Haus des Vergessens - Donato Carrisi - E-Book

Haus des Vergessens E-Book

Donato Carrisi

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Beschreibung

Ein zwölfjähriger Junge wird allein und verstört in einem Wald im Valle dell'Inferno aufgefunden. Offenbar handelt es sich um den seit Monaten als vermisst gemeldeten Nico. Doch der Junge bleibt stumm und gibt keine Auskunft über die Gründe seines Verschwindens. Der renommierte Kinderpsychologe Pietro Gerber soll Nico mittels Hypnose zum Sprechen bewegen und fördert schließlich ein beunruhigendes Geständnis zutage: Nico behauptet, er habe seiner Mutter etwas Schreckliches angetan. Aber für Gerber klingen diese Worte einprogrammiert. Er ist von der Unschuld des Jungen überzeugt und bereit, seine Karriere aufs Spiel zu setzen, um sie zu beweisen – doch ihm bleibt nicht viel Zeit ...

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Seitenzahl: 445

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Donato Carrisi

Haus des Vergessens

Psychothriller

Aus dem Italienischen von Monika Köpfer

Questo libro è stato tradotto grazie a un contributo per la traduzione assegnato dal Ministero degli affari esteri e della cooperazione internazionale della Repubblica italiana.

 

Die Publikation der Übersetzung erfolgt mit der Unterstützung des italienischen Außenministeriums.

 

© Atrium Verlag AG, Zürich, 2024

Alle Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel La casa senza ricordi bei Longanesi & C., Mailand

© Donato Carrisi, 2021

Aus dem Italienischen von Monika Köpfer

Covergestaltung: semper smile, München

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03792-228-6

 

www.atrium-verlag.com

www.facebook.com/atriumverlag

www.instagram.com/atriumverlag

Für Antonio und Vittorio, meine Söhne, das Beste von mir.

 

Carabinieri-Wache

Forstpolizei

Barberino Del Mugello

 

An die regionale Carabinieri-Legion z.K.

CC Toskana – Florenz

(und z.K. Überregionales Kommando CC Division »PODGORA« in Rom)

 

Betreff: Bekanntgabe des Verschwindens zweier Personen (AZ Nr. 66263707070VR)

Am 7. Juni 2020 – ungefähr um 06:23 Uhr – meldeten zwei Wanderer telefonisch bei der 112 ein verlassenes Kfz im Wald in der Gegend des »Valle dell’Inferno«.

 

Nach der Entsendung einer Streife wurde bei Kilometer sechzehn auf der Provinzstraße 477 tatsächlich ein amarantfarbiger Fiat Panda (KZ: »CR990FR«) gefunden. An dem Wagen, der am Fahrbahnrand in Richtung Passo della Sambuca parkte, waren sowohl die Seitentüren als auch die Heckklappe geöffnet. Der linke Hinterreifen war beschädigt. Das rausgelegte Reserverad und der unter dem Fahrzeug angebrachte Wagenheber deuten auf den offenbar misslungenen Versuch des Fahrers hin, das Rad auszutauschen.

 

Im Inneren des Fahrzeugs wurden zahlreiche persönliche Gegenstände gefunden, die vermutlich einer Frau und einem Kind gehören; darunter Kleidungsstücke, Decken und andere Dinge, die nahelegen, dass die beiden den Wagen zu diesem Zeitpunkt als Unterkunft genutzt hatten.

 

Nach Prüfung des Fahrzeugscheins stellte sich heraus, dass der Gebrauchtwagen im Jahr 2017 aus vierter Hand von Mirbana Xhuljeta Laci, genannt »Mira«, geboren in Albanien, vierzig Jahre alt, gekauft wurde. Die Frau, die sich seit ungefähr vier Jahren in Italien aufhält, arbeitete in der Vergangenheit als Pflegerin für verschiedene Familien in der Gegend des Mugello, in letzter Zeit hielt sie sich jedoch mit gelegentlichen Putzjobs und als Tellerwäscherin in einer Pizzeria über Wasser.

 

Die verschwundene Frau lebte mit ihrem zwölfjährigen Sohn Nikolin, genannt »Nico«, zusammen.

 

Die ärmlichen Lebensumstände von Mutter und Sohn waren den Sozialbehörden bekannt, nicht zuletzt aufgrund wiederholter Verletzungen der Schulpflicht des Jungen.

 

Die Bestätigung, dass besagte Frau mit ihrem Sohn tatsächlich mit dem aufgefundenen Wagen gefahren war, erfolgte gestern um ca. 18:00 Uhr, und zwar als die beiden dabei gesehen wurden, wie sie an einem Automaten einer TotalErg-Tankstelle in der Nähe von Piedimonte belegte Brötchen kauften.

 

Seit diesem Zeitpunkt gibt es keine weiteren Hinweise auf den Verbleib von Mutter und Sohn.

 

Es wird gebeten, sämtliche Kompanien des Gebiets über das Verschwinden der beiden Personen in Kenntnis zu setzen. Über weitere Neuigkeiten werden Sie auf dem Laufenden gehalten.

1

23. Februar 2021

Wie jeden Tag erwachte die Pferdezüchterin auch an diesem Mittwoch jäh in ihrem Bett und schlug sofort die Augen auf. Und auch an diesem Mittwoch drehte sie sich als Erstes zu dem altmodischen Wecker auf ihrem Nachttisch um, der ihr bestätigte, dass es auf die Sekunde genau 3:47 Uhr war.

Vielleicht hätte sie ergründen sollen, warum sie seit einigen Wochen immer genau zur selben Uhrzeit aufwachte, ohne die geringste Abweichung. Ein Teil von ihr war überzeugt, dass es einen Grund geben musste, wenn diese Zahlenfolge ausgerechnet jetzt, in ihren späten Lebensjahren, so regelmäßig wiederkehrte, als handelte es sich um ein kabbalistisches Zahlenrätsel. Ein anderer Teil jedoch zog es vor, die Sache nicht zu vertiefen, war sie doch überzeugt, dass man, vor allem ab einem gewissen Alter, die ein oder andere Frage am besten unbeantwortet ließ. Und sei es nur aus Aberglauben oder schlicht und einfach aus Vorsicht. Denn sonst geriet man in null Komma nichts ins Grübeln, und zwar über wesentlich bedeutendere Dinge. Wie zum Beispiel den Sinn des Lebens oder die Frage, was nach dem eigenen Tod passierte. Mit zweiundachtzig Jahren war es besser, solchen Fragen auszuweichen. Nicht zuletzt weil die Alten, auch wenn sie es nicht zugeben wollten, bereits alle Antworten kannten.

Also würde das Rätsel, was es mit der Uhrzeit 3:47 Uhr auf sich hatte, sie für den Rest ihrer Tage begleiten, und sie war sich sicher, dass der Tag, an dem ihre innere Uhr sich auch nur um eine Minute vertat, auch jener sein würde, an dem sie nicht mehr aufwachte.

Aufgrund ihrer nächtlichen Unruhe schlief sie nie mehr als vier oder fünf Stunden pro Nacht. Sie wünschte, das wäre in ihren Zwanzigern so gewesen. Stattdessen hatte sie heute sehr viel mehr Minuten zur Verfügung als früher und so gut wie nichts, um sie zu füllen. Und jeder ältere Mensch wusste, dass, auch wenn einem die Sekunden durch die Finger rannen, sich die Minuten träge in die Länge zogen. Daher war das Alter ein Ringen zwischen der Zeit, die sich unerbittlich dem Ende näherte, und jener, die überhaupt nicht verging. Tatsächlich würde sie noch vor der Mittagszeit die Pferde versorgt haben. In der restlichen Zeit würde sie trainieren, die Langeweile, die sie auch in der Ewigkeit erwartete, totzuschlagen.

Aber das war nun einmal nicht zu ändern.

Wie jeden Morgen schlüpfte sie mit ihren müden Füßen in die Stiefel, zog ihre grüne Winterjacke über, setzte den grünen Borsalino-Filzhut auf und steckte eine Toscano classico-Zigarre in eine Jackentasche. Bevor sie das Haus verließ, grüßte sie ihren verstorbenen Ehemann, indem sie einen Kuss auf das schwarz-weiße Hochzeitsfoto hauchte, das in einer Ecke des Vitrinenschranks steckte, und entzündete ein Feuer im gusseisernen Ofen, um es, wenn sie wieder zurückkam, schön behaglich zu haben.

Dann startete sie den Dieselmotor des Lada Niva, um ihn vorglühen zu lassen, holte ihre beiden Setter aus dem Hundezwinger zwischen Stall und Reitplatz, ließ sie in den Wagen springen und fuhr mit ihnen in Richtung Passo della Sambuca und Naturreservat.

Sie hatte es nicht eilig, schaltete zwischen dem zweiten und dritten Gang hin und her, ohne dem blauen Lada zuzusetzen, war er es doch gewohnt, freundlich behandelt zu werden. Sie brauchte keinen neuen Wagen, schließlich war sie selbst auch nicht mehr »neu« und wäre sich damit nur albern vorgekommen. Genauso wie sie nie das Bedürfnis nach einem neuen Mann verspürt hatte, auch nicht nachdem ihrer beschlossen hatte, ins Dunkel des Jenseits voranzugehen. Manche Dinge konnte man nur schwer erklären; dazu zählte auch dieser Vergleich zwischen einem Geländewagen Baujahr ’77 und dem einzigen Mann, den es je in ihrem Leben gegeben hatte. Nun ja, dachte sie dann, in beiden Fällen ging es um Zuneigung und Treue. Jedes Mal, wenn sie sich hinters Steuer setzte, erinnerte sie sich mit Stolz daran, wie der Sachbearbeiter in der Kfz-Zulassungsstelle bei der Verlängerung ihres Führerscheins ihre Fahrtüchtigkeit gelobt hatte. Sehkraft und Reflexe noch immer tadellos. Darin bestand auch ein wenig das Geheimnis einer guten Ehe: dem anderen immer Aufmerksamkeit schenken und stets mit Unvorhersehbarem rechnen. Man musste sich, wie ihre Mutter zu sagen pflegte, stets auf das Schlimmste gefasst machen.

Sie erreichte eine Lichtung inmitten eines Buchenwalds; von dort aus führten mehrere Wanderwege zu dem Bach Rovigo und zu der Schlucht, die Valle dell’Inferno genannt wurde, Höllenschlucht. Nachdem sie den Wagen geparkt hatte, ließ sie die Hunde rausspringen, kramte die Zigarre aus der Jackentasche, teilte sie in zwei Hälften und steckte sich die eine zwischen die Lippen. Es wäre sträflich gewesen, sie hier im Wald anzuzünden, aber sie mochte es, darauf herumzukauen.

Sie wusste nicht, warum sie in letzter Zeit tagtäglich hierherfuhr. Sie hätte auch andere Orte auswählen können, zumal es durchaus schönere gab. Aber genau wie das immergleiche Erwachen um 3:47 Uhr seit geraumer Zeit war auch dies zu einer Art Gewohnheit geworden.

Vielleicht zog es sie hierher, weil sie in diesem Wald früher mit ihrem Mann auf die Jagd gegangen war. Die Jagd und die Liebe zu Pferden hatten sie zusammengeschweißt. Die Pferdezüchterin hatte diese Leidenschaft von ihrem Vater geerbt, der, da er nur Töchter hatte, sie wie einen Jungen aufgezogen hatte. Niemand hatte sich vorstellen können, dass sie eines Tages heiraten würde. Doch sie hatte alle überrascht. Nach dem Tod ihres Mannes wollte sie die Jagd wieder aufnehmen, doch seit ihre Enkel sie vor ein paar Jahren für das Mitbringen von zwei prächtigen Alpenschneehühnern zum Weihnachtsessen scharf kritisiert hatten, blieben ihre beiden Jagdflinten deaktiviert und weggeschlossen. Um ihre Enkel zu beschwichtigen, hätte sie ihnen gern vom Beginn ihrer Jagdleidenschaft erzählt: wie sie als Zwölfjährige an einer Wildschwein-Hatz teilgenommen hatte, die für sie zu einer Art Erweckungserlebnis wurde. Denn ironischerweise hatte sie ausgerechnet durch die Jagd den Respekt vor der Natur und den Tieren gelernt. Und gern hätte sie dann hinzugefügt, dass Städter wie sie nur Hunde und Katzen mochten, aber andererseits Fleisch aus dem Supermarkt aßen. Doch sie hatte den Mund gehalten und war abends gedemütigt und trübselig nach Hause zurückgekehrt, im Bewusstsein, dass diese Familientradition eines Tages mit ihr aussterben würde.

Die Setter ließen sich indes nicht einfach wie Jagdgewehre wegschließen! Irgendwie musste man den armen Tieren gestatten, ihren Instinkt auszuleben. Andernfalls bestand die Gefahr, dass sie durchdrehten, so wie es oft bei Jagdhunden geschah, wenn sie keine Beute mehr zu suchen und zu apportieren hatten. Deswegen fuhr sie Tag für Tag in diese Gegend und ließ die Setter nach Lust und Laune herumlaufen. Sollten wenigstens sie die Illusion bekommen, einen Daseinssinn zu haben. Auch an diesem Morgen schob sie die kalte Zigarrenhälfte in den Mundwinkel und stieß einen kurzen, energischen Pfiff aus.

Auf Kommando schossen die beiden Setter davon und verschwanden im Gehölz.

Nach ein paar Sekunden erstarben die Knackgeräusche von Zweigen und das Rascheln der Buchenblätter. In Kürze würde die Sonne aufgehen, doch die Luft erwärmte sich bereits, und die Feuchtigkeit kondensierte zu einem leichten Nebel, der sich als glitzernder Tau absetzte, als ahnte die Natur den aufziehenden Tag voraus. Gewisse Erscheinungen in der Natur zeugten von so großer Klugheit, dass sie sie seit jeher in Staunen versetzten – bestimmt würde sie im Grab all diese vollkommenen Details, die der Schöpfer sich ausgedacht hatte, vermissen. Jetzt sog sie tief den Geruch von Harz und feuchter Erde ein, machte einen Schritt zur Seite und ließ einen kräftigen, befreienden Furz, denn ein Vorteil des Alters bestand darin, hin und wieder diese göttliche Vollkommenheit ungeniert entweihen zu dürfen. Während sie die gleichgültige Stille des Augenblicks genoss, der sich nicht darum scherte, wie viele solcher Momente ihr noch beschieden sein würden, ergriff sie eine sonderbare Vorahnung, wie sie sie noch nie zuvor erlebt hatte.

Das Gefühl, nicht allein zu sein.

Es war nicht nur ein Verdacht, sondern Gewissheit. Sie wusste nicht, woher sie rührte. Noch ehe sie es sich erklären konnte, nahm sie erneut die Hunde in der Ferne wahr und wandte den Blick in ihre Richtung.

Sie bellten wie verrückt.

Zuerst dachte sie, sie hätten einen unvorsichtigen Hasen aufgestöbert, der sich vor Tagesanbruch aus seinem Bau gewagt hatte, um Futter zu suchen. Aber dann wären sie bereits angesprungen gekommen, einer von ihnen mit der Beute im Maul.

Doch die beiden Setter kehrten merkwürdigerweise nicht zurück.

Mit zwei Fingern an den Lippen stieß sie einen langen, durchdringenden Pfiff aus. Keine Reaktion: Die Hunde bellten aufgeregt weiter. Kurz darauf begannen sie zu heulen. Da verstand sie, dass die Tiere ihre Aufmerksamkeit erlangen wollten.

Und dass dort im Wald etwas war, das sie zurückhielt.

Ohne auch nur einen Moment zu zögern, kehrte sie zu dem Lada zurück, holte eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und begab sich in das dichte Unterholz hinein.

 

Mithilfe ihrer schwieligen Hände kämpfte sie sich durch das Dickicht; ein Zweig zerkratzte ihr die Wange, aber sie merkte es nicht einmal – zum einen wegen des Hilferufs ihrer geliebten Hunde, zum anderen, weil sie wegen ihrer dunklen Vorahnung von Angst getrieben war, und sie betete zu dem Gott, an den sie noch nie geglaubt hatte, dass ihre Befürchtungen unbegründet und lediglich ein Produkt ihrer altersbedingten Ängstlichkeit seien.

Während sie den Strahl der Taschenlampe auf den unmittelbaren Bereich vor sich richtete, erkannte sie etwas weiter weg zwischen den Sträuchern die Umrisse der beiden Setter, die hektisch um etwas herumliefen, als hätten sie ein Tier in die Enge getrieben. Als sie nahe genug war, hielt sie die Taschenlampe auf die Stelle.

Die Beute war ein Kind.

Die Frau blieb abrupt stehen, ihr Hut fiel zu Boden. Sie betrachtete das Kind eingehender. Der Junge war ungefähr elf oder zwölf und stand unbeweglich da. Bei jedem Ausatmen bildeten sich Wölkchen vor seinem Mund. Hinter den Atemwölkchen machte sie einen langen blonden Pagenkopf aus und unter dem Pony zwei eisblaue Augen, die abwesend wirkten. Der Junge hatte eine fast durchscheinende Haut, zart wie Seidenpapier, durch die die Venen zu erahnen waren. Er schien wie aus Wachs zu sein. Obwohl er Winterkleidung trug, hatte er die Arme um den Oberkörper geschlungen und zitterte vor Kälte. In seinen Augen spiegelte sich das Licht der Taschenlampe. Sie hatten etwas Merkwürdiges, und es dauerte eine Weile, bis sie Begriff, was es war.

Er blinzelte nicht.

Diesen Blick würde die Frau nie wieder vergessen. Die naheliegende Frage wäre gewesen, was er in der frühmorgendlichen Dunkelheit so allein mitten im Wald machte. Doch irgendwie hatte sie, auch wenn es keinen Sinn ergab, Angst vor der Antwort. Also fragte sie: »Hast du dich verirrt?«

Der Wachsjunge sah sie unverwandt an, stumm und ausdruckslos.

»Wie heißt du?«

Keine Reaktion.

Unterdessen fuhren die Hunde fort, ihn anzubellen. Die Frau stieß einen energischen Pfiff aus, um sie zum Verstummen zu bringen, aber sie hörten nicht auf. Sie pfiff erneut, und wieder ignorierten sie ihren Befehl. Die einzige Erklärung, die ihr in den Sinn kam, war, dass sie Angst hatten. Obwohl es doch merkwürdig schien, denn der Junge blieb absolut reglos, was dem Ganzen etwas Surreales verlieh.

»Schluss jetzt!«, schrie sie und trat auf einen der Hunde zu, hob die Hand und schlug ihm leicht auf die Schnauze. Der Setter verzog sich hinter ihre Beine, und sein Gefährte tat es ihm gleich. Beide zitterten. Um sie zu beruhigen, holte die Frau ein paar Stücke getrockneten Speck aus der Jackentasche und gab jedem etwas davon. »Ich nehme dich jetzt mit zu meinem Haus, und von dort rufen wir jemanden an, was meinst du?«, schlug sie vor, denn da es hier ohnehin kein Netz gab, hatte sie das Handy nicht mitgenommen.

Ihr Vorschlag zeitigte keine Reaktion.

»Du hast bestimmt Hunger«, sagte die Pferdezüchterin. Ohne eine Antwort zu erwarten, bückte sie sich nach ihrem Hut, klopfte in aller Ruhe die Erde ab, drehte sich um und ging in Richtung Lichtung. Sie hoffte, dass diese Taktik aufging, denn sie wusste nicht, was sie sonst hätte tun sollen. Und wenn sie ehrlich war, machte die Situation auch ihr allmählich Angst. Dann hörte sie Schritte hinter sich, die ihr signalisierten, dass der Junge ihr folgte.

Die Hunde waren indes noch immer aufgeregt.

 

Auf der Fahrt zum Gestüt sprach der Junge weiterhin kein Wort. Er verhielt sich merkwürdig ruhig, vollkommen gleichmütig. Als wäre er kein menschliches Wesen. Zweifelsohne kam er aus einer anderen Welt. Und während die Frau ihm kurze Zeit später dabei zuschaute, wie er im Schneidersitz vor dem Ofen saß und schweigend Brot und Milch zu sich nahm, dachte sie wieder an die Vorahnung, die sie unmittelbar vor der Begegnung mit dem Jungen beschlichen hatte: dass sie nicht allein war. Und sie dachte, dass dieser Junge der Tod war.

Ja, der Tod ging in den Wäldern des Mugello um und hatte die Gestalt eines Kindes angenommen.

Er war es auch gewesen, der sie in den letzten Wochen tagaus, tagein um Punkt 3:47 Uhr geweckt hatte – um sie auf diese Begegnung vorzubereiten. Und er hatte sie auch ins Valle dell’Inferno gelockt, zu dem Ort, wo sie verabredet waren.

Der Tod hatte auf sie gewartet, und jetzt hatte sie ihn mit zu sich nach Hause genommen. Sobald er sein Essen eingenommen hatte, würde er zu reden anfangen, würde ihr mit unschuldiger Stimme verkünden, was kein Mensch hören wollte.

Dass ihr letztes Stündchen geschlagen hatte.

Nachdem sie die 112 gewählt hatte, wartete sie fieberhaft darauf, dass jemand käme, um sie von der verstörenden Anwesenheit dieses Kindes zu befreien, und suchte Trost im Blick ihres verstorbenen Mannes auf dem Hochzeitsfoto im Spiegelaufsatz der Kommode. Er hätte gewusst, was jetzt zu tun war. Plötzlich jedoch hatte sie eine Art Eingebung. Ihr fiel etwas ein, das vor einiger Zeit passiert war. So genau erinnerte sie sich nicht mehr, jedenfalls war es eine Weile Gesprächsthema in dieser Gegend gewesen.

Sie ging zum Außen-WC, wo neben der Kloschüssel ein Stapel alter Ausgaben der Lokalzeitung lag. Sie durchstöberte ihn, bis sie eine Tageszeitung vom Anfang des vergangenen Sommers fand. Sie staunte über sich selbst und ihr Gedächtnis, denn in dieser Ausgabe fand sie genau das, wonach sie gesucht hatte. Einen Moment hielt sie inne, um nachzudenken. Plötzlich kam ihr die Idee, dass dieser Junge etwas mit dem Tod zu tun haben könnte, gar nicht mehr so sonderbar vor.

Es gab nur eine Möglichkeit, herauszufinden, ob sie recht hatte. Die betreffende Zeitungsseite in der Hand, kehrte sie zu ihrem schweigsamen Gast zurück.

»Nico?«, fragte sie mit neutraler Stimme.

Der Junge hörte zu essen auf. Dann drehte er sich um und sah sie an.

2

»Meine Schuhsohlen sind voller Sand«, sagte Lavinia. »Vielleicht sollte ich sie ausklopfen, bevor ich hineingehe, sonst mache ich alles schmutzig.«

»Ach was, macht doch nichts«, erwiderte Pietro Gerber.

»Ich hoffe, ich habe mich gut genug mit Sonnencreme eingeschmiert, denn letzten Sommer habe ich mir einen schlimmen Sonnenbrand eingehandelt«, sagte das Mädchen besorgt.

»Nein, nein, es ist alles bestens«, versuchte er sie zu beruhigen. Dann fragte er, um sie abzulenken: »Bist du schön geschwommen?«

»O ja«, antwortete sie zufrieden. »Ganz weit raus, bis zur Boje.«

Das war einer der Gründe, warum er diesen Badeort ausgewählt hatte: Er wusste, dass das Schwimmen sie beruhigte.

»Warum sind wir hierhergekommen?«, fragte sie misstrauisch.

»Weil es wichtig ist, ganz von vorn zu beginnen …«

Lavinia dachte über seine Worte nach. »Von vorn zu beginnen«, wiederholte sie.

»Ich war noch nie in deinem Zimmer«, fuhr er fort, damit der Gesprächsfaden nicht abriss.

Sie blickte sich um. »Früher war das Mamas Zimmer, als sie in meinem Alter war. Ich habe alles so gelassen, wie es damals aussah, habe nichts verändert.«

»Warum nicht?«

»Weil ich weiß, dass sie es so wollte, und sie sich vielleicht geärgert hätte, wenn ich angefangen hätte, überall meine Poster aufzuhängen oder ihre Sachen aus den Regalen zu räumen. Zum Beispiel ihre Muschelsammlung.«

»Erzähl mir ein bisschen von diesem Haus, okay?«

Lavinia dachte darüber nach. »Die Villa hat früher Oma gehört, auch sie ist als Kind schon nach Forte gekommen … Ich glaube, ihr Vater hat das Haus errichten lassen. Er war Schiffsbauer.«

»Dann ist das Haus also schon sehr alt.«

»Ja, und ich weiß, es gibt einen bestimmten Namen für diese großen Fenster mit den bunten Blumen und die gemalten Kletterranken an den Wänden. Oma hat ihn mir mehrmals gesagt …«

»Jugendstil vielleicht?«

»Ja, genau! Das Wort lag mir auf der Zunge!« Ihr Lächeln zauberte Grübchen auf ihre Wangen.

»Wie lange bist du schon nicht mehr hier gewesen?«, fragte der Kinderpsychologe.

Das Mädchen überging seine Frage. »Heute waren viele Leute am Strand«, sagte sie stattdessen. »Im Strandbad Annetta waren lauter Familien mit Kindern, ein Junge hat neben unserem Sonnenschirm eine Sandburg gebaut.«

Gerber überlegte, ob Lavinia vielleicht noch nicht so weit war, den wahren Grund zu erfahren, warum sie hierhergekommen waren, und beschloss, ihr ein bisschen auf die Sprünge zu helfen. »Dieser türkise Bikini steht dir gut.«

»Wirklich?«, fragte sie. Augenscheinlich fühlte sie sich geschmeichelt.

»Ja, wirklich.«

»Wenn Sie nicht darauf bestanden hätten, hätte ich ihn nicht angezogen, ganz sicher. Ich habe mich ein bisschen geschämt, weil ich mindestens ein paar Kilo abnehmen müsste; schauen Sie sich nur diese Fettröllchen an.«

»Nein, ich finde wirklich, er steht dir gut.«

Lavinia war vierzehn, und der Grund, warum ihre Mutter sie zu Pietro Gerber in Therapie geschickt hatte, lag in einer gestörten Wahrnehmung ihres Körpers – sie konnte sich nicht mehr so sehen, wie sie in Wirklichkeit war: ein mageres Vögelchen, das gerade einmal noch dreißig Kilo auf die Waage brachte. Doch zunächst war sich der Psychologe nicht sicher gewesen, ob seine Therapie den gewünschten Erfolg bringen würde. Im Laufe unzähliger Sitzungen hatte er eine Art Barriere in ihrer Psyche ausgemacht, die niemand anders als Lavinia selbst errichtet hatte. Nach und nach war es Gerber jedoch gelungen, sich ihr anzunähern. Die Barriere bestand aus überflüssigen Pfunden, die es nur in ihrer Einbildung gab, und sollte verhindern, dass sie vom Schmerz überwältigt wurde. Doch sie hielt nicht nur den Schmerz fern, sondern auch alles andere – auch die Nahrung, die sie zum Überleben brauchte. Sie zu entfernen hieße jedoch, eine Katastrophe heraufzubeschwören. Stattdessen wollte Gerber Lavinia dazu bringen, auf die andere Seite der Barriere zu blicken.

Auch wenn er wusste, dass dieser Anblick alles andere als angenehm für sie wäre.

Das Hauptproblem jedoch bestand für den Psychologen im Augenblick darin, dass sich das Mädchen äußerst resistent gegenüber seiner Hypnose zeigte. Also hatte er Lavinias Mutter um Erlaubnis gebeten, ihre Tochter in ihr Haus am Meer bringen zu dürfen, wo das Mädchen laut eigenem Bekunden die schönste Zeit ihres Lebens verbracht hatte.

»Wer schläft in dem Zimmer dort?«, fragte der Therapeut nach einer kurzen Pause.

»Das rechts ist das Zimmer von Mama«, antwortete das Mädchen, ohne zu zögern.

»Und was ist in dem linken?«

Lavinias Miene verdüsterte sich. »Nichts, nichts ist da drin«, beeilte sie sich zu sagen. »Das Zimmer ist leer.«

»Bist du sicher?«, bohrte Gerber nach. »Warum gehen wir nicht nachsehen?«

Das Mädchen dachte darüber nach.

»Nicht jetzt.«

»Komm schon, gib mir deine Hand: Ich begleite dich, wir gehen zusammen hinein. Das scheint mir keine große Sache zu sein …«

»Also gut«, sagte sie zaghaft.

Für Gerber war es eine wichtige Zieletappe. Er ließ sich von ihr führen.

»Es ist abgeschlossen«, stellte Lavinia fest, als sie die Tür erreichten.

»Aber der Schlüssel steckt, siehst du?«, ermunterte der Psychologe sie.

Doch Lavinia konnte sich nicht dazu durchringen, ihn umzudrehen.

»Was hast du?«, fragte er, obwohl er die Antwort kannte. Die Tür vor ihnen war nicht einfach nur eine Tür, sondern eine Grenze. Das verbotene Zimmer. Wenn Lavinia es betrat, würde sich ihr Leben für immer verändern. Und sie war nicht bereit dafür. Noch nicht.

Sie antwortete, fast wütend: »Und was soll da drin passieren: Wollen Sie versuchen, mich zu hypnotisieren, so wie die anderen Male auch? Vielleicht wenden Sie sogar irgendeinen neuen Trick an …«

»Ich habe dir doch erklärt, wie es geht: Eine solche Macht besitze ich nicht; du allein entscheidest, ob du dich darauf einlassen möchtest. Wenn du nicht bereit dazu bist, kann ich auch nicht in deine Psyche gelangen.«

Ihr Atem beschleunigte sich. Sie starrte die geschlossene Tür an.

»Ich möchte nicht mehr hierbleiben, lassen Sie uns gehen«, sagte sie in bestimmtem Ton.

»Früher oder später wirst du diese Tür öffnen müssen, Lavinia. Das weißt du ganz genau.«

»Aber nicht heute, nicht jetzt.«

Doch Gerber blieb beharrlich. »Was ist in diesem Zimmer? Und warum macht es dir eine solche Angst?«

»Nicht jetzt, ich bitte Sie«, sagte sie flehend.

»Es kann dir nichts passieren, ich bin bei dir«, versuchte er sie zu beruhigen.

Wieder ein kurzes Schweigen, dann fragte das Mädchen: »Stimmt es, dass man Sie den ›Kinderflüsterer‹ nennt?«

»Ja«, antwortete der Hypnotiseur.

»Wie kann ich sicher sein, dass das, was Sie mit mir machen möchten, mir nicht schadet?«

Sie musterte ihn, versuchte herauszufinden, ob sie ihm vertrauen konnte. Das war ein bedeutender Schritt nach vorn.

»Ich werde dir ein Geheimnis verraten, okay?«

»Okay«, sagte sie, ein wenig entspannter.

»Welcher Tag ist heute?«

Die Frage überraschte sie. »Ich weiß es nicht genau.« Sie wirkte verwirrt. »Aber ich glaube, es ist Februar.«

»Stimmt. Und kommt es dir nicht merkwürdig vor, dass es im Februar schon so warm ist und du sogar im Meer geschwommen bist?«

»Ja, schon«, räumte das Mädchen ein. Dann dämmerte es ihr plötzlich. »Wir sind gar nicht in der Villa in Forte dei Marmi … Wir sind in meinem Kopf …«

Gerber sagte nichts.

»Das ist nicht möglich«, fuhr sie ungläubig fort. »Es ist alles so … real.«

»Dein Geist ist zurzeit der sicherste Ort auf der Erde, Lavinia. Hier kann dir nichts Schlimmes zustoßen, glaub mir.«

»Haben Sie das gemeint, als Sie vorhin sagten, wir müssten ganz von vorn anfangen?«

»Ja«, antwortete er.

»Ich mag nicht hierbleiben, mir gefällt die Vorstellung nicht, ganz von vorn anzufangen.« Das Mädchen bekam Atemnot, war kurz davor, zu hyperventilieren. »Ich möchte von hier weg, wie kommt man hier raus?«

Offensichtlich erzielte das Experiment leider nicht die gewünschte Wirkung, und Gerber konnte sie nicht zwingen, an diesem Ort zu bleiben. »Gut, wie du willst«, sagte er möglichst gelassen. »Gleich wirst du einen Ton hören, du brauchst keine Angst zu haben.«

»Ja, ich höre ihn«, erwiderte das Mädchen.

Ein regelmäßiges metallisches Klopfen. Es war die ganze Zeit unterschwellig da gewesen, jedoch in Lavinias Unterbewusstsein immer weiter in den Hintergrund getreten.

»Wir zählen jetzt gemeinsam von zehn rückwärts … Bist du bereit?«

»Ja.«

3

Noch bevor sie mit dem Rückwärtszählen fertig waren, hatte Lavinia bereits die Augen geöffnet. Sie wiegte sich nicht länger im Schaukelstuhl, sondern blickte sich verwirrt um. Die Praxis im Dachgeschoss. Die Bibliothek. Der rote Teppich mit den Spielzeugmotiven. Das Feuer im offenen Kamin. Die Balken an den Dachschrägen. Das graue Licht eines regnerischen Nachmittags, das durch die zugezogenen Vorhänge hereinsickerte. Durch einen Spalt konnte man in der Ferne die Piazza della Signoria sehen.

Gerber schaltete das digitale Metronom aus. Das Ticken, das sie wie ein Taucherseil zurückgeholt hatte, erstarb und machte dem Knistern des Kaminfeuers Platz. »Noch nicht gleich aufstehen, warte noch«, sagte er, um zu verhindern, dass ihr schwindelig wurde. »Wie fühlst du dich?«

»Gut … Ja, es geht mir gut …«, antwortete sie, und es klang wie eine Bestätigung gegenüber sich selbst. Noch immer im Schaukelstuhl zurückgelehnt, sah sie den Psychologen an, und einen Moment lang schien es, als würde sie sein Äußeres in Augenschein nehmen. Oranger Pullover, Brille mit kleinen Gläsern, zerzauste Haare. Vielleicht wollte sie sich vergewissern, dass er tatsächlich real war. »Wie ist es passiert?«, wollte sie wissen. »Ich habe nichts mitbekommen …«

Lavinia hatte sich zum ersten Mal vollkommen auf eine Hypnose eingelassen.

»Dass du nichts davon mitbekommen hast, ist sogar essenziell«, sagte Gerber. »Aber das Ganze hat Zeit gebraucht. Und du hast alles allein gemacht: Mit jeder Sitzung hast du eine weitere Stufe erklommen.«

»Und was wird jetzt passieren?«, fragte sie ängstlich.

»Du hast die Tür gesehen. Früher oder später wirst du die Kraft aufbringen, sie zu öffnen«, versicherte ihr Gerber. Er stand von seinem Sessel auf, um die Vorhänge zurückzuziehen. Hinter den von Feuchtigkeit trüben Fenstern versteckte sich Florenz, das allenfalls zu erahnen war.

»Und wenn es nie passiert?«

Diese Frage weigerte sich Gerber zu stellen, denn wenn Lavinia nicht den Mut aufbringen würde, die Türklinke hinunterzudrücken, würde sie für den Rest ihres Lebens unter dieser dunklen Macht leiden müssen, die jenseits der Schwelle wohnte. »Wir werden uns etwas einfallen lassen«, versuchte er sie zu beschwichtigen.

Lavinia sah auf die Uhr: »Bald wird Mama mich abholen kommen, vielleicht wartet sie unten schon auf mich. Ich habe gleich Schwimmen, und anschließend muss ich meine Hausaufgaben machen.«

Gerber bemerkte, dass das Mädchen ihre übliche Grundstimmung zurückerlangt hatte, sie wirkte wieder gelassen und allem Anschein nach heiter. Kinder besaßen eine unglaubliche Kraft, die Fähigkeit, sich selbst »wiederherzustellen«. Aber das funktionierte nicht immer, oft erweckte es nur den Anschein. Der Psychologe reichte ihr die Hand und half ihr aufzustehen. Als sie sie ergriff, erschien ihre Hand ihm federleicht, wie ein Luftballon, der gleich davonfliegen würde. »Dann sehen wir uns Donnerstag nach der Schule wieder?«

Das Mädchen nickte, dann nahm sie ihre Jacke vom Garderobenständer, schlüpfte hinein, hob den Rucksack mit ihren Büchern vom Boden auf und ging lächelnd hinaus. »Auf Wiedersehen, Dr. Gerber.«

Er sah zu, wie sie in den Flur hinaustrat und an der gegenüberliegenden Tür vorbeiging: Lavinia konnte nicht wissen, dass es auch im Leben ihres Therapeuten eine verschlossene Tür gab. Gerber vermied es, die Praxis des Herrn B. zu betreten. In den vergangenen fünf Jahren hatte er nicht einmal die Kraft aufgebracht, sie auszuräumen oder den Raum anderweitig zu verwenden. Trotz seiner Ablehnung gegenüber seinem Vater hatte er seit seinem Tod alles im ursprünglichen Zustand belassen.

»Nimm dir einen Apfel aus dem Korb!«, rief er ihr noch nach, während er sie in Richtung Ausgang laufen hörte. Im Vorzimmer stand immer ein Korb mit frischen Äpfeln, damit sich seine kleinen Patienten davon bedienen konnten.

Als die Stille ihm bedeutete, dass er wieder allein war, kehrte der Psychologe zu seinem Eames Lounge Chair mit der Palisander-Sitzschale und dem schwarzen Lederbezug zurück; im Polster hatte sich inzwischen eine Kuhle mit seiner Gesäßform gebildet, mit dem Ergebnis, dass niemand sonst ihn bequem fand. Er griff zu seinem Füllfederhalter und dem schwarzen Notizbuch, das Lavinias Fall vorbehalten war, und begann zu schreiben.

Sitzung vom 23. Februar 2021

Anmerkungen

Nach fast dreimonatiger Therapie hat Lavinia einen großen Schritt gemacht: Sie hat mir erlaubt, sie in eine familiäre Umgebung zu führen, wo sie sich sicher fühlt.

Dennoch lässt sie erkennen, dass sie noch nicht bereit ist: Ein Teil von ihr sträubt sich, ein elementares Erinnerungsfragment aus ihrer Kindheit hervorzuholen. Aber die Weigerung, sich zu erinnern, ist nicht länger das Ergebnis eines Kompromisses mit sich selbst, um weiterleben zu können – für sie ist dies im wahrsten Wortsinn eine Überlebensstrategie geworden.

In Anbetracht ihrer fragilen Psyche ist es jetzt unerlässlich, den eingeschlagenen Weg weiterzubeschreiten und gewissen Ereignissen vorzubauen.

Das Phantom, das in ihrem Inneren wohnt, wird sie früher oder später seine Gegenwart spüren lassen.

Gerber klappte das Notizbuch zu, blieb aber noch im Sessel sitzen. Instinktiv richtete er den Blick auf die rote Glühbirne, die direkt vor ihm an der Decke hing. Sie war mit einem Schalter an der Wand des Vorzimmers verbunden. Diese Glühbirne war Teil einer Übereinkunft mit seinen kleinen Patienten, die besagte, dass sie nicht gleich nach ihrer Ankunft mit der Therapie beginnen mussten. Sie konnten noch ein wenig im Vorzimmer verweilen und den Schalter erst drücken, wenn sie bereit waren, woraufhin Gerber sie zu sich hereinbat.

Die Sitzung mit Lavinia war die letzte des Tages gewesen. Der Psychologe hatte in seinem Terminkalender Zeit blockiert, um einen Artikel für eine psychologische Fachzeitschrift zu schreiben, merkte jetzt jedoch, dass er nicht in Stimmung dafür war. Er wollte einfach nur noch nach Hause gehen und Silvia einen Strauß Blumen mitbringen, um später dann mit Marco zu spielen – sein Sohn war dreieinhalb und liebte Dinosaurierkämpfe. Auch hier war der Teppich mit Spielzeugen, Buntstiften und Malbüchern übersät, doch die waren dazu da, den Kindern einen Ort zu suggerieren, an dem sie sich sicher fühlen konnten. Allerdings stimmte das oftmals nicht.

Denn genau hier begegneten viele von ihnen ihren inneren Dämonen.

Beflügelt von seinem Entschluss, gleich nach Hause zu gehen, erhob er sich aus seinem Sessel und zog die Tür eines Regalfachs auf. Dahinter standen in Reih und Glied die Notizbücher mit dem anonymen schwarzen Einband, in denen er seine Beobachtungen zu den Sitzungen festhielt.

Er stellte das von Lavinia an seinen Platz zurück.

Nachdem er die Tür des Regalfachs wieder zugemacht hatte, wollte er die Deckenlichter ausschalten, beschloss aber, zuvor noch die Reste des Feuers im offenen Kamin zu löschen. Angesichts der noch zahlreich vorhandenen Holzscheite wäre es unvorsichtig gewesen, das Feuer brennen zu lassen. Obgleich es nicht das erste Mal gewesen wäre, dass er, in Gedanken versunken, vergessen hätte, es zu löschen.

Er sei kopflos, würde Lavinia sagen. Während er mit dem Schürhaken die glühenden Holzstücke zerkleinerte, dachte Gerber daran, wie oft die Ermahnungen seiner Frau ihn vor Ungemach bewahrt hatten. Plötzlich schien es ihm, als wäre die Eingangstür auf- und wieder zugegangen.

»Lavinia?«, rief er, in der Annahme, sie habe vielleicht etwas vergessen und sei nochmals zurückgekommen.

Es kam keine Antwort.

Wahrscheinlich ein Luftzug, dachte er. Während er weiter mit dem Schürhaken hantierte, dachte er daran, dass an der nächsten Straßenecke ein Blumenladen war und Silvia und er, nachdem sie Marco schlafen gelegt hätten, einen alten Film anschauen und auf dem Sofa kuscheln könnten. Doch ein kurzes rotes Aufleuchten riss ihn aus seinen Gedanken.

Er sah zu der Deckenlampe hinauf. Sie ging nicht noch einmal an. Aber diesmal war es eindeutig kein Luftzug gewesen.

Er richtete sich auf und wischte sich die Hände ab, um nachsehen zu gehen.

Er trat in den Flur: Da war niemand. Dann ging er in Richtung Vorzimmer und blickte um die Ecke, doch auch dort war niemand. Der rote Schalter für die Patienten sah ihn an wie ein unbewegliches Auge, das aus der Wand ragte. Er ging zur Tür, stieß sie auf und blickte auf den Treppenabsatz hinaus. Auch hier keine Menschenseele. Er wurde sich bewusst, dass er instinktiv auf sich entfernende Schritte auf der Treppe lauschte. Aber er hörte nichts. Er beugte sich über das Geländer, konnte jedoch im dunklen Treppenhaus unter ihm nichts erkennen.

»Ist da wer?«, rief er vorsichtig in die Stille hinein, als würde ein Eindringling das dringende Bedürfnis haben, auf so eine Frage zu antworten. Seine Stimme hallte in dem trostlosen hohen Raum wider, und Gerber schämte sich ein bisschen, weil er ein kindisches Herzklopfen spürte.

Er kehrte in die Mansarde zurück und schloss die Tür ab; diesmal vergewisserte er sich, dass sie auch wirklich zu war. Er schüttelte belustigt den Kopf. Bestimmt hatte ihm seine Psyche einen Streich gespielt, sagte er sich. Wie oft hatte er zu seinen kleinen Patienten gesagt, dass sie nicht alles glauben sollten, was sie sahen? Wahrscheinlich lag es an der Nachwirkung seiner Sitzung mit Lavinia, denn häufig war auch der Hypnotiseur bis zu einem gewissen Grad in die Trance involviert. Doch als er in sein Behandlungszimmer zurückeilen wollte, fiel sein Blick zufällig auf den Korb mit Äpfeln im Vorzimmer. Er trat näher, um herauszufinden, ob das, was er im ersten Moment sah, womöglich ebenfalls ein Produkt seiner Fantasie war. Aber als er den obersten Apfel in die Hand nahm, bemerkte er, dass seine Beobachtung der Realität entsprach.

Jemand hatte eine Nähnadel mit einem langen blauen Baumwollfaden in die Frucht gesteckt.

4

Auch wenn es erst fünf Uhr nachmittags war, hatte sich bereits winterliche Dunkelheit auf Florenz gesenkt, ein schwarzer Dunst waberte durch die Gassen und Straßen des historischen Zentrums.

Während er in seinem Burberry mit einem Strauß gelber Tulpen in der Hand die Via dei Calzaiuoli entlangging, konnte Pietro Gerber an nichts anderes als die Nadel mit dem langen blauen Faden denken, die in dem Apfel steckte. Als strikt rational denkender Mensch weigerte er sich hartnäckig, auch nur in Erwägung zu ziehen, dass dieser so verantwortungslose und gefährliche Akt mit seiner merkwürdigen Wahrnehmung von zuvor zu tun haben könnte, dass jemand die Mansarde betreten und gleich wieder verlassen hatte.

Nein, bestimmt hing es mit etwas anderem zusammen.

Die Äpfel waren frisch, er hatte sie am Morgen in einem kleinen Obstgeschäft gekauft und anschließend selbst in den Korb getan. Und nirgendwo hatte eine Nadel gesteckt, dessen war er sich sicher. Die einzige Erklärung, die ihm einfiel, war, dass sich einer seiner kleinen Patienten einen Scherz erlaubt hatte, oder schlimmer noch, dass es die absichtliche Tat einer erwachsenen Begleitperson gewesen war. Im Geiste ging er alle Patienten und Patientinnen in der Reihenfolge durch, in der sie an diesem Tag eingetroffen waren. Den kleinen Filippo konnte er ausschließen, war dieser doch erst fünf und von einem so fügsamen, fast unterwürfigen Wesen, dass er sich unmöglich so etwas hätte ausdenken können. Sein Vater indessen war durchaus ein potenzieller Verdächtiger: Er hatte vor Kurzem seine Arbeit verloren und stand unter Stress. Doch dann rief sich Gerber in Erinnerung, dass der Mann ihm seinen Sohn gebracht hatte und direkt wieder davongeeilt war, um die Therapiesitzung seines Sohnes für ein paar dringende Besorgungen zu nutzen. Camilla wiederum hatte keine Gelegenheit gehabt, sich allein im Vorzimmer aufzuhalten: Gerber hatte sie auf dem Treppenabsatz in Empfang genommen und sie hinterher ins Erdgeschoss hinunterbegleitet, wo ihre Großmutter auf sie gewartet hatte, die aufgrund ihrer Arthrose Schwierigkeiten mit dem Treppensteigen hatte. Der zehnjährige Martin war allein erschienen; theoretisch hätte er es gewesen sein können, doch Gerber schloss ihn aus dem möglichen Täterkreis aus, befand sich der Junge doch noch in der akuten, schmerzhaften Phase der Trauer um seine Eltern, die beide bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Blieb nur noch Lavinia, aber auch in ihrem Fall weigerte sich Gerber, sie in Betracht zu ziehen; sie hielt er eher für dazu fähig, sich selbst etwas anzutun.

All diese Kinder kamen zu ihm, um ein Trauma zu überwinden, eine Ess-, Verhaltens- oder affektive Störung. Das Leben hatte sie bereits auf eine harte Probe gestellt, und sie verfügten noch nicht über die Mittel, dessen Fallstricken aus dem Weg zu gehen. Piero Gerber wusste sehr gut, dass die hypnosegestützte Psychotherapie sowohl für sie als auch für ihre verzweifelten Eltern der rettende Strohhalm war, an den sie sich klammerten. Daher bereitete es ihm ein gewisses Unbehagen, seine fragilen und unglückseligen Patienten und Patientinnen in diesem neuen Licht zu betrachten.

Momentan war sein einziger Trost, dass gottlob keiner von ihnen im Weggehen den Apfel mit der Nadel darin mitgenommen hatte. Statt sie wegzuwerfen, hatte er die Nadel in den Kragen seines Trenchcoats gesteckt, um sie nachher Silvia zu zeigen und sie nach ihrer Einschätzung zu fragen. Er beschloss, die Nadel am Kragen als eine Art Mahnung stecken zu lassen, bis er hinter ihr Geheimnis gekommen wäre. Eine Lehre hatte er indes bereits aus der Sache gezogen: In Zukunft würde er immer die Eingangstür der Mansarde abschließen, auch wenn er sich drinnen aufhielt.

Während er versuchte, seine Beklemmung abzuschütteln, bog Gerber in die Via delle Oche ein, wo er – als handelte es sich um einen städtebaulichen Scherz – im Widerhall seiner Schritte das Geschnatter der Gänse zu hören meinte, denen die Straße ihren Namen verdankte, wurde hier doch im Mittelalter an Allerheiligen ein Gänsemarkt abgehalten. Er passierte einen Adelspalast aus dem vierzehnten Jahrhundert und den mittelalterlichen Torre dei Visdomini und bog in die Via dello Studio ein, wo sich seit 1860 das Feinkostgeschäft Pegna befand. Ursprünglich war es eine Manufaktur für chemische Produkte gewesen, die aus irgendeinem Grund mit der Zeit begann, ihre Kunden auch mit Lebensmitteln zu versorgen. Und so hatte sich zu dem Malereifachgeschäft, wo es alle möglichen Farben und Lacke gab, ein Laden beigesellt, in dem man alle möglichen Delikatessen fand. Als Kind war Gerber oft mit Herrn B. dort gewesen, und häufig waren sie nicht nur mit Wachs, das der Vater für die Politur seiner Bilderrahmen brauchte, zurückgekehrt, sondern obendrein mit einer Tüte kostbarer Bonbons mit Kräuterlikörfüllung.

Als er jetzt davorstand, dachte Gerber, dass er dort bestimmt etwas finden würde, womit er Silvia zusätzlich zu den Blumen eine Freude machen könnte.

Kurz darauf ließ er sich Schinken vom Cinta Senese, einer alten toskanischen Schweinerasse, und einen gut gereiften Pecorino auf einem Papptablett anrichten und hübsch verpacken. Bestimmt würde seine Frau sich freuen, wenn er früher als sonst nach Hause käme, noch dazu mit diesen Köstlichkeiten. Und dazu würde er eine Flasche Brunello entkorken.

Nun fehlte nichts mehr für einen perfekten Abend zu Hause!

Gerber war überzeugt, dass derlei Aufmerksamkeiten eine Ehe lebendig hielten, auch wenn sie mitunter leidgeprüft sein mochte. Wie alle Paare hatten auch Silvia und er in den letzten fünf Jahren Höhen und Tiefen erlebt, jedoch nichts, was sich aus seiner Sicht nicht reparieren ließ. Bis hin zum »Fall Hanna Hall«. So nannten sie ihn, als wollten sie einen Sicherheitsabstand zu den Ereignissen einhalten, die ihre Beziehung auf eine harte Probe gestellt hatten. Damals hatte Gerber seine Frau und den gemeinsamen Sohn vorübergehend weggeschickt, um sie vor einer geheimnisvollen Patientin zu schützen – der einzigen erwachsenen Person, die er je behandelt hatte. Doch Silvia hatte sich im Vergleich zu ihm als reifer erwiesen, hatte eine staunenswerte Weitsicht und Willensstärke an den Tag gelegt, die Krise unter Kontrolle gebracht und so verhindert, dass ihre Beziehung in die Brüche ging.

Als er an diesem Abend voller Vorfreude ihre Wohnung betrat, bot sich Pietro allerdings ein unerwartetes Bild. In der Diele stand eine Vase mit den gleichen gelben Tulpen, wie er sie in der Hand hielt. Während er sich fragte, wie das möglich war, empfing ihn die Wohnung mit einem undurchdringlichen Schweigen. Das plötzliche Gefühl der Leere umgab ihn. Beunruhigende Fragen jagten ihm durch den Kopf. Warum ist niemand zu Hause? Wo sind sie hingegangen? Was ist passiert? Dann kam ihm in der Dunkelheit das Gespenst der Wirklichkeit mit einem stummen Schrei entgegen.

Nachdem er Silvia und Marco weggeschickt hatte, waren sie nicht wieder zurückgekehrt.

5

Die bewusste Unterdrückung von Erinnerungen war eine sehr gefährliche Autohypnose-Technik. Vor allem weil es sich im Grunde nur um eine temporäre Notlösung handelte.

Jeden Morgen, ehe er das Haus verließ, unterzog sich Pietro Gerber üblicherweise einer Reihe von Distanzierungsübungen: Mithilfe der Atmung konnte man die Psyche trainieren, die Ursache des Schmerzes in einen abgelegenen Winkel zu verbannen. Das funktionierte nicht immer. Aber es war die einzige Möglichkeit, die Gerber kannte, um nicht zu psychotropen Substanzen und Antidepressiva greifen zu müssen, die wiederum seine Arbeit mit den Patienten beeinträchtigt hätten.

Die Blumen in der Vase habe ich selbst mitgebracht. Und zwar gestern Abend, erinnerte er sich nun.

Dann betrat er die Wohnung mit den freskengeschmückten gewölbten Decken, die sich in einem alten Palazzo im historischen Zentrum von Florenz befand. Während er im Dunkeln die leeren Zimmer abging, kam ihm nach und nach auch die restliche Realität wieder zu Bewusstsein. Silvia war nach Livorno gezogen, hatte die Scheidung eingereicht, die inzwischen rechtskräftig war, und lebte mittlerweile mit einem neuen Partner zusammen. Zurzeit pflegten sie einen zwar respektvollen, aber auf das Nötigste beschränkten Umgang. Das Gericht hatte verfügt, dass Gerber den gemeinsamen Sohn jedes zweite Wochenende zu sich holen durfte. Doch nachdem das Kind anfangs mehrmals zum Ausdruck gebracht hatte, sich in der alten Wohnung in Florenz unwohl zu fühlen, hatte er sich mit seiner Ex-Frau auf sonntägliche Besuche geeinigt.

Und die Ursache von alldem war Hanna Hall gewesen.

Parallel zu ihrem Erscheinen war Pietro Gerbers Leben in die Brüche gegangen. Es hatte sich um eine wahre Explosion gehandelt, jedoch eine in Zeitlupe, sodass er Stück für Stück dabei hatte zuschauen können, was um ihn herum passierte, ohne es aufhalten zu können. Und das Schlimmste dabei war, dass Hanna Hall spurlos verschwunden war, noch ehe Gerber Antworten auf all seine Fragen erhalten hatte. So war der Psychologe mit einer Reihe ungelöster Fragen zurückgeblieben, die ihn noch immer verfolgten.

Und die Rückstände dieser verheerenden Explosion bildeten eine dumpfe Einsamkeit.

 

Gerber warf die Tulpen in den Mülleimer und entkorkte eine Flasche Wein. Er nahm das beschichtete Papptablett mit dem Schinken und dem Käse mit ins Wohnzimmer, ließ sich erschöpft auf das Sofa sinken und schaltete den Videorekorder ein.

Silvia hatte auf einem Flohmarkt eine alte Videokamera erstanden und sich eine Zeit lang darauf versteift, ihre Familienerinnerungen müssten die gleiche Körnung und die gleichen Lichtverhältnisse haben wie die Aufnahmen aus den Neunzigerjahren, als Pietro und sie noch klein waren. Ursprünglich für Marco bestimmt, war die Videokassette schließlich Gerber geblieben, als einziges Relikt einer, wie es einmal schien, großen Liebe.

Er sah sie sich jeden Abend an. Ohne Ton, denn so tat es weniger weh.

Fünfundvierzig spärliche Minuten mit verschiedenen Fragmenten. Auf dieser Kassette waren ein paar Geburtstage, Sonntagsausflüge, Urlaube am Meer und Weihnachten festgehalten. Dem Fluss der Zeit entrissen, ehe die Videokamera endgültig kaputtging, genau wie alles andere auch.

Sich dieses Filmmaterial wieder und wieder anzuschauen, hätten wohl die meisten Menschen als vermeidbare Qual betrachtet. Doch Gerber jagte beim Anschauen nicht dem unmöglichen Wunsch hinterher, dass alles wieder so würde, wie es einmal war. Nein, er suchte in diesen Filmsequenzen nach einem Detail, das sich ihm bislang entzog, einem entscheidenden Indiz, warum es nicht funktioniert hatte, nach dem Fehler, der ihm unterlaufen war, dem Riss, der dem Zusammensturz vorausgegangen war. Als könnte man diese Dinge wieder reparieren, wenngleich nur in der Vergangenheit, als besäße er die Zauberformel, um die Zeit zurückzuspulen.

Der wirkliche Grund für das Scheitern seiner Ehe fand sich allerdings nicht in diesem Video – und Pietro Gerber kannte ihn, auch wenn er ihn sich nicht eingestehen wollte.

Und so begnügte er sich letztendlich damit, diese lachenden Menschen dort auf dem Bildschirm zu warnen. Ach, wenn er doch nur sich selbst und Silvia und Marco vor dem hätte warnen können, was sich da anbahnte, sodass wenigstens sie drei hätten gerettet werden und weiterhin glücklich sein können, wenigstens in dem Video.

Ganz von vorn anfangen. Sagte er das nicht immer wieder zu seinen kleinen Patienten? Erst vorhin hatte er es zu Lavinia gesagt, hatte bekräftigt, wie wichtig es sei, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen. Aber er selbst brachte nicht den Mut dazu auf, und wenn er mithilfe der Autohypnose die eigene Erinnerung abspulte wie eine Videokassette, brach er jedes Mal kurz vor dem Punkt ab, an dem alles einzustürzen begann.

Weil das, was er immer wieder bis in alle Ewigkeit erleben wollte, nicht die Vergangenheit war, sondern exakt jener Moment. Als alles perfekt war.

Den Blick auf den Fernsehbildschirm gerichtet, aß er sein Abendbrot und ließ zu, dass der Alkohol die Angst allmählich dämpfte und das, was er sah, erträglich machte. Er ertappte sich dabei, wie er an die vielen Male dachte, als er genau an diesem Platz gesessen und darauf gewartet hatte, dass Silvia aus dem Kinderzimmer zurückkam, nachdem sie Marco ins Bett gebracht hatte. Auf ihre Schritte, die sich im Halbdunkel des Flurs näherten, ihr Erscheinen in der Tür. Oft hatte er sie dann unter irgendeinem Vorwand an sich gezogen, und dann hatten sie sich an Ort und Stelle geliebt, zwischen diesen Kissen. Eilig, aus Angst, dass ihr Sohn aufwachen und sie unterbrechen könnte. Jetzt stellte er sich vor, wie er ihr die Haare in den Nacken strich, das Gesicht an ihren warmen Hals schmiegte und sie dann ausgiebig küsste. Er stellte sich vor, wie seine Frau den Kopf zurücklegte und gleichzeitig die Augen schloss und sich seinen Zärtlichkeiten hingab. Wie er ihr die Bluse aufknöpfte und eine Brust liebkoste. Und er spürte, wie sie die Hand in seine Hose gleiten ließ und sein Glied zu massieren begann, wie sich ihr Atem mit seinem vermischte. Aber als Silvia ihm in seiner Vorstellung das Gesicht zuwandte, um seine Lippen zu suchen, war sie nicht mehr sie.

Sie war Hanna.

Auch jetzt noch gelang es der Unbekannten, die aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit gekommen war, in diesen intimen, privaten Bereich seines Lebens einzudringen. Und er konnte nichts dagegen tun, war machtlos, diesem Zauber hilflos ausgeliefert, der bereits einen großen Teil seiner Existenz zunichtegemacht hatte. Aber vielleicht wollte er sich ja so fühlen: ausgelöscht in der Umarmung mit diesem merkwürdigen Wesen, das zwei Köpfe, zwei Identitäten besaß. Denn in seinem Tagtraum wechselten Silvia und Hanna einander unaufhörlich ab, als handle es sich um ein gescheitertes Klon-Experiment.

Der verführerische Albtraum wurde von dem rauen Geräusch der Türklingel unterbrochen.

Unvermittelt fühlte sich Gerber wieder nüchtern, die Wirkung von Alkohol und Gedanken an Sex verflog schlagartig. Es war schon nach zehn Uhr. Wer wollte um diese Uhrzeit etwas von ihm?

 

Er schaltete den Videorekorder aus und ging mit dem Weinglas in der Hand die Wohnungstür öffnen. Vor ihm standen zwei Männer in dunklen Anzügen. Er wusste auf Anhieb, dass es sich um zwei Carabinieri in Zivil handelte. Nur Polizisten banden ihre Krawatten so, als wären sie Bestandteil einer Uniform.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte Gerber, nachdem sie ihm ihre Dienstausweise gezeigt hatten.

»Sie müssen bitte mit uns kommen, Dr. Gerber.«

»Ich gehe nirgendwohin, wenn Sie mir nicht verraten, worum es geht.«

»Frau Baldi, die Richterin, schickt uns, sie möchte Sie sehen.«

Die alte Richterin und Freundin hatte ihn früher häufig um ein Gutachten für das Jugendgericht gebeten. Nach dem Fall Hanna Hall hatte Gerber jedoch auch die Brücken zu ihr abgebrochen. Aber zu einer so ungewöhnlichen Uhrzeit hatte sie ihn noch nie einbestellt, geschweige denn von zwei Polizisten abholen lassen.

Also musste etwas Schwerwiegendes vorgefallen sein.

»Eine reine Formalität«, sagte einer der beiden Carabinieri, offensichtlich eine Notlüge, um den Widerstand des sich sträubenden Psychologen zu brechen. »Die Richterin braucht Ihren Rat.«

Gerber wusste, dass es zwecklos wäre, sich zu weigern, doch entsann er sich mit einem Schauder, dass auch der Fall Hanna Hall mit einem harmlos scheinenden Anruf begonnen hatte. »Ich gehe nur rasch meinen Mantel und ein neues Notizbuch holen«, sagte er.

Hauptsache, er konnte dem Wiedersehen mit den Geistern seiner Vergangenheit und all den schlimmen Erinnerungen entfliehen.

6

Die Schritte der beiden Zivilpolizisten, die vor ihm hergingen, hallten im Gleichklang durch die verwaisten Straßen, diese wie Eingeweide ineinander verschlungenen Gassen des historischen Stadtzentrums. Schweigend legten sie die kurze Strecke bis zu dem einzigen schmucklosen Palazzo inmitten der Prachtbauten aus dem vierzehnten Jahrhundert zurück, die die Via della Scala säumten.

Das Gebäude, in dem das Jugendgericht untergebracht war, blickte auf ein wechselvolles Schicksal im Lauf der Jahrhunderte zurück.

Ursprünglich war es ein Hort für Waisen, uneheliche Kinder und verlassene Neugeborene gewesen. Der Orden, der damals das Waisenhaus betrieb, hatte sich der karitativen Aufgabe verschrieben, die Kinder nicht nur aufzunehmen, sondern sie auch vor jenen zu verstecken, die ihre Geburt für ein göttliches Versehen hielten. Es hieß, die Mauern seien so dick gewesen, damit nichts von dem, was in ihnen geschah, nach außen drang. Auch wenn an diesem Ort jetzt auf Minderjährige zugeschnittenes Recht gesprochen wurde, war seine beunruhigende Vergangenheit noch immer zu spüren – etwa das erstickte Wehklagen, das bisweilen zu hören war, auch wenn einige meinten, dass dies wohl eher von den böigen Winden der Tramontana stammte, denen die alten Gemäuer bisweilen ausgesetzt waren. Aber vielleicht hatten die massiven Steinmauern auch das Weinen der Kinder bewahrt.

Nach Sonnenuntergang war Pietro Gerber noch nie hier gewesen.

Die Carabinieri begleiteten ihn bis zu der prunkvollen Marmortreppe, die zu den oberen Geschossen führte. Anita Baldi erwartete ihn bereits auf dem mittleren Treppenabsatz. Kerzengerade stand sie in ihrem dunklen Kostüm da, die grauen Haare zu einem Knoten geschlungen. Obgleich längst im Rentenalter, hatte sie bereits mehrmals darum gebeten, ihre Pensionierung aufzuschieben. Und an oberster Stelle war man froh, dass sie dem Gericht weiterhin erhalten blieb.

Nicht nur verfügte sie über die meiste Erfahrung, was Kinder anbelangte. Sie war einfach die Beste, darin waren sich alle einig.

Ihr besorgter Ausdruck sagte dem Psychologen, dass es sich keineswegs um eine Formalie handelte, wie man ihm gesagt hatte, und die Richterin nicht nur einen fachlichen Ratschlag von ihm haben wollte. Vermutlich erwartete ihn eine ganz andere Aufgabe.

Die Richterin bat ihn in ihr Büro im ersten Stock. Die Wand hinter dem Schreibtisch von Anita Baldi schmückte ein merkwürdiges Fresko, das bis zur Decke reichte. Darauf war ein kleiner Ausschnitt der Hölle abgebildet. Im späten Mittelalter waren in diesem Zimmer Prostituierte und unverheiratete junge Frauen und Mädchen niedergekommen. Zur Strafe mussten die Gebärenden, während sie die Frucht ihrer Sünde zur Welt brachten, diese Szene anschauen. Doch jetzt wurde dieses Werk eines unbekannten Künstlers fast vollständig von einer riesigen Collage aus Zeichnungen verborgen, die Kinder, mit denen die Richterin im Lauf ihrer Karriere zu tun gehabt hatte, ihr geschenkt hatten. Jedes Mal, wenn Gerber sie erblickte, kamen ihm die Votivgaben in den Sinn, die Gläubige als Unterpfand für die von ihnen erbetene göttliche Gnade in Kirchen dargebracht hatten. Im Grunde hatte auch diese mutige Frau, wenngleich sie freilich kein Heilige war, manche Menschenseele gerettet.

Anita Baldi sparte sich die üblichen Höflichkeitsfloskeln und ließ auch kein Wort zu Gerbers familiärer Situation oder überhaupt seinem Privatleben fallen – oder darüber, dass er so mitgenommen aussah. Obwohl sie sich seit mehr als anderthalb Jahren nicht mehr gesehen hatten. Die Richterin beschränkte sich auf eine einzige Frage.

»Wie geht es dir?«

»Gut.«

Sie gab sich mit seiner übereilten Antwort zufrieden, vielleicht weil er der Einzige war, an den sie sich mit ihrem Anliegen wenden konnte. Sie berichtete ihm in knappen Worten, worum es ging.

Ein Kind war gefunden worden.

Und zwar im Morgengrauen des heutigen Tages im Wald von Mugello, wo eine betagte Pferdezüchterin, die mit ihren Hunden dort spazieren gegangen war, das Kind entdeckt hatte. Der Kleine hieß Nikolin und war vor ein paar Monaten zusammen mit seiner Mutter verschwunden, und zwar nach einer Reifenpanne mit dem Fahrzeug, in dem sie seit ihrer Zwangsräumung gehaust hatten. Der Vorfall hatte sich auf der einzigen asphaltierten Straße ereignet, die durch das Naturreservat führte und irgendwann endete, um sich in mehrere Schotterwege und Saumpfade zu verästeln.

»Niemand weiß, was sie in dieser gottverlassenen Gegend suchten«, schloss Anita Baldi ihren Bericht.

Gerber erinnerte sich vage an das Zeitungsfoto von dem alten Gebrauchtwagen, der, vollgestopft mit Kleidung, verlassen am Straßenrand gestanden hatte, ein Rad von der Achse abgezogen und sämtliche Wagentüren geöffnet. Es war Anfang Juni gewesen. »Und was ist nach der Reifenpanne geschehen?«

»Laut Ermittler gibt es zwei Hypothesen, beide gleichermaßen plausibel. Die erste, dramatischere von beiden geht so: Mutter und Sohn haben sich in der verlassenen Gegend unvorsichtigerweise auf die Suche nach Hilfe begeben und sich im Wald verirrt … Natürlich wäre es naheliegender gewesen, einfach der asphaltierten Straße zu folgen, aber wer weiß, vielleicht sind sie von der Dunkelheit überrascht worden und haben die Orientierung verloren.«

»Doch angenommen, es war so, dann müssten sie nach all den Monaten längst tot sein«, sagte Gerber. »Und die zweite These?«