Diese heiß ersehnten Jahre - Liebesroman - Marie Louise Fischer - E-Book

Diese heiß ersehnten Jahre - Liebesroman E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Wer braucht schon einen Mann? Nach einer lieblosen Ehe und einer daraus resultierenden Scheidung beschließt Martina, nur noch für sich selbst und ihre beiden Kinder zu kämpfen. Dieser Weg ist jedoch kein leichter, und die junge Familie hat tagtäglich mit Geldsorgen zu kämpfen. Der Job als Angestellte gibt einfach nicht genug her. Währenddessen wächst auch die Sehnsucht der Kinder nach ihrem Vater, und so sieht sich die alleinerziehende Mutter gezwungen, sich doch wieder auf die Liebe einzulassen. Nach einer Reihe von Fehlschlägen mit egoistischen und unseriösen Männern, ist Martina kurz davor aufzugeben. Doch dann taucht er auf...-

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Marie Louise Fischer

Diese heiß ersehnten Jahre - Liebesroman

Saga

Diese heiß ersehnten Jahre – LiebesromanDiese heißersehnten Jahre Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de) represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de) Originally published 1976 by Bertelsmann Verlag, Germany Copyright © 1976, 2019 Marie Louise Fischer und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726355109

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

»Frau Martina Stadelmann!«

Rechtsanwalt Dr. Günther hob kurz den Kopf, sein Blick streifte über den Tischkalender, der den 18. Januar 1960 anzeigte, und weiter zur Tür der Kanzlei. Seine Sekretärin ließ die neue Klientin eintreten, er verzog den Mund zu einem unverbindlichen Lächeln. In Gedanken war er noch bei dem vorausgegangenen Gespräch mit einer anderen Frau. Aber dann blieb sein Blick lange, fast selbstvergessen auf Martina Stadelmann haften.

Sie war eine schlanke Frau, sehr groß – Dr. Günther schätzte sie auf einsachtzig. Ihre wohlgeformte Figur kam in dem petrolfarbenen Deux-pièces, engem Rock mit Dior-Falte und kurzem taillierten Jäckchen mit Revers, langen Ärmeln und Manschetten, voll zur Geltung. Faszinierend war ihr Gesicht unter dem hochgetürmten rotbraunen Haar; ein großer Mund, dessen volle Lippen sie in der Erregung fest zusammenpreßte, und zwei verschiedenfarbige Augen unter getuschten Wimpern – das linke war deutlich grün, das rechte braun.

Dr. Günther sprang auf und kam um den Schreibtisch herum auf die Klientin zu.

Sie dachte nicht daran, ihm die Hand zu geben. »Ich will mich scheiden lassen«, erklärte sie mit einer Stimme, die ihr kaum gehorchen wollte.

Dr. Günther erkannte, daß sie sehr aufgeregt war. »Bitte, setzen Sie sich doch!« Er stellte einen Sessel gegenüber seinem Schreibtisch zurecht. »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Vielleicht eine Tasse Kaffee? Zigarette?«

»Nein, danke . . . «

»Dann einen Kognak. Bitte, sagen Sie nicht nein . . . Sie werden mir doch Gesellschaft leisten?«

Während sie sich setzte, die Füße in den spitzen Schuhen mit den hohen Pfennigabsätzen brav nebeneinandergestellt, ging Dr. Günther um den Schreibtisch herum, bückte sich und holte eine Flasche Kognak mit zwei Gläsern heraus, schenkte großzügig ein.

»Auf guten Erfolg!«

»Hoffentlich!« Martina rang sich ein Lächeln bei geschlossenen Lippen ab und nippte. Der Rechtsanwalt nahm ihr gegenüber Platz und stützte abwartend die Ellbogen auf die Schreibtischplatte.

»Mein Mann hat mich betrogen!« stieß sie heraus.

»Das war nicht nett von ihm.«

»Nicht nett! Eine Gemeinheit ist das . . . und noch dazu in unserer Wohnung . . . in unseren Ehebetten! Und mit meiner besten Freundin!«

Dr. Günther schnalzte mitfühlend mit der Zunge.

»Nie wäre ich auf so was gekommen«, empörte sich Martina.

»Ich würde es auch jetzt noch nicht glauben – wenn ich die beiden nicht selber erwischt hätte!«

»In einer eindeutigen Situation? Ich frage nur für den Fall, daß wir eine Klage darauf stützen wollen.«

»Eindeutiger ging’s gar nicht mehr.«

»Ja, dann . . . «

»Bitte, Herr Doktor, reichen Sie die Scheidung ein!«

»Frau Stadelmann . . . « Dr. Günther legte die Fingerspitzen gegeneinander. » . . . ich verstehe natürlich, daß Sie sehr aufgebracht sind. Wann ist das übrigens passiert?«

»Gestern am frühen Nachmittag. Ich habe sofort danach in Ihrer Kanzlei angerufen und um einen Termin gebeten.«

»Sehen Sie, so ähnlich habe ich mir das gedacht. Die Wunden sind also noch ganz frisch. Sind Sie sicher, Frau Stadelmann, daß Sie in ein paar Tagen, ein paar Wochen oder Monaten noch genauso über den Fall urteilen werden?«

Martina Stadelmanns verschiedenfarbige Augen wurden groß.

»Ja, was könnte sich denn da ändern?«

»Sie könnten Abstand gewinnen.«

»Abstand hin, Abstand her . . . das würde doch nichts daran ändern, daß er mich betrogen hat!«

»Sicher nicht.«

Sie schob das feste runde Kinn vor. »Ist Ehebruch etwa kein Scheidungsgrund?«

»Doch. Dem Gesetz nach schon. Aber ich bitte Sie doch zu bedenken: der Mensch ist schwach, und wenn ich Mensch sage, dann denke ich vorwiegend an uns Männer. Da kann ein kleiner Seitensprung schon mal vorkommen, ohne daß er die Fundamente der Ehe erschüttern müßte.«

»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr!« Martina, die bisher auf der Sesselkante gehockt hatte, lehnte sich zurück. »Sie meinen also, Treue sei in der Ehe nicht so wichtig?«

»Nein, nein, so meine ich das natürlich nicht. Aber, Frau Stadelmann, wenn ich Sie richtig verstanden habe, war Ihre Ehe doch bis gestern mittag in Ordnung? Sie schien Ihnen zumindest in Ordnung . . . «

»Ja. Vielleicht«, gab Martina zögernd zu. »Bis ich dahintergekommen bin.«

»Aber auch wenn Ihr Mann Sie betrogen hat, heißt das doch nicht unbedingt, daß er Sie nicht mehr liebt! Wie stellt er sich denn zu der ganzen Angelegenheit? Ist er auch für die Scheidung? Will er die andere heiraten?«

»Das nicht . . . «

»Aber . . .?«

»Kein Aber! Er redet genauso daher wie Sie! Behauptet, die Sache mit Susi hätte gar nichts weiter zu sagen . . . Es sei bloß passiert, weil ich ihn allein gelassen hätte . . . Und einem Mann stehe so was einfach zu!« Martina richtete sich auf, und ihre Augen funkelten. »Aber da mache ich nicht mit! Wenn er von mir Treue erwartet, dann soll auch er sie gefälligst halten.« Sie klopfte mit der Faust auf ihre linke Handfläche. »Ich bin nicht für zweierlei Maß. Entweder . . . oder.«

»Sie sind also nicht bereit, Ihrem Mann zu verzeihen?«

»Er hat mich ja nicht mal darum gebeten! Wo denken Sie hin! Er ist ja ein Mann! Er darf! Und ich, das liebe, geduldige kleine Weibchen, soll die Augen zudrücken und ihm doch das kleine Späßchen gönnen.«

Dr. Günther versuchte noch einmal, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. »Auch wenn ein Mann seine Frau betrügt, beweist das keineswegs, daß er sie nicht mehr liebt.«

»Aber das ist doch gar nicht der springende Punkt! Möglich, daß er mich noch liebt! Aber ich will nicht mehr von ihm geliebt werden! Verstehen Sie das denn nicht?! Erst sollte ich aufschauen zu ihm wie zu einem Gott, ihn bewundern und verwöhnen und nur keine Widerworte geben, und wenn ich ihn in flagranti erwische, dann wird er nicht etwa klein, sondern plustert sich auch noch auf! Nein, Sie kennen meinen Mann nicht! Alles, was der tut, ist total in Ordnung, auch dann, wenn es der größte Blödsinn oder eine üble Schweinerei ist! Mit dem kann man sich nicht arrangieren. Wenn man mit ihm auskommen will, muß man sich unterwerfen. Genau das habe ich jetzt zehn Jahre lang gemacht, und genau das will ich nun nicht mehr.«

»Sie sind also fest entschlossen, die Ehe aufzulösen?«

»Sehr richtig. Und wenn Sie mir dabei nicht helfen wollen . . . « Dr. Günther zog die Luft durch die Zähne. »Es ist mein Beruf, Ehen zu scheiden. Ich lebe davon. Warum sollte ich Ihrem Wunsch nicht nachkommen wollen? Ich will nur verhindern, daß Sie im Zorn etwas tun, was Sie später bereuen müssen. Bitte, hören Sie mich jetzt einmal an: Tatsache ist doch, daß in unserer Gesellschaft die geschiedene Frau immer den kürzeren zieht.«

»Das eben sollen Sie verhindern!«

»Ich denke nicht an die Scheidung selbst, Frau Stadelmann. Im Gegenteil, das Gericht neigt fast immer dazu, der Frau, besonders wenn sie die Betrogene ist, die besseren Konditionen einzuräumen. Aber – und jetzt kommt das große Aber: Nachher, wenn sie ihre heißersehnte Freiheit gewonnen hat, dann sieht es meist anders aus. Haben Sie denn überhaupt eine Vorstellung, was Sie nach der Scheidung anfangen wollen?«

»Ja, Herr Doktor. Aber das soll nicht Ihre Sorge sein. Helfen Sie mir aus der Ehe heraus, und um den Rest kümmere ich mich ganz alleine.« Martina nahm einen Schluck Kognak. »Aber Sie haben doch sicher noch Fragen.«

»Ja«, bestätigte Dr. Günther. Seine Haltung Martina gegenüber war deutlich abgekühlt. Er war ein freundlicher älterer Herr, gerne bereit, einer Klientin die wattierte Schulter zum Ausweinen zu leihen. Doch für auftrumpfende Frauen hatte er ganz und gar nichts übrig.

»Na also!«

Martina spürte seine Verstimmung wohl, aber es war ihr gleichgültig, was er von ihr dachte.

»Ihre Personalien haben Sie ja schon meiner Sekretärin angegeben.« Dr. Günther studierte stirnrunzelnd den vor ihm liegenden Laufzettel. »Martina Stadelmann, geborene Schmitz, geboren am 17. März 1933 in Essen. Und Ihr Gatte?«

»Helmut Stadelmann, geboren in Dinslaken am 19. 9. 1927.«

»Wohnhaft?«

»Dinslaken, Neustraße 11 a.«

»Das ist ja gleich nebenan«, stellte der Rechtsanwalt fest.

»Eben. Deshalb bin ich ja zu Ihnen gekommen.« Martina schlug ihre Beine übereinander, achtete aber darauf, daß die Knie bedeckt blieben, soweit der enge Rock es zuließ. »Ich lese jeden Tag Ihr Schild, wenn ich zum Bahnhof laufe.«

»Komisch, daß ich Sie da noch nie gesehen habe.«

»Dinslaken ist zwar ein Nest, aber so klein denn doch nicht.« Dr. Günther notierte. »Also Stadelmann gegen Stadelmann . . . « Er sah Martina an. »Sie machten da vorhin eine Bemerkung . . . wie war das doch gleich?« Nachdenklich drehte er den Kugelschreiber zwischen den Fingern. »Ihr Mann wirft Ihnen vor, ihn allein gelassen zu haben?«

»Stimmt. Ich meine: stimmt natürlich nicht.«

»Frau Stadelmann, Sie müssen sich streng an die Wahrheit halten. In Ihrem eigenen Interesse. Ich muß wissen, was er gegen Sie vorbringen könnte. Für den Fall, daß er Gegenklage erhebt.«

»Das wird er nicht wagen!«

»Soll das heißen, daß Sie etwas gegen ihn in der Hand haben?«

»Ach was. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, das ist alles.«

»Ihr Mann hat also mit seiner Bemerkung auf keinen bestimmten Umstand angespielt?«

»Oh, doch.« Martina leerte ihr Kognakglas. »Ich besuche seit einem Jahr eine Kosmetikschule. In Düsseldorf. Das paßt ihm nicht. Aber ich habe nicht ohne sein Einverständnis damit angefangen. Ich habe es ihm abgerungen, sozusagen.«

»Aha. Aber er fühlte sich vernachlässigt?«

»Ohne Grund. Die Wohnung war immer in Ordnung. Ich war ja nur tagsüber weg. Und bekocht hat ihn Susi.«

»Diejenige welche?«

»Genau die. Susi Dinkler. Ich habe sie für meine beste Freundin gehalten. Bis gestern.«

»Ja, das war Pech«, bemerkte der Anwalt. »Ich verstehe selbstverständlich, daß Sie sich jetzt rächen wollen . . . «

»Rächen? Ich will meine Freiheit wiederhaben, das ist alles.«

»Sie bestehen also nicht darauf, daß der Name von Frau Dinkler in die Scheidungsklage hineinkommt?«

»Muß er das denn nicht?«

»Nein. Wir können auf Scheidung wegen Ehebruchs klagen, ohne Zeugen zu nennen. Er weiß ja Bescheid. Wenn er es zugibt, ist der Fall schon gelaufen. Und wenn nicht, können wir immer noch die Zeugin ins Spiel bringen.«

»Sie sehen also keine Schwierigkeiten?«

»Nein. Falls Sie nicht mit etwas hinter dem Berge halten.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Meine liebe Frau Stadelmann, ich glaube, Sie verstehen mich sehr gut!« Dr. Günther lehnte sich zurück, senkte das Kinn auf die Brust und musterte Martina von unten herauf. »Sie sind jetzt wie lange verheiratet?«

»Seit April 1951.«

»Also bald zehn Jahre. Kinder?«

»Zwei. Claudia, neun, und Stefan wird acht.«

»Sie haben aus Liebe geheiratet. Oder gab es einen anderen Grund?«

»Claudia war unterwegs.« Martina verbesserte sich. »Nein, ich will ehrlich sein. Das war nur der Anlaß. Ich war damals bis über die Ohren in Helmut verliebt. Er ist ein sehr gut aussehender Mann. Sehr männlich. Meine Familie war gegen ihn. Aber ich habe ihn vergöttert.«

»Und welche Vorbehalte hatte Ihre Familie?«

»Meine Mutter. Mein Vater ist im Krieg gefallen. Ich bin bei meiner Mutter und meiner Großmutter aufgewachsen. Also, sie fanden, daß er nicht zu mir paßte. Er stammt aus einfachen Verhältnissen. Das klingt blöd, ich weiß, aber so sagt man doch. Wir hatten zwar auch kein Geld, meine Mutter jedenfalls nicht, sie lebte von der Kriegerwitwenrente und von dem, was Großmutter zuschoß. Aber wir gehörten zu einer anderen Gesellschaftsschicht. Mein Vater war Offizier. Helmuts Vater hatte es nur zum Feldwebel gebracht.« Dr. Günther lächelte.

»Aber Helmut ist enorm tüchtig. Er ist Postoberinspektor, hat sich ohne Abitur hochgearbeitet. Er hat auch immer gut für uns gesorgt. Er ist kein Trinker, raucht nicht allzuviel . . . «

Der Anwalt unterbrach sie. »Womit wir wieder beim Thema wären. Warum wollen Sie dieses männliche Prachtexemplar loswerden? Nun ja, er hat Sie betrogen. Aber warum mußten Sie sich überhaupt in diesen Kosmetikkurs einschreiben? Mit dem Einverständnis Ihres Mannes, gut und schön. Aber Sie wußten doch, daß er es nicht gerne sah.«

»Wie würde es Ihnen gefallen, Tag für Tag in einer Dreizimmerwohnung eingesperrt zu sein?! Mit einem winzigen Haushaltsgeld und einem ebenso winzigen Wirkungskreis ist man doch so gut wie eingesperrt. Solange Stefan noch nicht zur Schule ging, habe ich das eingesehen. Überhaupt, als die Kinder noch klein waren, hat es Arbeit genug gegeben. Aber jetzt? Was sollte ich denn tun? Däumchen drehen?«

»Nun, es gibt doch vielerlei Möglichkeiten, sich zu unterhalten.«

»Oh, ja, aber alle kosten Geld. Ob man nun Tennis spielt oder Bridge, alles ist teuer, und außerdem kommt nichts dabei raus. Die Kosmetikschule kostet natürlich auch, aber wenn ich erst mal fertig bin, kann ich verdienen. Ein Kosmetikinstitut fehlt hier in Dinslaken . . . « Sie stockte. »Also davon bin ich ausgegangen. Eigentlich war es Susi, die mir zu der Kosmetikschule geraten hat. Aber jetzt werde ich natürlich nicht hierbleiben. Eine geschiedene Frau in dieser Kleinstadt . . . «

»Frau Stadelmann, Sie sind sehr geschickt.«

»Oh, ja, das sagt . . . « Martina unterbrach sich. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Sie wissen sehr geschickt, das Gespräch nach Ihren Wünschen zu lenken. Trotzdem muß ich Ihnen die Frage stellen, auf die es ankommt: Steckt hinter diesem Kosmetikkurs nicht vielleicht doch ein anderer Mann? Bitte, glauben Sie nicht, ich wollte mir ein moralisches Urteil anmaßen.«

»Sie bilden sich ein, ich wäre wegen eines anderen Mannes tagtäglich nach Düsseldorf gefahren?« Martina lachte.

Der Rechtsanwalt blieb ernst. »Ich behaupte nicht, daß eine Liebesbeziehung der auslösende Faktor gewesen sein muß, aber wahrscheinlich haben Sie in Düsseldorf jemanden kennengelernt . . . «

»Jemanden! Eine ganze Menge sogar. Meine Mitschülerinnen in der Kosmetikschule. Und einen alten Hautarzt und einen Chemielehrer. Aber bestimmt niemanden, der mein Herz höher schlagen lassen könnte. Ich fahre nach Düsseldorf, um zu lernen, und jage am späten Nachmittag so schnell wie möglich hierher zurück. Nein, da bleibt keine Zeit für Flirts und Abenteuer.«

»Ich muß mich auf Ihr Wort verlassen.«

»Das können Sie.«

»Es fällt auf Sie zurück, wenn Sie nicht ganz aufrichtig waren.«

»Ich habe nichts zu verbergen.«

»Also schön.« Dr. Günther strich sich über sein ergrautes Haar.

»Beantragen wir also, die Ehe aus alleinigem Verschulden des Ehemannes aufzulösen.«

»Ja, so nennt man das wohl.«

»Die Kinder wollen Sie behalten?«

»Unbedingt.«

»Das werden Sie auch erreichen. Die Gerichte vertreten gemeinhin die Auffassung, daß Kinder in diesem Alter zur Mutter gehören, und da wir auf Alleinschuld Ihres Gatten klagen . . . «

»Er ist allein schuldig!«

»Was verlangen Sie als Unterhalt? Es wäre gut, wenn wir in diesem Punkt eine außergerichtliche Einigung erreichen könnten.«

»Ich verlange eine Abfindung!«

»Falls Ihr Gatte Ersparnisse hat . . . «

»Hat er nicht. Aber er kann ja einen Kredit aufnehmen. Auf sein Gehalt. Seine Eltern haben sich ein Haus gebaut. Die können auch einspringen.«

»Sie haben das anscheinend alles gut durchdacht«, sagte der Anwalt. »Trotzdem würde ich mit der finanziellen Forderung nicht gleich herauskommen. Wir sollten lieber abwarten, wie Ihr Gatte sich überhaupt zu der Scheidungsklage stellt.«

»Wenn Sie meinen.«

»Ich könnte mir nämlich vorstellen, daß ihm das einen ziemlichen Schlag versetzen wird.«

Martina zog die dunklen Augenbrauen zusammen. »Meinen Sie, es war kein Schlag für mich, ihn mit meiner besten Freundin zu erwischen!?«

»Also doch ein wenig Rachsucht?«

»Denken Sie darüber, wie Sie wollen. Aber was für einen Zweck hat eine Scheidung, wenn man trotzdem abhängig bleibt? Ich mag einfach nicht Monat für Monat auf die Überweisung lauern.«

»Das ist verständlich. Aber Sie sind ja noch jung, und Sie sind dabei, einen Beruf zu erlernen. Da besteht doch Aussicht, daß Sie über kurz oder lang gar nicht mehr auf die Unterstützung Ihres Gatten angewiesen sein werden.«

»Ihr Männer haltet eben immer zusammen.« Martina lächelte ohne Groll und zeigte dabei große, sehr regelmäßige Zähne. »Aber etwas haben Sie bei Ihrer faszinierenden Rechnung vergessen, Herr Doktor: ich habe bald zehn Jahre lang für diesen Mann gearbeitet. Umsonst. Selbst über meine kleinen privaten Ausgaben habe ich Buch führen müssen. Ich will bloß das haben, was mir zusteht.«

»Das ist kein dummer Gedanke«, gab der Rechtsanwalt zu. »Ich fürchte nur, daß Sie sich am. Ende damit ins eigene Fleisch schneiden. Ich an Ihrer Stelle würde mir Unterhalt zahlen lassen, bis ich selbst verdiene und – passen Sie auf, jetzt kommt das Wichtigste.« Er klopfte mit dem stumpfen Ende des Kugelschreibers auf den Tisch. »Und mir die Witwenpension überschreiben lassen!«

»Sehr schlau, Herr Doktor.« Martina betrachtete ihre rund geschnittenen, rot lackierten Fingernägel. »Aber Sie sind nicht in meiner Situation und können sich, scheint es, auch nicht hineinversetzen. Ich pfeife auf die Pension. Wenn ich mir bis dahin nicht selber was geschaffen habe, kann ich mich sowieso begraben lassen.« Sie hob den Kopf und richtete ihre Augen fest auf den Rechtsanwalt. »Wie Sie so richtig bemerkten: Ich habe mir alles gut überlegt.«

Dr. Günther verzog das Gesicht, beeilte sich aber dennoch zu versichern: »Selbstverständlich richte ich mich nach Ihren Wünschen.« »Dann ist es ja gut.« Martina nahm Handschuhe und Tasche an sich, während sie sich erhob. »Bringen Sie die Sache, bitte, so schnell wie möglich über die Bühne. Je schneller ich ihn loswerde, desto besser. Mir wird ganz anders bei dem bloßen Gedanken, daß ich noch monatelang mit ihm zusammen hausen muß.«

»Das ließe sich umgehen.« Dr. Günther war aufgestanden, um sie zur Tür zu begleiten. »Wir können um eine einstweilige Verfügung ersuchen, die ihm den Aufenthalt in der ehelichen Wohnung verbietet. Begründung: unter den gegebenen Umständen ist das Zusammenleben mit ihm für Sie unzumutbar.«

»Sie meinen, das ginge?«

»Unbedingt.«

Martina zog die volle Unterlippe zwischen die Zähne und blieb einige Sekunden nachdenklich, dann erhellte sich ihr Gesicht. »Sehr beruhigend, Herr Doktor . . . Für den Fall, daß er sich schlecht aufführt. Aber vorläufig möchte ich darauf denn doch verzichten. Ihn aus der eigenen Wohnung zu vertreiben, das schiene mir nicht ganz fair, wissen Sie.«

Diese Entscheidung brachte Dr. Günther dahin, sein Urteil über die neue Klientin abermals zu revidieren; sie war doch nicht so rücksichtslos, wie er eine Zeitlang geglaubt hatte.

Martina verließ die Kanzlei mit dem Gefühl, eine schwere Last abgeworfen zu haben. Sie hatte die Scheidung eingeleitet und damit entschlossen den ersten Schritt in ein neues Leben getan.

Mehr als einmal hatte sie in den vergangenen Jahren mit dem Gedanken gespielt, ihre Freiheit wiederzugewinnen. Aber zwischen dem Wunsch, sich scheiden zu lassen, und der Tat hatte ein unüberbrückbarer Abgrund geklafft.

Martina gestand sich, daß sie nicht den Mut gehabt hatte, wirklich etwas für ihre Befreiung zu tun.

Aber das war es nicht allein. Sie hatte keine Waffe gehabt, mit der sie hätte kämpfen können. Sie brauchte sich nur vorzustellen, welches Gesicht Dr. Günther gemacht hätte, wenn sie vor einem Jahr mit dem Wunsch, sich scheiden zu lassen, zu ihm gekommen wäre. Was hätte sie denn schon als Grund angeben können?

»Ja, es stimmt, daß ich alles habe, was man als verheiratete Frau vom Leben erwarten kann, aber das genügt mir einfach nicht. Nein, ich bin nicht unglücklich. Wenn ich richtig unglücklich wäre, dann fühlte ich doch wenigstens etwas. Die Wahrheit ist: ich bin gelangweilt. Ja, ich langweile mich, und wenn ich mir vorstelle, daß mein ganzes Leben so weiter verlaufen soll, in einer genau vorgezeichneten Bahn, dann überfällt mich geradezu Platzangst.«

Während Martina darüber nachdachte, fand sie diese Erklärung selber ganz plausibel; Grund genug, jemanden aus einer Ehe zu entlassen, die längst keinen Inhalt mehr hatte. Aber sie wußte auch, daß weder Dr. Günther noch der Gesetzgeber das geringste Verständnis für eine solche Einstellung gezeigt haben würden – von ihrem Mann, den Verwandten und Bekannten ganz zu schweigen.

Gestern, als sie Helmut mit ihrer besten Freundin im Bett erwischt hatte, war sie noch wütend gewesen – wütend auf sich selber, weil sie, als der nachmittägliche Unterricht überraschend ausgefallen war, ohne zu überlegen, Hals über Kopf zum Bahnhof gerannt war und den nächsten Zug nach Dinslaken genommen hatte. Sie war außer sich gewesen und hätte vieles darum gegeben, wenn sie diesen schmählichen Betrug nicht entdeckt hätte.

Aber inzwischen wußte sie, daß ihr nichts Besseres hatte passieren können. Helmut hatte ihr mit seiner Untreue die Waffe in die Hand gegeben, mit der sie ihre Ketten zertrümmern konnte. Nachträglich wurde ihr ganz schlecht bei dem Gedanken, daß nur ein Zufall ihr die Augen geöffnet hatte. Es hätte ebensogut passieren können, daß Helmut sich mit Susi oder einer anderen – wer wußte denn schon, wie oft das während der vergangenen Jahre der Fall gewesen war – amüsiert hätte, ohne daß sie es je erfuhr. Es war eine Niedertracht – und dennoch, sie mußte dem Schicksal dankbar dafür sein.

Martina eilte, jetzt in ihrem alten Kamelhaarhänger, den sie über das Deux-pièces gezogen hatte, auf die Friedrich-Ebert-Straße zu. Sie hatte ein wollenes Tuch um den Kopf geschlungen, denn es war bitterkalt. Ein scharfer Wind peitschte ihr winzige, harte Schneeflocken entgegen. Es war fünf Uhr nachmittags, und die Geschäfte hatten, obwohl es noch nicht wirklich dunkel war, ihre Auslagen bereits erleuchtet. Auch die Straßenlaternen gingen jetzt an.

Ohne links und rechts zu sehen, den Kopf leicht vorgebeugt, um das Gesicht zu schützen, kämpfte sich Martina voran. Vor der Tür des Mietshauses, in dem sie seit fünf Jahren mit ihrer kleinen Familie lebte, stieß sie fast mit Stefan zusammen. Er war auf dem Weiher beim Burghotel Schlittschuh gelaufen. Seine Bakken waren von Kälte und Wind gerötet, und seine braunen Augen blitzten vor Lebenslust. Er hatte eine wollene rote Zipfelmütze tief in die Stirn gezogen. Über seiner linken Schulter hingen die aneinandergebundenen Schlittschuhstiefel.

Bei seinem Anblick wurde es Martina warm ums Herz. »Hei, Knüsel«, sagte sie und mußte der Versuchung widerstehen, ihn in die Arme zu ziehen; Stefan wurde im Juni acht Jahre alt und hatte es in letzter Zeit nicht mehr gern, abgeküßt zu werden.

»Hunger hab’ ich!«

»Wir essen, sobald Vati nach Hause kommt.«

»Kommt er denn?«

Martina, die gerade die Haustür aufschloß, sah überrascht hoch. »Wie meinst du das?«

Stefan hielt ihrem Blick ohne Scheu stand. »Na, ihr habt euch doch gestern gezankt.«

»Stimmt schon. Aber das wird ihn doch nicht daran hindern, zum Essen nach Hause zu kommen.« Sie schob ihren kleinen Sohn in den Hausflur.

»Claudia sagt, daß ihr euch furchtbar böse seid.«

Martina erkannte, daß er ihr das Stichwort gab, die verfahrene Ehesituation zu erklären. Aber sie schreckte davor zurück, wußte nicht, ob sie Stefan erzählen sollte und erzählen konnte, was wirklich geschehen war.

So behauptete sie und kam sich selber recht erbärmlich vor: »Claudia redet viel daher. Wo steckt sie eigentlich? War sie auch beim Schlittschuhlaufen?«

»Claudia doch nicht!« Stefan ließ sich ohne weiteres ablenken. »Die ist bei ’ner Freundin oder im Alten Rathaus in der Bibliothek.«

»Na, sicher kommt sie auch bald.« Martina schloß die Wohnungstür auf. »Zieh deinen Mantel aus und wasch dir die Hände.« Sie nahm das Kopftuch ab und hängte den Kamelhaarmantel sorgfältig über einen Kleiderbügel.

Stefans Worte hatten sie nachdenklich gemacht. Helmut und sie hatten sich gestern nur mühsam den Kindern gegenüber zusammengenommen und anschließend die halbe Nacht gestritten. Sie hatte ihm furchtbare Dinge an den Kopf geworfen. Danach hatte sie auf der Couch im Wohnzimmer geschlafen.

War es möglich, daß er das Ende ihrer Ehe akzeptierte und bereits ausgezogen war?

Martina trat in das Schlafzimmer. Alles war noch, wie sie es am Morgen verlassen hatte. Sein Bett war gemacht. Sie öffnete den Kleiderschrank und sah mit einem Blick, daß seine Anzüge noch da waren. Sie hätte es sich denken können. So leicht kam sie nicht davon.

Einen Augenblick lang stand sie nachdenklich, hörte, wie Stefan nebenan die Wasserspülung zog, und überlegte, wie es praktisch weitergehen sollte. Sie hatte nicht sehr gut auf der schmalen Couch geschlafen, aber wenn sie Helmut aus dem ehelichen Schlafzimmer ausquartierte, behielt sie zwar ihr bequemes Bett, hatte aber keinen Aufenthaltsraum mehr in der Wohnung, die ohnehin längst zu klein geworden war. Sie hatten sie nur behalten, weil sie so zentral lag. Außer dem Schlafzimmer gab es nur noch den Wohnraum und das Kinderzimmer, in dem Claudia und Stefan, eigentlich schon zu groß dazu, miteinander untergebracht waren. In der Einbauküche, die kaum mehr als eine Kochnische war, konnte man sich kaum um die eigene Achse drehen; sie hatte nicht einmal ein Fenster, sondern nur eine Entlüftung.

Nein, es war besser, sie gewöhnte sich an die Couch. Bis zur Scheidung mußte es gehen. Martina nahm ihr Bettzeug über den Arm, trug es ins Wohnzimmer und bezog die Couch. Dabei fiel ihr ein, daß sie in Zukunft nachts das Fenster nicht offenlassen konnte, weil das Wohnzimmer nach vorne lag. Die Neustraße war, obwohl Einbahnstraße, viel befahren und entsprechend laut. Auch damit mußte sie sich abfinden.

Martina kniete sich vor die Schrankwand, das neueste Möbelstück, und begann umzuräumen, um Platz für ihre Wäsche und Schuhe zu bekommen.

»Machst du noch nichts zu essen?« fragte Stefan von der Tür her.

»Du wirst schon nicht verhungern.«

»Wer soll denn hier schlafen?«

»Ich.« Martina fühlte Stefans nachdenkliche Augen auf sich gerichtet und rang sich nun doch zu einer wenn auch sehr fadenscheinigen Erklärung durch. »Vati und ich, wir gehen uns momentan ziemlich auf die Nerven, weißt du, und da wollen wir lieber jeder für sich schlafen.«

»Auf einmal?«

»Du wünschst dir doch auch schon lange ein eigenes Zimmer.«

»Das ist doch was anderes.«

Martina richtete sich auf. »So anders auch nicht.« Sie trat auf Stefan zu und legte ihm sanft die Hand in den Nacken. »Erwachsene sind nicht so anders als Kinder. Sie ärgern sich auch mal gegenseitig.«

»Ach so! Hat Vati dich geärgert?«

»So könnte man es ausdrücken.«

»Und du bist ihm jetzt böse?«

»Ja. Aber hör jetzt auf, mir Fragen zu stellen. Hilf mir lieber.« Stefan ließ sich willig einspannen, und als Claudia eine halbe Stunde später nach Hause kam, war das Werk getan; so viel von Martinas persönlicher Habe wie irgend möglich war in zwei Abteilen der Schrankwand verstaut, an der auch, aus Mangel an anderem Platz, einige Kleider, Röcke und Kostüme schaukelten.

Claudia sah es sofort. Ohne Gruß blieb sie auf der Schwelle stehen und fragte: »Was ist das?« Sie war ein dünnes Mädchen von neun Jahren, groß für ihr Alter und blauäugig; das lange blonde Haar trug sie in einem Pferdeschwanz.

»Ich bin umgezogen«, erwiderte Martina.

»Warum?«

»Weil Vati und Mutti sich gestritten haben«, erklärte Stefan in überlegenem Ton, »das weißt du doch selber ganz genau. Also frag nicht so dumm.«

Claudia stiegen Tränen in die Augen. »Ist das wahr, Mutti?«

»Ich denke, wir waren gestern nacht laut genug.«

»Ihr habt ganz schön geschrien«, bestätigte Stefan.

»Aber . . . deshalb brauchst du doch nicht im Wohnzimmer zu schlafen!«

»Es ist besser so, Claudia, glaub mir. Wenn man wütend auf jemanden ist, dann mag man nicht neben ihm schlafen.«

Claudia stand steif wie ein Stock. »Du hast heute nacht geschrien, du wirst dich scheiden lassen.«

»Das hast du gehört?!« Martina errötete vor Schreck bei dem Gedanken, was die Kinder noch alles aufgeschnappt haben könnten.

»Das hast du aber nur so gesagt, weil du wütend warst?«

»Mutti ist immer noch wütend«, ließ sich Stefan vernehmen.

»Ja, das ist wahr«, bestätigte Martina.

»Aber du willst dich doch nicht wirklich scheiden lassen?«

»Vielleicht doch, Claudia«, sagte Martina vorsichtig.

»Nein! Das kannst du nicht tun!«

»Doch kann sie, wenn Vati sie geärgert hat!«

Claudia fuhr herum und zischte ihren Bruder an. »Halt du doch die Klappe, was verstehst du schon davon?!«

»Zank nicht mit Stefan«, sagte Martina. »Er hat dir nichts getan.«

»Aber, Mutti, Mutti, das kannst du doch nicht tun!« Claudia lief zu Martina hin und klammerte sich an ihren Arm.

»Ihr gehört doch zusammen! Wir alle gehören zusammen!«

Martina löste sich aus dem Griff ihrer Tochter. »Wir werden ausführlich darüber reden, wenn du nicht mehr so aufgeregt bist. Wasch dir das Gesicht ab und kämm dir das Haar. Wir alle müssen uns jetzt sehr zusammennehmen.«

»Mutti, bitte . . . «

Martina verstand die Aufregung ihrer Tochter, und dennoch konnte sie nichts daran ändern, daß sie nur mit nervöser Gereiztheit reagierte. »Bitte, geh jetzt«, sagte sie, und es klang schärfer, als sie beabsichtigt hatte.

Claudia zog ab, als sei sie geprügelt worden.

Martina war noch dabei, den Tisch zu decken, als ihr Mann nach Hause kam. Sie hörte, wie er die Wohnungstür aufschloß. Obwohl sie sich für die Begegnung mit ihm gewappnet wußte, schrak sie zusammen und spürte, wie sie erblaßte. Der Schock saß tiefer, als sie hatte wahrhaben wollen.

Stefan, der sich, die Beine über der Lehne, in einem Sessel flegelte und die Witze in der »Revue« studierte, sah zu ihr auf; der Blick seiner runden braunen Augen wirkte besorgt. Sie schenkte ihm ein beruhigendes und gleichzeitig verschwörerisches Lächeln.

»Vati! Vati!« rief Claudia im Flur.

Martina konnte sich vorstellen, wie sie sich ihm mit unangemessener Leidenschaftlichkeit in die Arme warf; sie preßte die Lippen zusammen. Stefan nahm die Beine von der Sessellehne und saß manierlich, als der Vater das Wohnzimmer betrat.

»’n Abend zusammen«, grüßte Helmut Stadelmann.

»’n Abend, Vati«, brummte Stefan.

»Guten Abend, Helmut«, sagte Martina akzentuiert.

Helmut Stadelmann rieb sich die Hände. »Na, was gibt’s denn Schönes?« fragte er und versuchte unbefangen zu erscheinen. Er war ein großer Mann, das Karomuster seines Jacketts ließ ihn noch breitschultriger erscheinen. Sein blondes, glattes Haar war kurz geschnitten, die blauen Augen wirkten ausdruckslos. Seine Haut war rot von dem scharfen Wind und wurde jetzt, beim Eintritt in die warme Wohnung, noch röter.

»Gebackene Leber«, sagte Martina.

»Also mal kein Auflauf.«

Der versteckte Vorwurf war nicht unberechtigt, mußte Martina sich zugeben. Seit sie täglich nach Düsseldorf fuhr, hatte sie sich die Kocherei so praktisch und bequem wie möglich eingerichtet. Trotzdem konnte sie die Anschuldigung nicht widerspruchslos hinnehmen.

»Bis jetzt bist du nicht zu kurz gekommen.«

Er fragte nicht, wie sie das meinte, denn er wußte nur zu gut, daß sie damit auf seine gemeinsamen Mahlzeiten mit Susi Dinkier und die anschließenden Schäferstündchen zielte.

Das Abendessen verlief in gespanntem Schweigen. Auch die Kinder waren ungewöhnlich still. Außer Sätzen wie: »Könnte ich wohl die Kartoffeln haben?« – »Möchtest du noch ein bißchen Leber?« – »Bist du wirklich ganz satt?« – »Danke, ich kann nicht mehr!« war nichts zu hören.

Kaum hatte Helmut Stadelmann seinen Teller geleert und ihn, wie es seine Angewohnheit war, von sich geschoben, sprang Claudia auf und holte einen Aschenbecher. Sie selber hatte noch nicht aufgegessen, aber sie wollte es sich nicht nehmen lassen, den Vater zu bedienen und ihm die Zigarette anzuzünden. Unter normalen Umständen hätte Martina sie dafür getadelt, aber diesmal verbiß sie sich jede Bemerkung, die einen Streit hätte heraufbeschwören können.

Mit einer Kopfbewegung zu den an der Schrankwand hängenden Kleidungsstücken fragte ihr Mann: »Willst du dich wieder mal in deine Schneiderei stürzen?«

»Nein.« Martina merkte selber, daß diese kurze Antwort zu schroff wirkte, und fügte erklärend hinzu: »Dafür hätte ich momentan gar keine Zeit.«

»Warum hängt das Zeug denn da rum?«

»Damit ich nicht jedesmal ins Schlafzimmer muß, wenn ich was brauche.«

»Was soll das bedeuten?«

»Ich glaube nicht, daß ich noch deutlicher werden muß.« Martinas Lächeln war ohne Wärme.

»Du darfst dich nicht scheiden lassen, Vati!« platzte Claudia heraus.

»Wer spricht denn von so was!?« Helmut beobachtete Martina aus den Augenwinkeln. »Ich habe durchaus nicht die Absicht.«

»Bitte, Claudia!« sagte Martina scharf. »Du mischst dich in Dinge, die dich nichts angehen!«

»Aber es geht mich was an! Ihr seid doch schließlich meine Eltern!«

»Halt die Schnüß!« fuhr ihr Vater sie an. »Kinder haben nur zu reden, wenn sie gefragt sind.«

»So grob brauchst du nun auch wieder nicht zu sein«, entfuhr es Martina. Sie biß sich auf die Lippen. Zu spät hatte sie bemerkt, daß sie einmal mehr jene Art Erziehung praktizierte, die schon seit Jahren in nichts anderem mehr bestand, als zu mildern, wenn der Partner streng gewesen war, und hart zu sein, wenn der andere Nachsicht übte. »Aber im Prinzip«, fügte sie lahm hinzu, »hat dein Vater schon recht. Du bist noch viel zu klein, um uns deine Ratschläge aufzudrängen.«

Claudia stand auf und schob das flache, noch unausgebildete Kinn vor. »Dann kann ich ja wohl gehen.«

»Nicht bevor du aufgegessen hast!« Claudia stocherte in den kaltgewordenen Speisen mit herabgezogenen Mundwinkeln, während ihr schon Tränen die Nasenflügel entlangrollten und auf den Teller tropften.

»Warum quälst du die Kleine so?« fragte Helmut prompt.

»Weil ich nicht stundenlang am Herd gestanden habe, damit die Hälfte des Essens weggeworfen wird!« Natürlich wußte sie, daß das maßlos übertrieben war, denn weder hatte sie stundenlang gekocht, noch handelte es sich bei dem Rest auf Claudias Teller um mehr als einige Bissen. Aber ein Mechanismus, den sie nicht beherrschte, zwang sie, jeden Hieb ihres Mannes zurückzugeben.

Was war nur mit ihr geschehen? Sie begriff es nicht. Schon lange vor dem gestrigen Tag waren diese sinnlosen Reibereien zwischen ihnen so sehr an der Tagesordnung gewesen, daß sie es kaum noch bemerkt hatte. Erst jetzt, nachdem die Entscheidung gefallen war, wurde es ihr voll bewußt. Sie versuchte den Bann zu brechen. »Entschuldige, Helmut«, bat sie mit Überwindung. »Und du kannst aufstehen, Claudia . . . nein, zwing dich nicht zu essen, wenn du keinen Hunger mehr hast. Trag deinen Teller in die Küche. Stefan hilft dir beim Abdecken.«

»Willst du mir jetzt endlich erklären . . . « forderte Helmut nervös.

»Nicht vor den Kindern.« Martina erhob sich. »Magst du noch ein Glas Bier?«

Sie ging in die Küche, um eine Flasche zu holen. Wie gewöhnlich hatte sie beim Essen nichts getrunken, aber jetzt hatte sie Lust auf Bier: nicht so sehr, weil sie durstig war, sondern weil sie hoffte, es werde ihre Nerven beruhigen – ihre und die ihres Mannes, denn sie wollte, daß die unabwendbare Aussprache so ruhig wie möglich über die Bühne ging.

»Verschwindet in euer Zimmer«, sagte sie und fuhr Stefan mit den gespreizten Fingern durch die zerzausten braunen Locken.

»Ich wette, ihr habt noch Aufgaben zu machen. Nachher komme ich zu euch.«

»Wann . . . nachher?« fragte Stefan und bog den Kopf zurück.

»Wenn ihr zu Bett gehen müßt.« Sie beugte sich nieder und berührte flüchtig mit den Lippen die kalten Wangen ihrer Tochter und spürte den salzigen Geschmack ihrer Tränen. »Sei nicht traurig, Schätzchen . . . Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.«

Zwei Flaschen unter den Arm geklemmt, ein Glas in der Hand, betrat sie das Wohnzimmer. Mit dem Fuß gab sie der Tür nach rückwärts einen Stoß, so daß das Schloß mit einem Knall zuschnappte.

Helmut hatte es sich in einem der abgewetzten Sessel bei der Stehlampe bequem gemacht und sich hinter der »Rheinischen Post« verschanzt. Schweigend öffnete sie eine der Flaschen, goß ihm nach und schenkte sich selber ein. Dann nahm sie ihm gegenüber Platz und trank. Danach fühlte sie sich besser, aber immer noch etwas beklommen.

»Du wolltest was von mir hören«, sagte sie und malte mit dem Zeigefinger Kreise auf dem niedrigen nierenförmigen Tischchen, das zwischen ihnen stand. Sie hatten es in den fünfziger Jahren gekauft, als sie heirateten – inzwischen verabscheute sie es von Jahr zu Jahr mehr, wie überhaupt all die billigen, pseudomodernen Möbel, die so schnell schäbig geworden waren. Oft hatte sie sehnsüchtig vor den Schaufenstern der Einrichtungshäuser gestanden, aber sie wußte, daß sich ihre Wünsche nicht verwirklichen ließen. Helmut verdiente nicht schlecht, aber die Kinder, die ständig aus ihren Kleidern herauswuchsen, brauchten so viel, und auch der VW, auf dessen Besitz Helmut nicht verzichten wollte, kostete sein Geld.

»Wird nicht so wichtig sein«, meinte er und griff, ohne hinter der Zeitung aufzutauchen, nach seinem Bier.

»Kommt darauf an, wie man es nimmt.«

»Na eben.« Er trank und stellte das Glas wieder auf den Nierentisch. »Ich will mich nicht unnütz aufregen. Vor allem habe ich es satt, mir deine Vorwürfe anzuhören. Jetzt laß mich erst mal in Ruhe lesen.« Für Sekunden senkte er die Zeitung, um sich eine Zigarette anzuzünden.

»Qualm mir nicht die Bude voll. Du weißt, ich muß hier schlafen.«

»Mußt du ja gar nicht.«

»Doch, Helmut. Jetzt leg das blöde Blatt endlich aus der Hand und hör mir zu!«

Die Zeitung auf dem Schoß, lehnte er sich zurück und schloß mit ergebenem Ausdruck die Augen.

»Weder will ich dir Vorwürfe machen, Helmut, noch mit dir streiten. Davon habe ich die Nase voll.«

»Wenn du wüßtest, wie voll ich sie habe!«

»Dann sind wir uns ja ausnahmsweise einig. Ich war heute bei Rechtsanwalt Doktor Günther. Ein paar Häuser weiter.«

»Willst du etwa damit sagen . . .!?« Mit einem Ruck richtete er sich auf.

»Genau. Wieso wundert dich das? Ich habe dir doch gestern nacht klipp und klar gesagt, daß ich die Scheidung einreichen werde. Mehr als einmal, wenn ich mich recht erinnere.«

»Da warst du aufgeregt!«

»Stimmt, und das mit gutem Grund, wie du wohl zugeben wirst. Heute bin ich es nicht mehr. Das heißt aber nicht, daß sich meine Meinung geändert hat. Du hast mich betrogen und belogen . . . «

»Nicht schon wieder!« Er hob die Hände.

»Ich mag nicht mehr mit dir leben«, sagte sie, scheinbar ganz ruhig, ohne die Stimme merklich zu heben.

»Nur wegen dieses belanglosen kleinen Seitensprungs?«

»Geschmacklos wäre das bessere Adjektiv. Es war geschmacklos, ausgerechnet mit meiner besten Freundin in unseren Ehebetten . . . «

»Wenn du nur einmal gehört hättest, wie Susi hinter deinem Rücken über dich redet . . . «

Martina fiel ihm heftig ins Wort. »Es geht hier nicht um Susi. Die ist für mich gestorben. Es geht um das, was du mir angetan hast.«

»Angetan! Um Himmels willen, sei doch nicht so theatralisch! Du tust ja gerade so, als hätte ich dich mißhandelt! Jeder Mann findet mal Gefallen an einem anderen Mädchen, das ist nun mal so. Wenn du das nicht begreifen willst, zeigt das bloß, wie weltfremd du bist.«

»Bildest du dir etwa ein, mir hätte noch nie ein anderer gefallen? Aber ich habe dich nicht betrogen. Das ist der Unterschied!« Sie nahm einen kräftigen Schluck. »Ich will mich nicht mit dir streiten. Ich will bloß, daß du den Tatsachen ins Gesicht siehst. Doktor Günther hat die Scheidungsklage eingereicht, und er sagt, es besteht gar kein Zweifel, daß ich damit durchkomme.«

Jetzt konnte er seine Bestürzung nicht verbergen. »Das ist doch nicht dein Ernst, Martina!«

»Du mußt dich damit abfinden. Ich weiß, daß Susi jubeln wird, aber selbst das ist mir egal. Heirate sie, du wirst schon sehen, was du davon hast. Ich will hier raus . . . will weg . . . will wieder frei sein!«

»Jetzt bist du endlich ehrlich.« Ein merkwürdiger Ausdruck trat in seine Augen. »Und was soll aus den Kindern werden?«

»Das gleiche wie aus hunderttausend anderen Scheidungswaisen. Sie werden bei mir bleiben, bei der Mutter. Es geht dich eigentlich nichts mehr an, aber ich will es dir trotzdem verraten: ich werde so bald wie möglich nach Düsseldorf ziehen.«

»Was hast du gegen Dinslaken?«

»Gar nichts. Es ist ein hübsches Städtchen und wird noch hübscher werden. Aber ich fürchte, Dinslaken wird etwas gegen mich haben. Als geschiedene Frau komme ich bestimmt besser in einer großen Stadt voran. Ich werde ein Kosmetikinstitut eröffnen.«

»Das kostet Geld.«

Sie lächelte ihn an und erklärte, die Augen fest auf ihn gerichtet, trocken: »Du wirst es mir geben.«

Er sprang auf. »Ich denke nicht daran!«

»Du wirst dich mit diesem Gedanken abfinden müssen.«

»Niemals!«

»Sag das nicht, Helmut.« Sie spürte ihre Überlegenheit und war jetzt ganz ruhig. »Es ist doch ein faires Angebot. Rechne dir aus, wieviel es dich kosten würde, wenn du mir lebenslänglich Unterhalt zahlen müßtest.«

»Lebenslänglich?«

»Ja, ganz sicher. Ich denke nicht daran, noch einmal zu heiraten. Von der Ehe habe ich für alle Zeiten genug.«

»Und ich soll dein weiteres Leben finanzieren!?«

»Eben nicht, Helmut, das versuche ich dir ja gerade klarzumachen. Ich verlange nichts als eine einmalige Abfindung für die Jahre, die ich mit dir verloren habe. Zehn Jahre unbezahlte Hausarbeit. Rechnen wir für den Monat ein Gehalt von dreihundert Mark – das ist doch nicht zu hoch gegriffen? –, dann ergibt das einen Betrag von sechsunddreißigtausend Mark.«

»Woher soll ich das nehmen?«

»Denk drüber nach! Ich verlange nichts, als daß du deine Schulden bei mir bezahlst.« Martina leerte ihr Glas und stand auf. »Du kannst noch die Flasche Bier austrinken, dann solltest du, bitte, hier verschwinden. Du weißt, ich muß morgen früh raus.« »In meiner eigenen Wohnung kann ich wohl so lange aufbleiben, wie ich will.«

»Es ist unsere Wohnung, Helmut, und da ich dieses Zimmer brauche . . . «

»Wenn du nicht verrückt spielen würdest . . . «

»Du verkennst deine Situation. Doktor Günther hat mir vorgeschlagen, dich durch eine einstweilige Verfügung aus der Wohnung weisen zu lassen. Ich habe darauf verzichtet. Vorläufig.

Aber wenn du mir hier das Leben schwermachen willst, müßte ich darauf zurückkommen.«

»Du Hexe!« stieß er wütend hervor. »Ich habe schon immer gewußt, daß du eine Hexe bist!«

»Nein, ich bin nur eine Frau, deren Ehe zerbrochen ist. Wir leben in Scheidung, Helmut. Jetzt ist es wichtiger denn je, daß wir Rücksicht aufeinander nehmen.«

Als sie, ihr Glas in der Hand, an ihm vorbei wollte, streckte er seinen langen Arm nach ihr aus, packte sie um die Taille und zog sie auf seinen Schoß. »Jetzt ist es genug, Martina«, sagte er, jenen warmen, lockenden Ton in der Stimme, den sie einmal so sehr an ihm geliebt hatte. »Okay, du hast gewonnen.«

»Ich kriege also das Geld?«

»Hör auf damit! Du hast deinen Triumph gehabt, du hast mich gedemütigt und fast zu Tode erschreckt, ich liege besiegt zu deinen Füßen. Also, was willst du noch mehr? Soll ich dich kniefällig um Verzeihung bitten?!« Er begann, ihren Nacken mit zärtlichen kleinen Küssen zu bedecken.

»Das wäre immer noch besser als diese schreckliche männliche Selbstgefälligkeit. Obwohl es auch nichts mehr nutzen würde.« Sie verhielt sich bewegungslos in seinen Armen und wartete auf einen günstigen Augenblick, sich zu befreien.

»Ich habe gar nicht gedacht, daß du noch so eifersüchtig sein könntest!« Seine Lippen berührten ihr Ohr.

»Eifersüchtig! Daß ich nicht lache!«

»Und ausgerechnet auf Susi Dinkler, dies farblose Wesen! Gegen die bist du doch . . . «

»Spar dir, bitte, deine Elogen.«

»Meine . . . was?«

»Lobhudeleien. Fremdworte waren nie deine Stärke.«

Er zwang sich zu lächeln. »Aha, jetzt kommt mal wieder diese Platte! Du hast ja auch allen Grund, dich mächtig überlegen zu fühlen, bloß weil du beinahe das Abitur gemacht hast.«

»Das habe ich dir nie vorgehalten! Mein Gott, Helmut, willst du denn nicht begreifen, daß es keinen Zweck mehr mit uns hat!?«

»Das bildest du dir doch nur ein. Du magst mich doch nach wie vor, das weiß ich ganz genau. Sonst hättest du dich über den blöden Zwischenfall bestimmt nicht so aufgeregt.« Seine Hand glitt in den Ausschnitt ihres Jäckchens, und seine Finger umschlossen ihre rechte Brust.

Mit einem Ruck, der für ihn, da sie bisher stillgehalten hatte, gänzlich überraschend kam, riß sie sich los und sprang auf die Füße. »Du verstehst nichts . . . gar nichts!« schrie sie und fügte, als sie merkte, daß sie zu laut geworden war, in einem angestrengten Flüstern hinzu: »Du verstehst nichts und du fühlst nichts . . . Du bist ein völlig empfindungsloser Klotz! Es ist vorbei, verstehst du? Muß ich es buchstabieren, damit es endlich in deinen Schädel geht? Aus und vorbei!« Sie tastete nach ihrem hochgetürmten Haar und zog sich das Jäckchen zurecht. »Vielleicht kannst du Susi mit deinen männlichen Qualitäten imponieren . . . mir bestimmt nicht mehr.«

Sie verließ das Zimmer und zwang sich, die Tür leise zu schließen, weil sie nicht kindisch wirken wollte.

Als sie später, nachdem sie sich länger als üblich bei den Kindern aufgehalten hatte, zurückkam, fand sie das Wohnzimmer verlassen. Sie war erleichtert. Weit öffnete sie das Fenster.

Die nächsten Wochen wurden qualvoll. Es war fast unerträglich für Martina, auf so engem Raum mit dem Mann zusammenzuleben, von dem sie mit all ihren Kräften fortstrebte. Daß er zornig und verletzt war, verstand sie und nahm sie hin. Besonders schlimm war es mit ihm an dem Tag, da die Post ihm ihre Scheidungsklage brachte. Bis zu diesem Moment hatte er immer noch gehofft, daß sie schwach werden würde. Jetzt mußte er den Tatsachen ins Gesicht sehen, und das wurde zu einer harten Prüfung, nicht nur für ihn, sondern auch für seine Familie.

Martina, an der er seine Wut, seine Enttäuschung und seine verletzte Eitelkeit ausließ, hatte am meisten zu leiden. Sie ertrug es mit Haltung, angespannt bemüht, ihn sowenig wie möglich zu reizen. Viel schlimmer war es für sie, daß er immer wieder Ansätze machte, den Haß, den er jetzt tatsächlich für sie empfand, zu unterdrücken, und seinen ganzen männlichen Charme aufbot, um sie zu verführen. Ließ sie ihn dann ihre Gleichgültigkeit spüren, kamen seine echten Gefühle zum Durchbruch, und er beschimpfte sie.

Einmal – er war nachmittags bei seinem Anwalt gewesen – überfiel er sie nachts auf dem Flur, als sie vom Bad kam. Seine Arme umklammerten sie wie Schraubstöcke, gewaltsam versuchte er sie ins Schlafzimmer zu schleppen.

Obwohl sie sehr erschrak, gelang es ihr, sich zu beherrschen.

»Ich schreie!« drohte sie.

Seine große Hand preßte sich ihr auf Mund und Nase, so daß sie zu ersticken glaubte. Es gelang ihr, einen seiner Finger zwischen die Zähne zu bekommen, und sie biß in sein Fleisch, so fest sie konnte.

Aufstöhnend zog er die Hand zurück und gab Martina frei.

Ihr Instinkt riet ihr zu fliehen, doch ihr Verstand zwang sie zu bleiben und es durchzustehen. Sie schlang den Gürtel ihres Morgenrocks fester und stand aufrecht vor ihm. »Das ist die falsche Methode«, sagte sie.

»Martina . . . au verdammt!« Er steckte sich den verletzten Finger in den Mund.

»Mit einer Vergewaltigung setzt du dich nur noch stärker ins Unrecht.«

»Du bist meine Frau!«

Der Flur war nur erleuchtet durch das schwache Licht, das aus dem Schlafzimmer fiel. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, nur seine Gestalt, die sich breitschultrig von dem hellen Rechteck abhob.

»Das gibt dir kein Recht, mich zu überfallen.«

»Martina, verstehst du denn nicht . . . du bist meine Frau! Ich liebe dich doch!« Er trat näher.

Sie wich nicht zurück. »Mach mir nichts vor! Ich weiß Bescheid. Wenn ich mich von dir rumkriegen lasse, ist mein Scheidungsgrund hinfällig. Das ist es doch, worauf du hinauswillst.«

»Du bist zynisch, Martina.«

»Nur ehrlich, Helmut. Und ich wollte, du wärst es auch. Du machst dir nicht mehr das geringste aus mir, ja, du haßt mich. Also zwing dich nicht, mir nachzulaufen. Sei lieber froh, daß wir auseinandergehen, bevor wir uns gegenseitig totschlagen.«

»Martina, ich . . . « Er kam noch näher.

Sie rührte sich nicht von der Stelle. »Bleib mir vom Leib. Du weißt jetzt, was ich von deinen Anstrengungen denke.«

»Niemals hätte ich geglaubt, daß es so weit mit uns kommen würde!«

»Ich auch nicht«, gab sie zu. »Aber es hat keinen Zweck, an meine Gefühle zu appellieren. Ich würde nicht mal mit dir ins Bett gehen, wenn ich es gerne wollte. Der Preis wäre mir zu hoch. Leg dich schlafen!«

Im Halbdunkel standen sie sich gegenüber, sie unbeweglich und wachsam, er lauernd auf dem Sprung. Erst als er begriff, daß sie sich keine Blöße geben würde, drehte er sich mit einem Knurrlaut um und zog sich zurück. Sie verschloß die Wohnzimmertür hinter sich und klemmte, zur Sicherung, noch eine Sessellehne unter die Klinke. Jetzt, da alles vorbei war, zitterte sie am ganzen Leib. Sie fror und mußte die Zähne aufeinanderbeißen, damit sie nicht klapperten.

Es dauerte lang, bis sich der Schock, den sie erlitten hatte, in einem nervösen Weinen löste.

Nach dieser Nacht versuchte Helmut Stadelmann nie mehr, sich seine Frau gefügig zu machen. Er gab sich grollend, ein vom Schicksal geschlagener Mann, und die Kinder zitterten vor seiner schlechten Laune. Dann, von einem Tag zum anderen, änderte er seine Taktik. Er zeigte sich heiter und versöhnlich, scherzte mit Claudia, unterhielt sich ernsthaft und aufmerksam mit Stefan und versuchte auch Martina ins Gespräch zu ziehen. Aber sie blieb zurückhaltend, denn sie traute ihm nicht.

Nach dem Abendessen schlug er vor, wieder einmal »Monopoly« zu spielen. Die Kinder stimmten begeistert zu.

»Mach doch mit, Mutti!« bat Stefan.

»Zu vieren macht es viel mehr Spaß!« erklärte Claudia, die die Schachtel rasch herbeiholte und sie auf den erst halb abgedeckten Tisch stellte.

Martina sah sich in die Rolle der Spielverderberin gedrängt. »Ich würde ja gerne«, log sie mit einem erzwungenen Lächeln, »aber ich habe noch in der Küche zu tun.«

»Ach, Quatsch, Mutti!« rief Stefan.

»Gib dir schon einen Ruck, Alte!« Helmuts Freundlichkeit war so falsch wie ihr Lächeln. »Was macht’s schon aus, wenn wir morgen abend mal kalt essen?!«

»Lieber nicht. Das können wir uns nicht leisten!« Rasch stapelte Martina die benutzten Teller auf das Tablett und verschwand damit in der Küche. Sie hätte darauf bestehen können, daß Claudia und Stefan, wie gewöhnlich, den Abwasch besorgten. Aber damit hätte sie die Kinder nur noch gegen sich aufgebracht und Helmuts Position noch gestärkt.

Die winzige Küche war kein Ort, an dem man sich gerne aufhielt, aber sie hatte sich nun einmal selbst hierher verbannt. So bereitete sie einen Auflauf für den morgigen Abend vor und studierte, während die Nudeln kochten, in ihrem Chemiebuch. Sie mußte jede Minute zum Lernen nutzen.

Auf dem harten Hocker saß es sich denkbar unbequem. Die fröhlichen Stimmen der anderen drangen, untermalt von Schlagermusik von Radio Luxemburg, zu ihr herüber. Sie konnte sich nicht konzentrieren und fühlte sich ausgeschlossen, obwohl sie den Sinn dieser kleinen Demonstration nur zu gut verstand.

Helmut wollte ihr zeigen, wie reizvoll das Familienleben sein konnte. Aber sie erinnerte sich, daß solche Stunden in den Jahren ihrer Ehe sehr selten gewesen waren. Zuerst hatte Helmut abends für seine Prüfungen und Kurse gebüffelt, und später hatte seine Briefmarkensammlung ihn beschlagnahmt. Für eine Unterhaltung oder gar für ein Spiel war kaum je Zeit gewesen, und genauso würde es wieder werden, wenn sie sich jetzt einwickeln ließ.

Die Nudeln waren gar, sie schreckte sie ab. Dann nahm sie Bier und Limonade aus dem Eisschrank, stellte Gläser dazu und trug das Tablett ins Wohnzimmer.

»Bei dieser Schreierei werdet ihr euch sicher gern mal zwischendurch die Kehlen befeuchten«, sagte sie.

Die Kinder freuten sich, und Helmut sagte: »Du bist ein Schatz!« Sie klemmte sich das leere Tablett unter den Arm und ging.

Danach wurde es stiller im Wohnzimmer, und eine halbe Stunde später machte Helmut Schluß.

Am nächsten Abend erschien er mit zwölf roten Rosen, die zu dieser Jahreszeit sicher sehr teuer gewesen waren. Martina hätte sie am liebsten abgelehnt, und es lag ihr auf der Zunge, ihn zu fragen, ob er sie nicht lieber Susi Dinkler bringen wollte. Aber sie verkniff sich jede Bemerkung. Helmut ließ nicht in seinen Anstrengungen nach, sie versöhnlich zu stimmen. Doch sie ging nicht darauf ein, sondern blieb zurückhaltend.

Am Monatsende, als er sein Gehalt kassiert hatte, überreichte er ihr feierlich und verschmitzt ein Schächtelchen von der Art, wie sie Juweliere zu benutzen pflegen. Es war in buntes Seidenpapier gewickelt und mit einer goldfarbenen Schnur zugebunden.

»Was soll das?!« fragte sie, unangenehm berührt.

»Nimm doch!« Er versuchte ihr die Schachtel aufzudrängen.

Sie verschlang die Hände auf dem Rücken. »Nein!«

»Aber ich bitte dich . . . eine kleine Überraschung! Ich will dir doch nur eine Freude machen!«

»Aus welchem Grund!?«

»Schließlich sind wir ja noch verheiratet.«

»Das sind wir seit zehn Jahren. Und jetzt rechne mal nach, wie oft du in all der Zeit mit einem Geschenk gekommen bist. Selbst an meinen Geburtstag mußte ich dich jedesmal erinnern.«

»Das will ich eben wiedergutmachen.«

»Dazu ist es zu spät, Helmut!«

Die Kinder – Helmut hatte es darauf angelegt, daß sie Zeugen wurden – beobachteten die kleine Szene neugierig. Das Benehmen der Mutter mußte ihnen unverständlich erscheinen.

»Soll ich auspacken, Vati?« erbot sich Claudia.

»Nein«, sagte Martina scharf.

»Sieh dir doch wenigstens an, was es ist«, drängte Helmut. »Es wird dir bestimmt gefallen.« Er gab Claudia das Schächtelchen.

»Aber ich will kein Geschenk von dir! Geht das nicht in deinen Schädel?!«

»Nein, wirklich nicht«, behauptete er grinsend.

Claudia hatte, während Stefan ihr über die Schulter blickte, das Schächtelchen hastig geöffnet. »Ein Ring!« rief sie. »So ein schöner Ring!« Sie hielt das Schmuckstück der Mutter unter die Nase.

Martina konnte nicht umhin, es anzusehen. Es war ein schmaler Reif, mit drei Steinen besetzt, zwei winzigen rechteckig geschliffenen Brillanten, dazwischen ein Smaragd in der gleichen Form.

»Probier ihn mal an«, bat Helmut.

»Aber den kannst du dir doch gar nicht leisten!«

»Mach dir darüber keine Gedanken. Es soll ein Zeichen meiner Liebe sein.« Er versuchte, ihre linke Hand nach vorne zu drehen.

»Du tust mir weh!«

»Entschuldige, aber wenn du so dickköpfig bist . . . «

»Ich weiß nur, was ich will, und ich weiß, was sich gehört. Ein solches Geschenk paßt nicht zu uns. Nicht zu dir und nicht zu unserer Situation. Wenn ich es annähme, würde ich mich wieder binden . . . «

»Woher denn! Nimm den Ring von mir als Erinnerung.«

»Erinnerung? An was? Bist du wirklich so sicher, daß in unserer Ehe die schönen Stunden überwogen haben? Dann ständest du heute nicht so da. Tu doch bloß nicht, als wolltest du mir was Gutes tun. Kaufen willst du mich. Wahrscheinlich ein Rat von deinem trefflichen Rechtsanwalt: Bringen Sie ihr ein schönes Schmuckstück, dann wird sie bestimmt schwach. Keine Frau kann einem Brillantring widerstehen.«

Diese Behauptung, die sie aus der Luft gegriffen hatte – sie war ihr von einer Sekunde zur anderen eingefallen –, kam der Wahrheit so nahe, daß Helmut sich vor Wut und Scham verfärbte. »Du kannst wohl immer nur das Schlechteste denken«, brüllte er. Er riß Claudia den Ring aus der Hand und steckte ihn in seine Hosentasche.

»Bring ihn ins Geschäft zurück und sieh zu, daß du dein Geld wiederkriegst«, riet ihm Martina. »Du wirst es in der nächsten Zeit noch brauchen.«

Es war ihm anzusehen, daß er sie am liebsten geschlagen hätte, aber er beherrschte sich, blickte sie nur wütend von unten herauf mit schräggelegtem Kopf an, bevor er die Tür zuknallte und die Wohnung verließ.

»Aber das war doch so ein schöner Ring«, jammerte Claudia. »Warum hast du ihn nicht genommen? Du hättest ihn ja aufheben können, bis ich groß geworden bin.«

»Sei nicht traurig, Schatz.« Martina atmete tief, um sich zu beruhigen. »Du wirst schon sehen: bald verdiene ich Geld, und dann können wir uns die schönsten Sachen kaufen. Wir brauchen keine Geschenke von Vati.«

»Er wollte sich versöhnen, nicht?« fragte Stefan ernsthaft.

»So kann man es nennen«, gab Martina zu.

»Aber du wolltest nicht.«

»Nein, ich will nicht. Das ist ganz richtig.«

»Was hat er dir denn getan?«

Martina zögerte. Sie fühlte, daß sie sich in den Augen der Kinder ins Unrecht setzte. Aber sie konnte sich nicht verteidigen, ohne Helmut schwer zu belasten, und das wollte sie nicht. Es war ihr peinlich, mit ihnen über Sexualität zu sprechen; sie schienen ihr noch zu jung dazu. Später, so hoffte sie, würde sie ihnen alles erklären können.

Helmut kam in dieser Nacht sehr betrunken nach Hause. Er rumorte im Bad und auf dem Flur, aber er belästigte Martina nicht. Am nächsten Morgen war er verkatert. Er gab sich keine Mühe mehr, freundlich und zuvorkommend zu erscheinen, sondern ließ seiner schlechten Laune freien Lauf. Für Martina bedeutete das fast eine Erleichterung. Dennoch blieb das Zusammenleben mit dem Mann, den sie nicht mehr liebte und der ihr doch so vertraut war, nervenaufreibend.

Glücklich war Martina in dieser Zeit nur in Düsseldorf. Während des Unterrichts in der Kosmetikschule und im Kreis ihrer Mitschülerinnen vergaß sie zeitweilig ihre Sorgen. Es störte sie nicht, daß sie die Älteste war – im Gegenteil, ihr war es, als würde sie selbst wieder jung. Mit wachsender Übung fiel ihr das Lernen immer leichter, ihre Hände waren geschickt, sie konnte manches Lob einheimsen, und es machte ihr Spaß, mit den anderen zu lachen und über Mode und Männer zu schwatzen.

Manchmal hatte sie geradezu den Eindruck, ein Doppelleben zu führen, als sei sie in Düsseldorf ein ganz anderer Mensch als zu Hause. Wie die Verwandlung von einer in Scheidung lebenden Ehefrau und Mutter zu einer hoffnungsvollen Kosmetikstudentin vor sich ging, begriff sie nicht, aber sie wußte genau, wann die Rückwandlung einsetzte: sobald sie in Düsseldorf in den Zug stieg. Dann verschwand das Lächeln aus ihren Mundwinkeln, und ihr Kinn schob sich vor.

Sie stürzte sich in den Kampf um den Sitzplatz, einen erbitterten Kampf gegen rüde Jugendliche, abgearbeitete Männer und Hausfrauen mit großen Einkaufstaschen – warum die nur gerade zur Hauptverkehrszeit unterwegs sein mußten! War ein Platz errungen, gab es ein kurzes Aufatmen. Die Kollegtasche als Schreibunterlage auf dem Schoß, eingezwängt zwischen fremden Leibern, begann sie ihren Einkaufszettel auszuarbeiten. Haltbare Lebensmittel besorgte sie zwar stets am Samstag, aber selbst bei genauer Planung ließ sich das nicht für jede Ware durchführen, ganz abgesehen davon, daß doch immer dies oder das im Haushalt fehlte oder auszugehen drohte.

Weit bequemer wäre die Fahrt in der Ersten Klasse gewesen, aber der Preisunterschied für die Wochenkarte war so erheblich, daß Martina sich diesen Luxus nicht erlauben konnte. Mühsam genug hatte sie sich das Schul- und Fahrgeld im Verlauf ihrer Ehe aus der »Schmu-Kasse« zusammengespart, immer mit schlechtem Gewissen, voll Zorn auf sich selber und auf Helmut, der sie zu dieser Methode zwang, indem er ihr niemals Geld zur eigenen Verwendung überließ. Jeder Pfennig mußte abgerechnet werden. Wie sehr hatte sie knausern müssen, um Pfennig auf Pfennig zu legen, die sich mit unendlicher Langsamkeit summiert hatten. Helmut wußte bis heute nichts davon. Sie hatte behauptet, das Geld sei ein Geschenk ihrer Großmutter, und er hatte es geschluckt.

Wenn er es je erfuhr, würde er toben. Dabei hatte sie es doch für ihn getan – auch für sich selber, aber mehr doch für ihn und die Kinder. Immer waren sie knapp mit Geld gewesen, hatten sie sparen und rechnen müssen. Mit ihrem Kosmetikinstitut hatte sie sich und Helmut aus der finanziellen Misere befreien wollen. Sie hatten sich alles so hübsch ausgedacht, Susi Dinkler und sie. Verdammte Susi, warum nur hatte sie alles kaputtgemacht!

Während der Zug durch die Industrielandschaft brauste, wendeten sich Martinas Gedanken der Vergangenheit zu. Zwanghaft, sie wollte es gar nicht, versuchte sie immer aufs neue herauszufinden, warum es zwischen ihr und Helmut zum Bruch gekommen war und wann sich der erste verhängnisvolle Sprung am Firmament ihrer Ehe gezeigt hatte.

Zwei Stationen, Menschen, die hinaus- und hereindrängten, Duisburg, Oberhausen, vorbei an den Hochöfen der Gutehoffnungshütte, dann war sie am Ziel. Dinslaken. Ohne Freude eilte sie einem Heim entgegen, das kein Heim mehr war.

Einmal, es war Februar geworden, die Kälte war gebrochen, und trotz des strömenden Regens lag ein Hauch von Frühling in der Luft, begegnete sie auf dem Weg nach Hause Susi Dinkler.

Martina hatte seit dem Zwischenfall die Drogerie, in der Susi arbeitete, nie mehr betreten. Dennoch war sie darauf gefaßt gewesen, daß ihr die frühere Freundin irgendwann und irgendwo über den Weg laufen würde. Aber als es geschah, war sie doch völlig überrascht. Es war im Kaffeegeschäft. Martina haue auf dem Heimweg noch rasch ein Päckchen Kaffee besorgen wollen, und Susi hatte diesen Einfall anscheinend auch gehabt und deshalb kurz ihren Arbeitsplatz verlassen.

Martina hatte sich vorgenommen, Susi zu schneiden, über sie wegzusehen, als hätte sie sie niemals gekannt. Aber das ging nun nicht. Ihr erster Blick hatte sie schon verraten.

Sie standen sich in dem kleinen Geschäft gegenüber, Martina war von der Tür und Susi Dinkler von der Kasse her gekommen. Es schien, als wichen die anderen Kunden vor ihnen zurück und bildeten gleichsam einen Kreis um sie. Auch die Plaudereien verstummten.

»Tag, Martina«, sagte Susi Dinkler.

Martina hätte wortlos an ihr vorbeigehen können, aber sie wollte die Leute im Laden nicht mit Gesprächsstoff versorgen.

Es war ihr zwar nicht klar, wieso jemand in der Stadt – außer den Juristen, und die mußten schweigen – etwas über sie, Susi und Helmut wissen konnte, aber es wurde bestimmt schon weidlich geklatscht. Das wurde Martina in diesem Augenblick bewußt, denn anders war die Aufmerksamkeit, die das zufällige Treffen erregte, nicht zu erklären.

»Tag«, gab sie zurück.