bin ein Einhorn«, hatte sie einmal verkündet. »Ein wunderschönes Fabelwesen. Kein vernünftig denkender Mensch würde jemals zugeben, dass er an Einhörner glaubt, und trotzdem sind die Menschen seit jeher hinter ihnen her und hoffen, mal eines zu treffen …«

In einer Sache hatte sie jedenfalls recht. Sie war wirklich wunderschön. Deshalb waren die Männer hinter ihr her. Und sie waren bereit, für das Privileg, mit ihr zusammen zu sein, teuer zu bezahlen.

»Komm, ich helfe dir«, sagte sie, als sie sah, dass er nicht einmal in der Lage war, sich das Jackett auszuziehen. Sie streifte ihm die Mokassins von den Füßen und wollte seine Beine aufs Sofa heben, aber er schüttelte den Kopf. Er wollte lieber sitzen, liegen konnte er überhaupt nicht mehr gut. Sie streichelte ihm über die Stirn und sah ihn alarmiert an. »Du hast ja Fieber.«

»Ach, was. Das ist nur die Hitze«, log er.

»Ich hol dir ein Glas Wasser, bei der Schwüle trocknet man leicht aus … Vor allem, wenn man nachmittags Tequila trinkt«, schob sie tadelnd hinterher. »Und diesen Lumpen hier werfe ich mal eben in den Trockner.« Sie griff sich das Leinenjackett und verschwand damit im Flur. »Vielleicht vertreibt das den Mief ein bisschen.«

Bruno atmete tief durch und lehnte sich mit rundem Rücken vornüber. Sein Kopf schmerzte, sein Herz stach, und überhaupt, alles tat ihm weh. Und obwohl er es sich nicht eingestehen wollte, hatte er Angst. Seit Wochen litt er an Schlafstörungen. Der Stress fraß ihn auf, und sobald sein Körper unter zu großer Anspannung stand, dämmerte er schlagartig weg. Aber es war kein Schlaf, der ihn überfiel, sondern eher eine Art Bewusstseinskapitulation. Nach höchstens einer halben Stunde im Nirwana holte ihn die Wirklichkeit wieder zurück und erinnerte ihn daran, dass sein Schicksal besiegelt war und er nichts dagegen unternehmen konnte.