Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Das Smartphone ist längst zum liebsten Spielzeug der Jugend in Deutschland geworden. Überall wird gesurft: Zuhause, im Bus, auf dem Schulhof. Pornos sind dabei allgegenwärtig. Und der heutige Internet-Konsum verursacht bei jungen Menschen einen anderen Umgang mit Sexualität. Lange vor ihren ersten eigenen sexuellen Kontakten sehen die Konsumenten, wie es läuft im Bett. Oder laufen könnte: Gruppensex, Gang Bang, Sex mit Tieren, Sex und Gewalt – es gibt scheinbar nichts, was nicht erlaubt wäre. Das mobile Internet ersetzt beinahe den Sexualkundeunterricht in der Schule, lange bevor der Biologie-Lehrer das Thema anpacken kann. Digitales Verderben richtet sich an alle, die sich Sorgen machen angesichts des Problems Internetpornografie – seien es Eltern, Lehrer oder die User selbst. Der Autor bietet mögliche Lösungsansätze und wagt einen Blick in die Zukunft. Was haben wir noch zu erwarten? Was kann man tun? Wo gibt es Hilfe? Digitales Verderben sucht die Antworten. Ohne Polemik und ohne falsches Pathos will das Buch Orientierung geben, damit die, die Einfluss auf die Jugend haben, den Anschluss nicht verlieren.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 227
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
In Deutschland herrscht bei vielen die Meinung vor, dass Sexualität angeblich »nur natürlich« und deshalb auch »nur gut« sei, und deshalb auch ihre Darstellung in der Pornografie und deren Konsum als völlig problemfrei anzusehen. Ein kritisches Hinterfragen dieser Position – etwa unter dem Blickwinkel des Machtaspekts – findet kaum statt, vielmehr wird Kritik rasch unter den Generalverdacht der Lustfeindlichkeit gestellt. Umso mehr ist es zu begrüßen, wenn sich Einzelne diesem Meinungsmonopol widersetzen, und sich auf eigene Faust aufmachen, Fragen zu stellen, und versuchen, differenzierte Antworten zu finden. Anne Sophie und Christoph Wöhrle leisten mit ihrem Buch einen wichtigen Beitrag zum Verständnis, wie Pornographie zumindest auch und bei gar nicht so wenigen wirken kann: nicht befreiend und lustfördernd sondern einengend.
Dr. Jakob Pastötter,
Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS)
»Ich hatte meinen Lebensunterhalt mit meinem Aussehen verdient, und nun war alles dahin: das wundervolle blonde Haar, das Gesicht mit dem strahlenden Lächeln, die großen verführerischen Augen. Alle Kurven, für die Männer tausende Dollars gezahlt hatten, nur um sie anzuschauen, waren dahingeschmolzen zu einem heruntergekommenen Skelett.«
(Jenna Jameson, eine der bekanntesten weiblichen Pornodarstellerinnen, in ihrer Autobiografie »Pornostar«)
Ich war sicherlich ein Spätzünder. Meinen ersten richtigen Porno habe ich mit 23 Jahren gesehen. Es war auf einer Brasilien-Reise im Frühjahr 2003, meine beiden Kumpels Daniel und Stefan hatten schlimmen Durchfall, während draußen der Karneval über die Altstadt von Salvador da Bahia fegte. Also gönnten sich die beiden etwas Ruhe im Hotelzimmer und ließen den »Adult Channel« nebenbei im Fernseher laufen.
Da sah ich den blanken Busen und die rasierte Scham einer Brünetten und wie sie von einem überaus muskulösen Hünen im Doggystyle penetriert wurde. Er kniete hinter ihr, sie lag vornüber gebeugt auf dem Bett und war mit Handschellen an die Kopflehne gefesselt. Unter die Bilder hatten die Macher dieses Videos sphärische Klänge und harte Beats als Tonspur gelegt. Der Rhythmus schlug analog zu den Bewegungen des schnellen Rammlers. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen gefiel der Frau, was sie da gerade mit diesem Mann tat. Oder besser gesagt, was der Mann da mit ihr tat. Zumindest sah man, dass sie stöhnte und die Augen schloss, während ihr Körper unter den Stößen zu erbeben schien.
Mir gefiel dieser Porno ausgesprochen gut. Es fühlte sich für mich ein bisschen an wie die Erfahrung, wenn du als Torhüter beim Fußball das erste Mal einen Hechtsprung wagst und einen Ball parierst. Du bist unsicher, aber wirfst dich rein und fühlst danach eine Erleichterung und auch einen Anflug von Stolz. Denn jetzt gehörst du dazu.
Sicher hatte ich viel über Pornografie gehört. Aber zu dieser Zeit war das Internet noch eine Welt, die sich mir erst langsam erschloss. Damals wurden Pornos noch vor allem auf Video-Kassetten und DVDs vertrieben. Man ging in eine Videothek oder einen Sex-Shop. Oder ins Pornokino, wo die Erben Onans am Eingang Taschentücher gereicht bekamen und den Laden nicht selten mit heraufgezogener Kapuze betraten wie Diebe in der Nacht. Pornos waren in der Schmuddelecke. Eindeutig. Und wer sie konsumierte, dem konnte man getrost unterstellen: Er weiß, was er da tut.
Es waren andere Zeiten. Für viele der jungen Konsumenten in der heutigen Zeit, die, so behaupten wir, nicht unbedingt wissen, was sie da tun, wäre mein erster Porno wohl viel zu soft und brav, ergo: zu langweilig gewesen. So wie die mittelalterlichen Zeichnungen aus dem »Codex Manesse« für einen Kunstliebhaber: Er findet sie putzig, vielleicht schön und handwerklich gelungen, aber legt eben nicht die Kriterien zur Bewertung von zeitgenössischer Kunst an.
Ob der brasilianische Porno auch ein Stück Kunst war, sei dahin gestellt. Aber ich hatte – was Sex-Filme angeht – endgültig meine Unschuld verloren. Und das war irgendwie aufregend.
Aufregend sind Pornos auch heute noch. Verschiedene Studien haben deren Konsum in der deutschen Bevölkerung untersucht. Dabei kam heraus, dass die Konsumenten durch die Freiheit des Internets immer jünger werden. Das Einstiegsalter liegt bei 11 bis 13 Jahren.
Pornos sind heute praktisch frei zugänglich für jedermann. Laut der repräsentativen Dr.-Sommer-Studie der Jugendzeitschrift Bravo (2009) haben 42 Prozent der 11- bis 13-Jährigen in Deutschland und 79 Prozent der 14- bis 17-Jährigen schon einmal pornografisches Material gesehen. Männliche User schauen deutlich öfter Pornos als weibliche. Sehr regelmäßigen Pornokonsum hat die Studie bei 8 Prozent der männlichen und 1 Prozent der weiblichen Nutzer zwischen 11 und 17 Jahren festgestellt.
Bei einer Online-Befragung von Mathias Weber und Gregor Daschmann von 2010 gaben 93 Prozent der männlichen User zwischen 16 und 19 Jahren an, bereits gewollt Pornografie konsumiert zu haben. Bei den Mädchen waren es 61 Prozent. 5 Prozent der Jungen und 20 Prozent der Mädchen sagten, sie seien nur zufällig beim Surfen auf Porno-Seiten gelandet. Rund 50 Prozent der Jungen, aber nur 3 Prozent der Mädchen gaben an, Pornos »fast täglich« oder »mehrmals täglich« zu konsumieren.
In anderen Ländern wurde eine noch weitere Verbreitung ermittelt. So ergab eine Studie der Autoren Susanne Knudsen, Lotta Löfgren-Mårtenson und Sven-Axel Månsson (2007), dass in Skandinavien länderübergreifend 99 Prozent der männlichen und 86 Prozent der weiblichen Internet-User zwischen 12 und 20 Jahren bereits pornografisches Material gesehen haben. In einigen asiatischen Ländern mit weitreichender Verbreitung des Internets auch im öffentlichen Raum wie etwa Südkorea und Taiwan tendieren die Werte in Richtung 100 Prozent.
Und mit zunehmendem Alter steigt der Pornokonsum noch. Laut einer Studie der Medienwissenschaftlerin Nicola Döring von 2009 nutzen 16 Prozent der Studenten und 1 Prozent der Studentinnen täglich Pornografie, ebenso zumeist im Internet. 73 Prozent der Studenten und 9 Prozent der Studentinnen konsumierten zumindest einmal wöchentlich.
Das Zahlenwerk solcher Studien wird in diesem Buch noch weiter dargelegt und kommentiert werden. Auch wenn Studien bekanntlich oft nur das belegen, was deren Erheber für erheblich halten. Oder wie es Neil Postman, auf den wir gleich kommen werden, ausdrückte: »Viele Psychologen, Soziologen, Ökonomen und andere Kabbalisten der neueren Zeit lassen sich die Wahrheit von ihren Zahlen sagen, und wenn diese stumm bleiben, stehen sie mit leeren Händen da.«
Aber Zahlen und Studien sind nun mal die einzigen Informationen, die wir haben. Sie sind die Art, wie wissenschaftliche Erkenntnisse präsentiert werden und deshalb zitieren wir sie doch.
Aber interessanter als die Zahlen ist der Ort, wo Pornos heute konsumiert werden: nicht das Hotelzimmer und auch nicht mehr das Kino, sondern das World Wide Web. Und weil das Internet so schwer kontrollierbar ist, ist auch ein altersabhängiger Zugang zu Pornografie kaum mehr durchsetzbar – trotz eindeutiger Gesetzeslage (siehe Kapitel 3).
Was das für die Kinder und Jugendlichen bedeutet, ist das Thema dieses Buches. Wir glauben, dass der Konsum von Pornos durch junge Menschen deren Umgang mit Sexualität beeinflusst. Wir glauben, dass es hier bereits entsprechende Entwicklungen zu beobachten gibt.
Internet-Pornos beeinflussen die jungen Menschen, die mit ihnen auf die eine oder andere Art in Kontakt kommen, erheblich. Und sie beeinflussen damit die ganze Gesellschaft – nicht zum Guten; das ist die These von »Digitales Verderben«.
Unser Buch beschäftigt sich mit der Frage, was das für Folgen hat. Unser Blickwinkel fußt auf wissenschaftlichen Studien und eigenen Recherchen. Es soll aber kein Buch von Wissenden sein, die den Leuten von oben herab sagen, wie sie zu leben haben.
Genauso wenig soll es über Gebühr polemisieren. Vielmehr wollen wir uns als Wissbegierige zeigen, die denen Input und Hilfe geben, die sich mit dem Thema Pornografie und Jugend beschäftigen wollen, seien es Eltern, Lehrer, Sozialarbeiter, Jugendbetreuer oder die jungen Konsumenten selbst.
Da wir Journalisten sind und um dieses Buch auch kurzweilig zu halten, sind einige Kapitel oder Kapitelteile als Reportagen aufgeschrieben. Hier gehen wir nah ran an die Menschen, die wir getroffen haben, um dann in den übrigen Kapiteln wieder einen Schritt zurück zu treten und Distanz aufzubauen.
Prinzipiell wollen wir uns immer entlang der Fragen bewegen, die unsere Leser beschäftigen. Wie funktioniert Pornografie und wie wird sie von Menschen rezipiert? Schadet Pornografie meinem Kind? Wie bringt man Jugendlichen eine verantwortliche Nutzung des Internets bei? Welche Hilfen gibt es, die man als Erwachsener oder auch als junger Konsument in Anspruch nehmen kann?
Es war das Jahr 1985, als Neil Postman sein Sachbuch »Amusing Ourselves to Death« veröffentlichte (in Deutschland erschien es Ende 1988 unter dem Titel »Wir amüsieren uns zu Tode«). Postman war im Hauptberuf Professor für Kommunikationswissenschaften und »Media Ecology« an der New York University. Man kann ihn, ohne zu übertreiben, einen der bedeutendsten Medien- und Kommunikationswissenschaftler seiner Zeit nennen.
Seine Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 1985 hatte ebenfalls den Titel »Wir amüsieren uns zu Tode«. Platt gesagt, war Postmans Thema die um sich greifende Volksverdummung durch das Aufkommen des Privatfernsehens in den USA. Das Buch wurde ein weltweiter Bestseller und Postman erhielt dafür ein Jahr nach Erscheinen den renommierten Orwell-Award.
Auf George Orwell und Aldous Huxley bezog sich Postman in seinem Buch. Er wollte die Frage klären, wer von beiden mit seiner Zukunftsvision Recht hatte.
Orwell warnte vor der Knechtung der Welt durch eine fremde Macht, den »großen Bruder« – später Namensgeber für die Endemol-TV-Show »Big Brother«, die um die Jahrtausendwende mediale Furore machte und Guido Westerwelle im Container vielleicht zum peinlichsten Auftritt seiner Karriere trieb. Es ging bei Orwell um die Überwachung und Kontrolle, ausgeübt durch eine aufoktroyierte Instanz.
In Huxleys Werk »Schöne neue Welt« dagegen bedurfte es einer solchen Instanz erst gar nicht. Bei ihm entmachten sich die Menschen selbst und gelangen in eine Unterwürfigkeit gegenüber den Technologien, denen sie ehrerbietig dienen – wie die alten Griechen ihren Göttern.
Postman übertrug Huxleys Welt auf das Amerika zur Zeit nach der Einführung des Privatfernsehens und entschied, dass dessen Prophezeiung die angsteinflößendere Zukunft darstellt. Denn die Verblödung der Fernsehzuschauer gelingt nach Postman ganz ohne Zwang und Unterdrückung. Es reicht, aus freien Stücken die Fernbedienung in die Hand zu nehmen.
Warum wir hier ein altes Buch abfeiern? Weil Postmans Überlegungen genau zu den unseren passen und damit zwar alt, aber alles andere als veraltet sind.
Für Postman sind es die Massenmedien, die in der Lage sind, die Menschheit zu prägen und unter Umständen auch fehlzuleiten und zu beherrschen. »Unsere Sprachen sind unsere Medien. Unsere Medien sind unsere Metaphern. Unsere Metaphern schaffen den Inhalt unserer Kultur.« Für Postman entspringt daraus der Vergleich vom Medium Buchdruck versus Medium Fernsehen. Der Kampf der Bilder gegen die zu Wörtern zusammengesetzten Buchstaben: »Denn wie die Druckpresse ist das Fernsehen nichts Geringeres als eine Philosophie der Rhetorik.« Nicht umsonst sprechen Fotografen genau wie Kameramänner gerne von ihrer »Bildsprache«.
Wir finden, dass sich das auf die Porno-Welt übertragen lässt. In dieser zeigt sich das Bild-Medium des Sexuellen. Und ähnlich wie Postman durch die Existenz des Privatfernsehens einen Niedergang der amerikanischen Kultur vermutet, gehen wir davon aus, dass vom Medium Internet als Universaltechnologie mit Text, Bild, Ton und Bewegtbild eine Gefahr für die Jugendlichen ausgehen kann, wenn sie es zum Konsum von Pornografie nutzen.
»Die Herausforderung des Netzes hat erst begonnen und wir haben kaum eine Ahnung, welche Umwälzungen im Sozialen sie noch mit sich bringen wird«, sagt Jan-Hinrik Schmidt, der am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung an der Universität Hamburg arbeitet. Kinder lernen heute schon die Entsperr-Bewegung des iPhone, bevor sie nach Dingen greifen lernen. Sie »touchen« auf Tablets herum. Sie imitieren Handy-Töne, bevor sie das erste Wort sprechen. Und mit Eintritt ins Schulalter haben viele schon ein Handy, mit dem sie telefonieren, Nachrichten verschicken und chatten. Wenig später schauen sie die ersten Pornos, zusammen mit ihrer »Peergroup«, also Gleichaltrigen aus dem persönlichen Umfeld. So viel Interaktion war noch nie – wer weiß, vielleicht schriebe Postman, so er denn noch lebte, heute: Wir interagieren uns zu Tode.
Der Journalist Johannes Gernert nennt die Eltern-Generation, die Postman noch beschreibt, »Generation Fernsehen«; deren Kinder sind für ihn die »Generation Porno«. In seinem gleichnamigen Buch, erschienen 2010, vertritt Gernert die Auffassung, es sei nicht wegzudiskutieren, dass junge Menschen heute üblicherweise mit Pornografie aufwachsen.
Gleichzeitig hält er den Aufschrei angesichts einer Pornografisierung der Gesellschaft für übertrieben: »Über die Gefahren von Masturbation oder die Anti-Baby-Pille diskutiert heute niemand mehr, höchstens über die Pille danach. Die Panik des 21. Jahrhunderts ist eine Porno-Panik.«
Mit der soziologischen Brille beschreiben es Michael Schetsche und Renate-Berenike Schmidt in ihrem Sammelband »Sexuelle Verwahrlosung« (2010) in ähnlicher Weise: »Aus historischer Sicht handelt es sich bei der Debatte um die ‚sexuelle Verwahrlosung’ (nicht nur der Jugend) zweifelsfrei um eine weitere Variante jeder großen Risikoerzählung, die seit dem 18. Jahrhundert zyklisch alle paar Jahrzehnte die Öffentlichkeit der westlich-industriellen Gesellschaften überfällt.«
Die beiden Autoren beschreiben, dass Gefahren schon immer beim Medienkonsum verortet wurden, in der Reihenfolge Buch, Film, Fernsehen, Internet und Web 2.0.
Manche Wissenschaftler gehen noch einen Schritt weiter: für sie ist hedonistisches Jugendgebaren völlig normal und sie wünschen sich Pornografie als ein Mittel, das zur sexuellen Aufklärung beiträgt und dessen legaler Konsum auch Minderjährigen möglich sein sollte.
In seinem Buch »Pornografie und Jugend – Jugend und Pornografie« (2010) schreibt der Sexualwissenschaftler und Soziologe Kurt Starke: »Auf der Jagd nach Pornografie werden Grundrechte des Menschen verletzt, z.B. das Postgeheimnis, der Schutz der Privatsphäre, die Pressefreiheit, vor allem das Recht auf sexuelle Selbstbestimmtheit.«
Es gibt also für Starke ein Recht auf Porno, und über dieses Recht sollten junge Menschen selbst verfügen. Er glaubt, dass die Jugend verantwortungsvoll mit Pornografie umgehen kann. Starke schreibt weiter: »Konstruktiv ist es, darüber nachzudenken, ob der Begriff ‚Pornografie’ im Strafgesetz und anderen legislativen Verlautbarungen überhaupt einen Platz haben muss.« Diese Haltung wollen wir in unserem Buch hinterfragen.
Sie kommt uns vor, als stehle sich da mancher aus der Verantwortung. Oder wie Jakob Pastötter, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS) im Vorwort des Buches der Psychologin Tabea Freitag »Fit for Love?« (2013) schreibt: »Damit wir Erwachsenen unsere Ruhe haben vor unseren pubertierenden Kindern, erklären wir Sexualität zum neuen Garten Eden, in dem alles erlaubt ist und in dem unerhörte Genüsse lauern, die es nur zu pflücken gelte.«
Das Wort Pornografie bedeutet nach dem Altgriechischen so viel wie »über Huren schreiben«. Die Definitionen des Begriffs und was darunter fällt und was nicht, variieren stark. In Lexika und Wörterbüchern wie dem Duden steht, bei Pornografie handle es sich um Darstellungen des Sexualakts, bei denen die Geschlechtsteile und der Verkehr an sich offen gezeigt werden.
Pornografie gibt es folglich seit Menschengedenken: angefangen bei der Höhlenmalerei über Darstellungen auf antiken Vasen, auf Barockgemälden sowie in der Kunst der Renaissance bis hin zu Porno-Heften und -Filmen in der heutigen Zeit.
Letztlich ist die Definition in dem Sinne schwammig, dass selten geklärt werden kann, wo die Kunst oder die objektive Darstellung von Nacktheit aufhört und die Pornografie beginnt. Ist das Männer-Magazin Playboy schon Pornografie? Die Prüden unter uns würden dies bejahen. Vor dem Gesetz aber ist Hugh Hefners Blatt nicht pornografisch. Wie ist es bei dem Konkurrenten Penthouse, das in seinen Darstellungen noch einen Zacken schärfer daherkommt? Spätestens hier scheiden sich die Meinungen.
1973 hielt der Begriff Pornografie in Zuge der Legalisierung Einzug ins Strafgesetzbuch der Bundesrepublik. Wer unter 18-Jährigen Zugang zu pornografischen Inhalten verschafft, gleich in welcher Form, macht sich strafbar. Das ist eindeutig in Paragraf 184 geregelt. Wer dagegen verstößt und als Sorgeberechtigter »seine Erziehungspflicht gröblich verletzt«, dem drohen eine Freiheitsstrafe oder eine unter Umständen empfindliche Geldstrafe (siehe Kapitel 3).
Weiterhin gibt es den Paragrafen 4 des Staatsvertrags über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien, kurz JMStV, in dem für alle Bundesländer verbindlich und klar geregelt wird, dass dieses Verbot auch für das Internet gilt.
Der Journalist Gernert hat sicher in einem Punkt Recht: Ob wir es nun wahrhaben wollen oder nicht – der Konsum von Pornografie unter Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden ist längst zum Normalzustand geworden.
Unter dem Begriff Heranwachsende versteht man die Gruppe junger Menschen, die das 18. Lebensjahr bereits erreicht haben, aber unter 21 Jahre alt sind. Der Begriff Jugendlicher beschreibt das Alter zwischen dem 13. und 21. Lebensjahr, man spricht bei dieser Lebensphase auch von Adoleszenz als ein Übergangsstadium zwischen Kindheit und Erwachsensein. Der englische Teenager ist im Alter zwischen 13 und 19 Jahren. Der Einfachheit halber sprechen wir in diesem Buch in der Folge öfter von jungen Menschen.
Weit über 90 Prozent der jungen Menschen verfügen laut der KIM-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest (MPFS) von 2012 heute zu Hause über einen Internetzugang und über ein eigenes Handy. Für die junge Generation ist der Umgang mit dem Netz selbstverständlich, sie besteht aus »Digital Natives« (digitalen Ureinwohnern), wächst in der virtuellen Welt auf – ganz im Gegenteil zu ihren Eltern und teilweise auch ihren Geschwistern.
Die jungen Menschen schreiben E-Mails statt Briefe, chatten in Foren, recherchieren mit Google für die Hausaufgaben, bewegen sich in sozialen Netzwerken wie Facebook, schauen Videos auf YouTube, streamen Fotos, Filme und Musik. Sie geben in Web 2.0 Daten untereinander weiter und verbreiten sie in einer Schnelligkeit, dass anderen Medien schwindelig wird.
Durch die modernen, internetfähigen Smartphones erweitert sich das Spektrum noch: Zahlreiche Apps, also Hilfsprogramme zu allen Lebensbereichen, sind für die jungen Nutzer nicht mehr wegzudenken. Niemand mit Smartphone braucht noch einen Stadtplan. Ein vibrierender blauer Punkt in der integrierten Kartenfunktion gibt ständig Auskunft über den eigenen Standort. Wer braucht noch den Brockhaus, wenn er Infos zu einer Person der Zeitgeschichte benötigt? Schließlich kann man heute überall googeln.
Und ebenfalls sehr wichtig: Via mobile Chat-Dienste wie WhatsApp, Threema oder Instagram können Dateien ohne jeden Aufwand zwischen den Smartphones weitergegeben werden. Dazu bedarf es heutzutage weder Bluetooth noch einer Verkabelung zweier Geräte. Die jungen Menschen tauschen Nachrichten, Fotos und Filmchen. Das geht schon morgens auf dem Schulhof los, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, und bleibt über den Tag eine beliebte Freizeitbeschäftigung. Manche Nutzer legen das Handy eingeschaltet aufs Nachtkästchen und werden bei jeder Vibration geweckt, damit sie sich auch morgens um drei noch austauschen können.
Kurzum: Wer heute jung ist, bewegt sich im Netz. Das Internet ist wie ein Kompass, es zeigt in alle Himmelsrichtungen, filtert aber nicht, wann der Zeiger auf eine sichere Straße führt und wann auf einen Irrweg.
Je nach Netzanbieter und Gerätehersteller sind Smartphones kleine Computer und Alleskönner. Bei WLAN oder einer schnellen mobilen Internet-Verbindung, momentan ist 4G das Maß aller Dinge, können sie auch größere Daten herunterladen und weiterverschicken. Die Schnelligkeit der Verbindung wird sich in Zukunft noch weiter verbessern. Welche technischen Gefahren bei der Internet-Nutzung durch Handys bestehen, werden wir im 7. und 10. Kapitel noch genauer ausführen.
Der Pornokonsum von heute ist sehr oft das Anschauen von kurzen Clips zwischen zehn Sekunden und fünf Minuten. Gerade in dieser Kürze liegt ein weiteres Merkmal des mobilen Pornokonsums: Die Filmchen müssen spektakulär sein und schnelle Pointen liefern. Egal ob »Gangbang« (Mehrere Männer haben Sex mit einer Frau), »Rape« (Darstellung von Vergewaltigungen), »Tea-Bagging« (das in den Mund nehmen der Hoden), »Throat Gagging«/»Deep Throating« (wenn der Penis in den Rachen geschoben wird), »Bukakke« (mehrere Männer ejakulieren gleichzeitig auf eine Frau) oder sodomistische Inhalte (Sex mit Tieren) – es muss knallen. Und die Darstellungen werden tatsächlich immer extremer, damit sie auch auf erfahrene Nutzer, wir würden sie vielleicht abgestumpft nennen, noch ein Überraschungsmoment ausüben. »Und je anonymer der Zugang, desto größer ist die Bereitschaft, etwas auszuprobieren, enthemmt zu sein, gegen soziale Normen zu verstoßen, so einfach mal spontan«, sagt der Medienforscher Jan-Hinrik Schmidt vom Hans-Bredow-Institut.
Auch bei der Nutzung einer schnellen WLAN-Verbindung zu Hause geht der Trend zu kürzeren Tracks. Der aufwändig gedrehte, einstündige Porno-Spielfilm mit Handlung hat ausgedient. Es dominieren die Clips mit harten, kurzen Darstellungen. Oft sind die Darsteller Amateure, die sich selbst beim Sex filmen und das Ergebnis alsdann ins Netz hochladen. »Gonzo-Style« wird diese Art Porno ohne jede Handlung genannt, bei dem es nur um das Zeigen des Akts selbst und eventuell um die Suggestion der eigenen Teilnahme geht. Ich bin als User mittendrin. Der Gonzo-Style ist inzwischen eine beliebte Spielart der virtuellen Sexindustrie.
Verbreitet wird das alles dann auf Seiten wie Youporn (in Deutschland seit Jahren unter den 50 meist angesurften Homepages), Redtube oder auf der Amateur-Porno-Seite Mydirtyhobby. Genau wie bei dem Video-Portal YouTube können bei manchen Seiten Suchbegriffe, etwa »anal« oder »Gruppensex« eingegeben werden, worauf eine Auflistung der meist gesehenen Videos erscheint.
Es ist wie beim Einkaufszettel im Supermarkt: Der User kann seine Produkte aus der Fülle des Angebots frei wählen und nacheinander einsammeln. Im Gegensatz zum Laden zahlt er aber oft gar nichts dafür, was den Reiz noch erhöht und dem schmalen Geldbeutel junger Menschen entgegenkommt.
Aber zahlt er nicht doch etwas? Beeinflusst der Porno-Konsum nicht seine Psyche und die Ausbildung seiner sexuellen Identität? Gewinnt er nicht völlig falsche Vorstellungen, was Sexualpraktiken und Liebe angeht? Nämlich solche, die sich im Leben als nicht tragfähig erweisen?
Der Psychoanalytiker Klaus M. Beier leitet das Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Charité in Berlin. Beier beantwortet die oben gestellten Fragen eindeutig mit ja. »Es wäre doch naiv zu glauben, dass solche Bilder und Filme nicht die Vorstellung von Sexualität junger Menschen beeinflussen können.« Gerade was die sexuelle Präferenzstruktur angeht, können die Weichenstellungen in der Jugend dabei sogar irreversibel sein.
Beiers Kommentare werden im ganzen Buch ihren Platz finden. Er hat uns ausführlich wichtige Einzelheiten rund um das Thema junge Menschen und Internet-Pornografie erklärt. Sein Buch »Praxisleitfaden Sexualmedizin« (2011) beschäftigt sich ebenso damit. Seit es das Internet gibt, arbeitet Beier rund um dieses Thema. Beier baut eine logische Argumentation auf, statt einfach eine populäre Meinung zu äußern.
Ebenso wollen wir in diesem Buch immer wieder auf eine Studie der Medienwissenschaftlerin Petra Grimm aus dem Jahr 2010 eingehen, die an der Stuttgarter Hochschule für Medien lehrt und forscht. Titel der Studie: »Porno im Web 2.0 – Die Bedeutung sexualisierter Web-Inhalte in der Lebenswelt von Jugendlichen«. Petra Grimm und ihre Mitarbeiter sind in zahlreichen Interviews mit Jugendlichen der Frage nach den Auswirkungen von Pornografie nachgegangen.
Der erste große gesellschaftliche Aufschrei in Sachen Internet-Pornos und was sie mit jungen Menschen machen, war die Reaktion auf eine Reportage des Stern-Autors Walter Wüllenweber, die Anfang 2007 erschien. Der Titel: »Voll Porno – Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist«. Die Zeile spielt mit dem Begriff Porno, der in der Jugendsprache positiv belegt ist; wenn etwas »voll Porno« ist, dann ist es klasse, toll, spannend. Porno wird wie ein Adjektiv benutzt, völlig losgelöst vom Ursprungsbegriff Pornografie, ähnlich wie es einst dem Wörtchen geil widerfahren ist.
Wüllenweber gelang es, mit dem siebenseitigen Text eine Debatte anzustoßen, die bis heute mehr oder minder laut geführt wird. Der Journalist zeichnete durch seine Recherchen nach, dass Jugendliche, teilweise schon Kinder, immer öfter mit Pornografie in Berührung kommen. Dass junge Menschen sexuell fehlgeleitet sind, ja völlig anormal sexuell sozialisiert werden, wenn zu Hause im Wohn- und im Kinderzimmer Pornos über Fernseher oder den Computerbildschirm flimmern.
Sie empfinden sexuelle Gewalt und die ungewöhnlichsten Sexpraktiken als normal, denken bei Sexualität nicht mehr an Liebe und Zärtlichkeit. Außerdem hören sie Songs von Sido, Bushido oder Frauenarzt, die zum Beispiel »Arschficksong« heißen und in denen über Vergewaltigen, Porno und Schwulenhass (siehe Kapitel 8) gerappt wird.
Manche Kids vergewaltigen oder missbrauchen schon in jungen Jahren Mitschüler und Spielkameraden. Wüllenweber schreibt von »Jungen, denen die Eltern keine Werte, kein Rückgrat, keine Kraft vermitteln konnten«. Er konstatiert eine »sexuelle Verwahrlosung«, die vor allem ein Unterschichten-Problem sei.